Diogenes Magazin Nr. 3

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»Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde.«

Diogenes

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Illustration: © Sempé

Jean Paul

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Frühling 2010

Diogenes

Magazin

Martin Suter Sein neuer Roman Der Koch

25 Jahre Das Parfum Geschichte eines Weltbestsellers Anna Gavalda Eine Liebeserklärung an Tomi Ungerer

D Bitte frankieren

Diogenes Verlag AG Diogenes Magazin Sprecherstrasse 8 8032 Zürich Schweiz

Andrea Camilleri Anton ¢echov Adam Davies F. Scott Fitzgerald Anna Gavalda Brian Moore Amélie Nothomb Christoph Poschenrieder Georges Simenon Martin Suter Tomi Ungerer Martin Walker Banana Yoshimoto

20.10.2009

1569 Bücher von 344 Autoren:

Diogenes Magazin

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www.diogenes.ch Euro 2.– /sFr 3.50

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PARTY KULTUR

GASTRO

PRINZ. Partys, Musik, Kultur und Gastro. Alles, was Großstädter lieben. Jetzt im Zeitschriftenhandel.

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Hommage

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ugo ist tot. Wir sind traurig. Er, der bis kurz vor seinem Tod schier alterslos war, quicklebendig, neugierig, herzlich, witzig. Wir sind traurig, sage ich, und erlaube mir, mit diesem Plural im Namen seiner schreibenden Freundinnen und Freunde zu sprechen. Im Namen unserer Literatur. Denn Hugo kannten wir alle, er kannte uns, er war ein sozial ungeheuer begabter Mann – und doch auch einer, der immer von seiner Einsamkeit umgeben war. Ein einsamer Gesellschaftsmensch. Er, der alles andere als den Rückzug praktizierte, war gleichzeitig auch der große Einzelgänger in unserer Literatur. Er hatte das Genie, auch andere Widersprüche aufs Müheloseste in sich zu versöhnen. Er brach, wir wissen es, immer wieder ins Fremde auf – er ist mehr gereist als alle anderen Schriftsteller in der Schweiz zusammen –, aber er war nie Von Urs weg, verschwunden. Er war trotz seinen langen Aufenthalten in Portugal, in Brasilien, in Asien, in den USA ganz selbstverständlich einer von uns, von hier, in der Schweiz, in Zürich. Weggehen und zurückkommen, niemand beherrschte dieses schwierige Spiel besser als Hugo. Es gab noch andere Gegensätze, die er versöhnen oder wenigstens aushalten musste. Er war zum Beispiel der Prolet von jenseits der Sihl und ging mit der größten Selbstverständlichkeit und Gelassenheit mit Menschen um, die, anders als er, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden waren. Große Tiere machten ihm keine Angst, und er fiel auch ihrem Glanz nie zum Opfer. Er kam aus einem Haus, in dem es keine Bücher gab, und wurde ein Mann von einer stupenden Bildung, die er nie, kein einziges Mal, als Waffe be-

nützte, um andere zu demütigen. Ja, er war eine Art städtischer Thomas Platter, den er ja auch aufs Höchste schätzte. Er war mehr ein Platter als ein Goethe, auch wenn diese Gedenkfeier heute just an Goethes Geburtstag stattfindet. Und schreiben konnte er! Seine Mittel waren so reich, dass er sich in schlicht allen Genres zu bewegen wusste. Und er war mit ganzem Herzen und sehr intensiv ein Journalist, einer in der Tradition der Aufklärung. Er ließ sich von keinem Zeitgeist ins Bockshorn jagen. Er war also nie ein kalter Krieger, und er war auch nie ein 68er. Jede Ideologie war ihm zuwider. Er war der Anti-Fundamentalist par excellence. Er selber war, als junger Mann, drauf und dran gewesen, dem Teufel vom Karren zu fallen – sein Lebensweg war keineswegs gradlinig, sondern ein oft eher unfreiwilliges als freiwilliges Auf und Ab. So hatte er, Widmer der dann doch glanzvoll erfolgreich wurde, viel Herz und Verstand für die, die scheiterten. Und die Homosexualität. Als Hugo sein Leben begann, war diese noch eines der ganz großen Tabus. Bewundernswert, wie Hugo sie literarisch verarbeitet hat. Nichts verschweigend, nicht auftrumpfend. Mir – und uns allen – fehlt Hugo, der herzliche Mann, der drei Mal den Nachtisch essen konnte und nicht nur ein Glas Rotwein schätzte, sondern auch drei Gläser. Der lachen und uns wie kein Zweiter zum Lachen bringen konnte und der, wenn’s drauf ankam, ganz ernst, ganz konzentriert, messerscharf denkend, präzise formulierend war, kompromisslos erst, wenn er die Kompromisse zuvor in sich erwogen und verworfen hatte.

Diogenes

Magazin

Das Diogenes Magazin erscheint 3 x im Jahr als Abo (3 Ausgaben) für nur € 10.– (D/A) oder sFr 18.– (CH) (Weitere Länder auf Anfrage) So können Sie das Diogenes Magazin abonnieren: per Abo-Postkarte per E-Mail: diogenesmagazin@diogenes.ch per Fax +41 44 252 84 07 Ich abonniere das Diogenes

PRINZ

Urs Widmer hielt diese Rede während der Gedenkfeier zu Ehren von Hugo Loetscher im Großmünster Zürich. Hugo Loetscher starb am 18. August 2009, kurz vor Erscheinen seines letzten Buches ›War meine Zeit meine Zeit‹ – »der beeindruckende Schlussstein seines Lebenswerks« (Der Spiegel, Hamburg).

Magazin, ab Nr. 4

Name

Hugo Loetscher

Über Leben in der Großstadt.

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Illustration: © Sempé

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Vorname Geburtsdatum Straße/Hausnummer Land/PLZ/Ort Telefonnummer/E-Mail Ich zahle per Rechnung für 3 Hefte € 10.– (D/A) oder sFr 18.– (CH) – weitere Länder auf Anfrage Rechnungsanschrift siehe oben Abweichende Rechnungsanschrift: Name Vorname Straße/Hausnummer Land/PLZ/Ort Telefonnummer/E-Mail Ich möchte von Diogenes weitere Informationen per E-Mail oder schriftlich (nicht telefonisch) erhalten. (Ihre Daten dienen ausschließlich internen Zwecken und werden nicht an Dritte weitergeleitet)

Foto: © Werner Gadliger

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Abo Service: Schwarzbach Graphic Relations GmbH, Deisenhofener Straße 45, 81539 München, Deutschland, Telefon +49 (0)89 649436-6, Fax +49 (0)89 649436-70, E-Mail: diogenesmagazin@diogenes.ch Widerrufsrecht: Die Bestellung kann ich innerhalb von 2 Wochen ohne Begründung schriftlich widerrufen. Die Kündigung ist jederzeit möglich. Die Preise sind inkl. Versandkosten, Preisänderungen vorbehalten. Stand 5.8.2009

Datum/Unterschrift

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Amuse-Bouche

Sempé

Illustration: © Sempé; Titelseite, Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Früher war sogar die Zukunft besser. Karl Valentin Das Merkwürdigste an der Zukunft ist die Vorstellung, dass man unsere Zeit später die gute alte nennen wird. John Steinbeck Eines Tages wird alles wieder wie früher sein. Und es wird dir nicht mehr gefallen. Raymond Chandler Heute ist die Utopie vom Vormittag die Wirklichkeit vom Nachmittag. Truman Capote

»Wird’s besser? Wird’s schlimmer?«, fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich. Erich Kästner Gestern liebt’ ich, heute leid’ ich, morgen sterb’ ich: Dennoch denk’ ich heut und morgen gern an gestern. Gotthold Ephraim Lessing

Man sollte gar nicht glauben, wie gut man heute ohne die Erfindungen des Jahres 2400 auskommen kann. Kurt Tucholsky Aber letzten Endes ist es ein Pleonasmus, hinsichtlich der Dinge dieser Welt pessimistisch zu sein. Es ist nichts anderes als eine Vorwegnahme dessen, was passieren wird. Ennio Flaiano Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen: Es muss anders werden, wenn es gut werden soll. Georg Christoph Lichtenberg Diogenes Magazin

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Ersatz für das leidige

Editorial

1920 hatte der 32-jährige Pessoa die 19-jährige Ophelia Queiroz im Import-Export-Büro Freitas e Vallades in Lissabon kennengelernt, wo er als Übersetzer arbeitete. Ophelia war die große, unerreichte Liebe von Pessoa, seine Liebesbriefe an sie sind unendlich anrührend. Aber vielleicht ist folgende Skizze aus Pessoas Nachlass noch schöner als jedes Liebesgedicht oder jeder Liebesbrief. Es ist eine Skizze, in der Pessoa die längstmögliche Trasse ausknobelte, um Ophelia nach Arbeitsschluss so lange wie möglich nach Hause zu begleiten.

Maigret-Special 60 Zum Abschluss der 75-bändigen Maigret-Edition: O Die Erzählung Maigret im Ruhestand zum ersten Mal auf Deutsch O Welchen Maigret lesen? Vier Lese-Tipps von Jacques Berndorf, Gert Heidenreich, Vincent Klink und Wiglaf Droste O Burkhard Spinnen über das Phänomen Simenon O Was ich Simenon zu verdanken habe von Andrea Camilleri O Georges Simenon fotografiert von Robert Doisneau O Maigret-Fans outen sich

Hotel Waldhaus Sils Maria 44 Wer das Oberengadiner Dorf Sils Maria kennt, nennt meist zwei Dinge: Friedrich Nietzsche und das Hotel Waldhaus. Das legendäre Grandhotel ist seit über hundert Jahren ein Magnet für bekannte Denker und Literaten.

Zum Lesen Sound of Silence Eine Erzählung von Banana Yoshimoto

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Maigret im Ruhestand Von Georges Simenon

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Zum Anschauen Amuse-Bouche Schaufenster Briefe an die Redaktion Impressum Vorschaufenster

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Collagen Tomi Ungerer zeigt zum ersten Mal seine neuen Collagen

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Doisneau fotografiert Simenon Ein Foto-Portfolio

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Skizze: © Verlag Christian Bourgeois, Paris; Foto links: © Robert Doisneau / Rapho; Foto rechts: © Hotel Waldhaus, Sils Maria

Etwa einen Monat vor seinem Tod im Jahre 1935 schrieb Fernando Pessoa folgendes Gedicht: »Alle Liebesbriefe sind / lächerlich. / Sie wären nicht Liebesbriefe, wären sie nicht lächerlich. Letztlich jedoch / sind nur Leute, die niemals / Liebesbriefe geschrieben haben, / lächerlich.«


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Illustration oben: © Loriot; Foto links: © Thierry Dudoit / Rea / laif; Foto Mitte: © Maya Dickerhof; Foto rechts: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Inhalt

Anna Gavalda & Tomi Ungerer 28 Eine Bestsellerautorin gibt sich dem Schwärmen hin. Anna Gavalda über ihre Leidenschaft für Tomi Ungerer.

Banana Yoshimoto 16 und Amélie Nothomb Zweimal Japan aus Frauensicht: einmal von innen, einmal von außen.

Rubriken

Ausserdem

Denken mit W. Somerset Maugham

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Top 10 Filme von Martin Walker

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Das erste Mal Brian Moore über seine ersten Leseerfahrungen

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Owl’s Eye Wie sortiert man seine Bücher am besten? (2. Teil)

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Gedichte von Anton ◊echov 36 Eine Trouvaille von Peter Urban zum 150. ¢echov-Geburtstag Geschichte eines Welt-Bestsellers 38 Vor 25 Jahren erschien Das Parfum

Wer schreibt hier? Gewinnspiel

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Mag ich – Mag ich nicht Federico Fellini

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Heike Makatsch & derhundmarie 42 Jetzt gibt es die schönsten Kinderlieder aus dem Großen Liederbuch auf CD. Ein Besuch im Musikstudio in Berlin. Adam Davies 80 beantwortet sehr unkonventionell den Proust-Fragebogen und gibt Auskunft über seinen neuen Roman Dein oder Mein.

Martin Suter 4 Der Koch – so der Titel seines neuen Romans. Im Interview erzählt Martin Suter Persönliches über das Schreiben und das Kochen – und verrät, was von beidem ihn glücklicher macht.

Interviews Banana Yoshimoto 22 über ihren perfekten Tag, wie oft sie jeden Tag den Himmel anschaut, Schlaf, übernatürliche Fähigkeiten und vieles mehr. Christoph Poschenrieder 49 hat einen fulminanten Romanerstling über den jungen Arthur Schopenhauer geschrieben. Wie kam er auf die Idee? F. Scott Fitzgerald 52 Das berühmte Interview mit Michel Mok aus dem Jahre 1936 – und ein Kommentar dazu von Jay McInerney. Diogenes Magazin

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Titelgeschichte

Ein Interview mit Martin Suter

Kochen macht mich am glücklichsten – wenn mein Schreibsoll erfüllt ist

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Die Fragen stellten Silke Lambeck und Jan Sidney Diogenes Magazin: Herr Suter, in Ihrem Roman Lila, Lila schreiben Sie sinngemäß: »Wenn die Leute, die die Veranstaltung organisieren, aufgeregter sind als man selbst, dann ist man aus dem Gröbsten raus.« Sind Sie nervös vor Lesungen? Martin Suter: Ich bin seltsamerweise nur ganz am Anfang meiner Schriftstellerlaufbahn nervös gewesen – wahrscheinlich kommt das dann wieder, wenn ich es am wenigsten erwarte. Wie wählen Sie Ihre Textstellen aus? Im Großen und Ganzen dient eine Lesung dazu, einen persönlichen Eindruck vom Autor zu bekommen. Also versuche ich, den Zuhörer nicht zu langweilen. Ich höre an einer spannenden Stelle auf. Und ich möchte, dass es ein bisschen lustig ist. Sie wollen es dem Zuhörer angenehm machen. Die Tatsache, dass Ihre Bücher leicht zu lesen sind, werden in unterschiedlicher Konno-

tation in den Kritiken erwähnt – manchmal fast als Vorwurf. Ich verstehe das selten als Vorwurf. Natürlich gibt es in Deutschland nach wie vor eine Schule, die davon ausgeht, dass nur das Literatur ist, was Arbeit für den Leser bedeutet. Das finde ich nicht. Was nicht bedeutet,

Ich schreibe so, wie ich gerne lese. dass ich etwas gegen schwere Literatur habe. Aber ich selber bin vielleicht so frivol, dass eine gewisse Art von Unterhaltung beim Lesen ruhig geboten sein darf. Ich schreibe so, wie ich gerne lese. Wie gelingt Ihnen das? Das ist eine Mischung aus Glück und Talent. Und Arbeit? Und Arbeit. Viel Arbeit.

Die Lesungen stellen den Starautor Martin Suter in den Mittelpunkt. Wie nehmen Sie diese Situation wahr als jemand, der sehr lange und konzentriert allein arbeitet? Ich habe kein Problem mit Rollenwechseln. Es macht mir nach den langen Zeiten der Abgeschiedenheit in Klausur wieder Spaß, unter Leuten zu sein. Ganz ehrlich: Ich genieße es auch ein bisschen, gefeiert zu werden. Vielleicht würde ich darunter leiden, wenn es ein Spießrutenlauf wäre – aber das ist es nun wirklich nicht. Den Rest der Zeit verbringen Sie in Ihren Wohnsitzen auf Ibiza und in Guatemala – brauchen Sie die Ferne? Es ist nicht die Flucht vor zu viel Nähe. Es ist überhaupt nicht die Flucht vor der Schweiz. Es hat sich so ergeben. Auf Ibiza hatten wir bereits ein Haus. In Guatemala haben wir Freunde besucht und sind dann hängengeblieben. Es ist natürlich überhaupt nicht vernünftig. Aber: Es fällt Diogenes Magazin

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mir schon auf, dass ich bisher alle meine Romane in Guatemala geschrieben habe. Ich kann auf Ibiza redigieren oder kleinere Sachen schreiben – etwa meine Kolumnen. Vor Ihrem ersten Buch Small World gab es einen Roman, der abgelehnt wurde. Mein erstes Romanprojekt liegt noch länger zurück – ich war 20. Damals hatte ich eine Romanidee, aber nicht die Ausdauer und nicht die handwerklichen oder finanziellen Mittel, mich über so lange Zeit auf etwas zu konzentrieren. Und es gibt noch einen Roman, der mir misslungen ist. Der lag zwischen Small World und Die dunkle Seite des Mondes. Was wäre Ihr Thema mit 20 gewesen? Es wäre ein Roman darüber gewesen, dass alte Leute die Macht ergreifen. Es wäre eine Welt gewesen, in der man erst mit 60 volljährig und stimmberechtigt ist. Mit welcher Haltung geht man als 20-Jähriger ans Thema Alter heran? Es ist mir ja nicht gelungen. Vielleicht war diese Romanidee eine uneinge-

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standene Sehnsucht nach dem Hinauszögern der Adoleszenz – wenn man so früh als Erwachsener tut, was halt Erwachsene machen. Ich wollte immer sehr jung schon erwachsen werden. Ich habe, als ich noch jünger als 20 war, immer schon die Stirn gerunzelt, damit ich Falten bekomme und nicht mehr wie ein Bub ausschaue. Und, runzeln Sie die Stirn immer noch? Nein, jetzt bin ich bald so weit, das ich Nachtcremes auflege. Empfinden Sie das Älterwerden als komisches Thema? Nein, es ist natürlich überhaupt nicht lustig. Aber es hat – wie alles überhaupt nicht Lustige – seine lustigen Seiten. Alle, die sagen, Älterwerden ist kein Problem, lügen. Oder sind 20. Was sind die lustigen Seiten des Älterwerdens? Zum Beispiel die Versuche, es aufzuhalten. Oder auch, dass es plötzlich ein Thema wird. Man ertappt sich immer öfter dabei, dass man über das Älterwerden spricht. Dass man Symptome an sich selbst entdeckt, die man früher an anderen belächelt hat. Oder, auch sehr komisch: die Relativität des Alters. Dass man mit 12 die 30-Jährigen für Greise hält und mit 50 für Säuglinge. Sie konnten mit 20 offenbar noch keine Romane schreiben – mit 49 konnten Sie es. Stimmt, als Small World erschien, war ich 49. Aber ich habe ihn schon mit 47 geschrieben. Small World verarbeitet ein sehr persönliches Erlebnis – die Alzheimer-Krankheit Ihres Vaters. War das Buch auch ein Verarbeitungsprozess für Sie? Und: Wie dicht haben Sie die Krankheit miterlebt? Ich halte nichts von Büchern, die ein Verarbeitungsprozess des Autors sind. Ich mag das Gefühl nicht, ich sitze mit einem Notizblock hinter der Couch des Verfassers. Die Krankheit meines Vaters habe ich nicht, wie meine Mutter, aus nächster Nähe erlebt. Ich besuchte meinen Vater regelmäßig, aber ich wünschte, ich hätte so

viel über die Krankheit gewusst wie dann, als ich Small World recherchierte und schrieb. War Ihnen von Anfang an klar, dass das die Geschichte sein wird, die Sie veröffentlichen können, oder war das ein Risiko? Das war schon ein Risiko. Aber ich habe natürlich jede Geschichte mit dem Ziel geschrieben, sie zu veröffentlichen. Ich habe mich immer so gesehen, dass ich einmal in meinem Leben Schriftsteller werde. Nur habe ich das ziemlich lange hinausgezögert. Bevor Sie mit Small World zum erfolgreichen Schriftsteller wurden, waren Sie Mitinhaber einer großen Werbeagentur. Hätten Sie die damals nötigen Investitionen in Ihre Agentur getätigt, säßen wir heute nicht hier. Es war ein kluger Entscheid. Der mir übrigens dadurch erleichtert wurde, dass ich das Geld für eine weitere Investition nicht hatte. Diese äußeren Einflüsse waren schon sehr hilfreich für die Entscheidung zu fragen: Was willst du jetzt? Aber dann habe ich gedacht: Wenn du es jetzt nicht


Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

machst, musst du es dir endgültig aus dem Kopf schlagen. Ich bin nicht entscheidungsscheu. Ich treffe sehr schnell Entscheidungen und erlaube mir auch, sie wieder umzustoßen. Dadurch wirkt mein Leben aus der Distanz unentschieden – raus aus der Werbung, als Reporter arbeiten, wieder rein in die Werbung. Aber natürlich: Jedes Mal hat das Leben ein bisschen mitgeholfen. Ich glaube nicht, dass man sein Leben so ganz ohne Einfluss von anderen, nicht kontrollierbaren Mächten führt. Gott? Himmelsmächte? Irgendwelche Himmelsmächte. Ich bin überzeugt, dass es so etwas gibt. Wie kommt das? Das Älterwerden hat damit zu tun. Man denkt mehr darüber nach. Man hat auch mehr Anlässe, darüber nachzudenken. Wenn man das ohne Überheblichkeit und mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Ernst und Treuherzigkeit tut, kommt man vielleicht zu diesem Schluss. Wieso reden wir überhaupt darüber? Weil es ein interessantes Thema ist. Man fängt an, am Zufall zu zweifeln.

Noch nie ist aus einem Haufen Schnee zufällig ein Schneemann entstanden. Und da soll aus einem Haufen Zellen zufällig ein Gänseblümchen entstehen? Oder eine Beutelratte? Oder ein Mensch? Diese Vorstellung ist doch noch unglaubwürdiger als die, dass allem ein Plan zugrunde liegt.

Noch nie ist aus einem Haufen Schnee zufällig ein Schneemann entstanden. Sie haben vorhin den Begriff der Treuherzigkeit benutzt. Ist Treuherzigkeit wichtig für Ihren Blick auf Menschen? Wenn Sie es mit einer Art Unvoreingenommenheit übersetzen, stimmt das. Wie bewahrt man sich die? Weiß der Teufel, wie man sich das bewahrt – aber ich glaube, ich habe es mir bewahrt. Das ist um so erstaunlicher, wenn man einen so enthüllenden Blick hat wie Sie – wahrscheinlich leben Ihre Freunde in Angst und Schrecken, weil sie immer befürchten, in einem Ihrer Texte verarbeitet zu werden … Nein, nein – meine Freunde verlassen sich darauf, dass ich das nicht tue. Sind Sie diskret? Ja, das bin ich. Aber um auf die Unvoreingenommenheit zurückzukommen – vielleicht habe ich bisher zu wenig auf den Deckel gekriegt. Vielleicht wäre es intelligenter, wenn man misstrauischer wäre. Aber als Mitinhaber der Agentur haben Sie doch viel mit Leuten zu tun gehabt, die in Ihren Kolumnen vorkommen – die Business-ClassBewohner. Sicher, wir waren ja zeitweise selber welche. Diese Agentur war eine Art Weltkonzern im Wasserglas. Ich nehme mich selber da ein bisschen aus, ich habe immer schon diesen etwas ironischen Blick gehabt. Und

ich habe erlebt, dass Leute, die mit diesen Konzernen zu tun haben, sich plötzlich selbst so benehmen. Aber dass ich selber eine Zeit lang dabei war, ist ein wichtiges Kapitel, von dem ich immer noch zehre. Sie haben sich vorhin sehr ausführlich fotografieren lassen. Ist das auch ein Teil des Handwerks – gleichzeitig Schriftsteller und Schriftsteller-Darsteller zu sein? Das gehört zum Beruf, auch wenn ich es nicht wahnsinnig gerne mache. Schriftsteller-Darsteller ist auch etwas Wichtiges. Ich nehme mich zusammen bei Lesungen oder Fototerminen, um freundlich und gut drauf zu sein. Ich finde, das bin ich den Leuten schuldig. Ich habe diesen Beruf gewählt. Das ist meine Art von Literaturverständnis, oder besser: Das ist meine Art von Schriftstellerverständnis. Sind Sie eigentlich oft eingeladen von großen Firmen oder Industrieverbänden, um zu lesen oder über Ihre Sicht auf die Wirtschaft zu sprechen? Für Business-Class-Lesungen bin ich schon sehr oft eingeladen worden. Es

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macht mir zwar Spaß, und es ist auch sehr gut bezahlt. Aber die relativ wenigen Lesungen, die ich machen kann, mache ich lieber für die Buchhandlungen. Die sind meine Partner. Das finde ich fairer. Allerdings habe ich schon zwei oder drei Lesungen bei einem großen Berater-Unternehmen gemacht. Und das war lustig. Denn alle im Publikum kamen in meinen Kolumnen vor. Aber sie haben es in den allerwenigsten Fällen gemerkt. Aber die Gattinnen waren dabei. Und die haben es gemerkt. Wobei die Gattinnen bei Ihnen auch nicht besonders gut wegkommen. Ja, zu Recht. Warum? Sie sind Komplizinnen. Und manchmal, mit Verlaub, auch Drahtzieherinnen. In Ihren Romanen sind die Frauen oft weniger neurotisch als die Männer. Ja, es sind immer starke Frauen. Vielleicht weil ich selber eine starke Frau habe. Sie haben zwar bisher nie tragende Rollen gehabt, aber immer sehr wichtige. Jetzt bin ich wieder an 8

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den Vorbereitungen für einen neuen Roman, und wenn die Hauptfigur eine Frau wäre, wäre es auch nicht schlecht – aber ich trau mich nicht.

Man kann nicht vor dem leeren Blatt sitzen und denken: Ich schaffe es sicher nicht. Dabei ist Ihre Frau ja so mutig, dass sie Ihnen im Zweifelsfall auch sagen würde: Schmeiß es weg, und schreib es noch einmal, wie bei Small World. Na ja, schmeiß es weg hat sie nicht gesagt. Aber sie hat gesagt: Du würdest das Buch nicht lesen. Ich bin jemand, der ein Buch sehr schnell weglegt. Ich habe viele Figuren herausgenommen, das macht ganze Erzählstränge überflüssig. Wie entstehen eigentlich Ihre ersten Sätze? Am Anfang oder am Ende Ihres Schreibens? Die stehen am Anfang. Aber ich behalte mir vor, sie im Laufe des

Schreibprozesses wieder zu ändern. Mir persönlich sind erste Sätze schon wichtig. Ich weiß aber nicht, ob sie objektiv so wichtig sind. Es ist vielleicht eine Spielerei von mir. Ich mag gerne gute erste Sätze. Ich mag gerne, wenn die ersten Sätze den Roman fast schon als Einzeller enthalten. Wie arbeiten Sie? Direkt auf dem Mac. Bei Lila, Lila habe ich aber auch viel von Hand geschrieben. Einfach weil ich Lust hatte, mal ein bisschen an der Sonne zu sitzen und zu schreiben. Aber das übertrage ich dann am gleichen Tag in den Computer. Ich schreibe langsam, redigiere laufend beim Schreiben. Aber auf das Ganze gesehen schreibe ich dennoch schnell. Ich schreibe nämlich jeden Tag acht Stunden. Dann habe ich abends ein paar Seiten und nicht nur ein paar Zeilen. Das lasse ich dann unverändert – bis zur ersten Lektüre durch meine Frau. Und danach durch meine Lektorin. Das ist eine angenehme Phase der Arbeit, weil es so professionell ist. Es wird nicht schwadroniert – man redet über das Handwerk. Können Sie gut mit Kritik umgehen? Fast zu gut. Es ist selten, dass ich finde: Das kann man jetzt nur so sagen. Ich kann sehr schnell einlenken. Ich bin da nicht so eitel. Meine Frau liest auch alle meine Kolumnen und kritisiert sie auf meinen ausdrücklichen Wunsch. Und manchmal denke ich dann schon: Ich würde sie eigentlich jetzt gerne so wegschicken – die Kolumne, nicht die Frau. Aber ich ändere dann immer. Warum schreiben Sie eigentlich noch? Es macht mir Spaß. Wenn ich keine Lust mehr hätte, würde ich innerhalb einer höflichen Frist aufhören. Und das könnte ich mir jetzt auch leisten. Aber es ist eine gute sprachliche und dramaturgische Übung, und es diszipliniert mich auch. Ich bin im Grunde meines Herzens kein sehr disziplinierter Mensch. Aber ohne Disziplin verzettelt man sich und kommt zu nichts. Oder?


Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Ihre Romanfiguren erleiden alle einen massiven Kontrollverlust. Wie bedrohlich finden Sie Kontrollverlust? Offenbar finde ich es nicht sehr erstrebenswert. Ich habe zum Beispiel nie harte Drogen probiert, weil ich Angst vor diesem Kontrollverlust hätte. Wie viel Kontrolle hatten Sie denn beim Schreiben über den durchgeknallten Wirtschaftsmann Urs Blank aus Die dunkle Seite des Mondes? Das ist das am detailliertesten konstruierte Buch, das ich geschrieben habe. Ich hoffe, man merkt es nicht. Aber den Urs Blank hatte ich ziemlich im Griff. Es machen sich überhaupt meine Figuren nicht so selbständig. Ich weiß immer, wie es anfängt und wie es aufhört. Alles andere wäre mir zu riskant. Ich habe aber auch schon die Kontrolle über den eigenen Roman verloren. Das war das Buch zwischen Small World und Die dunkle Seite des Mondes. Hing es mit dem Erfolg von Small World zusammen, dass Sie sich nicht frei fühlten? Ich fühlte mich eher zu frei. Zu sicher. Ich hatte keine Angst vor dem zweiten Roman. Ich habe es vielleicht zu leicht genommen. Ich rechne es dem Verlag hoch an, wie er reagiert hat. Andere hätten das Buch nach dem Erfolg des ersten Romans einfach gedruckt. Stattdessen haben Sie sich an Urs Blank austoben können. Sie selbst sagen, dass Sie große Abneigung gegen jede Form von Gewalt haben. Wie konnten Sie sich diesem Thema aussetzen? Vielleicht, weil es so sachte beginnt. Ich habe zu der Figur Blank beim Schreiben ziemlich Distanz gehalten, er ist mir nicht so nahegekommen. Das war mir ein Bedürfnis. Ich wusste, dass diese Figur sehr beschädigt wird. Deswegen wollte ich sie auch nicht so sympathisch machen. Ich wollte Blank als Figur eher beobachten als lieben. Aber so ganz ist mir das nicht gelungen. Urs Blank, der wirklich gewalttätig wird, ist nun ausgerechnet ein Vertreter der Business Class.

Ja, aber nicht aus diesem Grund. Ich wollte ein Buch schreiben, das im Wald spielt, weil der Wald mich immer fasziniert hat. Er hat so etwas Geheimnisvolles. Eine Mischung aus unheimlich und geborgen. Wer das Buch gelesen hat, sollte eine Zeit lang

Wenn ich zum Schreiben keine Lust mehr hätte, würde ich innerhalb einer höflichen Frist aufhören. anders durch den Wald gehen. Ich brauchte jemanden, der im Wald lebt und der überhaupt nicht in den Wald passt. Ihre Bücher werden in Rezensionen häufig als Kriminalromane bezeichnet. Finden Sie das passend? Ich habe für den Perfekten Freund sogar den zweiten Preis des Deutschen Krimipreises bekommen. Das ist vielleicht eine Eigenheit des deutschsprachigen Literaturbetriebs – wenn es spannend ist, muss es ein

Krimi sein. Ich finde nicht, dass ich Kriminalromane schreibe. Ich schreibe Geschichten mit einem Geheimnis. Wie geht es Ihnen eigentlich beim Schreiben? Ist das Arbeit oder Abenteuer? Ich kenne das Skelett der Geschichte. Aber wie genau die Geschichte von A nach B geht, weiß ich nicht. Das ist ein Abenteuer. Und da darf sich die Geschichte verselbständigen. Das ist schon sehr spannend. Dass ich das Ziel festlege, bedeutet, dass sich meine Abenteuerlust in Grenzen hält. Ich will am Schluss nicht in irgendeinem Sumpf landen. An Ihren Figuren interessiert Sie die Frage: Wer sind sie, und wer könnten sie auch noch sein? Wie lautet Ihre Antwort darauf? Die Frage, wer ich bin, ist viel schwieriger zu beantworten als die Frage, wer ich auch noch sein könnte. Ob man je rausfindet, wer man ist, weiß ich nicht. Wer gebe ich vor zu sein? Damit könnten Sie mich locken. Wer geben Sie vor zu sein? Der Schriftsteller Martin Suter. Aber Diogenes Magazin

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Flüge werde ich lustigerweise manchmal in die Eco gesteckt. Fragen Sie sich nicht schon manchmal, was der weite Weg soll? Zwei Ihrer Freunde sind in Guatemala spurlos verschwunden. Ja, die sind verschollen. Man weiß nichts. Es ist ein Land mit vielen Problemen, es gibt viel Gewalt. Aber man hat eben auch Bindungen zu Freunden, auch zu der sehr vielköpfigen Maya-Familie, die sich um unser Haus kümmert. Die wohnen auch

Ich finde nicht, dass ich Kriminalromane schreibe. Ich schreibe Geschichten mit einem Geheimnis. dort, viel mehr als wir. Zu denen haben wir eine sehr freundschaftliche Beziehung. Wir telefonieren auch öfters, wenn wir jetzt in Europa sind. So etwas bricht man nicht einfach ab. Wie wichtig sind Ihnen Freundschaften? Die sind mir sehr wichtig. Es gibt an all diesen Orten gute Freunde, aber es sind eben wenige. Ich leide sehr darunter, wenn eine Freundschaft in die Brüche geht. Ich versuche, das mit fast allen Mitteln zu vermeiden. Das ist ein netter Zug. Das Leben ist doch viel zu kurz, um langjährige Freundschaften zu riskieren. Sie sind nicht leicht beleidigt? Nein. Was für Eigenschaften mögen Sie an anderen? Dass sie nicht leicht beleidigt sind. Und wenn schon, dann zumindest nicht nachtragend. Ich mag Freundlichkeit. Ich mag gewisse Umgangsformen, die ein Ausdruck von Respekt sind. Gar nicht mal mir gegenüber. Ich selbst muss nicht unbedingt respektvoll behandelt werden. Aber ich möchte schon, dass sie andere Leute respektvoll behandeln.

Als innere Haltung: vor den Menschen, vor der Natur, vor dem Leben. Sie sagen selber, Sie mögen alle Ihre Figuren, auch die Nebenfiguren. Vielleicht ist das eine Art Harmoniesucht – ich mag nicht von Leuten umgeben sein, die ich nicht mag. Deswegen geraten sie mir auch liebenswert, wenn ich es gar nicht beabsichtige. Kann es sein, dass Sie die Menschen sehr mögen? Das ist vielleicht das Treuherzige an mir. War das immer schon so? Es gibt nur eine kurze Liste von Leuten, die ich wirklich nicht leiden kann. Aber auf Anhieb mag ich die Leute erst mal. Ich bin ziemlich unvoreingenommen. Auch meinen Figuren gegenüber. Wie entstehen die Figuren? Ich glaube nicht daran, dass man sich in Menschen hineinversetzen kann. Hingegen glaube ich, dass man sehr viele Menschen in sich selber trägt. Den Geizigen, den Intriganten, den Grausamen – man kann sie alle mal rauskitzeln. Wenigstens für die Dauer einer Beschreibung. Und weil sie ja alle in mir drinsitzen, kann ich sie auch nicht so ganz verachten. Sie sind ja immer noch ein Teil von mir. Wird es für Ihre Umgebung schwierig, wenn Sie diese Teile rauskitzeln? Das beschränkt sich dann aufs Schreiben. Aber was natürlich passiert, ist, dass ich ganz in diese Welt eintauche und die Probleme des wirklichen Lebens nicht ganz ernst nehme. Ich betrachte es romanhaft und finde Dinge im wirklichen Leben lustig, die ich im Roman lustig fände, die aber tatsächlich problematisch sind. Zum Beispiel? Zum Beispiel in Guatemala. Da haben einmal wegen eines sprachlichen Missverständisses alle, die für uns arbeiten, gekündigt. Es ging um ein falsch verstandenes Wort! Spanisch ist für uns beide, die Mayas und die Schweizer, eine Fremdsprache. Es brauchte sehr viel, um die Sache wieder einzurenken. Sehr dramatisch und sehr ernst. Und trotzdem musste ich lachen. Ich fand es unpassenderweise sehr komisch.

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

das kommt auch aufs Publikum an. Meiner Frau gegenüber bin ich nicht in erster Linie der Schriftsteller. Ich bin aber auch der Weinbauer Martin Suter. Der Olivenbauer Martin Suter. Na ja, Gentleman-Farmer ist man vielleicht erst, wenn man nur noch das Organisatorische macht. Sie fassen mit an? Ja, klar. Zur Oliven- und zur Weinernte kommen mein Bruder und Freunde, und wir haben Hilfe von einem Bauern. Es gibt 300 Reben, 150 Oliven- und 12 Feigenbäume. Und es gibt Gemüsegärten, um die sich die Frau des Bauern kümmert. Pflanzen tue ich selten. Aber ernten natürlich oft. Wenn Ibiza dem Handwerk vorbehalten ist und Guatemala der Kopfarbeit – freuen Sie sich wieder auf diese Zeit der Konzentration? Ja, wir fliegen bald wieder nach Guatemala. Es ist eine Freude und immer auch ein Abenteuer. Zumindest fliegen Sie heute Business Class. Privat habe ich schon immer versucht, Business zu fliegen. Nur für Business-


Waren Sie jemals in Versuchung, sich selbst zum Mittelpunkt einer Kolumne zu machen? Nein. Ich versuche, mich aus meinen Geschichten rauszuhalten. Und bei Romanen finde ich die dritte Person sehr angenehm. Vom Erzählerische und vom Dramaturgischen her. Man hat in der ersten Person einfach spannungsmäßig nicht so viele Möglichkeiten. Ein Ich-Erzähler überlebt immer, außer er schummelt. Und der treuherzige Leser geht davon aus… … dass der treuherzige Schriftsteller ihn nicht betrügt. Genau. Sie haben einmal gesagt: Vom Schreiben leben zu können heißt für mich nicht, für das Schreiben zu leben. Hat sich diese Haltung geändert? Nein. Nein. Es ist immer noch ein Beruf, nicht meine Berufung. Viele Leute, die vier Bestseller hintereinander geschrieben hätten, würden annehmen, dass sie ihre Berufung gefunden hätten. Ja, aber ich will mit meinen Romanen ja nicht etwas verändern – obwohl ich

mit Small World an vielen Orten im Kleinen etwas verändert habe, in der Wahrnehmung von Angehörigen, die von Alzheimer betroffen sind. Das Buch wird auch als Lehrstoff in Altenpflegeschulen verwendet. Das freut mich schon sehr. Oder wenn Leute mir sagen: Durch Sie habe ich wieder zu lesen begonnen. Das ist wunderbar. Aber nie würde ich sagen: Ich will mit meinen Büchern die Leute zum Lesen bringen oder sonst etwas verändern. Ich bin auch kein Getriebener, der nicht anders kann als schreiben. Ich vermute, ich könnte ohne das Schreiben leben. Ich muss allerdings auch zugeben: Ich habe es noch nie probiert. Sie haben den zweiten Teil der Frage, was Sie sind und was Sie sein könnten, nicht beantwortet. Was könnte ich sein? Das ist eine Frage, die man in seiner Jugend oft wälzt. In meiner Jugend dachte ich, es gäbe nichts, was ich nicht sein könnte – ein bildender Künstler, ein guter Arzt, ein guter Leichtathlet. Ich habe ja verschiedene Dinge getan – vom geo-Reporter bis zum Geschäftsmann. Als Reporter war ich besser. Die Frage stellen Sie sich heute nicht mehr. Ich bin Schriftsteller. Und Ehemann. Besser: Ehemann und Schriftsteller. Sie sind seit über 30 Jahren mit Ihrer Frau zusammen. Wie macht man das? Respekt. Und die Einsicht, dass man nichts verpassen kann im Leben. Wer kocht bei Ihnen zu Hause? In Panajachel, wo ich meine Romane schreibe, eine Köchin. Sie kann inzwischen nicht nur guatemaltekisch kochen, sondern auch schweizerisch und asiatisch. In San Rafael koche meistens ich, bei unseren Besuchen in Zürich auch. Wo haben Sie das Kochen gelernt? Wie fast alles: autodidaktisch. Was kochen Sie am liebsten? Die einfachen Sachen mit wenigen, aber guten Zutaten und nur zwei, drei Gewürzen. Oder dann die komplizierten Sachen, bei denen ich alle paar Minuten ins Kochbuch schauen muss.

Wissen Sie noch, was Sie gekocht haben, als Sie zum ersten Mal für Ihre Frau gekocht haben? Nein, aber eines der ersten Gerichte war passenderweise ein malayisches Rezept, das ich aus Sri Lanka mitgebracht hatte. Ich habe den Namen vergessen (etwas mit »Goreng«), aber es bestand aus Fleisch, das zuerst lange gekocht, danach gebraten, danach in Zitrone eingelegt, danach zerfasert und danach mit Zwiebelringen gewürzt und kalt gegessen wurde. Die ganze Zubereitung hat wohl damit zu tun, dass sie für sehr zähes Fleisch gedacht ist. So zäh, wie es in der Schweiz kaum zu finden war. Was sollte man kochen, wenn man eine Frau oder einen Mann zum ersten Mal bekocht? Es sollte nicht zu gut sein, sonst ist man, wenn etwas Ernstes daraus wird, sein Leben lang der Koch der Familie. Die großen Deals werden bei Geschäftsessen gemacht, beim ersten Date trifft man sich in der Regel zum Essen. Warum ist Essen so wichtig? Es ist ein guter Vorwand für ein Treffen, die Einladenden können die Ein-

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geladenen beindrucken, Essen und Trinken entspannt. Und immer, wenn einem der Gesprächsstoff ausgeht, kann man etwas in den Mund schieben. Wie sind Sie auf die ayurvedische und die molekulare Küche gestoßen, die in Ihrem Roman eine große Rolle spielen? Ich wollte, dass mein Koch mit seinen Kochkünsten die Gäste erotisieren kann. Eine der acht Sparten der ayurvedischen Medizin heißt Vajikaranam, was so viel wie Aphrodisiakum bedeutet. In der ayurvedischen Küche gibt es denn auch entsprechend viele aphrodisische Rezepte. Dass Maravan sie molekular zubereitet, macht das Ganze etwas spektakulärer und ist, der Glaubwürdigkeit zuliebe, eine mögliche Erklärung für die rasche und überzeugende Wirkung. Wie ist Ihnen die Figur Maravan eingefallen, warum ein Tamile? Das war einer dieser wunderbaren Momente, die bei der Konzeption einer Geschichte manchmal entstehen: Alle Puzzlesteine fallen plötzlich

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an ihren Platz. Mein Meisterkoch musste ein Underdog sein, gezwungen, seine Künste im Verborgenen zu pflegen und zu entwickeln. In der Küche sind die Underdogs die Küchenhilfen. In der Schweiz sind die meisten Küchenhilfen tamilische Asylbewerber. Und die Hochburgen der ayurvedischen Küche sind Südindien und Sri Lanka. In Ihrem Roman spielen Küchendüfte eine große Rolle, Kochen ist für Maravan auch so etwas wie eine Zeitreise zurück in seine Jugend. Welche Küchendüfte wecken bei Ihnen Kindheitserinnerungen? Maravan will ja auf keinen Fall, dass er oder seine Wohnung nach Küche riechen. Aber es gibt eine Ausnahme: der Geruch von Curryblättern und Zimt in heißem Kokosöl, der stets in der Küche und den Saris seiner Großtante Nangan hing. Mein persönlicher Lieblingsküchenduft entsteht, wenn Zwiebeln in schweren Pfannen andünsten. Was macht glücklicher: Kochen oder Essen? Das Essen von Selbstgekochtem macht mich viel weniger glücklich als es zu kochen. Gibt es Parallelen zwischen Kochen und Schreiben? Bei beidem macht man aus Rohprodukten Endprodukte. Das hat etwas sehr Befriedigendes.

Mein persönlicher Lieblingsküchenduft entsteht, wenn Zwiebeln in schweren Pfannen andünsten. Was macht glücklicher: Kochen oder Schreiben? Am glücklichsten: Kochen, wenn ich mein Schreibsoll erfüllt habe. Was mögen Sie in der Küche: Experimente oder doch eher Klassiker? Eher Klassiker. Auch solche, die ich

im Laufe der Jahre selber entwickelt habe. Ist die Hierarchie in Restaurants strenger als in Unternehmen? Eine Küchenbrigade besteht aus vielen Leuten. Damit die so etwas Komplexes wie ein großes Menü pünktlich und in guter Qualität auf den Tisch bringen, braucht es vielleicht klarere Führungsstrukturen als in einem Unternehmen. Sind Köche die strengsten Manager? Das weiß ich nicht. Sie unterscheiden sich aber meistens darin von anderen Managern, dass sie das, was sie von ihren Leuten verlangen, auch selber können. In Ihrem Roman werden einige Menüs aufgeführt, wie haben Sie recherchiert? Gibt es einen Maravan in der Wirklichkeit? Ich kenne keinen wirklichen Maravan. Ich habe recherchiert wie immer: mit Büchern, im Internet und als Augenzeuge. Ich habe die Menüs von ayurvedischen und tamilischen Originalmenüs für die molekulare Küche abgeleitet, und der berühmte deutsche Molekularkoch Heiko Antoniewicz hat sie kontrolliert, korrigiert und nachkochbar gemacht. Was stört Sie in Restaurants am meisten? Gleichgültigkeit, Mangel an Ehrgeiz, schlechtes Essen, schlechte Bedienung, Zigarren am Nebentisch. Die schlimmsten kulinarischen Todsünden? Fast Food. Welche Henkersmahlzeit würden Sie wählen? Ich würde keinen Bissen runterkriegen. Ein Kommentar zur schweizerischen Küche? Aus welchem Dorf in welchem Teil von welchem Kanton? Im Ernst: Sie ist ungeheuer vielfältig. Aber wenn Sie gutbürgerlich schweizerisch kochen wollen, dann brauchen Sie etwas Unverzichtbares: das gute alte Fülscher-Kochbuch von Elisabeth Fülscher. Ein Teil des Interviews erschien

zuerst in der ›Berliner Zeitung‹.


Literarisches Kochen

Eislutscher aus Lakritze-Honig-Ghee

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

I

st es eigentlich okay, dass ich einfach hier sitze und mich bedienen lasse?« »Heute hast du frei«, antwortete er und verschwand in der Küche. Nach einer Weile brachte er ein Tablett mit einem Teeservice und schenkte ein. »Weißer Tee. Aus den silbernen Blattspitzen des Tees vom Hochland bei Dimbula«, kommentierte er, ging zurück in die Küche und brachte für jeden einen Teller mit Konfekt. Ein grün gesprenkelter Eislutscher, umgeben von kleinen Spargeln mit gi∫grünen Spitzen und herzförmigen, dunkelroten Plätzchen. »Ich glaube, ich kann nichts mehr essen.« »Konfekt kann man immer essen.« Er hatte recht. Der Lutscher schmeckte nach Lakritze, Pistazien und Honig, wie eine Jahrmarktsleckerei. Die Spargel aßen sich wie Gummibärchen und schmeckten intensiv – nach Spargel. Die Herzchen waren süß und scharf, du∫eten nach einem indischen Markt und schmeckten – es ⁄el ihr kein besseres Wort ein – frivol. Plötzlich wurde sie sich der Stille bewusst, die zwischen ihnen entstanden war. Auch der Wind hatte aufgehört, seine Regenböen auf das Fenster zu treiben. Irgendetwas ließ sie sagen: »Zeigst du mir Fotos von deiner Familie?« Ohne ein Wort stand Maravan auf, zog sie auf die Beine und führte sie ins Schlafzimmer zur Wand mit den Fotos. »Meine Geschwister und einige ihrer Kinder. Meine Eltern, sie kamen 1983 um, ihr Auto wurde angezündet.« »Weshalb?«, »Weil sie Tamilen waren.« Andrea legte die Hand auf seine Schulter und schwieg. »Und die alte Frau ist Na…« »Nangay.« »Sie sieht weise aus.« »Sie ist weise.« Wieder entstand eine Stille. Andreas Blick wanderte zum Fenster. In dem schwachen Licht, das aus dem Schlafzimmer in die Dunkelheit drang, sah sie Schnee¬ocken tanzen. »Es schneit.« Maravan sah kurz zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Jetzt stand er da und sah sie unentschlossen an. Andrea fühlte sich satt und zufrieden. Und dennoch nagte da noch immer ein kleiner Hunger. Erst jetzt wurde ihr klar, wonach. Sie ging auf ihn zu, nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küsste ihn auf den Mund. Aus: Martin Suter, Der Koch

Ein altes ayur vedisches Rez ept zur Steigeru des sexuellen V ng erlangens, aber in molekularer Zubereitung. A us dem Roman Der Koch von Martin Suter. 100 ml Wasser 20 g Lakritz paste 30 g Honig 30 g Ghee 0,5 g Xanthan 40 g Pistazie n, in feine Blätt er

geschnitten Das Wasser er wärmen. Den Honig und die Lakritzpaste ei nrühren. Das Xanthan einm und das Ghee ixen unter die warm e Masse rühren Die Masse auf . mit Backpapie r ausgelegte B kreisrund aufb leche ringen und mit einem Holzspi versehen. Mit eß den Pistazien be st reuen und einfrieren. Bei Bedarf entneh men und servie ren.

Buchtipp

Martin Suter Der Koch

Roman · Diogenes

ca. 304 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06739-2

Wirtschafts- und Politthriller, Liebesgeschichte und ganz besondere Gaumenfreuden sind die Zutaten des neuen Romans von Martin Suter.

Im nächsten Magazin: Kochen mit Martin Walker Diogenes Magazin

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Dürrenmatt-Cocktail

Studien haben ergeben, dass die Lesegeschwindigkeit am Bildschirm um ca. 25 % abnimmt. Was nützt es also, auf einem E-Book-Reader 500 Romane geladen zu haben, wenn man sie sowieso nicht alle wird lesen können. Wirklich praktisch sind die Apparate eigentlich nur für uns Verlagsmitarbeiter. Denn wir lesen die Werke unserer Autoren selten als schöne Diogenes Bücher in Leinen gebunden und schön gesetzt, sondern schon früher in Manuskriptform. Und die dicken Manuskripte sind besonders auf Reisen sehr unpraktisch. Die Lösung: E-Book-Reader. Der Verlag hat also ein Dutzend Apparate angeschafft. Eine Kollegin brachte ihren SonyReader bereits nach zwei Tagen zerknirscht zurück, sie hatte sich im Schwimmbad aus Versehen auf den Reader gesetzt – Totalschaden, und noch nicht mal ein Buch fertiggelesen. Wenn das kein Argument für echte Bücher ist? Wie heißt es noch in Ray Bradburys Fahrenheit 451: »Wissen Sie, dass Bücher nach Muskatnuss oder anderen exotischen Gewürzen riechen? Als Junge habe ich immer gerne daran geschnuppert. Gott, was gab es früher schöne Bücher, ehe wir davon abkamen.«

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sich nicht richtig auf, der Fotograf, die Lehrerin und der Aufseher verzweifeln. Eine großartige schauspielerische Leistung der Kinder war nicht nötig. Der Regisseur Laurent Tirard: »Genau so war es während der ganzen Dreharbeiten, die Kinder haben uns in den Wahnsinn getrieben.« Goscinny hätte seine Freude gehabt.

Du-Magazin

Der kleine Nick Es gibt eine Zeichnung von JeanJacques Sempé, auf der er seinen Freund René Goscinny vor einem Bartresen verewigt hat. Wie Sempé erklärt, hatte Goscinny in seiner Wohnung immer eine Hausbar. Würde Goscinny heute noch leben, hätte er mit Sempé sicherlich zu Hause angestoßen: Die Filmversion von Der kleine Nick ist in Frankreich mit zwei Millionen Zuschauern nach zwei Wochen ein Riesenerfolg. Ab Februar 2010 ist der Film auch in den deutschen Kinos zu sehen. Die Anfangsszene zeigt, wie ein Klassenfoto gemacht wird – oder gemacht werden soll. Die Kinder stellen

Das legendäre Kulturmagazin Du feiert seine 800. Ausgabe mit einer Prachtnummer und Hugo Loetscher auf dem Cover. Hugo Loetscher, im August 2009 im Alter von 79 Jahren gestorben, war zwischen 1958 und 1962 Redakteur beim Du. Im Jubiläumsheft ist unter anderem das letzte Interview mit Hugo Loetscher, das Julian Schütt führte, nachzulesen, und als Erstveröffentlichung Grimm für Straßenkinder – ein Märchen für Erwachsene. www.du-mag.com Illustration links oben: © Chaval; Illustration links unten: © Topor; Illustration rechts oben: © Sempé

E-Books

Kaum ist der Dürrenmatt-Cocktail, der in der Zürcher Kronenhalle-Bar für das erste Diogenes Magazin kreiert wurde, erfunden, ist er auch schon in die Fachliteratur eingegangen – im soeben erschienenen KronenhalleBar-Buch von Barlegende Peter Roth und Carlo Bernasconi. Beim Buch aus dem Orell Füssli Verlag stimmen wie bei einem guten Cocktail Inhalt und Form überein: Es ist der wohl schönste Cocktailführer der Welt. Neben dem Dürrenmatt-Cocktail (»leicht herber Shortdrink für den Abend«) kann man über 400 weitere GetränkeMixturen entdecken, unter anderem auch den Fellini, ein »fruchtig-milder Shortdrink für jeden Tag«.


haben geladene Gäste, die auf dem königlichen Landsitz Baltimore in Schottland übernachteten, Martin Walkers Bruno, Chef de police in den Gemächern der Queen gesichtet. Kevin Spacey wurde angeblich in einer Buchhandlung in Los Angeles gesehen, als er sich den Roman Superhero von Anthony McCarten kaufte, der jetzt hofft, dass Spacey die Rolle des Adrian King spielen wird. Kein Gerücht ist jedenfalls, dass der Roman verfilmt werden soll.

Bewerbung Aus einem unkonventionellen Bewerbungsbrief an den Diogenes Verlag, der vor kurzem eingetroffen ist: »Zehn Gründe, warum ich bei Ihnen arbeiten will: 1. Ich habe gezählt: 267 Ihrer Bücher stehen in meinem Regal. Das ist ein Beweis von vier Metern Breite, ein Beweis für meinen Ernst. 2. Ich habe gelauscht: 22 Ihrer Hörbücher. Bin durch die Stadt gewandert mit Diogenes in den Ohren, bin eingeschlafen mit Diogenes im Kopf. 3. Im Traum habe ich mich zu Diogenes in die Tonne gezwängt. 4. Im Folio der NZZ stand, dass Sie jedes Jahr 3000 Manuskripte erhalten, manchmal mehr. Für mich bedeutet das: Sie brauchen Hilfe. 5. Ich habe Deutsch studiert, darum muss ich es versucht haben bei Ihnen. Es gehört sich so. 6. Nach zwei Jahren als Texter will ich der Sprache neu begegnen, am besten in Ihrem Haus. 7. Ist mir entfallen, pardon. 8. Ich spreche Französisch und Englisch, ich lerne Spanisch und Portugiesisch. 9. Ich bin jung, in meinem Kopf hüpfen die Ideen auf und ab. 10. Ich will Neues lernen, am liebsten von Ihnen. Da gäbe es noch mehr Gründe. Schreiben Sie mir, wenn Sie es wissen wollen. Ich freue mich darauf.«

Und dann ermittelt Commissario Brunetti neu nicht länger nur in Venedig, sondern auch in einem Ravensburger Brettspiel für Spieler ab zehn Jahren. Gefährliches Spiel entführt in die Welt der Donna-Leon-Romane und bringt die Atmosphäre der Lagunenstadt auf den Spieltisch. Es gilt ein Verbrechen aufzuklären. Dabei helfen die vier bekannten Roman-Charaktere in Gestalt von verschiedenfarbigen Spielfiguren: Commissario Brunetti, seine Frau Paola, sein Chef Vice-Questore Patta und sein Assistent Inspettore Vianello ziehen auf dem Spielplan durch Venedig, befragen Zeugen und verhören Verdächtige, um am Ende den Mörder dingfest zu machen.

Panem et circenses Best- und Longseller werden ein wenig altmodisch auch als »Brotartikel« der Buchbranche bezeichnet, und so ist es nicht verwunderlich, dass aus Brotartikeln Spiele werden. Zur Vorweihnachtszeit sind nun zwei Spiele zu bekannten Diogenes Longsellern erschienen: zum Kinostart von Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen ein Videospiel für diverse Spielekonsolen.

Gerüchteküche Die Queen Mum, die im Jahr 2002 starb, war jahrzehntelang ein großer Fan der Romane von Dick Francis. Auch die Queen scheint ein Faible für Krimis zu haben. Diesen Sommer

Chinesische Küche

LuWenfu Der Gourmet

Roman · Diogenes

Was bleibt nach dem Auftritt Chinas als Gastland bei der Frankfurter Buchmesse? Viele Autorennamen, die sich niemand merken kann. Denn das Hauptproblem der Exportfähigkeit der chinesischen Literatur ist, dass die Autorennamen viel zu kompliziert sind und sich gegen jeglichen mnemotechnischen Trick sperren. Oder erinnern Sie sich noch an den Namen des chinesischen Literatur-Nobelpreisträgers von 2000? (Er heißt: Gao Xingjian.) Im Diogenes Verlag gibt es einen wunderschönen Roman eines chinesischen Autors, dessen Titel und Namen sich jeder zum Glück leicht merken kann: Der Gourmet von Lu Wenfu. Und das Buch hat es in sich: die Geschichte der VR China, widergespiegelt in der Lebensgeschichte eines Feinschmeckers. Ein Roman, der Zeithintergrund und Gaumenfreuden kunstvoll miteinander verbindet … ein Buch für Kopf und Bauch! Diogenes Magazin

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Portrait

Bei Amélie Nothomb in Paris

Die fatale Welt der Amélie Amélie Nothomb ist in Frankreich ein Literaturstar, der wie ein Popstar gefeiert wird. Doch sie empfindet das Leben als Zumutung. David Signer hat sie in Paris besucht.

Foto links: © Marianne Rosenstiehl / Rosenstiehl

E

s ist sicher nicht leicht, Amélie Nothomb zu sein. Sie landete zwar schon im Alter von 25 Jahren mit ihrem Erstling Die Reinheit des Mörders einen Bestseller und hat seither in Frankreich Kultstatus erreicht. Aber wie sie nun hier, inzwischen 42, in ihrem kleinen, fensterlosen, vollgestopften Büro ihres Verlags in Paris sitzt, gleich neben dem Montparnasse-Friedhof, wirkt sie immer noch ein bisschen wie das kleine, zugleich größenwahnsinnige und verlorene Mädchen, das auch in ihrem Buch Biographie des Hungers im Zentrum steht. Sie hat den Gesprächstermin an diesem sonnigen Freitagmorgen vergessen, aber zufällig ist sie trotzdem hier und beantwortet die Fanpost, die sich auf dem Schreibtisch stapelt. Jeden einzelnen Brief. Eigentlich ist für sie bald Feierabend. Sie beginnt nämlich allmorgendlich um vier mit der Arbeit, trinkt Unmengen von Tee dazu und schreibt bis etwa um acht. Und dies seit ihrer Jugend. So haben sich inzwischen 66 Romane angesammelt, von denen 17 veröffentlicht sind und in 39 Sprachen übersetzt wurden. Eine Manische, eine Gehetzte? Den Schreibprozess vergleicht sie mit einer Schwangerschaft, und ihre Bücher nennt sie gerne ihre Babys. »Schreiben ist sexuell«, sagt sie, »aber es hat nichts mit dem Geschlecht zu tun.« Ende 2005 antwortete sie auf die Frage nach

ihrem Wunsch für das folgende Jahr: »Nicht zu explodieren.« Sie erinnert sich an einen einzigen Tag, an dem sie nicht geschrieben hat; weil sie krank war. »Es war, als ob ich wieder dreizehn wäre, zurückgeworfen. Eine unerträgliche Leere.« Sie spricht von der eigenen Göttlichkeit, die sie als Kind empfand. »Das Schreiben von Roma-

Mein Thema ist: »Wie schaffe ich es, die andern und mich selbst zu ertragen?« nen war eine Möglichkeit für mich, diesen Größenwahn ins Erwachsenenleben herüberzuretten.« An der Wand hängt ein Bild von ihr, mit hohem schwarzem Hut und blutigen Fingernägeln. »Es ist schrecklich, nicht wahr?«, sagt sie. »Es entspricht dem Klischeebild, das man sich von mir macht: der Gruftie, der Vampir. Es ist angenehm, in der Öffentlichkeit so eine schützende Maske zu haben. Dahinter ist man frei.« In Frankreich ist Nothomb ein Star – mit allen Problemen. Kürzlich, auf einer Werbeveranstaltung ihres Verlags, ließ sich eine Leserin ihren Arm von ihr signieren und ging nachher direkt in ein Tattoo-Studio, wo sie sich die Unterschrift in ihrer Haut verewi-

gen ließ. »So etwas macht mir Angst«, sagt sie. Nothomb wurde in Japan geboren, als Tochter eines belgischen Aristokraten und Diplomaten. Ihre Kindheit war ein Wechselbad. Auf die paradiesischen fünf ersten Lebensjahre unter der Obhut eines Kindermädchens, das die kleine Amélie vergötterte, folgte eine traumatisierende Zeit im China der Kulturrevolution. Dann ging’s nach New York; auf eine in jeder Hinsicht berauschende Periode folgten unheimliche Aufenthalte in Bangladesch, Burma und Laos. Dann endlich kam sie in ihrer »Heimat« an, wo sie in Brüssel ein RomanistikStudium absolvierte. Aber das unbekannte Belgien war für sie das fremdeste all dieser Länder. Diese Odyssee um die halbe Welt lässt Nothomb in Biographie des Hungers auf gerade mal zweihundert Seiten Revue passieren. »Ich versuchte, meine Kindheit zusammenzufassen, auf den Punkt zu bringen, ohne sie zu verraten.« Das Buch, es endet mit der Überwindung der Magersucht, ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung von Metaphysik der Röhren, wo sie versuchte, ihre ersten drei Lebensjahre zu beschreiben, die mit dem Versuch endeten, sich in einem Karpfenteich zu ertränken. Eine Autobiographie, ohne Wenn und Aber. Mit der Unterscheidung zwischen literarischem und wirklichem Ich, um Diogenes Magazin

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ihrem Zimmer, erst im isolierten Burma und dann in Laos, dem »Land des Nichts«, sind bestürzend. Zum Skelett abgemagert genießt sie wie ein Junkie das Verschwinden von Leben, von Verlangen, von Schmerz: »Die ausgehungerte innere Stimme verstummte; meine Brust war wieder hübsch flach: Ich fühlte nicht den Hauch eines Begehrens für den jungen Engländer; um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich überhaupt nichts mehr.« Das Schockierende an Nothombs Büchern ist die von keiner Moral oder Psychologisierung abgefederte Rohheit, mit der sie die condition humaine beschreibt. Gelegentlich wurde ihr das von Kritikern als Zynismus ausgelegt. Vermutlich ist es eher das Gegenteil. Man könnte sagen, es sei erfreulich, dass solche Bücher auf den Bestsellerlisten landen; denn es handelt sich um das Gegenteil von Trivialliteratur; da ist kein Gramm Beschönigung oder billiger Trost drin. Aber es wirft auch ein beunruhigendes Licht auf die Gesellschaft. »Mein Thema«, sagt Nothomb, »ist: Wie schaffe ich es, die andern und mich selbst zu ertragen? Damit werde ich nie fertig.« Offenbar laufen Millionen Menschen herum, die sich in Nothombs Verzweiflung wie-

Buchtipp

Amélie Nothomb Biographie des Hungers Roman · Diogenes

208 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06697-5

Kindheit und Jugend einer ewig Hungrigen. Die äußeren Stationen: Japan, China, USA, Burma und Belgien. Die inneren: Hunger nach Liebe, Hunger nach Leere und endlich Hunger nach Leben.

dererkennen, die unaufhörlich dem Abgrund entgegenbalancieren. Eigentlich hätte Biographie des Hungers ihr Vermächtnis, ihr Testament sein können. »Aber leider starb ich nicht«, sagt sie, »und schrieb weiter.« Allerdings hätte man dasselbe schon von Metaphysik der Röhren sagen können. Das Buch endet, als die Protagonistin drei Jahre alt ist, mit dem Satz: »Dann ist nichts weiter passiert.« Man hält es kaum für möglich, dass die ersten Lebensjahre beschrieben werden können. Nothomb kann es, und gelegentlich fühlt man sich als Leser wie unter Hypnose: Seltsame, lange vergessene Empfindungen tauchen plötzlich auf, beispielsweise das Gefühl, eigentlich ganz anders zu sein, als die Eltern meinen, bloß eine Rolle zu spielen, die den Erwartungen der Erwachsenen an ein Kind entspricht. Auf die Bemerkung, sie leide möglicherweise unter einem Verdrängungsmangel, einer Unfähigkeit zu vergessen, reagiert sie euphorisch: »Das ist es genau! Offenbar habe ich mir mit drei Jahren vorgenommen, nie zu vergessen.« Eigentlich träumt die Rastlose davon, sich irgendwo aufs Land zurückzuziehen. »Die absolute Sesshaftigkeit – Wurzeln schlagen, sich beerdigen. Aber es ist nur ein Phantasma. In Wirklichkeit lebe ich in der Stadt, reise herum, fühle mich unwohl. Aber es ist egal.« – »Ein inspirierendes Gespräch«, sagt sie nach einer Stunde. »Das ist sicher so, weil ich mich nicht darauf einstellen konnte und überrumpelt wurde. Eigentlich sollte man es immer so machen. Aber wie?« Ja, die Welt von Amélie Nothomb ist eine Welt des Unerreichbaren, des Unmöglichen. Trotz ihrem Erfolg, ihrer Eloquenz und ihrem Kosmopolitismus ist sie vermutlich in einem existenziellen Sinne weltfremd geblieben. Und jeder Satz, jedes Buch von ihr scheint einem unbeschreiblich absurden und traurigen Wirrwarr abgetrotzt.

David Signer /Zuerst erschienen in der Beilage ›Bücher‹ der ›NZZ am Sonntag‹

Foto rechts: © Jean-Baptiste Mondino

die andere Autoren gerne ein großes Gewese machen, hält sie sich nicht lange auf. Es geht ihr nicht um Fiktion, sondern um Erforschung. »Ich ist Ich«, konstatiert sie knapp. Entsprechend ernsthaft geht sie auf inhaltliche Fragen ein. »Was würden Sie einer Anorektikerin raten, oder ihren Eltern?« – »Vielleicht verstehen Eltern ihre Kinder nie und reagieren immer falsch. Das gilt generell, aber für anorektische Kinder ganz besonders. Ich würde sagen: Versuchen, das Kind zu lieben, andere Ratschläge gibt es nicht. Reagieren, auch falsch reagieren ist immer noch besser als das Nichts.« Zwei junge Frauen schrieben der Autorin, sie hätten ihre Magersucht dank ihrem Buch überwunden. »Vielleicht machte es ihnen Hoffnung, eine Überlebende zu sehen, die einen Ausweg gefunden hat. Vielleicht konnten sie ihr Leiden durch die Lektüre objektivieren und so Abstand gewinnen von ihren eigenen Problemen.« Sie spricht von der langen Tradition von Frauenverachtung. Anorexie ist für Nothomb eine Art weibliche Misogynie; die jugendliche Magersüchtige fühlt sich abgestoßen von ihrem eigenen, sich entwickelnden Frauenkörper. Biographie des Hungers handelt von Lebensgier und Lust, von den Widerständen, die die Welt unserm maßlosen Begehren entgegenstellt, aber auch vom Widerstreit unvereinbarer Wünsche in uns selbst: »Ein zarter, dünner Engländer von fünfzehn Jahren sprang vor meinen Augen ins Wasser, und ich fühlte etwas in mir zerreißen. O Schreck – ich begehrte einen Jungen. Das hatte mir noch gefehlt. Mein Körper war ein Verräter.« Im Alter von dreizehneinhalb streckte Amélie Nothomb die Waffen und entschied, ihrem ungezügelten, unerträglichen Appetit den Hahn abzudrehen. Nach zwei Monaten Fasten verschwand der Hunger langsam. »Freude durchflutete mich in Strömen. Ich hatte meinen Körper getötet und empfand das als atemberaubenden Sieg.« Die Kapitel über das langsame, vorsätzliche Sterben in


A Amélie Nothomb

Verliebt in Japan

ls Kind wünschte sich Amélie Nothomb »nichts sehnlicher, als eine Japanerin zu sein«. Sie hatte den ersten Teil ihre Kindheit in Shukugawa in der Nähe von Kobé verbracht, in einem idyllischen Bergdorf mit einer japanischen Gouvernante, die sie wie eine kleine Gottheit behandelte. Nach ihrem Studienabschluss in Belgien kehrte Nothomb nach einmal nach Japan zurück, um dort ein Jahr lang in einem Tokioter Großunternehmen als Übersetzerin zu arbeiten. Da sie weiß, von welcher Bedeutung Ehrenkodex und Hierarchie in einem japanischen Unternehmen sind, versucht sie sich unterzuordnen. Doch damit kommt sie nicht weit. Denn erstens ist sie Europäerin und zweitens eine Frau. Nichts scheint sie richtig zu machen. Ob es nun um das Verfassen eines einfachen Briefes, das Eintragen von Zahlen oder um simples Fotokopieren geht. Am Ende darf sie nur noch die Etagentoilette putzen. Über die traumatische Erfahrung dieses Kulturschocks in einem Land, von dem sie glaubte, es sei ihre wahre Heimat, schrieb sie vor neun Jahren ihr bisher erfolgreichstes Buch Mit Staunen und Zittern, das, wie man sich leicht vorstellen kann, in Japan auf denkbar schlechte Resonanz stieß. »Erst da musste ich mir eingestehen, dass ich keine Japanerin bin. Seither bin ich nie mehr in das Land zurückgekehrt.« Japan wurde und blieb die große und unerwiderte Liebe ihres Lebens. Nun verrät Amélie Nothomb ein weiteres Kapitel ihrer Zeit in Japan: Sie war mit einem Japaner verlobt. Als Nothomb während ihres Tokio-Jahres ihr Japanisch aufbessern wollte, schien ihr Französisch zu unterrichten der beste Weg. »Ich hinterließ eine Kleinanzeige im Supermarkt: Französisch-Einzelunterricht, attraktiver Preis.« Amélies erster (und einziger) Privatschüler war Rinri – ihr späterer Verlobter. Amélie Nothombs Roman Der japanische Verlobte, der im März 2010 erscheint, erzählt eine Liebesgeschichte zwischen den Kulturen – intim, amüsant und typisch nothombesk. sid

Amélie Nothomb Mit Staunen und Zittern Roman · Diogenes

Amélie Nothomb Der japanische Verlobte Roman · Diogenes

Erscheint im März 2010


Erzählung

Banana Yoshimoto

Sound of Silence Wann hört die Kindheit auf, wann ist man erwachsen? Für die Ich-Erzählerin der Geschichte wird die Frage noch komplizierter, als sich ihre Beziehung zur geliebten älteren Schwester verändert. Die Geschichte einer Annäherung und gleichzeitigen Abkopplung, schmerzhaft wie zu heißer Tee und doch leicht wie ein Kirschblütenblatt.

W

ie kommt es, dass man Dinge, die eigentlich verborgen bleiben sollten, bei nahestehenden Menschen oft schon durch leiseste Anzeichen erahnt? Wann und wie verfestigt sich die Ahnung zur Gewissheit, ohne dass man je etwas bestätigt bekommen hat? Diese Frage hat mich in meinem Leben immer wieder beschäftigt. Es ist, als würde man nach einem Stromausfall festen Schrittes zum Kasten mit den Sicherungen gehen, obwohl es stockfinster ist in der Wohnung. Oder als würde man versuchen, eine hinter den Schreibtisch gefallene Grußkarte mit einem Lineal wieder hervorzuangeln. Man weiß, etwas ist da, man kann es sogar berühren, und dennoch ist es mit dem Auge nicht erkennbar. Irgendwie nervig, aber auch interessant. Solche Gedanken gingen mir durch den Kopf, wenn in der Schule der Lie-

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besvirus ausbrach und man schnell wusste, welche Mädchen und welche Jungs angesteckt waren, obwohl alle es zu verheimlichen versuchten. Ähnlich war es bei einer Freundin, deren Eltern den Eindruck erweckten, als hätten sie eine wunderbare Beziehung zueinander. In Wahrheit hatten sie sich völlig auseinandergelebt. Die Freundin sagte nie etwas, aber man spürte, wie sehr sie darunter litt.

Körper und Seele sind viel empfindlicher, als man glaubt. Der Blick, das Spiel der Hände, die Art, sich zu kleiden. Sei es nur eine kleine Geste, ein kurzes Staunen – irgendetwas kommt immer zum Vorschein. Nein, selbst ohne Anlass weiß man plötzlich, was los ist. Alle merken es, mehr oder weniger. Selbst

wenn es ihnen nicht wirklich bewusst ist. Nicht nur das. Sowohl derjenige, der etwas verheimlicht, wie auch derjenige, vor dem dieses Etwas verheimlicht wird, beide wissen tief im Herzen, dass da etwas in der Luft liegt. Es aussprechen oder nicht aussprechen – ein kleiner Unterschied nur. Wenn die Linie einmal gezogen worden ist, kann sich unter dem Druck der Zeit ein immer größerer, tieferer Riss auftun. Allerdings kann einem das Schweigen auch höllischen, unheilbaren Herzenskummer ersparen. Sicher hängt es vom Charakter eines Menschen ab, aber ich bin überzeugt, dass Körper und Seele viel empfindlicher sind, dass sie viel, viel mehr Informationen aufnehmen und aussenden, als man glaubt. Dieses mysteriöse Wirken hat bisweilen etwas Furchteinflößendes, dem ich mich schutzlos ausgeliefert fühle. Manchmal spendet es


Fotos: © Maya Dickerhof

Trost, und manchmal zieht sich mir vor Schmerz das Herz zusammen. Zur Feier des bestandenen Oberschulexamens hatte ich beschlossen, mit einer Freundin nach Guam zu fahren, wo wir einen Tauchkurs besuchen wollten. Für die Erneuerung des Reisepasses brauchte ich einen Auszug aus dem Familienregister, den ich mir vom Einwohneramt zuschicken ließ. Ich öffnete den Umschlag und sah das Dokument zum ersten Mal mit meinen eigenen Augen. »Also doch!« Ich war ein Adoptivkind. Als ich sagte, ich wolle den Pass erneuern, machte Mutter ein Oh-jetztist-es-so-weit-Gesicht, doch schon im nächsten Augenblick fasste sie sich wieder und reichte mir, als wäre nichts gewesen, Namensstempel und Versicherungsausweis. Ob sie dachte, sie ist ja erwachsen, oder sich einfach dafür entschied, die Sache weiterhin totzuschweigen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Mutter einen kurzen Moment zögerte. Und obwohl ich ihr Zögern bemerkte, ließen wir uns die Chance, endlich Klarheit zu schaffen, zum wer weiß wievielten Mal entgehen. Vater und Mutter sind schon recht alt. Seit mein Vater nicht mehr arbeitet, gehen sie jeden Morgen spazieren, ohne Ausnahme.

Da ich jeweils spät aufstand, sah ich aus dem Fenster meines Zimmers nur noch, wie die beiden davongingen. Oft dachte ich mir dabei: Echt komisch, dass dieser Opa und diese Oma mein Vater und meine Mutter sind. Wenn meine Gedanken weiter schweiften, kamen mir automatisch zwei Szenen von früher in den Sinn. In der einen Szene sehe ich meinen Vater vor mir, wie er jedes Mal, wenn es bei uns Streit gab, einen bestimmten Satz sagte. Es lief immer nach dem gleichen Muster: Mutter begann aus irgendeinem Grund wütend herumzuschreien, während ich weinte und meine Schwester trotzig schwieg ... Da sagte Vater etwas. Immer das Gleiche. »Bitte hört auf, ich möchte nicht an die Geschichte von damals erinnert werden.« Klein, wie ich war, verstand ich die Bedeutung nicht. Doch sobald diese Worte fielen, veränderte sich die Stimmung. Mutter und Schwester waren auf einmal ganz niedergeschlagen und starrten schweigend vor sich hin. Weiterzanken mochte jetzt niemand mehr. Die andere Szene spielte sich während eines Familienausflugs ab, im frühen Herbst. Mein Leben lang musste ich immer wieder an diese eine Szene denken.

Sogar das Spiel von Licht und Schatten sehe ich genau vor mir, so dass ich unwillkürlich die Augen zusammenkneife. Ich habe eine Schwester, die fünfzehn Jahre älter ist als ich. Sie sah damals aus wie ein Girl aus den siebziger Jahren und war recht hübsch. Sie genoss das Leben, hatte viele Männer. Dauernd war sie irgendwo unterwegs, aber sie war sehr lieb zu mir, nahm mich dahin und dorthin mit, kaufte mir dieses und jenes. Ihre Fürsorge kannte keine Grenzen, manchmal war es fast zu viel des Guten. Der Blick meiner Schwester, ja ihr ganzes Benehmen wirkte manchmal unheimlich, bedrohlich, was gar nicht zu ihrem Alter passen wollte. Manchmal hatte ich das Gefühl, ein in die Enge getriebenes Wesen vor mir zu sehen. In jenem Jahr hatte Vater gerade bei einer neuen Firma angefangen und konnte keine Sommerferien nehmen. Aber er versprach, im frühen Herbst mit uns wegzufahren. Vater kannte jemanden, der ein ziemlich altes, aber stattliches Hotel im japanischen Stil führte. Wir blieben drei oder vier Tage. Zu unserem Zimmer gehörte auch ein kleines Quellenbad im Freien. Ich war etwa zehn Jahre alt damals. Die Bäume im Garten waren noch immer saftig grün. Weit streckten sie Diogenes Magazin

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Banana Yoshimoto »An einem perfekten Tag wache ich nach genügend Schlaf auf und finde heraus, dass es immer noch Morgen ist. Nach einer Tasse Kaffee und ein paar Früchten gehe ich mit dem Hund spazieren und verbringe einige Zeit draußen. Dann komme ich beinahe entschlossen nach Hause, um zu arbeiten. Dann, ohne Eile, erledige ich meine Arbeit. Dann genieße ich ein Mittagessen mit meiner Familie oder mit Freunden, und ich verbringe den Nachmittag entweder mit einem Buch, indem ich Interviews gebe, eine Ausstellung besuche oder ins Kino gehe. Am Abend treffe ich mich mit meiner Familie oder mit Freunden zum Abendessen mit einigen Drinks. Es wäre auch schön, nachmittags einen Ausflug ans Meer zu machen.

ihre Äste in den milchigen Himmel, der den Herbst ankündigte. Wir genossen es, in diesem schattigen, fremden Zimmer einfach nur faul herumzuliegen, zu plaudern und in den sonnenbeschienenen Garten hinauszuschauen. Wie Freunde, sagt man gern, aber unsere Familie verstand sich wirklich nicht schlecht. Vater und Mutter waren nach all den Jahren immer noch Mann und Frau, und wenn Mutter, so jugendlich wie sie damals aussah, mit der oft älter wirkenden Schwester zusammen war, hätte man sie glatt für ein unzertrennliches Geschwisterpaar halten können. Ich selber war ja noch ein Grünschnabel, aber zu meiner Freude nahmen mich die beiden manchmal mit auf ihre Vergnügungstouren. Natürlich war ich unglaublich stolz darauf, die Welt der Erwachsenen miterleben zu dürfen. Das Minibad im Freien hatte es meiner Schwester angetan. Fast den ganzen Tag saß sie darin, splitternackt. Mutter machte sich schon Sorgen, weil sie gar nicht mehr herauskam. Eines Nachmittags wollte die 22

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»In meinem Umfeld gibt es Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, Vorahnungen in Träumen. Es lag also nahe, darüber zu schreiben. Die Geheimnisse dieser Welt ... das ist eines meiner Themen.«

Schwester unbedingt mit mir zusammen ins Bad. Es war zwar ein richtiges Quellenbad aus Felsen und Steinen, aber das Wasser war nicht richtig heiß, sondern nur lauwarm. Der Zaun, der als Sichtschutz dienen sollte, eine billige Bambusimitation. Das Becken war

»Wir sind uns so ähnlich wie Mutter und Kind, findest du nicht?« Die Schwester machte große Augen. winzig klein, wie ein Spielzeugbad; wenn einer mit angezogenen Knien drin lag, blieb dem anderen nur noch Platz, um die Füße reinzuhalten. So klein. Genüsslich nippte die Schwester an ihrem gekühlten Sake. Ich stellte meine Flasche Orangensaft auch in den Kübel und trank wie sie, mit genießerischer Miene und in kleinen Schlück-

chen. Schweigend saßen wir im Bad und schauten zu, wie sich das Licht veränderte und es langsam Abend wurde. Jenseits des Zaunes konnte man die eichelförmigen, mit üppigem Grün bedeckten Berge sehen. Am späteren Nachmittag, wenn das Sonnenlicht auf die sanft geschwungenen Berge fiel, begann das Grün der Bäume feierlich zu funkeln, und die über den Himmel ziehenden Wolken färbten sich rosa, wie Zuckerwatte. Obwohl sie schon ganz beschwipst war, trank die Schwester fröhlich weiter und knabberte getrocknete Sardinen dazu. Einen Arm auf den Felsen gestützt, saß sie da wie eine Königin und summte vor sich hin. Ja, wenn die Schwester in ausgelassener Stimmung war, begann sie immer, Gott weiß warum, jenes berühmte Lied von Simon and Garfunkel zu summen, Sound of Silence. Während ich sie gebannt anstarrte, dachte ich plötzlich: Ah, ihre Fingernägel, sie haben die gleiche Form wie meine … So ist das eben bei Geschwistern.

Foto: © Jayne Wexler

Und dann nehme ich ein langes Bad und beende gemütlich die unerledigten Arbeiten des Tages. Zuletzt gehe ich ins Bett und schlafe ein, während ich mit meinem Mann und meinem Sohn rede und meine Haustiere streichle.«


»Neben Haruki Murakami ist Banana Yoshimoto Japans Exportschlager.« Kurier, Wien

»Ich schaue vielleicht 25 Mal am Tag in den Himmel, weil ich oft über Kleinigkeiten nachgrüble und mir den Kopf zerbreche.«

Foto links: © Maya Dickerhof; Foto rechts: © Jayne Wexler

»Das Wichtigste ist, nicht in Eile zu leben!« Auch die Haare, die Form der Nase waren sehr ähnlich. Wenn ich einmal groß bin, werde ich bestimmt so aussehen wie sie, dachte ich. »Schwester …« »Was denn?« Es ist mir noch heute ein Rätsel, wie ich auf die Idee kam, das zu sagen. »Du und ich … wir sind uns so ähnlich wie Mutter und Kind, findest du nicht?« Die Schwester machte große Augen. Nur für einen winzigen Moment senkten sich ihre langen Wimpern. »So!«, sagte sie, nahm schwungvoll die Sakeflasche aus dem Eiskübel und füllte ihr Glas. In einem Zug trank sie es leer und tauchte bis über den Kopf ins Wasser. Ich guckte noch immer überrascht, da tauchte sie prustend wieder auf, wie ein Meerungeheuer, und sagte: »Puhhh, tut das gut!« Dann war es wieder einen Moment still. Mehr zufällig als bewusst schaute ich zum Himmel auf. Erneut hatte er sich verändert. Das zarte Rosa war zu einem knalligen, pinkigen Rot gewor-

den, das den Himmel bis zum fernen Horizont hin überzog. Während sie das Wasser aus den Haaren tropfen ließ, begann Schwester mit leiser Stimme wieder ihr Lied zu singen. Was für eine Art, sich zu verstecken. Alles schien normal zu sein, aber jene wie eine Ewigkeit währende Stille hatte mich mutterseelenallein mit ihrer Antwort zurückgelassen. Eine Antwort, die eine neue Realität bedeutete. Die Farben des Himmels änderten sich ständig. Während wir noch immer ganz gewöhnliche Geschwister waren, die sich im alltäglichen Leben wie Tiere aneinanderschmiegten, sich wärmten und beschützten, erkannte ich die Wahrheit jetzt plötzlich in den Augen der Schwester, als blickte ich in einen klaren, tiefen See. Warum, weiß ich nicht, aber ich sah auch Vater vor mir, sein Gesicht, wenn er sagte: »Ich möchte nicht mehr an die Geschichte von damals denken.« Ich, noch ein Kind mit dünnen Armen und Beinen und einem so gut

wie flachen Busen, lag im warmen Wasser und überlegte mir, so kühl und berechnend wie ein Erwachsener, dass es am besten war, so zu tun, als hätte ich nichts gesehen und nichts bemerkt. Wiederum schaute ich zum Himmel. Er wurde jetzt immer dunkler, langsam wich das feurige Pink einem sanften Indigoblau. »Sieh mal, bei den Bergen dort, dieses Rosarot! So stelle ich mir die Farbe der Liebe vor«, sagte die Schwester aufgekratzt. In ihrer feuchtfröhlichen Laune hatte sie wohl alles schon wieder vergessen. »Ja, es ist wirklich schön«, sagte ich. Die glutroten Berggipfel flimmerten im Licht der letzten Sonnenstrahlen. Es war während meiner Mittelschulzeit, als die Schwester von ihrem amerikanischen Freund ein Kind bekam und von zu Hause wegzog. Mutter hatte mit allen Mitteln versucht, sie zurückzuhalten. Das Leben im Ausland sei hart, und außerdem sei er von seiner bisherigen Frau noch gar nicht geschieden. »Drüben wird doch Diogenes Magazin

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»Millionen junger Leser finden in den Büchern von Banana Yoshimoto einen Widerhall der eigenen fragilen Existenz. Keine Pop-Literatur, sondern ruhige, eindringliche Seelenlandschaften.« Die Zeit, Hamburg

alles vor den Richter gezerrt. Am Ende bleibt ihm nur die nackte Haut. Das würde mich nicht wundern«, sagte sie. Alle in unserer Familie wussten, dass Mutter nur deshalb so sprach, weil sie traurig war. Bestürzt und ebenso traurig wie Mutter hörte ich dem Gespräch zu, versuchte mit aller Kraft, mich zusammenzureißen und nichts zu sagen. Ich horchte tief in mich hinein, in das Durcheinander meiner Gefühle, die sich überschlugen und verschlangen wie die Linien eines Marmormusters. Wenn ich daran dachte, dass sie meine Schwester war, fühlte ich mich einfach nur traurig. Aber wenn dem nicht so ist … Der Gedanke versetzte mir einen Stich ins Herz. Die Geburt des Kindes, ein neues Leben, eine neue Familie, und mich überlässt sie einfach dem Schicksal ... Heftige Eifersucht, wild lodernder, abgrundtie24

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»Schlaf ist sehr wichtig für mich. Ich spüre, dass ich eher negativ denke, wenn ich zu wenig geschlafen habe.«

fer Hass packten mich. Aber dann, wenn sie wieder meine Schwester war, schmolz dieses Gefühl dahin wie Schnee auf dem Ofen. Zurück blieb nur ein See von Wehmut, klar und still. Dass meine Gefühle wie beim Roulette zwischen zwei völlig verschiedenen Farben herumgewirbelt wurden, war eine neue, auch interessante Erfahrung für mich. Gerade in dem Augenblick, als Mutter mit stichelndem, spöttischem Unterton weiterreden wollte, wurde sie von Vater unterbrochen. Wir hatten seine Lieblingsphrase lange nicht mehr gehört, doch jetzt war es wieder so weit. »Ich möchte wirklich nicht mehr an die Geschichte von damals erinnert werden.« Da sagte die Schwester: »Also ich hab es satt. Wir alle tun so, als wäre nie etwas gewesen, als hätte ich mich nie in diesen Typ damals verliebt, und

trotzdem muss ich immer das Gefühl haben, ihr helft mir aus der Scheiße. Es kommt mir vor wie eine ewige Lüge, das will ich kein zweites Mal mehr, auf keinen Fall. Ich habe nie etwas gesagt, aber immer gedacht, es ist falsch. Ich bereue nichts, aber so weitermachen wie bisher, nein danke. Ich verstehe ja, dass ihr euch sorgt. Doch bitte ohne dieses scheinheilige Getue. So wird man noch verrückt!« Mutter schwieg. Vater brummte »Hm« und deutete ein Nicken an. Die Augen der Schwester blitzten, doch kaum hatte sie zu Ende gesprochen, wandte sie sich mir zu und schaute mich mit warmen, sanften Augen an. »Du kommst mich dann besuchen, ja?« Sie zog die Nase kraus, lächelte. Ach, dieses Gesicht! Schwester, Mutter, wie auch immer ich sie nenne, an meiner Beziehung zu ihr ändert sich nichts. Das glaube ich

Foto links: © Jayne Wexler; Foto rechts: © Maya Dickerhof

»Ich schreibe, seit ich sieben bin. Damals waren es noch Märchen und phantastische Geschichten. Ich hatte keine Lust zu lesen, daher hab ich geschrieben. Bis zum heutigen Tag habe ich nichts anderes gemacht: Ich bin zwar zur Schule und zur Universität gegangen, bin aber nie richtig dort gewesen, und dann bin ich Schriftstellerin geworden.«


»Wo ich gerne leben würde? Okinawa könnte ich mir vorstellen, vielleicht auch Hawaii. Aber ich glaube nicht, dass ich in nächster Zeit umziehen werde. In Tokio sind die Menschen sehr freundlich. Man kann hier jeden Film sehen, bekommt jede CD und jedes Buch. Das Angebot ist riesig. Und man kann in dieser Stadt ein Niemand sein. Das sind die Pluspunkte. Ein Minuspunkt ist, dass die Stadt so groß ist. Man braucht Stunden, um sein Ziel zu erreichen. Und diese ständigen Staus, dieser Smog ...«

»Ich bin überzeugt davon, dass unser Körper mehr weiß, als wir zu akzeptieren bereit sind. Meiner Meinung nach ist mehr als die Hälfte dessen, was wir als mentale Probleme ansehen, eigentlich das Resultat von physischen Zuständen.«

Foto links: © Maya Dickerhof; Foto rechts: © Jayne Wexler

»Meine liebste Tageszeit ist der Sonnenuntergang. Ich liebe den Moment, wenn die Nacht anbricht.« aus tiefstem Herzen. Opa, Oma, Vater, Mutter – darum geht es nicht. Wir sind eine Familie. Es so zu sehen, ist sicher das einzig Vernünftige. Es verspricht mehr Freude im Leben, einen größeren Horizont von Möglichkeiten. Jenes flammende und doch zarte Rosa … Es umhüllte diese Familie, die ihr Schicksal angenommen hatte, wie eine Sonnenkorona, legte sich schützend um sie, ein ewig lebendiges, züngelndes Feuer. Meine Schwester wohnt jetzt in Kanada, wo ihr Mann arbeitet. Sie hat ein Kind geboren, einen Jungen. Ihr einziges Kind. Etwa ein Mal im Jahr fahre ich mit Mutter zu ihr, oder sie kommt uns mit dem Kind besuchen. Wenn der Junge mit seiner süßen Stimme nicht nur »Schwester!« ruft, sondern meinen richtigen Namen, bin ich überglücklich. Meine Entscheidung habe ich niemals bereut.

An einem fast frühlingshaften Nachmittag ging ich also meinen neuen Reisepass abholen, ohne dass Mutter irgendeine besondere Bemerkung gemacht hätte. Es wehte ein kühler Wind, in den sich bereits süßlicher Blumenduft mischte. Ich dachte an die Schwester, an die Farbe ihres nassglänzenden Haars, als sie prustend wieder aus dem Wasser auftauchte und zu trällern begann, als wäre nichts gewesen. Auf dem Heimweg gehst du Essen einkaufen, und dann kochst du heute Abend Pilzreis, den mag Papa doch so gern. Dazu zart gedünstete Rapsblüten und Misosuppe … Während ich derlei Alltäglichkeiten wie eine Beschwörungsformel vor mich hin murmelte und meine Gedanken und Gefühle noch ein wenig umherschweifen ließ, kehrte ich langsam wieder in mein eigenes Leben zurück. Aus dem

Japanischen von Thomas Eggenberg

Buchtipp

Banana Yoshimoto Mein Körper weiß alles 13 Geschichten Diogenes

Erscheint im März 2010 ca. 176 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06751-4

Das Herz hat manchmal Gründe, die der Verstand nicht kennt – wohl aber der Körper. Dreizehn berührende Geschichten der Seelenmagierin.

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Foto Gavalda: © Thierry Dudoir / Rea / laif; Foto Ungerer: © Jürg-Peter Lienhard

Anna Gavalda

Tomi Ungerer

Eine Liebeserklärung


Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

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ugegeben, ich war nicht gerade Feuer und Flamme, als es darum ging, diesen Text zu schreiben (und Gott weiß, wie wenig erfreut Tomi von der Vorstellung wäre, eine Frau, die alles andere als Feuer und Flamme ist, würde sich an ihn wenden – ja, Gott weiß das bestimmt seit langem), zum einen, weil ich nicht gut darin bin, über das und diejenigen zu reden, die ich liebe, zum anderen, weil dieses Magazin der letzte Ort ist, an dem ich ihm meine Liebe erklären will. Das beste, das einzige Mittel, ihm gegenüber meine Bewunderung und meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, besteht darin, ihn zu lesen und zu verschenken. In eine Buchhandlung zu gehen und mein willkommenes Geld auf den Tresen zu legen. In diesem Moment, genau in diesem Moment fühle ich mich als Ehrenmitglied der Internationalen Vereinigung der Freunde Tomi Ungerers. Auch ohne Aufnahmeantrag habe ich mein Abzeichen als Herdentier erworben. Denn der Dichter hat recht: Es gibt keine Liebe, es gibt nur Liebesbeweise. Der Rest, der ganze Rest, die eifrigen Sammler, die Hüter der Erinnerung, die Ehrungen in drei Sprachen, die Tomiphilen, die Ungerermanen, das alles ist witzlos, wenn man einen Knirps auf dem Schoß hat, dem man Papa Schnapp vorliest und der minutenlang wie gebannt auf die Seite 15 starrt und sich fragt, wie es sein kann, dass die Dampfwalze von Frau Limousine nicht in den Abgrund stürzt. Die winzigen Steinchen, die von einer Felsklippe herunterstürzen, werden ihn sein ganzes Leben lang verfolgen, und ich weiß, wovon ich spreche: Ich habe es selbst erlebt. Einen Künstler loben heißt von, in und mit seinen Werken leben. Sie lesen, hören, betrachten, berühren, verschlingen, unterstützen, lieben und

teilen, und wenn einer am Ende der Herde die Augen verdreht und spottet: »Pfff, das sagt sie nur, weil sie selber eine von denen ist und da ihre eigenen Aktien drin hat, diese Scheinheilige«, bringe ich ihn sofort zum Schweigen. Für diesen Fall habe ich eine – wie es so schön heißt – sprechende Anekdote bei der Hand:

Einen Künstler loben heißt von, in und mit seinen Werken leben. Sie lesen, betrachten, berühren, verschlingen, unterstützen, lieben und teilen. Apropos Aktien, kürzlich hat mich mein Bankberater einbestellt, den meine Unbekümmertheit in Vermögensdingen – wie soll ich sagen? – ziemlich nervös macht. Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass man mit Geld Geld verdient – das tötet die Phantasie (und noch viel mehr – eine Sichtweise, die sich einem Banker nur sehr schwer vermitteln lässt). Ich hatte schon mehrere Termine abgesagt, aber diesmal hatte er mich in der

Hand, hielt mich mit den großen Augen hinter seinen Brillengläsern, mit seinen Lebensversicherungsangeboten, seinen Sparbüchern, seinen Aktiensparplänen, Bausparverträgen, Unternehmensanleihen, Steuerfreibeträgen, Geldwerten und weiterem schwerem Geschütz fest. Nun gut. Höflich hörte ich ihm zu. Als zwischendurch seine Assistentin hereinkam, um uns einen Kaffee zu bringen, entspannte sich die Atmosphäre ein wenig. Ich ließ ihn von sich erzählen (hey, es arbeiten nicht nur die anderen!), und peu à peu hat er mir zunächst von seiner Familie erzählt, dann von seinen Kindern, dann vor allem von einem seiner Söhne, der – sagen wir es so – Konzentrationsschwierigkeiten hat. Ich habe ihn gefragt, wie der Kleine heißt. Émile, kam die Antwort. Pling! Zum ersten Mal in unserem Gespräch haben meine Augen aufgeleuchtet. »Kennen Sie das Buch von Tomi Ungerer?«, platzte es aus mir heraus. »Nein?! Das müssen Sie ihm unbedingt schenken! Ein geniales Buch! Er wird es lieben! Ein Emil, der alles kann! Der Klavier spielt, Menschen rettet, Gauner verhaftet!« Jetzt war ich so richtig in Fahrt gekommen, und er hatte es nicht leicht, mich wieder zu seinen Finanzgeschichten zurückzuholen. Anschließend haben wir uns verabschiedet. Er hatte mir zahlreiche schicke Prospekte in die Hand gedrückt mit Kurven, die in alle Richtungen verliefen, aber ich habe mir nicht die Zeit genommen, sie mir näher anzuschauen, ich musste nämlich schnurstracks zu meiner Buchhandlung radeln, um Emil, diesen genialen Tintenfisch, aufzutreiben. Dem kleinen Jungen dieses Buch zu schenken. Das nenne ich echten Mehrwert! Diogenes Magazin

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Für mich steckt in diesem Buch alles drin. (Lieber Emil als viele Mille). Ich weiß, man kann gut solche Reden schwingen, wenn man das Glück hat, von seinem Bankberater umschmeichelt zu werden (aber es gibt trotzdem eine gewisse Logik dahinter). Ich will sagen, dass man nicht über Menschen schreibt, um sich zu bereichern, man wird einfach reicher, weil Menschen eine Goldmine sind – vorausgesetzt natürlich, man hat Freude an der Suche nach all den kleinen Goldklümpchen … Genug gebrüllt. Ich bin mir sicher, dass ich das Talent unseres großen Lieblingszauberers an dem Tag mehr gewürdigt habe, als ich es beim Verfassen dieser Zeilen tue.

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Warum sitze ich dann hier? Tja, der Grund ist immer derselbe. D’lieb bring lieb! Der Anlass heißt nicht Tomi, der Anlass heißt Robert! Vor ein paar Monaten hat mich François Wolfermann von der Buchhandlung Kléber in Straßburg eingeladen, mein jüngstes Buch bei ihm vorzustellen, und ich habe als Gegenleistung um einen Besuch im Ungerer-Museum gebeten. Leider – aus wirklich banalen Zeit- und Termingründen – wäre ein solcher Besuch zu kompliziert geworden. Darum hat er mir versprochen, mich in ein anderes Museum zu begleiten … Und so fand ich mich plötzlich eines schönen Frühlingsabends in den Armen von Robert Walter wieder. Wenn ich von seinen »Armen« spreche, ist das nicht einfach so dahergesagt. Kaum hatte ich meine Tasche und die Müdigkeit (der Tag war ziemlich lang gewesen) auf dem Treppenabsatz seiner Wohnung abgestellt, als mich mein Gastgeber am Arm packte und mir Folgendes zeigte: Zeichnungen von Tomi, Collagen von Tomi, Skulpturen von Tomi, Teller von Tomi, Handtücher von Tomi, Zahnputzgläser von Tomi, Lithographien von Tomi, Katzen von Tomi, Frösche von Tomi, Augenzwinkereien von Tomi, Kathedralen von Tomi, Briefe von Tomi, Lächeln von Tomi, Streiche von Tomi, Foppereien von Tomi,

Reuiges von Tomi, Herzen von Tomi, Frauen von Tomi, Skizzen von Tomi, Meisterwerke von Tomi, Socken von Tomi und und und. Und als wäre dies noch nicht genug, befand sich am Ende des Flurs auch noch ein wunderschön gedeckter Tisch, Stoffservietten, Silberbesteck, Stielgläser, Blumen, Kerzenleuchter, brennende Kerzen, gute Freunde, leckere Gerichte, köstliche Käsesorten und Elsässer Wein! (Robert konnte es nicht wissen, aber ich liebe Riesling – er ist meine 12-prozentige Lebensversicherung!) Was für eine Pracht! Und alles – all die Geschenke, all die Großzügigkeit – wurde mir auf spontane, fröhliche, liebevolle, natürliche, aufrichtige, uneingeschränkte Weise zuteil. Spontane Großzügigkeit ist heute etwas sehr Seltenes. Dass man ohne

Berechnung, ohne Argwohn und ohne Zurückhaltung gibt, kommt nicht sehr häufig vor. Und ist gut und gern einen kleinen Beitrag an diesen 4-Sterne-Altar wert. Das war übrigens gar keine schlechte Idee, mittlerweile bin ich richtig entflammt … Denn ich bin genau wie Sie von Tomis Werk entzückt. Verzaubert. Drei Bücher liebe ich besonders: Das erste ist Es war einmal mein Vater. Darin ist alles enthalten. Alles Menschliche, alle Gedichte, alle Hohelieder, alle Zärtlichkeit, alle Fragen, alle Zweifel, alle Härte und alle Schönheit dieser Welt.


Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag; Illustrationen: © Tomi Ungerer

Ich lese es immer wieder, lese Alice’ Liebesbriefe an Théo, um ein Flämmchen in mir zum Erwachen zu bringen, und schlage das Buch ganz gerührt wieder zu. Gerührt, aber auch betreten. Verglichen mit der Bildung, der Arbeit, der Strenge, dem Fleiß, der Aufrichtigkeit, dem Lerneifer und der Neugier dieser Leute kommt es mir vor, als hätten wir heute erbärmliche Rückschritte gemacht. Bin ich reaktionär, wenn ich das behaupte? Nein, ich glaube nicht. Ich sehe eher klar, leider. Das nächste ist Heute hier, morgen fort, ein Buch, das unglaublich sexy ist. Auf jeder Seite Sperma, Speichel, Schweiß, Blut und Tränen. Und die Schönheit Yvonnes … und die kleinen Wildorchideen … und Sachas sympathisches Hundegesicht. Es ist das Tagebuch eines Traums, eines Ideals, einer Sehnsucht, das man seufzend neben dem Ofen liest. Und schließlich Das Biest des Monsieur Racine, das ich genauso abgöttisch liebe wie den Riesling! Und von dem ich mich nie getrennt habe. Mein Exemplar mit seinem dicken Papier, den einwandfreien Farben und dem Geruch nach überreifen Birnen stammt aus dem Jahr 1972. Der Nagel, der an der Rutschbahn heraussteht, der austauschbare Fuß des Clochards, die Perücke der Frau, die Bluttropfen auf allen Seiten und die offensichtlich zensierten Bilder, absolut genial. Wenn ich mir vorstelle, dass Generationen wohlmei-

nender Frauen sich mit Tomi angelegt haben, bin ich fassungslos. Quite the contrary, old bags! Dieser Mann ist einer der sehr wenigen Autoren, der es verstanden hat, die Kindheit zu preisen. Ihre zarte Verderbtheit, ihre freundliche Grausamkeit, ihre Intelligenz. Er hat nicht Bücher »für Kinder« geschrieben, er hat sich zusammen mit ihnen amüsiert. Und die lieben Kleinen – gar nicht dumm – begreifen es sofort. Tomi strahlt etwas Besonderes aus. Eine Vorstellung von Brüderlichkeit, von Pennälerkumpelhaftigkeit, von erwachender Rebellion, die sie von der ersten Seite an packt. Was neben dem Talent, der Sanftmut und dem Humor unseres Freundes den Unterschied ausmacht, ist seine Bildung, seine Gelehrsamkeit. Die Kinder spüren das (sie spüren alles), sie spüren, dass dieser Typ, der mit ihnen herumspinnt, viele andere Bücher gelesen und studiert hat. Das sieht man an den Details. Als ich eines schönen Tages mit meinem englischen Verlobten am Seine-Ufer spazierenging (very romantic, very Parrris), stoße ich plötzlich auf ein Exemplar des Biestes. Ich zeige es dem Guten und erkläre ihm mit tremolierender Stimme, dass dieses Buch der Leuchtturm, das Gedankengerüst, die ganze Freude meiner Kindheit war und deshalb sehr wahrscheinlich die Initialzündung für meine Berufung als Geschichtenerzählerin (Wo kam dieser abgetrennte Fuß her? Wer steckte in der Totenkopftruhe? Dieses Buch war das Sprungbrett für ein Dutzend andere), schon bricht er in sein breitestes Lachen aus, breit wie die Seine und unstoppable. Während er sich die Tränen abwischt, schluchzt er schließlich: »Nooo? Und all this und your vocation wegen dieser alten bitch von Senator in diesem Buch, der zu viele Zigarren raucht? Ah! Ah! Ah!« Ich war schockiert. So von

meinem Idol zu sprechen, das war too much. Den ganzen Weg bis zum Trocadéro habe ich geschmollt. Meinen britischen Verlobten habe ich vor langer Zeit aus den Augen verloren, aber bis zu meinem Tod werde ich Tomi, diesen großen eleganten Jungen, loben, preisen und ihn dankbar im Gedächtnis behalten, diesen Jungen, der nichts je respektiert hat. Rien. Nothing. Nix. Nichts. Außer der Liebe. Aus dem Franzö-

sischen von Ina Kronenberger

Buchtipp

Tomi Ungerer Diogenes

36 Seiten, Pappband, vierfarbig ISBN 978-3-257-01144-9

Ein neues BilderbuchMeisterwerk von Tomi Ungerer: Kopek ist ein kleiner Riese und Samowar ein großer Zwerg. Und siehe da – sie sind beide gleich groß!

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Waiting for Godot n째6

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Portfolio

Tomi Ungerer

Neue Collagen Zum ersten Mal zu sehen: Neue Collagen, die im Sommer 2009 in Irland entstanden sind und die mit vielen anderen Werken im Frühling 2010 in einer großen Tomi-Ungerer-Ausstellung im Museum Würth in Schwäbisch-Hall gezeigt werden.

Collagen: © Tomi Ungerer

La Cantatrice chauve

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Growing up

Am Kragen

Macbeth – Die 3 Hexen

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Eintopfgericht

Brainstorm

Werden Sie Mitglied der Internationalen Vereinigung der Freunde Tomi Ungerers

Collagen: © Tomi Ungerer

Diese Vereinigung unterstützt Tomi Ungerer und sein Werk in allen seinen Formen und will seine Freunde und Fans versammeln und miteinander bekannt machen. Dazu finden selbstorganisierte Treffen, Leseabende, Diskussionen, Themenreisen oder Konferenzen statt. Auch erscheinen regelmäßig Veröffentlichungen rund um Tomi Ungerer – viermal im Jahr der Bericht TomiInfo und halbjährlich die Zeitschrift Tomiscope.

Ham head

www.association-tomi-ungerer.eu

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ˇ Anton Cechov

Gelegenheitsdichtungen Entdeckt und übersetzt von Peter Urban

ˇ Anton Cechov 150. Geburtstag Januar 2010

1008 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06372-1

Dieser Band vereinigt erstmals sämtliche Stücke in der revidierten Übersetzung von Peter Urban in einer bibliophilen Dünndruckausgabe im Handbuchformat.


Des lieben Babkino hellichtes Sternchen! Allegro nach Noten die Jugend verfliegt: Von Kirschen den frischen bleibt übrig das Kernchen, Vom Festmahl – der Senf ist das Ende vom Lied. A. ¢echonte 86 12 /V im Augenblick einer idiotischphilosophischen Anwandlung

Elegie Ein Pferd das kaufte sich Stiefel Und machte lang die Beine, Die Bügeleisen liefen Zum Zaren nach Haus dem feinen. Ein Pfifferling ritt auf dem Stock, Er rutschte aus mit einem Mal Und lief zur Wahrsagerin ad hoc, Dort kam es zu einem Skandal.

Ich liebe Sie, o zauberhafter Engel, Und seither Tag für Tag, ich Sünder, Bring ich ins Findelhaus den Sprengel All meiner unehelichen Kinder.

In eine Bürste verliebte sich Satan Und machte ihr einen Antrag entschieden; Von Liebe zu ihm angetan Ging sie nach Sibirien zum Siedeln.

(August 1895, Album A. L. Selivanova)

Sagt die Karausche zu ihrer Mamasa: »Mamasa, geben Sie mir Gelder« Und lief darauf rasch zu Nata≈a Und kauft alle Enten und Kälber.

Die Schlacht Erzählung eines alten Soldaten

(o. D., Album A. A. Kiseleva)

Vasilisa Pantelevna! Als die Russen nahmen Plevna, War so tapfer der Soldat, Selbst die Türken waren platt!

Foto: © Archiv Peter Urban

Fabel Es gingen über eine Brücke Chinesen zwei sehr dicke, Vor ihnen, Schwänzchen in die Höh, Ein Häschen lief im grünen Klee. Plötzlich riefen die Chinesen: »Halt! Bleibt stehn! Wir schießen! He!« Höher hob den Schwanz das Häschen Und im Nu wars weg gewesen. So klar ist die Moral der Fabel: Wer Hasenbraten essen will, Der steht früh auf in aller Still Gehorcht Papa und hält den Schnabel. Smirnova (id est: Anton ¢echov)

Ende. Indejkin und Petuchov. (id est: Anton ¢echov) 3. Juni 1887


Das Parfum O

Susanne Dorn, seit 1976 im Verlag, empfahl Diogenes Verleger Daniel Keel das Stück ›Der Kontrabaß‹ von Patrick Süskind, das 1984 erscheint. Ein Jahr später folgt der Roman ›Das Parfum‹.

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hne großes Aufsehen erscheint 1984 das Stück Der Kontrabaß von Patrick Süskind bei Diogenes, ein Monolog für einen Schauspieler mit Kontrabass (obwohl der Autor nicht Kontrabass, sondern Klavier spielt). Das Stück wurde im Herbst 1981 im Münchner Cuvilliés-Theater uraufgeführt und in Theater heute abgedruckt. Es avancierte zu einem stillen, aber anhaltenden Publikumserfolg. In der Theatersaison 1983/84 war es nach Dürrenmatts Die Physiker das meistgespielte Stück auf deutschsprachigen Bühnen. Der Autor aber blieb weitgehend unbekannt. Daniel Keels Assistentin Susanne Dorn sieht das Stück im Zürcher Schauspielhauskeller und schwärmt: »Das würde dir gefallen.« Keel will es sich zwar nicht ansehen, aber gerne lesen. Er lässt das Rollenbuch kommen und ist von Der Kontrabaß so hingerissen, dass er den Monolog noch im selben Jahr als Buch herausbringen möchte. Er ruft Patrick Süskind an. »Wenn Sie unbedingt Geld verlieren wollen …«, versucht der Autor ihm

das Vorhaben auszureden, denn Theaterstücke verkaufen sich in Buchform nie gut. »Wollen Sie das wirklich machen?« Keel will, denn er hofft, mit Patrick Süskind einen talentierten Schriftsteller gefunden zu haben, der erst am Anfang seiner Karriere steht und noch mehr schreiben wird. Oder vielleicht etwas in der Schublade hat. Doch in einem Brief an Susanne Dorn vom Juli 1983 dämpft Patrick Süskind diese Hoffnungen: »Zwar sind da einige Texte – übrigens nicht in der Schublade, sondern aufrecht stehend in Ordnern in einem Regal! –, aber wenn sie nicht veröffentlicht sind, so könnte das womöglich auch mit ihrer Qualität zusammenhängen.« Der Kontrabaß erscheint ohne die übliche Vorschusszahlung an den Autor. In einem Brief vom Dezember 1983 an den Verlag macht er deutlich: »Einen Vorschuß will ich nicht. Ich mag schon das Wort ›Vorschuß‹ nicht. Vorschüsse sind Zahlungen für erst zu erbringende Leistungen. Ich erbringe aber keine Leistung. Auch für Auftragsar-

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Vor 25 Jahren erschien ein Roman mit dem Untertitel: »Die Geschichte eines Mörders«. Die Geschichte eines Welterfolgs.


beiten könnte man zur Not Vorschüsse nehmen, die dann freundlicherweise 1. Rate oder Anzahlung oder à conto heißen. Man kann auch Vorschuß nehmen, wenn man Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Verlegers hat oder seinen Konkurs vorausahnt. Oder dann, wenn man das Geld einfach dringend braucht. Gott sei Dank ist das alles bei unserem Projekt nicht der Fall, und deshalb möchte ich bitte keinen Vorschuß!« Als Der Kontrabaß erscheint, ist der Autor mit der Aufmachung des Buchs zufrieden. Die Auflage ist bescheiden, 4000 Exemplare, der Verkauf mit 3000 Exemplaren erfreulich. In einem Brief vom Mai 1984 bedankt sich Patrick Süskind für die Belegexemplare und fügt hinzu: »Letzte Woche habe ich ein Manuskript abgeschlossen, das ich Ihnen gerne schicken würde. Ich habe Ihnen schon andeutungsweise davon gesprochen, als wir uns in München trafen, und Sie werden es sicher andeutungsweise wieder vergessen haben. Es ist die Geschichte eines Parfumeurs, heißt Das Parfum, spielt im Frankreich des mittleren achtzehnten Jahrhunderts und hat 280 Seiten.« »Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehört« – so beginnt das Manuskript. Rudolf C. Bettschart erinnert sich: »Daniel Keel hat es gelesen, kam am nächsten Morgen in mein Büro, haute mir das Manuskript auf den Kopf mit den Worten: ›Ruedi, jetzt haben wir einen WeltBestseller.‹« Süskind derweil rät zu einer Auflage von 5000 Exemplaren. Am Freitag während der Frankfurter Buchmesse 1984 meldet sich Franz Josef Görtz, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter anderem für

den Fortsetzungsroman zuständig, bei der damaligen Diogenes Pressechefin Christine Doering. Er sitzt in der Patsche, braucht dringend etwas Geeignetes zum Vorabdruck. Bis Montagmorgen müsse er Bescheid wissen, ob der Verlag etwas anzubieten habe, und ein Manuskript erhalten. Am 16. Oktober 1984 startet Das Parfum als Vorabdruck in der FAZ – eine entscheidende Geburtshilfe. Noch nie gab es so viele positive Leserzuschriften auf einen Serienabdruck. Eine Leserin schreibt verzweifelt nach Frankfurt: »Was tut man, wenn eine oder zwei und nach penibler Sammlung wieder eine oder gar drei Fortsetzungen fehlen, weil man am Wochenende nach Hamburg musste und beim Heimkommen vergaß, die Seite von Samstag herauszureißen? So etwas habe ich noch nie gelesen. Ja – in Büchern früher. Aber nie in portionierten Fortsetzungen zu sechs Spalten. Sie ma-

»Es ist die Geschichte eines Parfumeurs, heißt Das Parfum und spielt im Frankreich des mittleren 18. Jahrhunderts …« Patrick Süskind chen einen wahnsinnig. Und das Buch ist nicht zu haben – noch nicht. Köstlich! Und doch so qualvoll, bis morgen zu warten.« Nach dem großen Echo wittert der Verlag erst recht den Bestseller. Das zeigt sich an verschiedenen Details: Zum ersten Mal seit 1977 ist die Vorschau, die im Dezember 1984 erscheint, farbig, auf dem Cover prangt der schon bald weltbekannte Ausschnitt aus

einem Gemälde von Watteau. Neben anderen Novitäten wird »ein Bestseller« angekündigt, mit einer Startauflage von 50 000. Und der Vorabdruck läuft noch: Ein Abiturient fragt um die fehlenden Kapitel des Romans an, weil er darüber eine Arbeit schreiben möchte, bevor das Buch überhaupt erschienen ist. Doch Diogenes versorgt erst einmal Buchhandel und Presse: Eiligst wird ein Leseexemplar gedruckt, das aber nur mit einem schwarzweißen Cover versehen ist und kurz vor Weihnachten an 3000 Buchhändlerinnen und Buchhändler verschickt wird. 850 von ihnen schreiben begeistert an den Verlag, der angefleht wird, die Auslieferung vorzuziehen. Was auch geschieht: Am 26. Februar 1985, einen Monat früher als geplant, erscheint Das Parfum. Die Druckerei kann deswegen zunächst nur 11 685 Exemplare liefern, eine Woche später nochmals 19 996. Der Abdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist noch nicht abgeschlossen – und die Redaktion bittet: »Sie versorgen uns mit genügend Exemplaren? Sie können sich vorstellen, dass die Nachfrage unter Kolleginnen und Kollegen ganz gewaltig ist.« Auch die Nachfrage bei den Lesern übertrifft alle Erwartungen. Auflage folgt auf Auflage – die dritte beträgt 30 000 Exemplare, die vierte 50 ooo, die fünfte 45 000, die sechste 50 000 und die siebte Auflage, im September 1985, glatte 100 000 Exemplare. Die Druckmaschinen stehen nicht still. Nach acht Wochen sind bereits 115 000 Exemplare verkauft, das Buch steht auf allen Bestsellerlisten. Ebenfalls ungewöhnlich ist, dass ein solcher Bestseller auch von der Kritik gefeiert wird. Im März ist der Roman an der Spitze der von 25 Literaturkritikern ermittelten Bestenliste des Südwestfunks. Die Rezensenten – mit Ausnahme der Neuen Zürcher Zeitung – überbieten sich mit Diogenes Magazin

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Superlativen: »Ein Monster betritt die deutsche Literatur, wie es seit dem Blechtrommler Oskar Matzerath keines mehr gegeben hat – ein Literaturereignis« (Stern), »ein Juwel an preziösem Stil und äußerer Spannung« (Die Welt). Marcel Reich-Ranickis Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beginnt mit der Feststellung: »Also das gibt es immer noch oder schon wieder: einen deutschen Schriftsteller, der des Deutschen mächtig ist; einen zeitgenössischen Erzähler, der dennoch erzählen kann; einen Romancier, der uns nicht mit dem Spiegelbild seines Bauchnabels belästigt; einen jungen Autor, der trotzdem kein Langweiler ist.« Und der letzte Satz lautet: »Unsere Literatur hat ein Talent mehr – und ein erstaunliches obendrein.« In der Lizenzabteilung laufen die Drähte heiß wie nie zuvor. Erste Anfragen zu Übersetzungsrechten treffen schon beim Verlag ein, bevor das Buch überhaupt im Handel erhältlich ist. »Die renommiertesten Verlage aus aller Welt rissen sich geradezu hysterisch um die Rechte«, erinnert sich Marianne Liggenstorfer, die damalige Lizenz-Chefin. »Verschiedene Verlage, die zuvor nie etwas mit uns zu tun hatten und glaubten, wir seien ein im Umgang mit der internationalen Verlagsszene unerfahrenes Haus, versuchten uns anfangs mit lächerlichen Angeboten zu übertölpeln …« Doch der Verlag lässt sich Zeit mit der Entscheidung, in welchen ausländischen Verlagen Das Parfum erscheinen soll. Nicht unbedingt, um den Preis in die Höhe zu treiben. Man will sicherstellen, dass das Buch in das jeweilige Verlagsprogramm passt. So bekommt nicht unbedingt der Verlag mit dem höchsten Angebot den Zuschlag. Die schließlich Auserkorenen sind so glücklich, dass sie, ohne mit der Wimper zu zucken, Bedingungen akzeptieren, die 40

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in der Branche unüblich sind: Zum Beispiel muss das Titelbild laut Vertrag unverändert übernommen werden. Eine der wenigen Ausnahmen ist die DDR-Ausgabe, die mit einem anderen Umschlag erscheint, um einen Re-Import in die Bundesrepublik zu verhindern. In der Herbstvorschau 1985 kann der Verlag bereits stolz vermerken: »Unmittelbar nach Erscheinen auf allen Bestsellerlisten, z.B. Spiegel Platz 2, Stern Platz 1, TagesAnzeiger Platz 1, Basler Zeitung Platz 1, Kurier in Wien Platz 1. Übersetzungsrechte vergeben nach USA, England, Italien, Holland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Finnland.« Bald löst Das Parfum Isabel Allendes Von Liebe und Schatten als Spitzenreiter der Spiegel-Liste ab. Ab September 1987 ist der Roman auf der Bestsellerliste der New York Times – der größte deutschsprachige Welterfolg seit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Italiens größte Tageszeitung Il Corriere della Sera (Mailand) druckt Das Parfum in Fortsetzungen ab, als ersten Fortsetzungsroman seit hundert Jahren. Und der Roman bleibt – einmalig in der Buchgeschichte – neun Jahre auf der Spiegel-Bestsellerliste. Und das ohne Anzeigenwerbung und ohne PR-Arbeit des Autors. Denn Süskind verweigert sich dem üblichen Presserummel. Er gibt ein einziges Interview – und danach keines mehr. Erst neun Jahre nach Erscheinen kommt Das Parfum als Taschenbuch heraus. Die Startauflage ist mit 325 000 Exemplaren die höchste der Verlagsgschichte. Mittlerweile ist das Buch in 47 Sprachen übersetzt – unter anderem ins Isländische, Lettische, in Hindi und sogar ins Lateinische. Allein von der deutschsprachigen Ausgabe wurden 5,5 Millionen Exemplare verkauft, die Weltauflage beträgt 16,5 Millionen. kam

Erscheinungstermin 13. Oktober 2009

Antworten auf die Fragen der Welt Gebundene Luxusausgabe Atlas der Globalisierung für 23 € Mit herausnehmbarer Weltkarte. CD-ROM für Windows, Mac und Linux, mit allen Texten, Karten und Schaubildern als Einzeldateien. 300 neue Karten und Grafiken, 216 Seiten, ISBN 978-3-937683-25-6 Großformatiges Paperback Atlas der Globalisierung für 13 € 300 neue Karten und Grafiken, 216 Seiten, ISBN 978-3-937683-24-9

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Serie Ich kann mir keine angenehmere Einstellung zum Leben denken als eine humorvolle Resignation.

Das Alter bietet die Befriedigung der Erfüllung. Die Fesseln des menschlichen Egoismus haben sich gelöst; die Seele, endlich frei, genießt die Freuden des Augenblicks, ohne ihn aufhalten zu wollen. Der Entwurf ist vollendet.

Ich bin bereit, das Leben als Schachspiel zu betrachten, in dem die Grundregeln außer Diskussion stehen. Niemand fragt, warum dem Springer exzentrische Sprünge gestattet sind, warum der Turm nur geradeaus gehen darf und der Läufer nur diagonal. Diese Dinge müssen hingenommen werden, und nach diesen Regeln wird gespielt: Es wäre töricht, sich darüber zu beklagen. Es heißt, Metaphysik sei die Suche nach schlechten Gründen für das, was wir instinktiv glauben. Man könnte auch sagen, dass wir mit dem Nachdenken das rechtfertigen, was wir tun wollen. Der Philosoph, der sich nicht um klaren Ausdruck bemüht, zeigt damit nur, dass er seinen Gedanken allenfalls akademische Bedeutung beimisst. Ideen zu haben ist vortrefflich, aber man sollte sicherheitshalber so viele haben, dass man ihnen keine übergroße Bedeutung beimisst und sie für das nehmen kann, was sie sind. Menschen, die nicht sehr viele Ideen haben, fällt es schwer, sie nicht mit großem Respekt zu behandeln.

Illustration: © Tullio Pericoli

Ich für meinen Teil kann nicht an einen Gott glauben, der mir böse ist, weil ich nicht an ihn glaube. Ich kann nicht an einen Gott glauben, der weniger tolerant ist als ich. Ich kann nicht an einen Gott glauben, der weder Humor noch gesunden Verstand besitzt.

Die übliche Vorstellung, dass Erfolg die Menschen verdirbt, weil er sie eitel, egoistisch und selbstgefällig macht, ist falsch; im Gegenteil, Erfolg macht sie − in den meisten Fällen − bescheiden, tolerant und freundlich. Misserfolg macht bitter und hart.

Denken mit

W. Somerset Maugham Tradition ist ein Wegweiser und kein Kerkermeister. Die großen Wahrheiten sind zu gewichtig, als dass sie neu sein könnten. Die Hälfte aller menschlichen Konflikte, die Hälfte aller Unsicherheiten entstehen durch den Wunsch, jede Frage mit einem Ja oder einem Nein zu beantworten. Oft wird weder Ja noch Nein die richtige Antwort sein; beide Seiten bestehen meist aus etwas Ja und etwas Nein.

Alle Religionen sind wie Sackgassen, die in einen Urwald geschlagen wurden, und der Mensch täuscht sich, wenn er glaubt, sie führten ihn zum Mittelpunkt.

Wenn man sich nicht für die anderen aufopfert, gilt man als abscheulich egoistisch; aber die Schäden, die man sich um ihretwillen zuzieht, ertragen sie mit erstaunlicher Seelenruhe.

Egoismus und Güte, Idealismus und Sinnlichkeit, Eitelkeit, Schüchternheit, Uneigennützigkeit, Mut, Faulheit, Unruhe, Beharrlichkeit und mangelndes Selbstvertrauen − all das kann in ein und derselben Person nebeneinander existieren und ein plausibles Gesamtbild ergeben.

Ich weiß nicht, wer unerträglicher ist: die alten Leute, die sich nicht in den Lauf der Zeit schicken können und eine widerwärtige Munterkeit zur Schau stellen, oder die anderen, die unbelehrbar in der Vergangenheit leben und kein Verständnis für die Welt aufbringen, die nicht mit ihnen stillstehen wollte.

Es ist die Aufgabe des Realisten, das Ungewöhnliche an einem gewöhnlichen Menschen zu zeigen. Ich beendete meine Erzählungen lieber mit einem entschiedenen Punkt als mit einem Gedankenstrich. Wir müssen weitermachen, auch wenn Rom in Flammen steht. Andere mögen uns verachten, weil wir nicht mit einem Eimer Wasser beim Löschen helfen; es ist nicht zu ändern: Wir können mit einem Eimer nicht umgehen. Außerdem fasziniert uns der Brand, und es fallen uns dabei gelungene Formulierungen ein. Ende eines Lebens. Es ist, als ob man gegen Abend ein Buch liest und das schwächer werdende Tageslicht nicht beachtet; dann hält man inne und bemerkt plötzlich, dass das Licht verschwunden ist. Es ist dunkel, und wenn man wieder ins Buch schaut, kann man nichts entziffern, und die Seite hat keinen Sinn mehr.

Denken mit W. Somerset Maugham Über Skepsis und humorvolle Resignation, die Natur des Menschen und den Beruf des Schriftstellers Diogenes

Diogenes Taschenbuch detebe 23910, 208 Seiten

Im nächsten Magazin: Arthur Schopenhauer Diogenes Magazin

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Studio-Besuch

Heike Makatsch & derhundmarie So etwas haben kleine oder große Ohren noch nicht gehört: die schönsten Kinderlieder, genial neu interpretiert von Heike Makatsch und Max Martin Schröder alias derhundmarie.

Diogenes Hörbuch Gesungen von Heike Makatsch

Die schönsten Kinderlieder aus ›Das große Liederbuch‹

Arrangiert von derhundmarie

1 CD

Foto: © Joachim Gern

Mit Bildern von Tomi Ungerer


F

»Tomi Ungerers Großes Liederbuch war schon in meiner Kindheit bei uns zu Hause ständig in Gebrauch«, erinnert sich Heike Makatsch. »Mein Vater spielte die Gitarre zu Liedern wie Horch, was kommt von draußen rein und begleitete geduldig mein hohes Stimmchen …«

ür uns war ausschlaggebend, dass unsere Tochter dazu tanzt«, sagt Heike Makatsch über ihre Platte Die schönsten Kinderlieder, auf der sie zusammen mit Max Martin Schröder, auch bekannt als derhundmarie, zwölf altbekannte und heiß geliebte Songs aus dem Großen Liederbuch neu interpretiert hat. Und wie sie tanzte! Als ihre Mutter im hauseigenen Studio aus vollem Halse singt und der Vater mit ungebremstem Enthusiasmus Der Kuckuck und der Esel, Ein Männlein steht im Walde oder Hejo, spannt den Wagen an auf Gitarre, Schlagzeug und Mundharmonika modern und doch zeitlos arrangiert, können die kleinen Füßchen der Tochter nicht mehr stillstehen. »Sie ist sehr musikalisch, und sie singt ständig. Und wenn wir mitsingen, sagt sie auch schon mal: ›Nein, nein allein singen!‹«, erzählt die Mutter.

»Es macht Spaß und Sinn, vermeintliche Kinderlieder ruhig mal für voll zu nehmen, genau wie die Kinder selbst.« Max Martin Schröder

»Für uns war ausschlaggebend, dass unsere Tochter dazu tanzt.«

Foto oben und unten: © Joachim Gern; Foto Mitte: © Simon Frontzek

Heike Makatsch Als wir Heike Makatsch und Max Schröder im Sommer in Berlin besuchten, war ihre Tochter gerade in der Kita, und so konnten wir die fast fertige CD ungestört anhören. Ganz zufrieden waren die Perfektionisten Heike Makatsch und Max Schröder noch nicht, aber für den letzten Feinschliff blieben noch einige Wochen. Da hörte sich der Männerchor im Hintergrund in einem Lied noch zu sehr nach Stammtisch an, bei einem Song wurden noch Bläser benötigt, eines war noch eine Spur zu lang, und ein Medley, in das die ganz einfachen Kinderlieder wie Backe, backe Kuchen oder Alle meine Entlein gepackt werden sollten, wurde kurzerhand verworfen. Der Anstoß zu diesem spannenden Projekt kam direkt vom Großen Liederbuch mit den Illustrationen von Tomi Ungerer, das seit 1975 ein millionenfach verkaufter Klassiker ist:

Hörbuchtipp Die schönsten Kinderlieder 1 CD, Spieldauer 38 Min. ISBN 978-3-257-80281-8

Zwölf heiß geliebte Kinderlieder, die Kinder (und Erwachsene) zum Tanzen, Klatschen und Mitsingen anstiften. Aufregend instrumentiert und zeitlos interpretiert. Mit allen Noten und Liedtexten im Booklet und vielen Zeichnungen von Tomi Ungerer.

So fiel es ihr leicht, sich mit Max Schröder auf ihre persönlichen Lieblingslieder zu einigen. Die gemeinsame Liebe zur Musik ließ ein ganz besonderes Album entstehen, das einerseits Kindern viel Spaß bereiten wird, andererseits aber die traditionellen Lieder auch für Erwachsene in neuem Licht erscheinen lässt. »Die Lieder sind definitiv nicht ausschließlich für kleine Menschen arrangiert«, sagt Max Schröder über seine Arbeit. »Die Musik — so wie sie nun auf dem Album zu hören ist — ist auch die, die ich hören möchte. Alles andere wollten wir uns und allen anderen Eltern bei der x-ten Wiederholung auf einer langen Autofahrt nicht zumuten! Es macht Spaß und Sinn, vermeintliche Kinderlieder ruhig mal für voll zu nehmen, genau wie die Kinder selbst.« Herausgekommen ist ein Album, das von Folk über Motown bis Sixties-Klängen sparsam Instrumentalisiertes, Besinnliches bietet — und teilweise richtig rockt. Und das hat auch Tochter Mieke gefallen. »Bei Kinderliedern sollte auch etwas abgehen, das sollen nicht nur Wiegenlieder sein«, finden auch Heike und Max. Mit Die Gedanken sind frei, dem vorletzten Lied auf der CD, haben Heike Makatsch und Max Schröder besonders Tomi Ungerer eine Freude gemacht, es ist nämlich sein Lieblingslied. sid

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Das Waldhaus ist ein reiner Familien onen betrieb: Seit vier Generati hrt – wird es von derselben Familie gefü ße Grö r diese els für heutige Hot eine Seltenheit. »A family affair since 1908«, so lautet folglich der Slogan. Die Geschwister Urs Kienberger und Maria Dietrich-Kienberger sind im Haus aufgewachsen und führen den Betrieb gemeinsam mit Felix Dietrich-Kienberger, der das Hotel auch seit Kinderjahren kennt: erst als junger her Feriengast, bald auch als jugendlic ilfe, aush Büro oder Golfkassier und dann als Hotelfachschulabsolvent Ehemann von Maria Kienberger.


Legendäre literarische Orte

Waldhaus Sils Maria Wer das Oberengadiner Dorf Sils Maria kennt, nennt meist zwei Dinge: Friedrich Nietzsche und das Hotel Waldhaus. Das legendäre Grandhotel, knapp ein Jahrzehnt nach dem Tod des Philosophen gebaut, ist seit über hundert Jahren ein Magnet für bekannte Denker, Literaten und andere Künstler. Zu Besuch an einem Ort, an dem Friedrich Dürrenmatt seine Geburtstage feierte, Thomas Mann sich über schlechte Beleuchtungsverhältnisse beschwerte, aber trotzdem regelmäßig wiederkehrte, und Donna Leon ums Frühstücksbuffet kurvt.

Fotos: © Hotel Waldhaus, Sils Maria

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enn sich der Blick nach der eher engen Julierstrecke weitet und sich das Oberengadin zu beiden Seiten des Weges ausbreitet, erscheint schon bald ein leuchtender weißer Fleck am oberen Talende, der seit über hundert Jahren Ziel mancher Reise ist. Der Erste, der diese wunderschöne Gegend für sich entdeckte, war Friedrich Nietzsche, der gegen Ende seines Lebens während sieben Sommern in Sils Maria lange Spaziergänge tat und einige Werke zu Papier brachte, darunter auch den zweiten Teil von Also sprach Zarathustra. Während Nietzsche in einem kleinen Häuschen in einfachen Verhältnissen lebte und arbeitete, können Besucher heute ein wenig bequemer residieren.

Und die erste Adresse am Ort sticht einem förmlich ins Auge: Auf einer bewaldeten Anhöhe über dem Dorf thront das Hotel Waldhaus wie eine Burg über dem Tal. Etwas näher gekommen, sieht man, dass die ver-

Kann man sich einen schöneren Ort zum Lesen oder Schreiben denken? meintlichen Burgmauern mit unzähligen Fenstern gespickt sind, so dass sich für die Gäste in jede Richtung eine fabelhafte Aussicht über das ganze Tal ergibt. Im letzten Abschnitt der Anreise durchquert man die

Ebene zwischen den zwei Seen und schließlich auch den Dorfkern. Die Gemeinde Sils, die Sils Maria und Sils Baselgia umfasst, liegt auf 1802 Metern über dem Meeresspiegel; auf die Frage nach den Einwohnern wird die Zahl »500 –4500 (inkl. Gäste)« angegeben. Das Nietzsche-Haus hinter sich lassend, gelangt man schließlich an den Fuß des Felsbuckels, auf dem das Grandhotel liegt. Im Winter ist die Begehung der oft vereisten steilen Straße im Schatten des Hangs eine halsbrecherische Angelegenheit. Nur die Schlittenpferde, die dick eingemummte Touristen ziehen, trotten dann immer noch mühelos den Hang hinauf, am Hotel vorbei und weiter hinauf ins beliebte Fextal. Diogenes Magazin

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Bücherseiten und das leise Klirren der Teelöffel; ab und zu ein paar kreischende Kinder, die über die Teppichböden poltern und wieder irgendwohin verschwinden. Die Mobiltelefonie hat diesen Raum nicht erobern können: Für den Handygebrauch sind seit einigen Jahren zwei Kabinen beim Eingang vorgesehen. Kann man sich einen schöneren Ort zum Lesen oder

zum Schreiben denken? Vielleicht schon: Ein paar Ecken von der Halle entfernt findet sich etwas weniger exponiert ein stiller Schreib- und Lesesaal. Neben den wie Inselchen beleuchteten Pulten befindet sich auch eine kleine Bibliothek im Raum. Bücher von bekannten Autoren reihen sich hinter der Glasvitrine, viele mit persönlichen Widmungen der Verfasser. Und tatsächlich zieht das Wald-

haus seit jeher Schriftsteller und Büchermenschen an. Thomas Manns Schwiegereltern reisten mit seiner Frau bereits 1911 das erste Mal an, er selber war hier später regelmäßig zu Gast. Bereits der zweite Abschnitt in Erika Manns Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater beginnt mit den Worten: »Wir waren wieder im Waldhaus.« Klaus Mann war oft im Dorf, wo er mit seiner Schwester Erika im Haus von Annemarie Schwarzenbach wohnte, in dem heute die Gemeindebibliothek untergebracht ist. Der Vater Thomas Mann stieg jedoch standesgemäß stets im Waldhaus ab, zum ersten Mal 1950, wo er auf Hermann Hesse traf. Erika Mann erinnert sich: »Im Speisesaal saßen Hesse und seine Frau nicht weit von uns, doch es war stillschweigend beschlossene Sache, dass man die Mahlzeiten gesondert einnahm. Erst nach Tisch, abends, kam man zusammen, und obwohl gewiss manches ernste Gespräch geführt wurde, sind diese Stunden mir als vorwiegend heiter in Erinnerung.« Hesse gehörte zu den »stämmsten Stammgästen«, zwischen 1949 und 1961 wohnte er fast 400 Nächte im

Fotos: © Hotel Waldhaus, Sils Maria

Wer über die breite Treppe das Entree betritt, meint, in eine andere Zeit geraten zu sein. Das Waldhaus wurde 1908 gebaut und ist in seinen Grundzügen bis heute unverändert geblieben. Auf den ersten Blick lassen sich nur wenige Dinge entdecken, die auf die Gegenwart verweisen, die Teppiche und das Mobiliar erinnern an Tage um die Jahrhundertwende, in denen man noch zwangsläufig mit der Kutsche anreiste. Geräusche sind durch Teppiche gedämpft, die Farben warm, Linien großzügig gesetzt und die Räume hoch. Das eindrückliche Treppenhaus mit dem Kronleuchter in der Mitte diente schon so manchem Hochzeitsfoto als Kulisse. Hinter einer großen Glastür sieht man direkt in das Herzstück des Hotels, die Halle. Früher auch als Ballsaal genutzt, stehen heute Sessel und Sofas in dem riesigen Saal, dessen abgerundete Fensterfront direkt in die Bäume hinausragt. Zu wohl jeder Tages- und fast jeder Nachtzeit lässt sich hier in irgendeiner Ecke jemand ausmachen, der den Krimi noch nicht weglegen konnte oder der als Erster die Tageszeitung überfliegt. Oft hört man hier nur das Rascheln der Zeitungen oder


Foto links: © Schweizerisches Literaturarchiv / Bern; Foto Mitte und rechts: © Hotel Waldhaus, Sils Maria

Entwurf für einen Eintrag ins Gästebuch, aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts.

Waldhaus. Nur ein Mal störte ihn etwas – Musik. »Letzte Nacht ging es um halb vier wieder an, ich stand auf, ging zur Halle hinunter, sah Licht in der Bar, und als ich wütend hineinging, saß da auf dem Musikpodium am Klavier der Hausdiener, der Nachtwache hatte, und spielte mit drei Fingern seine Lieblingsmelodien.« Thomas Mann lamentierte über schlechte Beleuchtungsverhältnisse in seinem Zimmer, kam aber immer wieder, wie viele nach ihm. Von Erich Kästner beispielsweise weiß man, dass er gerne des Nachts noch lange in der Halle sitzen blieb, um zu schreiben. Alberto Moravia war da, François Mauriac, Pierre Jean Jouve oder Thomas Bernhard. Letzterer schrieb eine giftige Miniatur-Erzählung mit dem Titel Hotel Waldhaus, die in ihrer Gänze wie folgt lautet: »Wir hatten kein Wetterglück und in jeder Beziehung auch widerwärtige Gäste an unserem Tisch gehabt. Selbst Nietzsche haben sie uns verleidet. Auch als sie mit ihrem Auto tödlich verunglückt und schon in der Kirche von Sils auf-

gebahrt waren, haben wir sie immer noch gehasst.« Da auch Thomas Bernhard Stammgast war, ist die Erzählung wohl als pure Fiktion zu lesen. Friedrich Dürrenmatt, der das Waldhaus liebte, ließ sich vom Hotel zu einem bitterschwarzen Stück Literatur inspirieren. In seinem Roman Durcheinandertal kauft ein Gangsterboss ein Schweizer Grand Hotel auf, um daraus im Sommer eine Armenschule für Millionäre zu machen und im Winter darin steckbrieflich gesuchte Gangsterkollegen zu verstecken. Zwar kam Dürrenmatt die Idee zum Buch durch Besuche im Waldhaus Vulpera, das 1989 abbrannte (übrigens nur ganz kurze Zeit nach Erscheinen des Romans, in dem das Hotel am Ende auch abbrennt), doch ließ er sich beim Schreiben ebenfalls vom Waldhaus Sils anregen, in dem er seine Geburtstage zu feiern pflegte. Die Liste der berühmten Gäste ist endlos: Da war Adorno, der regelmäßig zu Gast war und sich trotzdem schreibend über das Engadin ausließ,

es kamen Einstein und Beuys, aber auch David Bowie, C.G. Jung, Visconti und Chabrol, der auch gleich einen Film im Hotel drehte; oder Alexander Kluge, der sich seit Jahrzehnten sehr wohl im Hotel fühle und hier auch viel geschrieben habe, so Direktor Urs Kienberger. Sogar der richtige James Bond habe im Haus genächtigt; gemeint ist der US-Ornithologe, dessen Namen Ian Fleming für seine Figur 007 ausgeliehen hatte. Auch viele Musiker waren und sind gerne zu Gast, so zum Beispiel Richard Strauss, Georg Solti, Arthur Honegger, Maurizio Pollini oder Clara Haskil. Urs Kienberger erzählt, dass nicht selten befreundete Bewohner des Hotels füreinander musiziert hätten; so spielte der Cellist Pierre Fournier beispielsweise gerne für Hermann Hesse. Doch es gibt auch eine andere musikalische Tradition: Nicht nur Friedrich Dürrenmatt lauschte abends in der Hotelbar gerne den drei slowakischen Hausmusikern, die seit mehreren Jahrzehnten zur Tea Time in der Halle klassische Evergreens und abends in der Bar (wo das Cello gegen einen elektrischen Bass ausgetauscht wird) Jazz-Standards zum Besten geben. Diogenes Magazin

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Das Waldhaus war das Wunschkind des erfahrenen Hoteliers Josef Giger, der sich im Alter von 61 Jahren sein eigenes, vollkommenes Haus schaffen wollte und 1905 den ersten Spatenstich dazu tat. Nach eigener Aussage wollte er »etwas Schönes, Praktisches und Solides« bauen. Als Hoteldirektor war er schon mit 24 Jahren in der Schweiz, später auch in Russland und Italien tätig gewesen. Giger war ein Perfektionist, beim Tafelsilber bestand er zum Beispiel darauf, dass »die beiden großen Vorleglöffel höchstens 17 Centl. enthalten dürfen, besser nur 16, Stiel in der Länge den bestellten 10 Liter haltenden Suppenschüsseln angepasst, der Griff hübsch abgerundet, überhaupt recht bequem«. Fertiggestellt wurde Gigers Haus mit allen technischen Neuerungen seiner Zeit. Man errichtete sogar ein eigenes Elektrizitätswerk, damit das Licht in möglichst allen Räumen per Glühbirne leuchten konnte. Heute noch immer in Betrieb ist die zentral gesteuerte Uhrenanlage Magenta: Von einer Mutteruhr, die mit Gewichten funktioniert, geht jede Minute ein elektrischer Impuls auf alle eingebauten Wanduhren im Haus aus, worauf ihre Zeiger vorrücken. 48

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Auch wenn im Haus alle Uhren im Gleichtakt schlagen, so stehen doch das Wohlbefinden jedes einzelnen Gastes und der persönliche Service im Waldhaus im Mittelpunkt. So werden alle Gäste bei ihrer Ankunft persönlich von einem Mitglied der Direktion begrüßt und täglich unzählige Sonderwünsche erfüllt. Da kann es schon mal vorkommen, dass 16 Kissen für einen Gast aufgetrieben oder die Betten kompassgenau in die richtige Richtung gedreht werden, da der Gast nur mit dem Kopf ostwärts und den Füßen westwärts schlafen kann. In umständlicher Knobelei werden täglich neue Lösungen für die ideale Belegung der 140 Zimmer ausgetüftelt. Jeder Raum ist schließlich ein Unikat, hat seine ganz eigenen Besonderheiten, die vom einen Gast als Vorzug, vom andern als Mangel empfunden werden. Keines wurde eingerichtet wie das andere, manche Zimmer sind modern, manche historisch, das Thomas-Mann-Zimmer ist natürlich unverändert. Wenn Venedig versinken würde, würde Donna Leon wahrscheinlich ins Waldhaus umziehen. Für die Wahl-Venezianerin ist das Waldhaus schlicht »ihr Lieblingshotel«, in das sie gerne im Winter kommt, um ihrer ganz speziellen Auffassung von Wintersport zu frönen: »Für mich ist Wintersport, auf dem Sofa zu liegen

und zu lesen. Ich liebe es auch, aus dem Fenster zu schauen und den anderen beim Skilaufen zuzusehen.« Wirklich sportlich wird es dann bei ihrer anderen Lieblingsbeschäftigung: beim allmorgendlichen Lauf ums Frühstücksbuffet. Ulrich Greiner nannte das Waldhaus in der Zeit »wahrscheinlich das berühmteste Hotel im Schweizer Engadin und eines der schönsten« und auch eines der einzigartigsten, weil »Berühmtheiten der seriösesten Art zu Gast waren«. Seit jeher gilt: In St. Moritz steigen die Reichen ab, die sogenannte Snowciety, in Sils die Büchermenschen. Welche berühmten Schriftsteller kommen heute? Hoteldirektor Urs Kienberger nennt natürlich keine Namen, discrétion oblige, weiß aber, dass 27 Diogenes Autoren schon Gast im Waldhaus waren. Und: »Beim Abschied sagte neulich ein Gast zu mir: Ich habe drei Bücher zum Lesen mitgenommen, und alle drei Autoren waren in dieser Zeit hier im Hotel.« »Joseph Roth hat sich selbst als ›Hotelmenschen‹ bezeichnet«, so Arnon Grünberg. »Für einen echten ›Hotelmenschen‹ gibt es nur ein einziges Hotel, um zu heiraten, schreiben, essen, trinken und zu sterben: das Hotel Waldhaus in Sils Maria.« Man möchte nur noch hinzufügen: Und um zu lesen. js / kam

Fotos: © Hotel Waldhaus, Sils Maria

Musik für ein Hotel von einem Mitglied zweier Familien: Jürg Kienberger, Hotelmitbesitzer und Schauspieler des Ensembles um Christoph Marthaler.


Interview

Die Welt ist im Kopf

Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

Wie kommt jemand dazu, einen Roman über den jungen Schopenhauer zu schreiben, der nach Venedig fährt, um Lord Byron zu treffen, dort aber vor allem eine junge Venezianerin trifft? Christoph Poschenrieder gibt Auskunft über seinen wunderbaren Erstlingsroman und über sich selbst. Diogenes Magazin: Hatten Sie immer schon vor, einmal einen Roman zu schreiben? Christoph Poschenrieder: Nicht immer schon, aber schon lange, ziemlich lange sogar. Die Idee zu diesem Roman hatte ich während des Philosophiestudiums, ein Konzept, ein paar Seiten, das fertige Manuskript viele Jahre später. Woher kommt Ihr Interesse für Schopenhauer? Schopenhauer ist der eine unter den deutschen Philosophen, der schreiben konnte (der andere ist Nietzsche), das hat mich anfangs im Studium angezogen. Dann seine Philosophie, in der der Mensch nicht nur als »Geistwesen« auftritt, sondern auch mit seinen

Gefühlen und Trieben, seiner Körperlichkeit: Er hat das als Erster genau beobachtet und erforscht. Und weil Schopenhauer ein philosophischer Pessimist ist, verspricht er kein Heil, kein glorioses Jenseits. Den Ausweg

Die Realität spielt mit, und ich mit ihr. aus dem Schlamassel des Lebens gibt es nur im Diesseits. Klingt aber trauriger, als es ist! Dazu passt die Lebenslust Ihres zweiten Protagonisten, Lord Byron. War es das, was Sie an dieser Figur reizte? Eher der Byron im Wandel, der eben kein »party animal« mehr sein

möchte – oder kann, weil er’s körperlich nicht mehr durchsteht. Ich habe eine Weile gebraucht, um diese Figur zu verstehen: Hab ich den kompromisslosen Poeten oder den exzessiven Genussmenschen vor mir? Bei Byron, dem Dichter, gibt es immer noch einiges zu entdecken, aber die deutschen Übersetzungen sind uralt, und man muss eine Menge Fußnoten mitlesen, weil Byrons satirische Dichtungen voller böser Anspielungen auf Zeitumstände und -genossen sind, die keiner mehr kennt. Seine Liebesgedichte gehen natürlich immer. Was bedeutet der Titel Ihres Romans, Die Welt ist im Kopf? Das ist der Versuch, Schopenhauers Erkenntnistheorie in ein paar Worte Diogenes Magazin

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Spaziergänge gemacht, vielleicht war Schopenhauer der erste »Nordic Walker«. Wenn das gegen das Klischeebild vom motorisch beschränkten philosophischen Bücherwurm wirkt, auch recht.

Schopenhauer raucht auf seiner Reise nach Italien ein Opium-Pfeifchen. Gibt es Quellen, die bezeugen, dass er das mal ausprobiert hat? Nein, das habe ich ihm untergeschoben. Ich glaube eher, dass Schopenhauer solche Zustände geängstigt hätten; der wollte schon die Kontrolle behalten, vor allem über sich selbst. Die zweite Pfeife lehnt er ab. Asiatische Lehren haben Schopenhauers Philosophie geprägt. Sind auch Sie östlicher Weisheit zugetan? Schopenhauer hatte einen Buddha in seinem Arbeitszimmer stehen, ich habe immerhin eine kleine Schopenhauer-Büste ins Regal zu seinen Büchern gestellt. Die östliche Weisheit sehe ich eher durch Schopenhauers

Brille, europäisiert und nicht ganz authentisch. In Ihrem Buch hat Schopenhauer zwar noch keinen Pudel, aber er lässt sich von einem herumstreunenden Hund Venedig zeigen. Haben Sie selbst einen Hund? In unserer Familie gab es immer Hunde, und jetzt habe ich auch einen. Für uns Kinder waren sie oft Trostspender, man konnte wunderbar in ihr Fell hineinheulen, wenn das Leben mal wieder furchtbar war. Wenn mein Hund auf dem Teppich liegt und träumt, dabei mit den Pfoten wackelt und irgendwas beschnüffelt, bin ich immer auf ganz seltsame Weise angerührt. Streng nach indischer Lehre könnte man dann zu sich selber sagen: Dies bist du. Die Einheit der Geschöpfe über alle Gattungsgrenzen hat Schopenhauer jedenfalls in seine Lehre eingebaut. Tierquälerei hat er gehasst. Kommen wir zu Teresa, der Frau, von der in Ihrem Roman selbst ein Arthur Schopenhauer noch etwas lernen kann. Es gab sie ja tatsächlich. Was weiß man denn genau über sie? Wenig. Ein italienischer Schopenhauer-Forscher hat einmal die Kirchenbücher von Murano durchsucht und für den August 1793 die Taufe einer Teresa Fuga gefunden. Das könnte schon passen, diese Teresa wäre 1818 /19, als Schopenhauer in Venedig war, um die 25 Jahre alt gewesen. Der Nachname Fuga deutet auf einfache Herkunft, mit einiger Wahrscheinlichkeit aus dem Milieu der Gondolieri. Dann gibt es noch diesen charmant-nachlässigen Brief an Schopenhauer und den Liedtext, La note xe bella – die Dokumente hat er aufbewahrt, sie sind heute im Schopenhauer-Archiv in Frankfurt. Wenn die Briefschreiberin die Teresa aus Murano ist, dann hat sie sich damit ein bisschen unsterblich gemacht, denn ansonsten hat sie keine Spuren hinterlassen. Und über die andere Teresa, die Geliebte Lord Byrons, was weiß man da? Die Contessa Teresa Guiccioli hat

Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

zu fassen. Er sagt ja, es gibt keine Sonne für sich, sondern nur ein Auge, das eine Sonne sieht. Also, von der Existenz der Sonne zu reden, ohne in der ganzen weiten Welt wenigstens ein sehendes Auge dazuzudenken, ist sinnlos: Objekt geht nicht ohne Subjekt, und das macht die ›Welt als Vorstellung‹ aus. Was aber nicht heißen soll, dass alles nur Traum- und Wahnbild ist, denn es gibt ja noch die ›Welt als Wille‹, die andere Hälfte. In der Notiz zur Geschichte der Geschichte am Ende Ihres Buchs verzeichnen Sie mit einem Augenzwinkern, was genau »wahr« an der Geschichte ist, die Sie geschrieben haben. Haben Sie viel Arbeit in die Recherche investiert? Sehr viel, und das ist ein ganz großer Teil des Vergnügens. Beim Schreiben brauche ich Bilder, und die Bilder entstehen aus der Recherche. Man muss nicht bis zum letzten Uniformknopf genau sein, das wäre obsessiv, aber wenn ich etwas herausfinden kann und es meiner Geschichte nützt, warum nicht? Die Realität spielt mit, und ich mit ihr. Es geht Ihnen aber wohl kaum um historische Fakten. Worum ging es Ihnen bei diesem Roman? Die Geschichte eines jungen, ehrgeizigen Mannes zu erzählen, der auf die Bühne tritt, Applaus erhofft, aber nicht einmal ein Publikum findet, der eine große Gelegenheit verpasst, der sich darauf einstellen muss, den Rest seines Lebens mit Plan B zu verbringen. Es geht um Ruhm und Anerkennung, was man bereit ist, dafür zu tun, dafür zu opfern. Schopenhauer sollte der Ruhm zu Lebzeiten verwehrt bleiben. Dafür erlernt er in Ihrem Buch das Gondelrudern. Schopenhauer als Mann der Tat, als praktisch begabter, sportlicher junger Mann. Wie kommen Sie darauf? Das habe ich ihm einfach zugetraut. Er hat ja als Sohn eines Hamburger Großkaufmanns eine elegante Erziehung erhalten, wie das damals hieß, er konnte reiten und fechten. Bis ins hohe Alter hat er jeden Tag schnelle


sogar ein Buch über ihr Leben an der Seite Byrons geschrieben, in rückblickender Vergoldung allerdings. Lange hat ihre Beziehung nicht gedauert, denn Byron starb schon 1824, nicht nur räumlich entfernt von ihr, nachdem er sich in eine neue Passion gestürzt hatte, den Freiheitskampf der Griechen. Und dann ist da noch Goethe. Er kommt nur zwei Mal in Ihrem Buch vor. Und doch scheint er stets gegenwärtig zu sein. Für Schopenhauer eine sehr wichtige Figur … Eine, etwas ambivalente, Vaterfigur, kommt mir vor. Schopenhauers leiblicher Vater brachte sich um, als der Junge 17 war. Er hat seinen Vater sehr verehrt, sogar verklärt, was wohl auch in Reaktion auf das schwierige Verhältnis zur Mutter geschah. Goethe verehrte er ungeheuer, er ließ sich einspannen für Goethes Farbenlehre, unterdrückte aber den Widerspruch nicht, wenn er überzeugt war, dass der Ältere falschlag. Der hielt ihn später auf Distanz, aber Schopenhauer hat es ihm nicht übelgenommen. Mit seiner Empfehlungskarte an Lord Byron ist Goethe tatsächlich unsichtbarer Reisegenosse Schopenhauers. Eine andere historische Figur ist die Operndiva Angelica Catalani. Wie kamen Sie darauf, auch sie in diese Geschichte mit einzuflechten? Ich hatte beim Schreiben dieses Lied von G.F. Händel im Ohr, Lascia la spina – das zwar wunderschön ist, aber einen immer auch etwas frösteln lässt –, und brauchte jemanden, der es singt. Die Karriere der Catalani ist zur Zeit der Romanhandlung im Niedergang, sie war einmal extrem populär gewesen, und ihr mutmaßlich letztes Aufglühen in Venedig variiert für mich die Geschichte von Ruhm und Anerkennung. Ihr Roman spielt in Venedig. Was bedeutet Ihnen diese Stadt? Ich hätte es nicht schlecht gefunden, wenn Byron und Schopenhauer sich in einer anderen italienischen Stadt aufgehalten hätten, Venedig ist eben schon reichlich abgespielt – aber immer noch wunderschön, wenn man

zur richtigen Zeit kommt und die abgelegenen Orte aufsucht, im nebligen Frühwinter. Ich habe immer an den Film Wenn die Gondeln Trauer tragen denken müssen – das ist das Venedig, durch das mein Schopenhauer geht.

Für Schopenhauer gibt es den Ausweg aus dem Schlamassel des Lebens nur im Diesseits. Sie sind bei Boston geboren und haben ein paar Jahre in New York gelebt. Ihr Buch jedoch spielt nur in Europa. Wie sehr fühlen Sie sich mit den USA verbunden? Seit Obama wieder etwas mehr, aber ein Regierungswechsel verändert nicht das ganze Land. Ich glaube eher, dass ich mit den Jahren Europa mehr und mehr schätze. Und was verbindet Sie mit München? Ich bin in einem Vorort aufgewachsen, habe in München studiert und arbeite dort: Ich fühl mich in München

Buchtipp

Christoph Poschenrieder DieWelt ist im Kopf Roman · Diogenes

Erscheint im März 2010 352 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06741-5

Ein furioses Debüt. Eine lustvolle Reise durch Philosophie und Phantasie. Die Hauptfiguren: Arthur Schopenhauer, Lord Byron und eine junge Frau.

einfach zu Hause. Mein anderes Zuhause liegt etwas südlich des Brenner, in Südtirol, und ich fahre in beide Richtungen gerne. Wettermäßig sind die Südalpen allerdings klar im Vorteil. Sie haben die Journalistenschule an der Columbia University in New York besucht. Sind Sie dort zu Ihrem Schreibstil gekommen? Journalistisch Schreiben ist schon anders, meist unter Zeitdruck, auf Zeile – »und immer an den Leser denken!« In New York musste ich noch dazu auf Englisch schreiben, und das ist eine Sprache, in der man – wenn man das Vokabular hat – sehr gerade und wortarme Sätze bauen kann. Trotzdem erkenne ich lustigerweise, wenn ich meine alten Texte lese, eine Art »Stallgeruch« – ich weiß dann wieder: Stimmt, das ist von mir. Vielleicht macht sich auch meine Arbeit an Dokumentarfilmen bemerkbar; nicht, weil die Kommentartexte so brillant wären, dazu pfuschen da zu viele Redakteure herum, sondern weil man ständig in und mit Bildern denken muss und streng sequentiell. Gibt es Autoren, die Sie geprägt haben? Das ist etwas diffus. Es gibt immer wieder welche, die mich faszinieren, die ich neu lese, letzthin habe ich zum Beispiel Joseph Roth wiederentdeckt und mir gedacht: So müsste man’s können. Ich mag die englischen und amerikanischen Erzähler, einen frühen Hemingway, auch einen halben Chandler (dann werden mir die coolen Pointen zu viel), ich mag alle, die mit einfachen und wenigen Worten erzählen können, die Ironie eines Karl Kraus oder Ambrose Bierce, den spröden Wittgenstein im Tractatus, einen eleganten Maupassant, ◊echov, das Märchenhafte bei Leo Perutz, das Aufwühlende bei Ernst Weiß. Werden Sie weiter schreiben? Solange es Spaß macht. Wieder über berühmte historische Figuren? Vielleicht später einmal, aber im nächsten Buch gibt es garantiert keine prominente historische Figur. zan

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Foto: Š Mit frdl. Genehmigung des Norman Parkinson Archive, London


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Die andere Seite vom Paradies 1936 erschien in der New York Post ein Interview mit F. Scott Fitzgerald von Michel Mok. Für Fitzgerald, damals 40 Jahre alt und versunken in Verzweiflung, war die Veröffentlichung vier Jahre vor seinem Tod ein journalistischer Dolchstoß.

Schmerzen, die ihm die Verletzung vielleicht noch verursacht, können nicht die Erklärung für die Art sein, wie er abrupt vom Bett aufsprang und sich wieder setzte, wie er rastlos auf und ab lief, wie seine Hände zitterten, für die or langer Zeit, als er jung, selbstsicher, berauscht vom Zuckungen in seinem Gesicht mit dem jammervollen Ausplötzlichen Erfolg war, meinte F. Scott Fitzgerald zu druck eines geprügelten Kindes. Es erklärte auch nicht, warum seine Schritte ihn immer einem Reporter, niemand solle älter als 30 werden. Das war 1921, kurz nachdem sein erster Roman Diesseits vom Para- wieder zu einer Kommode führten, in deren Schublade dies den Literaturhimmel zum Leuchten gebracht hatte eine Flasche lag. Jedes Mal, wenn er sich einen Drink in einen Messbecher auf seinem Nachttisch goss, sah er flewie ein strahlendes Feuerwerk. Gestern beging der Dichterprophet der Nachkriegsneu- hend die Schwester an und fragte: »Nur den einen?« Jedes Mal schlug die Krankenschwester die Augen nierotiker hier in seinem Zimmer im Grove Park Inn seinen 40. Geburtstag. Er verbrachte den Tag, wie er seine sämtli- der und blieb stumm. Und so versuchte Fitzgerald auch gar chen Tage verbringt – mit dem Versuch, wieder auf diese nicht, den Schmerz in der Schulter als Vorwand für das Trinken zu nehmen. Seite des Paradieses zurückzufinden, »Papa hat ein paarmal Pech gehabt», herauszukommen aus der Hölle der VerGanz offensichtlich erklärte er mit gespieltem Übermut. »Da zweiflung, in der er die letzten Jahre zugab es in seinem wurde Papa traurig und greift nun ein gebracht hat. Seine einzige Geburtstagsgesellschaft Herzen genauso wenig wenig zur Flasche.« waren eine sanfte, nachsichtige, fürsorgWas das für Pech gewesen war, wollte Hoffnung, wie es liche Pflegerin aus den Südstaaten sowie er nicht sagen. der Schreiber dieser Zeilen. Mit dem Sonne am verregneten »Ein Schlag auf den anderen«, erklärte Mädchen schäkerte er, wie Patient und er, »und schließlich kam ein Knacks.« Himmel gab. Krankenschwester es gerne tun. Mit seiVor der Fahrt nach North Carolina nem Besucher unterhielt er sich tapfer: Sprach wie ein hatte sein Besucher allerdings schon ein wenig über FitzgeSchauspieler, der, zerfressen von dem Gedanken, dass er ralds Leben in letzter Zeit erfahren, von Freunden in Baltinie wieder im Rampenlicht stehen wird, von seiner nächs- more, wo dieser bis zum vergangenen Juli residierte. Die Frau des Schriftstellers, Zelda, war schon seit einiten großen Rolle spricht. Aber er konnte niemandem etwas vorspielen. Ganz offensichtlich gab es in seinem Herzen gen Jahren krank. Es gehe, sagten die Freunde, das Gegenauso wenig Hoffnung, wie es Sonne am verregneten rücht, sie habe einen Selbstmordversuch unternommen; Himmel gab, dessen Wolken den Blick auf den Sunset eines Abends hätten die beiden einen Landspaziergang auMountain verdeckten. ßerhalb von Baltimore gemacht, und Mrs. Fitzgerald habe Körperlich litt er noch an den Folgen eines vor acht sich auf die Bahngleise geworfen, als ein Expresszug sich Wochen erlittenen Unfalls, als er sich beim Sprung vom näherte. Fitzgerald, selbst bei schlechter Gesundheit, sei Fünfmeterbrett die rechte Schulter brach. Doch die ihr nachgesprungen und habe sie gerade noch gerettet.

Foto: © Princeton University Library / F. Scott Fitzgerald Papers

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ten zum Ausdruck, weit weniger poetisch, doch deswegen nicht weniger anrührend: »Ein Schriftsteller wie ich, der braucht vollkommenes Vertrauen auf sein Glück. Es ist ein geradezu mystisches Gefühl, ein Nichts-kann-mir-passieren, Nichts-kannmich-berühren, Nichts-kann-mir-wehtun. Thomas Wolfe hat es. Ernest Hemingway hat es. Ich hatte es früher. Doch durch eine Reihe von Schlägen, viele davon meine eigene Schuld, ist mir dieses Gefühl der Unverletzlichkeit abhanden gekommen, und ich habe meinen Halt verloren.« Zur Erläuterung erzählte er von seinem Vater. »In seiner Kindheit lebte mein Vater im Montgomery County in Maryland. Meine Familie ist nicht ganz unbekannt in der amerikanischen Geschichte. Mein Urgroßonkel war Francis Scott Key, der die amerikanische Nationalhymne schrieb; ich trage meinen Namen nach ihm. Die Tante meines Vaters war Mrs. Surratt, die nach dem Mord an Lincoln gehängt wurde, weil Booth die Pläne zur Tat in ihrem Haus geschmiedet hatte – wenn Sie sich erinnern, es wurden drei Männer und eine Frau hingerichtet. Als neunjähriger Junge ruderte mein Vater im Bürgerkrieg Spione ans andere Flussufer. Mit zwölf hatte er davon genug. Bei der ersten Gelegenheit zog er Richtung Westen, so weit fort von den Schlachtfeldern wie nur irgend möglich. Er baute eine Fabrik in St. Paul auf, die Korbmöbel herstellte. In den Neunzigern kam eine Finanzkrise, und er ging pleite. Wir kehrten zurück an die Ostküste, und mein Vater fand Arbeit als Vertreter für Seife in Buffalo. Dort arbeitete er einige Jahre lang. Eines Nachmittags – ich war zehn oder elf – klingelte das Telefon, und meine Mutter ging ran. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert war. Kurz vorher hatte meine Mutter mir einen Quarter für das Schwimmbad gegeben. Jetzt gab ich ihr das Geld zurück. Ich wusste, etwas Schreckliches war geschehen, und jetzt würde sie das Geld brauchen. Dann betete ich. ›Lieber Gott‹, betete ich, ›bitte schick uns nicht ins Armenhaus, bitte schick uns nicht ins Armenhaus.‹ Bald darauf kam mein Vater nach Hause. Ich hatte mich nicht getäuscht. Er hatte seine Arbeit verloren. Am Morgen war er als vergleichsweise junger Mann aus dem Haus gegangen, ein Mann voller Kraft, voller Selbstvertrauen. Am Abend kehrte er als alter Mann zurück, als gebrochener Mann durch und durch. Er hatte den Antrieb im Leben verloren, die Unschuld seines Daseins. Für den Rest seiner Tage blieb er ein Versager.

Foto: © Mit frdl. Genehmigung des Norman Parkinson Archive, London

Es folgten weitere Schwierigkeiten. Mrs. Fitzgerald wurde schließlich in einem Sanatorium hier in der Nähe aufgenommen, und ihr Ehemann folgte ihr bald und nahm sich ein Zimmer im rustikalen Park Grove Inn, einem der größten und angesehensten Kurhotels in Amerika. Doch wichtiger als die Gründe für Fitzgeralds Zusammenbruch sind dessen Auswirkungen auf den Schriftsteller. In Pasting It Together, einem von drei autobiographischen Texten, die er dort veröffentlichte, beschreibt Fitzgerald sich in der Märznummer des Esquire als einen »zerbrochenen Teller«. »Manchmal«, schreibt er, »kann man aber auch einen zerbrochenen Teller nicht wegwerfen, weil er einfach im Haushalt gebraucht wird. Man kann ihn nicht mehr zum Wärmen auf den Ofen stellen oder zusammen mit den anderen ins Spülbecken; man deckt ihn nicht auf, wenn Gäste kommen, aber er ist immer noch gut genug für ein paar Cracker spät am Abend oder um Reste darauf in den Kühlschrank zu stellen. Der übliche Ratschlag für jemanden, der sich gehenlässt, lautet, er solle sich diejenigen ansehen, die wirklich arm sind oder körperlich leiden – das ist ein schöner Trost, und die, denen es nicht weiter schlechtgeht, hören ihn immer gern. Aber um drei Uhr morgens … da hilft dieser Gedanke nichts – und in der tiefen schwarzen Nacht der Seele ist es immer drei Uhr morgens, Tag für Tag. Um diese Zeit neigt man, solange man nur irgend kann, dazu, den Dingen aus dem Weg zu gehen, indem man sich in einen Kindertraum zurückzieht – doch wird man immer wieder herausgerissen durch allerlei Kontakte mit der Welt. Man bringt diese Begegnungen so schnell und schmerzlos hinter sich wie nur möglich und kehrt dann in seinen Traum zurück – hofft, dass die Dinge wieder ins Lot kommen werden durch einen großen materiellen oder spirituellen Glücksfall. Doch je mehr man sich von der Welt fernhält, desto mehr schwindet die Aussicht auf einen solchen Glücksfall – man wartet nicht, dass ein einzelner Kummer wieder verschwindet, sondern eher wird man unfreiwillig Zeuge einer Exekution, der Auflösung der eigenen Persönlichkeit …« Gestern brachte er am Ende einer langen, fahrigen, unzusammenhängenden Rede das Gleiche mit anderen Wor-


Mein Vater hatte den Boden unter den Füßen verloren, einem Mädchen zu tun – und verpasste den Zug zurück genau wie ich jetzt. Aber ich will mir diesen Boden zu- nach Camp Sheridan, Alabama, unserem Ausbildungslager. rückerobern. Die Arbeiten für Esquire, die waren der erste Und da habe ich Folgendes getan: Ich ging zum PennSchritt. Vielleicht war es ein Fehler. Zu sehr de profundis. sylvania-Bahnhof und requirierte eine Lokomotive und Mein bester Freund, ein großer amerikanischer Schriftstel- einen Wagen, fuhr damit nach Washington, wo ich wieder ler – der Mann, den ich in einem der Esquire-Artikel mein zur Truppe aufschloss. Den Leuten von der Bahn erzählte künstlerisches Gewissen nenne –, schrieb mir einen wüten- ich, ich hätte vertrauliche Papiere für Präsident Wilson. Es den Brief. Er schrieb, es sei eine Dummheit, diese Art von komme auf jede Sekunde an. Der Post könne man sie nicht grüblerischem, persönlichem Kram zu schreiben.« anvertrauen. Sie sind auf meinen Bluff hereingefallen. Ich »Was sind Ihre Pläne für den Augenblick, Mr. Fitzge- glaube, es war das einzige Mal in der Geschichte der gerald? Woran schreiben Sie gerade?« samten US-Army, dass ein Lieutenant eine Lokomotive re»Ach, alles Mögliche. Aber lassen Sie uns nicht über quiriert hat. In Washington stieß ich wieder zu meinem Pläne reden. Je mehr man über Pläne redet, desto unbedeu- Regiment. Nein, Strafe habe ich keine bekommen.« tender kommen sie einem vor.« »Aber was war nun mit Diesseits vom Paradies?« Fitzgerald ging nach draußen. »Stimmt, ich schweife ab. Nach der Ausmusterung ging »Verzweiflung und immer nur Verzweiflung«, sagte die ich nach New York. Scribners lehnte das Buch ab. Ich Krankenschwester. »Verzweiflung Tag und Nacht. Am wollte mir eine Stelle bei der Zeitung besorgen. Ich klapbesten, Sie sprechen nicht über seine Arbeit oder über die perte sämtliche Redaktionen ab, immer mit den Noten und Zukunft. Er arbeitet, aber nur sehr, sehr Texten der Triangle-Shows aus den letzwenig. Vielleicht drei oder vier Stunden ten drei Jahren unter dem Arm. In Ein Schriftsteller wie Princeton war ich ein Held im Triangledie Woche.« Gleich darauf kehrte er zurück. »Wir Club gewesen, und ich dachte, das macht ich, der braucht müssen den Schriftstellergeburtstag feivollkommenes Vertrauen Eindruck. Den Jungs in den Redaktionen ern«, sagte er. »Wir schlachten das war das egal.« auf sein Glück. gemästete Kalb, oder wenigstens den Fitzgerald lernte einen Mann aus der geschmückten Kuchen.« Er goss sich Werbung kennen, der ihm riet, die Finger einen weiteren Drink ein. »Auch wenn Sie davon abraten, vom Zeitungsgeschäft zu lassen. Er verschaffte ihm eine meine Liebe.« Er lächelte dem Mädchen zu. Anstellung bei der Agentur Barron Collier, und ein paar Getreu dem Rat der Krankenschwester lenkte der Besu- Monate lang schrieb Fitzgerald Slogans für Reklametafeln cher das Gespräch auf die Anfangstage des Schriftstellers, in der Straßenbahn. und Fitzgerald erzählte, wie Diesseits vom Paradies entIn Diesseits vom Paradies zieht eine der Hauptgestalten standen war. mit folgenden Worten über die Erfolgsschriftsteller der da»Ich habe es während meines Militärdienstes geschrie- maligen Zeit her (von denen manche bis heute erfolgreich ben«, sagte er. »Ich war 19. Im Jahr darauf habe ich es dann sind): »Fünfzigtausend Dollar im Jahr! Meine Güte, noch einmal neu geschrieben. Auch den Titel habe ich ge- sieh sie dir an – Edna Ferber, Gouverneur Morris, Fanny ändert. Ursprünglich hieß es Der romantische Egozentriker. Hearst, Mary Roberts Rinehart –, und nicht einmal alle zuDiesseits vom Paradies, ist das nicht ein wunderbarer sammen haben sie einen einzigen Roman oder eine einzige Titel? Von Titeln, da verstehe ich was. Ich habe vier Ro- Geschichte zustandegebracht, die länger als zehn Jahre halmane und vier Sammlungen mit Erzählungen veröffent- ten wird. Dieser Cobb – den finde ich weder klug noch unlicht. Alle meine Romane haben gute Titel – Der große terhaltsam – und ich glaube, außer seinen Verlegern gibt es Gatsby, Die Schönen und Verdammten, Zärtlich ist die nicht viele, die das anders sehen. Der Mann ist beduselt vor Nacht. Das ist mein neuestes Buch. Vier Jahre lang habe lauter Reklame.« Und zum Schluss verkündet der Bursche, ich daran gearbeitet. da sei es doch kein Wunder, dass englische Autoren wie Ja, Diesseits vom Paradies habe ich in der Army ge- Wells, Conrad, Galsworthy, Shaw und Bennett die Hälfte schrieben. Ich bin nicht in Übersee gewesen – meine Mili- ihres Umsatzes in Amerika machten. Was hält Fitzgerald tärerfahrungen bestanden hauptsächlich darin, dass ich nun von der hiesigen Literaturszene heute? mich in jeder Stadt, in die der Dienst mich verschlug, in ein »Die ist um vieles besser geworden«, sagte er. »Main Mädchen verliebte. Street, das war der Durchbruch. Für mich ist Ernest HeBeinahe wäre ich an die Front gekommen. Wir sind tat- mingway der größte lebende Schriftsteller in englischer sächlich bis zum Transportschiff marschiert, und dann Sprache. Er ist auf Platz eins nachgerückt, als Kipling marschierten wir wieder zurück. Grippeepidemie oder so starb. An nächster Stelle kommt Thomas Wolfe, dann was. Das war ungefähr eine Woche vor dem Waffenstill- Faulkner und Dos Passos. Erskine Caldwell und ein paar stand. weitere sind knapp nach uns auf der Bildfläche erschienen, Wir lagen in Camp Mills, Long Island. Ich machte mich aber sie haben nicht ganz so viel Erfolg gehabt. Wir sind heimlich davon nach New York – zweifellos hatte es mit Kinder der fetten Jahre. Die beste Kunst wird in Zeiten des Diogenes Magazin

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Wohlstands produziert. Die Männer, die ein paar Jahre nach uns kamen, hatten nicht die Chancen, die wir hatten.« Als Nächstes wollte der Reporter wissen, was er von der jazzverrückten, ginberauschten Generation, deren fieberndes Leben er in Diesseits vom Paradies beschrieb, heute hält. Was war aus ihnen geworden? Wie gut schlugen sie sich in der Welt? »Warum soll ich mich um die kümmern?«, fragte er zurück. »Habe ich nicht selbst genug Sorgen? Sie wissen genauso gut wie ich, was aus ihnen geworden ist. Einige sind Börsenmakler geworden und haben sich aus dem Fenster gestürzt. Andere wurden Banker und erschossen sich. Wieder andere wurden Zeitungsreporter. Und aus einigen wenigen wurden erfolgreiche Schriftsteller.« Sein Gesicht zuckte. »Erfolgreiche Schriftsteller!«, rief er. »Dass ich nicht lache! Erfolgreiche Schriftsteller!« Er stolperte hinüber zur Kommode und goss sich noch einen weiteren Drink ein. © New York Post

Kommentar

Der Schmetterlingsschänder

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Manfred Allié

Ist Michel Moks Interview wirklich eine der größten Gemeinheiten, die ein Journalist an einem Schriftsteller verübt hat? Jay McInerney hat das Corpus Delicti wiedergelesen und seine Meinung revidiert.

in 4 Bänden: Neuedition der Erzählungen – 93 Short Stories tzt, 26 Erzählungen erstmals deutsch, 17 neu überse des Autors 50 in revidierter Übersetzung. Dazu vier Essays (zwei davon erstmals deutsch). ISBN 978-3-257-06720-0 Jeder Band auch einzeln erhältlich

»F. Scott Fitzgerald ist ein Schriftsteller, wie er Satz der Gegenwart fehlt. Seine Prosa trägt mit jedem die wie wirkt es das Gewicht der Welt, und e leichteste Übung überhaupt. Eleganz, das wusst echte der eben ist er, ftstell Schri dieser Existenzialismus. Jetzt, spätestens, kann man ihn wiederentdecken, diesen Schreiber, der Buchstaben setzte wie Musiker Noten und mit seinen Figuren durch das Jazz Age tanzte, n durch den Boom und den Crash, von den Weite r d’Azu Côte die an des Mittleren Westens bis sinns.« und schließlich sogar bis an den Rand des Wahn Georg Diez / Die Zeit, Hamburg

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ichel Moks Interview mit F. Scott Fitzgerald ist eine der größten journalistischen Gemeinheiten aller Zeiten. So hatte ich es jedenfalls in Erinnerung, und so wird es in Fitzgerald-Biographien dargestellt – ich habe gerade noch einmal in einigen nachgesehen. Ich kenne kein anderes Interview mit einem Literaten, das in dessen eigener Legende eine dermaßen große Rolle spielt. Doch als ich es jetzt wiederlas, fand ich ein weitaus einfühlsameres und scharfsichtigeres Porträt, als ich in Erinnerung hatte; wenn ich es überhaupt je gelesen hatte, nicht nur darüber gelesen. Vielleicht sind ja auch durch die Vulgarität unserer heutigen Skandalpresse meine Sinne abgestumpft … Mok gilt als Bösewicht in der Fitzgerald-Story, als einer der großen, brutalen Schmetterlingsschänder der Literaturgeschichte. Und es lässt sich nicht leugnen, dass dieses Interview dem Ansehen Fitzgeralds enorm geschadet hat (einem Gerücht zufolge versuchte Fitzgerald, sich das Leben zu nehmen, nachdem er es gelesen hatte); aber man kann es doch auch lesen als eine populärere Version seiner eigenen Crack-Up-Essays (Der Knacks) – eine lebendigere Darstellung jenes geistigen und emotionalen Zusammenbruchs, den Fitzgerald selbst im selben Jahr ein wenig ab-

Foto: © The New York Times / Redux / laif

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Foto: © Princeton University Library / F. Scott Fitzgerald Papers

strakt in einer Reihe von autobiographischen Essays in der der Wüste nachhallte«. Als er 1931 in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, fand er ein ganz anderes Land vor als Zeitschrift Esquire beschrieben hatte. Im September 1936, als das Interview erschien, litt Ame- das, über das er geschrieben hatte. Zärtlich ist die Nacht errika noch immer an den Folgen der Wirtschaftskrise, und schien 1934, als die privilegierten Gestalten, die das Buch vielen kamen die zwanziger Jahre wie das große Besäufnis bevölkern, schon gründlich aus der Mode gekommen waren. Der Kritiker Philip vor, das den Katzenjammer danach Rahv schrieb in seinem Ververschuldet hatte. Fitzgerald war riss für den linken Daily zur Symbolfigur jener überschäuWorker: »Vor einem Wirbelmenden Generation nach dem Erssturm kann man nicht Zuten Weltkrieg geworden, jemand, flucht unter einem Sonnender nicht nur Chronist dieser Ära schirm suchen.« Der war, sondern sie geradezu verkörWirbelsturm war die Wirtperte. »Einen kurzen Augenblick schaftskrise, vielleicht auch lang, bevor klar wurde, dass ich der Wille des Proletariats. für diese Rolle nicht geeignet Für diejenigen, die weder war«, schrieb er in der Aufsatzden Daily Worker noch die sammlung My Lost City, »wurde New York Times Book Reich in eine Position gedrängt, in view lasen, bot Moks Interder ich nicht nur Sprachrohr jener view eine moralisch befriediZeit, sondern auch deren typigende Antwort auf die Frage, scher Vertreter war.« Zumindest was denn eigentlich aus dem lieferten er und seine schöne Frau Burschen geworden war, der Zelda eins der unvergesslichen immer über die verruchten Bilder der Epoche, als sie nach Mädchen und über den Gin in einem angeregten Abend in Ballder Badewanne geschrieben kleid und Abendanzug in den hatte. Sein Porträt des KünstBrunnen des New Yorker Plazalers als armseliges Wrack hielt Hotels stiegen. Die Fitzgeralds sich beinahe ebenso hartnäckig waren Inbegriff dieses »Überwie vorher das Klischee vom schwangs der Jugend«, und ein paar Jahre lang schienen sie die Rolle zu genießen – Jahre, ewig beschwipsten Wunderknaben. Fitzgerald war kein in denen Fitzgerald großartige Bücher schrieb, darunter Sprachrohr seiner Generation mehr, aber er konnte von eines der Meisterwerke der Goldenen Zwanziger, Der neuem ihr Symbol sein, diesmal als Bild ihres Ausgebranntseins, wie der sprichwörtliche Börsenmakler, der große Gatsby. Wenn man es heute liest, scheint Der große Gatsby wie aus dem Fenster sprang. Moks Porträt ist hässlich, aber es ist nicht unfair, und ein Nachruf auf diese Epoche; es ist, neben vielem anderen, eine hellsichtige Prophezeiung, die das Ende der Party be- dass es so eindrucksvoll ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Fitzgerald selbst mithilft, als ihm die reits beschreibt, eine feine Kritik des so Fitzgerald hatte Hosen ausgezogen werden. Was war in schreiend zur Schau gestellten Materialismus der Zeit – auch wenn Der große das Pech, als Symbol- ihn gefahren, fragt man sich unwillkürlich, sich dermaßen bloßzustellen? Es ist Gatsby sich damals weit schlechter verfigur einer Ära fast, als habe er sich entschieden, noch kaufte als Diesseits vom Paradies, das einmal ein Symbol zu sein, selbst wenn Buch, das den Beginn des Jazz Age marlänger zu leben als das bedeutete, dass er sich in seinem gankiert und seinen Autor zum Star machte. diese Ära selbst. zen Elend offenbarte; noch einmal wollte Ist schon die Stellung als Sprachrohr einer Generation nicht von Dauer, so sieht es noch er beweisen, dass er der Inbegriff einer Generation war, schlechter für jemanden aus, der als Symbolfigur einer Ära und präsentierte sich als exemplarisches Opfer all ihrer das Pech hat, länger zu leben als diese Ära selbst. In den Schwächen. Dass dieses Dokument einem so zu Herzen folgenden Jahren steuerte Fitzgerald, vom Ausland aus, geht, ja dass es beinahe unerträglich ist, liegt daran, dass weiterhin Geschichten über Charleston-Mädchen und Fitzgerald darin seine literarischen Leistungen so vollkomübermütige Undergraduates für die Saturday Evening Post men unterschätzt – sein Werk, das ihm den posthumen bei, so sehr ihm auch der Alkohol und Zeldas immer labi- Ruhm bescherte, wenn auch für immer verquickt mit dem lere Psyche zu schaffen machten. 1930 war er mit Zelda in tragischen Mythos seines Lebens. Nordafrika und schrieb, er habe »einen dumpfen Knall in Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Allié großer Ferne« vernommen, »der bis in die fernsten Winkel

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Hommage

Françoise Sagan

Der große Fitzgerald

Foto oben: © Lido / Sipa / Dukas; Foto unten: © Foto: © Princeton University Library / F. Scott Fitzgerald Papers

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it fünfundzwanzig war F. Scott Fitzgerald ein schöner Mann – aber man sah ihn gern. Er war ein Talent – aber er hatte Erfolg. Er war verliebt in seine Frau – aber sie liebte ihn auch. Er verdiente viel Geld – aber er liebte den Luxus. Er liebte die Menschen – aber sie liebten ihn nicht minder. Er war jung – aber er machte gern Dummheiten. Er liebte den Alkohol – aber er vertrug ihn. Wenn ich ›aber‹ statt ›und‹ sage, so im Gedanken an viele Biographen, viele Kritiker, viele Literarhistoriker und ihre düsteren, gemeingängigen Theorien übers Kunstschaffen: In ihren Augen hat ein Künstler unglücklich zu sein. Was für ein Suhlen in Mussets Tuberkulose, Baudelaires Melancholie, Stendhals Misserfolgen oder Balzacs Gläubigern. Man muss sie verstehen: Talent ist undefinierbar, unerfassbar und unverdient, also gehört es bestraft. Nun, Scott Fitzgeralds Leben mit fünfundzwanzig Jahren war eine einzige Herausforderung an dieses eifersüchtige und trübsinnige Moralgesetz. Man darf sich sogar fragen, ob Scott Fitzgerald, hätte er nicht den Takt besessen, zur gleichen Zeit wie seine Frau im Alkoholismus im Wahnsinn zu versinken, ob er, sage

Er wollte nicht, dass der Ruhm das Glück erstickte, er wollte vielmehr, dass der eine das Echo des anderen sei. ich, seinen Platz in den Rängen der Literatur hätte behaupten können. Stellen Sie sich vor, er wäre alt, glücklich und talentiert in einem hübschen Cottage in Connecticut gestorben! Es ist nicht auszudenken. Schon seine glanzvollen zwanzig Jahre kamen ihn teuer zu stehen. Frivol hat man ihn genannt, als ob das

Glück frivol sein könnte. Blasiert, als ob der Alkoholismus blasiert sein könnte; schwach, als ob Schriftstellerei sich mit Schwäche vertrüge; beschränkt, als könnte Grazie beschränkt sein. Wahr ist, dass es Fitzgerald an einem Fehler mangelte, dem Egoismus. Sein Leben begeisterte ihn genauso wie sein Werk. Er fühlte mit seinen Nächsten genauso wie mit seinen Helden. Er wollte nicht, dass der Ruhm das Glück erstickte, er wollte vielmehr, dass das eine das Echo des anderen sei. Und es war tatsächlich der Zufall, der ihn um beides gebracht hat, ein sehr geliebter Zufall namens Zelda, für die er starb, wie er gelebt hatte. Echtbürtige Schriftsteller pflegen sich nicht als echtbürtige Liebende zu erweisen, aber Fitzgerald war eins so gut wie das andere, das hat ihn umgebracht. Doch gibt gerade das seinen Büchern jene ursprüngliche Gewieftheit, jenen sonst nirgendwo vernehmbaren Sound, jene seltsam zerrissene Süße, jene leuchtende Schwermut, kurzum jenen unvergleichlichen Schmelz, dessentwillen die Kollegenschaft ihn um seine Spleens wie seinen Untergang beneidet. Aus dem Französischen von

Christel Gersch

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Cover links: Kommissar Guillaume und Simenon auf dem Cover der Zeitschrift ›Confessions‹, in der die Geschichte ›Maigret im Ruhestand‹ zum ersten Mal erschien, 1934. Buchcover rechts: Guillaume veröffentlichte 1938 seine Erinnerungen unter dem Titel ›37 Jahre mit der Unterwelt‹.

Maigrets Doppelgänger: Kommissar Guillaume

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as nur wenige wissen – Kommissar Maigret hatte einen echten Doppelgänger: Kommissar Guillaume, den Simenon im berühmten Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres kennenlernte und von dem er sich viele Details für Maigret abschaute. »Als ich die ersten sechs oder sieben Maigrets schrieb«, so Simenon, »war ich noch nie bei der Kriminalpolizei gewesen. Ich war zwar am Quai des Orfèvres gewesen, weil ich so gern an der Seine spazieren ging, aber ich hatte keine Ahnung von der Polizeiorganisation. Als die ersten Maigrets erschienen waren, erhielt ich einen sehr netten Brief von Xavier Guichard, dem damaligen Chef der Kriminalpolizei, in dem er mich einlud, ihn zu besuchen. Das habe ich natürlich getan. Da habe ich Guillaume kennengelernt, und wir sind gute Freunde geworden.« Die Ähnlichkeiten zwischen Kommissar Guillaume und Maigret waren verblüffend, nur dass Guillaume Zigaretten rauchte statt Pfeife. Als Guillaume 1937 in Rente ging, schickte Simenon, als Abschiedsgeschenk, auch seinen Kommissar in den Ruhestand – zum Glück aber nur in einer Erzählung, die hier zum ersten Mal auf Deutsch erscheint.

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Exklusiv

Georges Simenon

Maigret im Ruhestand

Fotos: © Fonds Simenon, Liège

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ar’s denn nicht der blonde junge Mann mit der Brille?«, fragte ich. Kommissar Maigret begnügte sich damit, mir einen Blick zuzuwerfen, als wollte er mir sagen: ›Haben Sie denn immer noch nicht verstanden, dass der junge Mann mit der Brille, von dem am Anfang des Romans die Rede ist, als Täter nicht in Frage kommt?‹ »Aber der Straßenkehrer …«, wandte ich ein. »Ach ja, der Straßenkehrer …« Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, die der lang herabhängende Schnurrbart halb verdeckte. »Aber Sie bestreiten doch nicht etwa, dass der Geheimbund ein Interesse daran hatte …« Maigret brummte vor sich hin, nahm Rapporte entgegen, empfing Leute, die behaupteten, Gespräche mitangehört zu haben, die vorgaben, etwas zu wissen. Am Samstag, wenn Kommissar Maigret im achten oder neunten Kapitel nur noch vierzig Seiten bleiben, um den Schuldigen zu überführen, ist er schweigsamer als sonst, brummt fast die ganze Zeit vor sich hin und redet nur, um lästige Besucher mit einem groben Schimpfwort zu verscheuchen. Waren es die vier Patronenhülsen, die sein Interesse erregten? Oder vielleicht der kleine Dolch, von dem die

einen behaupteten, er beweise, dass ein Spanier der Täter sei, während die anderen auf einen Italiener tippten? Im dritten Kapitel, also etwa am Mittwoch, war ein weiblicher Racheakt in Erwägung gezogen worden. Im vierten Kapitel war vom Doppelleben des Opfers die Rede gewesen. Maigret rührte sich nicht von der Stelle, rauchte, empfing Besucher, verfolgte bedächtig seine Spur, ohne sich ablenken zu lassen.

Maigret montierte in aller Ruhe das Schild mit seinem Namen von seiner Tür ab. Am Sonntag saß er wieder in seinem Büro. Plötzlich schob er alle Papiere zusammen, erhob sich mit einem Seufzer, nahm seinen Überzieher vom Haken und griff nach seiner Melone. »Das geht doch nicht!«, sagte ich. »Sie können die Lösung noch nicht gefunden haben. Wir sind erst im neunten Kapitel und …« »Kommen Sie?«, entgegnete er. »Ich muss das Büro abschließen.« »Wollen Sie an den Tatort zurückkehren?« »Auf gar keinen Fall.«

»Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie gleich jemanden verhaften werden?« Wir standen auf dem Gang vor Maigrets Büro. Der Kommissar montierte in aller Ruhe das Schild mit seinem Namen und seinem Titel von der Tür ab. »So, das hätten wir«, sagte er nur. »Was hätten wir?« »Das sehen Sie doch! Ich gehe jetzt. Und zwar nach Hause. Nach Hause, verstehen Sie?« »Aber der blonde junge Mann mit der Brille … aber der Straßenkehrer … der Geheimbund, der …« »Das geht mich nichts mehr an … wir haben heute den 31. Januar … ab Mitternacht bin ich nicht mehr Hauptkommissar, sondern …« »Hauptkommissar im Ruhestand … Kommissar Maigret a. D.!« So endete Kommissar Maigrets letzte Ermittlung im Ruhestand.

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ie wüssten jetzt sicher gern, um welchen Maigret es sich handelt? Ich spreche natürlich vom echten Kommissar, oder vielmehr vom falschen, der nicht Maigret, sondern Guillaume heißt. Aber nicht doch, es stimmt schon, es handelt sich wirklich um den echten Kommissar, der dem falschen als Modell diente … Vielleicht fangen wir doch ganz von vorne an. Also, Kommissar Maigret Diogenes Magazin

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(diesmal meine ich den Kommissar meiner Romane) verdankt seine Existenz nämlich dem reinen Zufall … Maigret hat nicht einmal in Frankreich das Licht der Welt erblickt, sondern in Holland, und zwar im Jahre 1929 oder 1930, als mein Schiff, das nach einem Sommer auf der Nordsee überholungsbedürftig war, in die Werft gebracht werden musste. Von morgens bis abends hämmerten die Kalfaterer auf Teufel komm raus, so dass ich mir in meiner Kabine vorkam wie unter einer großen Kirchenglocke, die den Ostersonntag einläutet. Da ich um jeden Preis arbeiten musste, allein schon, um diese Leute zu bezahlen, suchte ich mir im hintersten Winkel des Hafens einen Schoner, der schon vor Jahren gestrandet war, aber in dem zum Glück das Wasser nur zehn Zentimeter hoch stand. Eine Kiste benutzte ich als Sitz, eine andere als Unterlage für meine Schreibmaschine, ein paar Backsteine dienten mir als wackelige Fußbank. Hier also wurde Maigret geboren, wobei mir einige verdutzte Ratten, wie Ochs und Esel an der Krippe, Gesellschaft leisteten. Ich hatte weder Conan Doyle noch Edgar Wallace gelesen, nichts von Locard, Grotz oder Reiss, ich war noch nie im Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres gewesen, und die einzigen Polizisten, die ich kannte, waren die Männer in Uniform, die mit ihren weißen Stäben an den Straßenkreuzungen den Verkehr regelten. Warum ich mir in den Kopf gesetzt hatte, Kriminalromane zu schreiben, ist mir heute noch ein Rätsel. Vielleicht einfach nur, weil mein Verleger von mir kosmopolitische Unterhaltungsromane verlangte. Ich sagte mir: ›Polizeikommissar ist im Grunde ein Beruf wie jeder andere. Kommissare sind bestimmt auch ganz normale Leute …‹ So wurde Maigret ein Mensch wie jeder andere, ein braver Mann, der seinen Beruf so gewissenhaft wie möglich ausübte. Sobald der Roman fertig war, schickte ich ihn nach Paris, und da 62

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auch die Kalfaterer inzwischen ihre Arbeit beendet hatten, ging ich wieder auf mein Schiff und fuhr nach Wilhelmshaven. Dort ankerte ich in der Nähe eines Brückenpfeilers und nahm ein neues Buch in Angriff. Gleich am nächsten Tag kam jemand von der Behörde und scheuchte mich fort. So ankerte ich etwas weiter weg vor einer Insel, die aus etwa vierzig vor sich hin rostenden Torpedobooten bestand. Die Geburt Maigrets sollte mühsam vonstatten gehen. Ich war noch nicht einmal beim zweiten Kapitel angelangt, als ein Mann von der Spionageabwehr (diesmal ein echter Polizist, der erste, den ich aus nächster Nähe kennenlernte) anrückte und von mir wissen wollte, warum ich mir ausgerechnet einen deutschen Hafen für meine Tippübungen ausgesucht hatte. Da er mir die Harmlosigkeit meiner Arbeiten nicht abnahm, ließ er sich in meiner Kabine nieder und durchforstete stundenlang meinen Text.

Was blieb meinem Maigret denn noch übrig? Dem anderen alles abschauen – alles außer der Zigarette. »Was bedeutet dieser Satz genau?«, fragte er argwöhnisch. Oder: »Was sollen die drei Sternchen nach diesem Abschnitt?« Er war mein erster Leser. Was er las, imponierte ihm offenbar so wenig, dass er mich aufforderte, mitsamt meinem unvollendeten Maigret-Roman binnen achtundvierzig Stunden die deutschen Gewässer zu verlassen. Ein unvollendeter, vor allem ein unfertiger Maigret: Mein Kommissar war zwar voll guten Willens, aber wenig vertraut mit den Regeln seines Berufs, geschweige denn mit den Gesetzen seines Landes. In seinem Eifer verwechselte er Kriminalpolizei und Sicherheitspolizei, Wachtmeister, Gendarmen und Polizeistreifen. Hauptächlich aber war er sich nicht zu gut dafür, höchstpersönlich einen

Verbrecher zu beschatten, selbst wenn er dafür im strömenden Regen herumstehen musste und nasse Füße bekam.

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bwohl er sozusagen mein Kind war, fand ich ihn doch ein wenig blass und angekränkelt. Ich begann, mir ernsthafte Sorgen zu machen, und eines schönen Tages überwand ich meine Schüchternheit und sprach im Polizeipräsidium am Quai des Orfèvres vor, um »echte« Polizisten kennenzulernen. Ich war sehr überrascht, als mir Xavier Guichard, damals Direktor der Kriminalpolizei, mit verschmitztem Lächeln sagte: »Soll ich Ihnen Kommissar Maigret vorstellen?« Der leibhaftige Maigret, dem ich dann gegenüberstand, war ein brummiger und gleichzeitig sehr feinfühliger Mensch, starrköpfig wie ein Maulesel, so starrköpfig, dass er hartnäckig weiter Zigaretten rauchte und nicht begreifen wollte, dass er mir damit meine Figur verdarb, die unablässig an ihrer Pfeife sog. Stattdessen hatte er eine Art, einen anzublicken, als wäre man durchsichtig. Und eine Art, einem zuzuhören, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Um dann plötzlich seinen Gedanken mit einem lauten »Merde!« Nachdruck zu verleihen... Was blieb meinem Maigret dann noch übrig, als dem anderen alles abzuschauen – alles bis auf die Zigarette natürlich. Kurz gesagt, dem echten Kommissar möglichst ähnlich zu werden. So ähnlich, dass er keinem herkömmlichen Polizisten der Kriminalromane mehr glich und keinen einzigen genialen Geistesblitz mehr hatte. Ich weiß, dass Kommissar Guillaume mir nicht böse ist, wenn ich das sage, und dass ihm allein bei der Vorstellung, dass die Polizisten mit genialen Geistesblitzen arbeiten, die Haare zu Berge stehen würden. Auch hat er es Maigret nicht übelgenommen, als dieser nach einem Tag im Büro seines Vorbilds vor sich hinbrummte: »Das ist ja ein Kinderspiel!«


Foto gross: © Pierre Vals / Opale, Paris; Foto Pietr-le-letton: © Archiv John Simenon, Lausanne

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orgens um neun betreten eine Hand voll Inspektoren das Büro ihres Chefs. Sie rauchen Zigarette oder Pfeife. Paris hat wieder eine aufregende Nacht hinter sich, doch nur ein paar Protokolle und Telegramme, die der Chef flüchtig durchblättert, zeugen in dürren Worten von den dramatischen Ereignissen. »Sagen Sie mal, Guillaume, Ihre Kunden haben in der Rue d’Hauteville wieder ein Höllenspektakel veranstaltet.« »Halb so schlimm! In drei oder vier Tagen sind sie hinter Schloss und Riegel …« Guillaumes Kunden bohren Löcher in Zimmerdecken und haben in den letzten vier Wochen schon zwanzig Mal bei Juwelieren oder Pelzhändlern eingebrochen. Im Polizeipräsidium heißen sie nur noch »Guillaumes Kunden«, weil der Kommissar sie seit einem Monat beschatten lässt und den Moment abwartet, wo er sie überführen kann. Einer der Inspektoren liest einen gehässigen Zeitungsartikel vor: »Es sieht mal wieder so aus, als habe die Polizei es aufgegeben, den Mörder der Schankwirtin in der Rue Picpus festnehmen zu wollen. Die Ermittlungen, die vor drei Monaten begannen, wurden eingestellt.« Das stimmt nicht. Ermittlungen werden nie eingestellt. Aber wie soll man das den Leuten erklären, die nicht wissen, dass man nichts tun kann als warten und dass der Mörder, den man nicht aus den Augen lässt, zwangsläufig in einem oder auch erst zehn Monaten gefasst wird. »Ein geheimnisvolles Verbrechen. Die Ermittlungen fördern sicher Überraschungen zutage …« Aber nein! Maigret zieht jetzt versonnen an seiner Pfeife, wie er es sich bei seinem Kollegen Guillaume abgeschaut hat, der an seiner erloschenen Zigarette saugt. Man kann solchen Schwätzern nicht den Mund verbieten. Wenn man vierzig Jahre lang im Amt war, entwickelt man ein Gespür für das Werk eines Geisteskranken. Es ist gut möglich, dass diese Tat, von Diogenes Magazin

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Maigret-Sammler »Süchtig nach Simenon wird man rasch, André Gide, einer der ganz großen Verehrer, prägte dafür den Begriff der ›Simenonitis‹« (Neue Zürcher Zeitung). Zum Abschluss der 75-bändigen Maigret-Gesamtausgabe präsentieren wir eine Galerie von bekennenden Maigret-Sammlern – eine kleine Auswahl der vielen Fotos, die der Verlag erhalten hat.

Wolfgang Taeffner, Köln (D)

Harald Gentsch, Murrhardt (D) Rolf Zöllner, Pfaffenhofen / Ilm (D)

Jürgen Saballek, Garbsen (D)

S I M E NO N Thomas Wieser, Buchkirchen (AT)

Bilder n

Diogenes

Stephan Maurer, Nürnberg (D)

Das Geschenk für Maigret-Sammler Wenn Sie dem Diogenes Verlag ein Foto von Ihnen und der kompletten 75-bändigen Maigret-Gesamtausgabe schicken, erhalten Sie als Geschenk den hochwertigen Bildband Simenon – Sein Leben in Bildern (336 Seiten, mit über 700 Fotos) im Wert von € 49.– Einsendeschluss ist der 30.1.2010.

Bitte schicken Sie Ihr Foto an: Diogenes Verlag AG, Sprecherstr. 8, CH-8032 Zürich oder per Mail an: werbung@diogenes.ch 64

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Gerd Hövelmann, Rheda-Wiedenbrücke (D)

Sabrina Krenzel, Berlin (D)

Walburga Becker, Telgte (D)

Foto Taeffner: © Schlawinsky-Photography; alle anderen Fotos: © bei den Abgebildeten

Sein Leben in


der man so großes Aufhebens macht, von einem Patienten einer Irrenanstalt oder eines Psychiaters begangen wurde.

Foto: © Edward Quinn / RDB

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chießerei in der Rue de Douai …«, sagt der Chef. Und Maigret brummt: »Dubois, hol doch mal Grand Louis her …« Danach wird er Grand Louis stundenlang im Wartezimmer schmoren lassen und dann bei seinem Anblick scheinheilig ausrufen: »Herrje! Du warst da, und man hat mir nichts davon gesagt? So was Dummes! Noch dazu handelt es sich nur um eine belanglose Formalität … komm herein … nimm Platz … eine Zigarette? … Wie geht es deinem Bruder? …« Die »belanglose Formalität« wird sich über acht oder mehr Stunden hinziehen und mit der Verhaftung von einem halben Dutzend Verbrechern enden. Versuchen Sie doch mal, Polizeiarbeit mithilfe von genialen Einfällen, Zigarettenasche, überaus scharfen Lupen oder mit ungeheuer schnellen Autos und Maschinengewehren zu verrichten … Maigret zog es vor, sich bescheiden in eine Ecke von Kommissar Guillaumes Büro zu setzen, von wo aus er vor gar nicht langer Zeit die Auflösung eines Falles aus nächster Nähe miterlebt hatte. »Nehmen Sie doch bitte Platz!« An sich ein harmloser Satz. Aber wenn Kommissar Guillaume sich so höflich an einen Mann wendet und ihm in seinem Büro einen Stuhl zuweist … »Es tut mir leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen. Ich musste wegen einer anderen Angelegenheit zum Chef … was wollte ich Sie nur fragen? …« In diesem Augenblick verhält sich Kommissar Guillaume haargenau wie Maigret. Bekümmert zupft er an seinem herabhängenden Schnurrbart. »Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein ... es stimmt doch, dass der Kassierer Truphème mit dem Wechsel um zehn Uhr bei Ihnen vorbeikam, oder?«

»Ja, es war um zehn …« »Schlamperei … der Inspektor hat vergessen, die Uhrzeit in seinem Protokoll zu vermerken …« Ein geradezu burleskes Verhör. In keiner Weise beeindruckend. Überaus jovial. Aber auch überaus tragisch. Der Herr, der auf seinem Stuhlrand hin- und herrutscht und der als freier Mann ins Polizeipräsidium gekommen ist, heißt Mestorino. Guillaume hat nichts gegen ihn in der Hand, kein Zipfelchen eines Beweises. Schon zwei Mal wurde er in diesem Büro verhört, ohne dass man ihm das Geringste nachweisen konnte. Doch Kommissar Guillaume ist überzeugt, dass Mestorino den Kassierer Truphème ermordet hat,

und fest entschlossen, noch an diesem Abend ein Geständnis zu bekommen. »Ich will Sie nicht länger aufhalten … aber da Sie schon einmal hier sind …« Allerdings ist Mestorino hier, und da bleibt er auch weitere achtzehn Stunden, auf demselben Stuhl festgenagelt, unter vier Augen mit dem Kommissar, der nach einiger Zeit Bier und Sandwiches kommen lässt, munter weiterredet und dabei isst und trinkt . »Ich habe mir gesagt, da Sie ja den Wechsel bezahlt haben, hatte der Kassierer Ihre 30 000 Francs bei sich, als er umgebracht wurde … der Mörder hat ihm das Geld gestohlen … wir

müssten nur die Nummern der Banknoten kennen …« »Ich habe sie nicht aufgeschrieben …« »Natürlich nicht. Sie konnten ja nicht vorhersehen, was geschehen würde. Ich notiere auch nie die Nummern meiner Banknoten … es gäbe aber vielleicht eine andere Möglichkeit … Sie hatten doch sicher nicht 30 000 Francs bei sich zu Hause … Sie haben sie bei der Bank geholt …wer weiß, vielleicht kennt die Bank die Nummern?« »Davon ist mir nichts bekannt« »Waren die Banknoten neu?« »Ich weiß nicht …« »Das ist wirklich ärgerlich! Versuchen Sie doch, sich zu erinnern … Sie würden uns einen großen Dienst erweisen ... bei welcher Bank haben Sie denn das Geld abgehoben?« »Ich erinnere mich nicht mehr …« Uff! Die erste Runde wäre überstanden: Es ist eindeutig, dass Mestorino die 30 000 Francs nicht hatte und der Wechsel nicht bezahlt wurde. »Haben Sie keinen Durst? Soll ich Ihnen ein Bier heraufbringen lassen?« »Gern …«, würgt der andere mit trockener Kehle heraus. »Wo sind wir? … Ach, ja … na so was! Wo ist nur mein Gesetzbuch hingekommen?« Und der Kommissar kramt in seinen Papieren, ruft einen Inspektor, hält endlich das Buch in der Hand, wo er Gott weiß was sucht. »Aha! Das dachte ich mir. Viel kann Ihnen nicht passieren. Schließlich haben Sie Truphème ja nicht getötet …«, er lacht herzlich, »… allerdings bin ich gezwungen, Sie wegen Falschaussage zu belangen … sehen Sie selbst, was Ihnen das einbringt … denn Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, dass Sie Ihren Wechsel bezahlt haben … daran gibt es wirklich keinen Zweifel, alter Freund … Sie sollten wirklich auspacken … außerdem sind Sie ja nicht vorbestraft und können daher mit Bewährung rechnen …« Schweigen. Der Kellner hat wieder Bier hochgebracht. Diogenes Magazin

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»Ich werde Ihnen jetzt sagen, wie sich die Dinge abgespielt haben. Als Truphème Sie aufsuchte, hatten Sie noch keine Zeit gehabt, auf die Bank zu gehen, daher haben Sie ihn gebeten, später wiederzukommen. Da er Sie kannte und wusste, dass Sie ein seriöser Kaufmann sind, hat er den Schuldschein dagelassen und Ihnen gesagt, dass er gegen Mittag noch einmal vorbeischaut. Er ist jedoch nicht wiedergekommen, weil er vorher umgebracht wurde. Sie haben die Unvorsichtigkeit begangen, den Wechsel zu behalten, ohne zuzugeben, dass Sie ihn nicht bezahlt haben … Das Schlimmste, was Ihnen passieren kann, ist, dass man Sie des Betrugs anklagt!« Ende der zweiten Runde. Inzwischen sind Stunden vergangen. Die Nacht ist hereingebrochen, die Gänge sind leer. »Aha! Sie geben also zu, dass Sie den Wechsel nicht bezahlt haben. Es ist aber zu spät, um Ihre Aussage rückgängig zu machen. Sie haben bereits unterschrieben. Ich möchte jetzt nur noch bemerken, dass mehrere Zeugen ausgesagt haben, Truphème habe Ihnen nicht über den Weg getraut und hätte Ihnen niemals einen unbezahlten Wechsel überlassen. Ihre Geschäfte gingen schlecht, alle Welt wusste das. Mehrmals hat der Kassierer Sie angepöbelt. Ich bin sicher, dass er an jenem Morgen noch ausfälliger wurde als sonst, dass er Sie vielleicht sogar bedrohte, was Sie sicher in Harnisch gebracht hat … nehmen wir einmal an, er ist mit dem Kopf gegen die Schreibtischkante gestoßen … das Strafgesetzbuch liegt vor Ihnen … sehen Sie unter fahrlässiger Tötung nach … ich erinnere mich nicht mehr an das Strafmaß …« Die Nacht geht zu Ende, der Morgen graut, im Polizeigebäude beginnt erneut das ständiges Kommen und Gehen. Immer wieder schaut jemand durch den Türspalt herein, sieht Mestorino auf demselben Stuhl sitzen wie am Vorabend und auf dem Schreibtisch den von Zigarettenstummeln überquellenden Aschenbecher.

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eben Sie’s doch zu, mein Lieber, damit wir endlich ins Bett kommen. Danach ist Ihnen bestimmt wohler!« Das erste Schuldbekenntnis, das dem gesprochenen Wort vorangeht, ist ein ekelerregender Geruch, der plötzlich den Raum durchzieht und der sowohl den seelischen als auch den körperlichen Zusammenbruch verrät. »Unterschreib endlich! Und dann ab ins Bett mit dir…« Manchmal sagte ich mir: ›Dieser Maigret ist einfach zu blöde, um etwas Ordentliches zustande zu bringen. Er ist zu sentimental. Es kommt sogar vor, dass er während einer Untersuchung feuchte Augen bekommt …‹ Worauf Maigret mir den Rauch ins Gesicht blies und entgegnete: »Glauben Sie bloß nicht, dass Guillaume aus Holz ist! Natürlich brüllt er manchmal, ich ja schließlich auch …« Dann sagte er ganz unvermittelt: »Wissen Sie, nach wem Mestorino rief, wenn er in seiner Zelle vor lauter Verzweiflung schier wahnsinnig wurde? Nach Kommissar Guillaume!« Man kann auch freundlich mit einem Menschen umgehen, den man ins Zuchthaus schickt. »Du bist ein kleiner Dummkopf, das bist du. Ein Angeber, der seiner Freundin zeigen will, was für ein toller Kerl er ist. Und da hast du die Schankwirtin wie ein Blödian, der du nun mal bist, niedergeschossen, und hast dazu nicht einmal Handschuhe angezogen. Geschieht dir ganz recht... das nächste Mal …« Erstaunlicherweise bricht der junge Mann in Tränen aus und bittet um Verzeihung, als hätte seine Mutter ihn ausgeschimpft. »Im Bois de Boulogne wurde der Leichnam von … eine Riesenaffäre, Kommissar!« Der Kommissar brummt vor sich hin, verfolgt bedächtig und unbeirrbar sein Ziel. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, selbst wenn ein Verbrechen noch so unlösbar scheint, und selbst wenn die Tageszeitungen auf der ersten Seite darüber berichten.

… der junge Mann mit der Brille … der Straßenkehrer … die Geheimpolizei und die Mafiabosse … Dienstag … Zeugenvernehmungen … Beweisaufnahmen … Freitag … Zeugenaussagen, die sich als Lügengespinst erweisen … Überprüfung des Beweismaterials … Da zieht der Kommissar seinen Mantel an, setzt seinen Hut auf und …

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er Mann, der meinem Maigret als Vorbild diente, spaziert gemächlich davon und, wie sein erfundener Kollege auch, in den Ruhestand, wobei er versonnen an seiner… Hoppla! Da hätte ich ihm doch fast eine Pfeife verpasst! Warum zum Teufel will er sich das Zigarettenrauchen nicht abgewöhnen? Was die Lösung des rätselhaften Falles im Bois de Boulogne betrifft, so kann er sie ja später einmal in der Zeitung nachlesen!

Aus dem Französischen von Ursula Vogel

Buchtipp

1072 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06682-1

Zum Abschluss der Neuedition der Maigret-Romane: sämtliche Maigret-Geschichten zum ersten Mal in einem Band. 27 Maigret-Kurzgeschichten, zwischen 1936 und 1950 entstanden – von Die Aussage des Ministranten bis Weihnachten mit Maigret.

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Georges Simenon fotografiert von

Fotos: Š Robert Doisneau / Rapho

Robert Doisneau


Welchen Maigret lesen? Jacques Berndorf

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er junge Mann begann als Lokalreporter bei der Gazette de Liège. Wobei man wissen muss, dass er im Rotlichtviertel wohnte und lebte und seine Schilderungen von Nutten, kleinen Gaunern und ganz bürgerlichen kleinen Leuten sehr lebhaft, kühl und von zuweilen bissigem Humor und tiefer Ironie sind. Simenon verstand diese Leute, es waren seine Leute. Simenon, der Journalist, reiste viel, lebte u. a. in den Vereinigten Staaten und Kanada und nahm 1957 schon Quartier in der Schweiz. Ich erinnere mich eindrücklich an einen

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Vier ganz persönliche Lesetipps zum Abschluss der 75-bändigen Maigret-Edition kleinen, hageren Mann, der morgens aufstand, ungeheuer diszipliniert arbeitete und sich vorher zehn Pfeifen stopfte, die er dann über den Tag verteilt rauchte. Ich erinnere mich besonders an einen Roman mit dem Titel Maigret lässt sich Zeit. Da analysiert er ein großes Mietshaus irgendwo in Paris. Da stellt er alle Mieter vor, da kämpft sich sein kluger Maigret mit unendlich vielen kleinen Gesprächen bei einer Mordermittlung durch das Pariser Leben der ganz normalen kleinen Leute. Der kleinen Nutten, der kleinen Diebe, der kleinen Zuhälter. Der Leser kann miterleben, wie er dem Täter immer näher kommt. Wie Maigret nicht einmal einen Halbsatz vergisst und mit viel Verständnis für Gauner und Gangster dieser kleinen Welt ausgerüstet ist. Maigret ist ein Meister seines Fachs. Ein wirklich brillant gezeichneter Polizist, der in seinen Aufklärungsarbeiten immer wie ein Alltagspsychologe vorgeht. Ich erinnere mich auch an Simenon in der Schweiz. Wie er sich gegen die Unbilden der Zeit zu rüsten versuchte. Wie er tatsächlich in seinem Haus ein komplett eingerichtetes Behandlungszimmer für einen Arzt ausstaffierte, damit ihm nichts passieren könne, wenn sein Körper einmal alt und hinfällig würde. War er also ein Verrückter? Nun ja, ein bisschen verrückt war er schon. Wie wir alle ja ein bisschen verrückt sind. Letztlich starb Simenon hochbetagt mit 86 Jahren in Lausanne in der Schweiz. Den angeblichen Intensivraum im eigenen Haus brauchte er da nicht mehr.

Gert Heidenreich

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er erste der Maigret-Romane ist mir einer der liebsten. Er ist nicht der raffinierteste, gleichwohl höchst spannend und von einer so verrückten Konstruktion getragen, dass man einfach nicht darauf kommen kann. Selbstverständlich verrate ich sie nicht. Nur so viel: Simenon stellt hier seinen Kommissar Maigret ausführlich vor, ohne zu ahnen, wie erfolgreich die Figur einmal sein wird. Er gibt ihr schon die grundsätzlichen Eigenheiten: ein wuchtiger Mann, der gern schweres Abendessen wie zum Beispiel die elsässische »Choucroute«

Foto Berndorf: © Torsten Silz; Foto Heidenreich: © Isolde Ohlbaum

Maigret-Zeichnung von Federico Fellini


Foto Klink: © Berthold Steinhilber / laif; Foto Droste: © vanit.de /Bozi

zu sich nimmt, danach nicht selten von Sodbrennen und nächtlichem Durst gequält wird. Seine Frau hat, wie in allen Maigret-Romanen, nicht viel zu sagen, weiß nie, wann er nach Hause kommt und ob überhaupt, ist ein dienendes Wesen, das ohne zu murren das Essen warm stellt und die Strümpfe stopft. Die Rollenverteilung der Geschlechter ist bei Simenon nicht nur in der Ehe der Maigrets extrem patriarchal gestaltet – dennoch empfindet man den Kommissar nicht als Macho. Das liegt vermutlich an seiner unaufdringlichen, bürgerlichen und ganz und gar uneitlen Art, das Leben zu nehmen. Simenon solidarisiert sich mit ihm in diesem ersten der Romanserie auf eine Weise wie später nie wieder. Wörtlich: »Er war ein ausgezeichneter Kommissar mit einem Gehalt von 2200 Francs im Monat, der sich nach einem abgeschlossenen Fall, wenn die Täter hinter Schloss und Riegel saßen, vor ein Blatt Papier setzen musste, um die Liste seiner Auslagen zusammenzustellen, die Quittungen und Belege daran zu heften und sich dann auch noch mit dem Kassierer herumzustreiten. Und wenn er sich erlaubte, über einen oder zwei Polizisten zu verfügen, musste er nachher über ihre Verwendung Rechenschaft ablegen.« Ein gequälter kleiner Beamter also, den sein brillanter Kopf und sein Diensteifer nicht zum Star machen. Simenon sieht ihn als »Flickschuster für kaputte Schicksale. Er verurteilt nie.« So scheint die Figur in Pietr der Lette zum ersten Mal auf in einem Fall, in dem es einen Toten gibt, der gleichzeitig fröhlich herummarschiert. Natürlich liebe ich das Buch auch, weil ein Teil in der normannischen Hafenstadt Fécamp spielt, in deren Nähe ich seit über dreißig Jahren ein zweites Zuhause gefunden habe. Sie ist in wenigen Strichen präzise geschildert. Wie überhaupt die Methode Simenons hier schon perfekt ist: knapp und genau zu erzählen, durch Auslassung Spannung zu erzeugen. Deshalb bleibt dieser Roman aus dem Jahr 1931 immer noch modern.

Vincent Klink

rile Dialogsequenzen, wie zum Beispiel: »Ist er verhaftet worden?« – »Er ist gebeten worden, zwei Herren bis hierher zu folgen. Das ist nicht dasselbe.« – »Was hat er gesagt?« – »Nichts. Man hat ihn nämlich nichts gefragt.« Nicht weiter erwähnenswert dürfte sein, dass Maigret sich seitenlang seiner geliebten Pfeife widmet und sich ansonsten kaum in die Karten schauen lässt. Also für mich ist Maigret immer ein Stück Urlaub.

Wiglaf Droste

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it Georges Simenon verbindet mich so einiges. Denn seine Romane, von denen ich sehr viele gelesen habe, spielen alle oder großteils in einem Bereich, der viel mit meinem Beruf zu tun hat. Man geht da in Kneipen, man muss immer mal wieder einen Pernod trinken, dann gibt es ein kleines Diner usw. Und der Wein kommt nicht zu kurz, und insgesamt ist das natürlich für mich schon immer eine Initialzündung der beruflichen Art gewesen, denn Maigret widerspiegelt ein Frankreich, das es heute fast nicht mehr gibt, aber das der deutsche Frankophile so liebt. Eines meiner Lieblingsbücher ist Maigret und der gelbe Hund, das in einem Hotel spielt und in der Wirtschaft. Ein Weinhändler wird erschossen, und ein gelber Hund läuft herum, und keiner weiß, wem dieser Hund gehört. Das ist alles recht geheimnisvoll, und am Schluss, wirklich in den letzten paar Minuten, löst sich das erst auf – ein enormer Spannungsbogen wird da durchwegs gehalten. Dazwischen gibt es wunderbar skur-

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ird man gebeten, einen Lieblings-Maigret auszusuchen, ist das ganz leicht und ganz schwer zugleich: leicht, weil sie alle gut sind; jedenfalls ist mir kein schlechter oder auch nur schwacher Maigret-Roman bekannt. Und schwer, weil jeder einzelne von ihnen seinen ganz eigenen Reiz hat, indem Simenon sein Augenmerk auf ein besonderes Detail legt bei seiner Betrachtung der Spezies Mensch. Simenon war Berufsschriftsteller; er wollte keine literarischen Meriten verdienen, sondern Geld. Genau wie Dashiell Hammett, der zur selben Zeit in den USA den Kriminalroman für immer veränderte, trat Simenon Diogenes Magazin

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im Genre des sogenannten Trivialen an. Er schrieb schnörkellos und ohne Mätzchen, und weil er viel veröffentlichte, schrieb er unter zahlreichen Pseudonymen, bis 1931 Maigret und Pietr der Lette erstmals unter seinem eigenen Namen erschien. Maigret ist ein Erforscher und Kenner der menschlichen Seele – man kann auch Psyche dazu sagen –, ein Innenweltraumforscher, dem Güte und Verständnis ebenso wenig fremd sind wie Abscheu und handgreifliche Wut. Simenon schrieb 1954 Maigret und die junge Tote. Der Plot enthält vieles, was ein Trivialroman braucht: Auf der Place Ventimille wird eine junge Frau erschlagen aufgefunden.

Anders als zunächst vermutet, ist sie keine Prostituierte. Die 20-jährige Louise Laboine ist ein unbeschriebenes Blatt; niemand in Paris kennt sie, und sie scheint niemandem zu fehlen. Peu à peu deduziert Maigret ihre Geschichte; im Süden bei einer halbverrückten Mutter aufgewachsen, brennt sie mit 16 durch. Ihr Vater, eine Art Gentleman-Krimineller, hat die Mutter verlassen, als Louise ein kleines Kind war, hinterließ ihr aber ein Erbe, für das sie ermordet wird: Kein Klischee scheint zu fehlen in diesem Plot, aber Simenon gestaltet ihn als Sternstunde der Psychologie. Eine der schönsten Szenen des Romans spielt sich im häuslichen Milieu

des Ehepaars Maigret ab: Als der Kommissar darüber brütet, warum die junge Tote ein Abendkleid trug, erzählt ihm Madame Maigret, wie sie sich als junges Mädchen heimlich ein Abendkleid schneiderte und sich vor dem Spiegel bewunderte und wie sie, ebenso verstohlen, Kleider und Schuhe ihre Mutter anprobierte. Als Madame Maigret endet, errötet sie – und man weiß genau, warum ihr Mann sie so liebt: es ist die Anmut, die sich aus Klugheit und Schamgefühl fügt.

Die Beiträge wurden verfasst für die 10-teilige Hörfunkreihe Mein Simenon auf SWR2. Zum Nachhören auf www.swr2.de/morgen

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Burkhard Spinnen

Foto Spinnen: © Arno Burgi / picture-alliance / dpa; Foto rechts: © Yves Debraine / Georges Simenon Family Rights Ltd. / Archiv John Simenon, Lausanne

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enn ich bei Schriftstellerkollegen zu Hause bin, lasse ich mir gerne ein besonderes Regal zeigen. Mal ist es sehr penibel organisiert, mal eher eine Art Sammelbecken – aber jeder hat es: das Regal mit den eigenen Büchern. Originalausgaben und Taschenbücher, Übersetzungen und Anthologien und so weiter. »Sehr schön«, sage ich dann immer, und darüber freuen sich die Kollegen. Ich selbst habe übrigens auch so ein Regal. Doch nun frage ich Sie: Wie sieht ein solches Regal bei einem der produktivsten und erfolgreichsten Schriftsteller der jüngeren Vergangenheit aus? Ich spreche von Georges Simenon. Er schrieb etwa 400 Romane. Seine Werke wurden in 60 Sprachen übersetzt, die Gesamtauflage soll über 500 Millionen Exemplare umfassen. Und nun stellen Sie sich vor: ein Exemplar von jedem Original, jeder Taschenbuchausgabe, jeder Übersetzung und so weiter – welch eine Masse muss da für Simenons spezielles Regal zusammengekommen sein. Vorausgesetzt, er hatte eines. Ja, hatte er? Ich habe ein bisschen recherchiert. Ja, er hatte wohl eines. Aber es war kein Regal, es war eine Bibliothek, und was für eine! Tatsächlich soll Simenon seinen Verlagen gegenüber darauf bestanden haben, ihn mit allen anfallenden Belegexemplaren zu versorgen. Und jetzt rechnen Sie mal: 400 Romane mal Dutzende Neuauflagen,

Georges Simenon in seinem Archiv in der Avenue du Temple in Lausanne, 1964

Taschenbuchausgaben, Übersetzungen und so weiter. Was muss da zusammengekommen sein? Nun, man kann es sich anschauen, jedenfalls einen kleinen Ausschnitt davon – und dann ahnen, wie das Ganze ausgesehen hat. Im Internet habe ich ein paar Fotos gefunden, die einen älteren Simenon zwischen deckenhohen und eng gefüllten Regalen zeigen, wobei die Regale so dicht stehen, dass gerade ein Mensch dazwischen passt. Auf den Fotos ist es der Autor. Ich frage mich, wie Simenon mit dieser Bibliothek umgegangen ist. Vermutlich hat ein Angestellter die Sammlung betreut. Kam sein Arbeitgeber regelmäßig zu Besuch? Hieß es dann: »Bonjour, Monsieur«, woraufhin der Bibliothekar den Schriftsteller zu den interessantesten Novitäten führte? Hier ein Exemplar in fernöstlicher Schrift, dort eins mit einer

besonders rätselhaften Umschlagillustration. Was mag Simenon in seinem eigenen Bücherkosmos gefühlt haben? Waren es Stolz und Allmacht? Das wäre verständlich. Ich sehe mir das Foto noch einmal an. Vielleicht fühlte er auch Verwirrung und Einsamkeit angesichts des Eigenlebens seiner Bücher. Er wirkt klein vor den Regalen, überwölbt von seinen Werken. Vielleicht hört er, wie sie in Sprachen reden, die er nicht versteht und nie verstehen wird. Nun, wie auch immer, jedenfalls hat Simenon sich lange vor seinem Tod von seiner Sammlung getrennt. Sie befindet sich heute in einem kleinen Schloss in der Nähe von Lüttich. Wer nachempfinden will, wie es Simenon inmitten seiner Bücher ergangen ist, der kann ja einmal hinfahren. Die Öffnungszeiten sind freitags von 9 bis 18 Uhr. Und nach Vereinbarung.

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I Andrea Camilleri

Was ich Simenon verdanke

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ch war sieben Jahre alt, als ich eines Tages im Sommer 1932, während meine Eltern Mittagsschlaf hielten, meinen ganzen Mut zusammennahm und mir einen strengstens verbotenen Schlüssel stibitzte, eine Treppe hinaufstieg und vor der Tür zum Dachboden stehen blieb. Ich ahnte, dass dies ein Ort voller Schätze war, die meine Phantasie beflügeln würden, aber der Zugang war mir strikt untersagt. Der Speicher war nicht nur sehr staubig, sondern auch ziemlich gefährlich: Er hatte keinen Fußboden, und so musste man von einem Balken zum anderen gehen, ohne auf die dünnen Querlatten zu treten, die unter dem Gewicht brechen konnten. Außerdem führte eine kleine Tür, ähnlich der eines Hühnerkäfigs, hinauf aufs Dach. Ich fürchtete, die Eltern, die ein Stockwerk tiefer schliefen, könnten von meinem Herzklopfen aufwachen: Um größere Distanz zwischen sie und mich zu legen, öffnete ich die Tür und schlüpfte hinein. Ich hatte es doch gewusst, der Dachboden war ein phantastischer Ort, eine Fundgrube für Träume: ein alter Fotoapparat mit Stativ und daneben Holzkisten voller Glasnegative, ein gigantischer Telefonapparat, der eine ganze Wand einnahm, Walzen für ein mechanisches Klavier, die Felgen von Großvaters Automobil (das Auto selbst, ein Scat, Società Ceirano Automobili Torino, lagerte auf Eisenblöcken im Keller unseres Hauses auf dem Land). In einer Ecke ein paar Jutesäcke. Ich öffnete einen: Darin befand sich die Zeitung für Reisen zu Wasser und zu Lande in einem Sammelhefter. Für mich ein Fund von unschätzbarem Wert, denn ich las bereits Comics wie L’avventuroso und L’intrepido. Ich öffnete den zweiten Sack. Er war vollgestopft mit Büchern der Verlage Provaglio, Sonzogno (aus der Reihe »Economica«) und Nerbini (die farbig gebundenen Hefte mit den Abenteuern von Fantômas, Petrosino, Nick Carter, Lord Lister). Aufs Geratewohl nahm ich zwei Bände der Sonzogno-Reihe heraus und ging wieder hinunter, die Tür schloss ich hinter mir ab. Ich legte den Schlüssel an seinen Platz zurück, lief in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Das erste Buch war von einem gewissen Conrad; es hieß Almayers Wahn. An den Titel des anderen Buches kann ich mich nicht erinnern, Autor war ein gewisser Georges Sim. Ich verschlang die Bücher an vier Nachmittagen. Heimlich ging ich wieder auf den Dachboden und holte mir zwei weitere Bücher, eines von Ohnet, das andere von Prévost. Schon die ersten Zeilen gefielen mir nicht. Bevor ich die Bücher wieder in den Sack steckte, kramte ich noch zwei Bücher jener Autoren heraus, die zu meinen Lieblingsschriftstellern geworden waren: Sim und Conrad. Zwei Tage später erwischte mich mein Vater beim Lesen. »Warst du auf dem Dachboden?« – »Ja.« – »Wenn Mamma das erfährt, haut sie dich windelweich. Wenn du willst, hol ich die Bücher für dich herunter oder kauf dir neue.« So kaufte er mir Bücher einer Kinderromanreihe von Mondadori und gekürzte Fassungen von Klassikern der erzählenden Literatur (damals las ich zum ersten Mal Moby Dick).


Zeichnungen: © Tullio Pericoli

Aber mir fehlte Sim, und ich bat meinen Vater, mir ein paar Bücher von ihm zu kaufen. Papà konnte keines auftreiben und versuchte mich mit seinen ersten gialli von Mondadori zu trösten, den gelb eingebundenen Kriminalromanen, die er mir »lieh«. Doch im Jahr darauf brachte er mir triumphierend ein Buch von Simenon aus der Reihe »I libri neri«. Ich war enttäuscht: »Aber das ist ein anderer Schriftsteller!« Mein Vater erklärte mir, dass Sim und Simenon ein und dieselbe Person seien. Ich las das Buch und wusste sofort, dass mein Vater die Wahrheit gesagt hatte: Sim und Simenon waren wirklich identisch. Das war der Anfang eines gemeinsamen Lebens mit Georges Simenon, den ich allerdings nur ein Mal persönlich getroffen habe. Von da an ließ mich Simenon, obwohl ich wie besessen alles Mögliche las, nicht mehr los; er vermochte sich sogar in Büchern zu verstecken, die beinahe Groschenromane waren. Eines Tages entdeckte ich den anderen Simenon, eingebunden in einen dunkelorangefarbenen Umschlag mit schwarzen Karos, den Simenon von 45 Grad im Schatten, Die bösen Schwestern von Concarneau, Ankunft Allerheiligen. Viele Jahre später, als ich schon für das Fernsehen arbeitete, wurde ich mit der Produktion der Maigret-Serie beauftragt, die Diego Fabbri vorgeschlagen hatte; er wollte dann zusammen mit Romildo Craveri die Drehbücher schreiben. Regie sollte Mario Landi führen. Fabbri, Landi und ich waren uns sofort einig, dass Gino Cervi den Maigret spielen sollte. Cervi willigte ein, bestand aber darauf, dass Andreina Pagnani, mit der er lange gemeinsam gespielt hatte, den Part der Madame Maigret übernahm. Wir brachten Simenon Fotos von beiden; mit Cervi war er gleich einverstanden, beim Foto der Pagnani zögerte er. »Ist was nicht in Ordnung?«, fragt Fabbri. »Maigret hat jung geheiratet«, antwortete Simenon. Wir verstanden nicht. Simenon erklärte sich mit einer Frage: »Sieht Signora Pagnani nicht eher aus wie das bildhübsche Mädchen, das Maigret damals geheiratet hat?« Wir versprachen, bei der armen Andreina entsprechend mit Schminke nachzuhelfen, und kehrten nach Rom zurück. Bei der Begegnung mit Simenon war ich nicht aufgeregt, zu sehr war er mir durch seine Bücher vertraut; ich betrachtete ihn als Familienmitglied, als eine Art Onkel (dass sein Familienleben nicht einfach war, erfuhr ich erst später). Die Entstehung des Drehbuches habe ich von Anfang an mitverfolgt. Fabbri zerlegte ein Buch regelrecht (im wahrsten Sinne des Wortes, denn er riss Seiten heraus und stellte sie anders zusammen) und montierte es für die Fernsehbearbeitung neu. So lernte ich, wie der europäische Kriminalroman funktioniert, so erlernte ich zum Teil das Handwerk. Damit stehe ich tief in Simenons Schuld. Als ich selber begann, Kriminalromane zu schreiben, galt es, Montalbano von Maigret abzusetzen. Teilweise ist mir das, glaube ich, gelungen, vor allem, was den Ermittlungsstil betrifft. Maigret lässt sich auf die Atmosphäre ein und vertraut seinem Gefühl, er versucht sich in den Toten hineinzudenken und

Zeichnungen von Tullio Pericoli

identifiziert sich fast mit ihm, um die Motive für das Verbrechen zu begreifen. Montalbano indes versucht nüchtern nachzudenken, die Atmosphäre nicht wieder entstehen zu lassen. Er misstraut dem Gefühl. Ich habe auch ein bisschen in die Trickkiste gegriffen, um den Unterschied zwischen den beiden noch zu betonen (das gestehe ich hier zum ersten Mal). Maigret ist glücklich verheiratet, und seine Frau bekocht ihn meisterlich (wenn er zum Essen nicht in die Brasserie Dauphine geht). Auch Montalbano isst gerne: Wäre er mit einer Frau verheiratet, die nicht kochen kann, hätte er nach ein paar Monaten die Scheidung eingereicht, wenn aber Livia eine gute Köchin wäre, hätte ich ein Duplikat des Ehepaares Maigret geliefert. Also habe ich Madame Maigret zweigeteilt: in die Haushälterin Adelina, die für Montalbano kocht, was ihm schmeckt, und in die Freundin Livia, die – wie Sie sehen, aus rein literarischen Gründen – schon sehr lange darauf wartet, dass er sie heiratet. Mein Leben mit Simenon geht weiter: Ich lese ihn wieder, seit seine Bücher nach und nach in neuer Übersetzung erscheinen.

Aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim Diogenes Magazin

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Top 10

Martin Walker

Top 10 Filme Kulturleistungen Amerikas, lassen sich jedoch nur schwer auf die Leinwand übersetzen. In diesem Film aber scheint dies optimal gelungen. Er ist einfach großartig, berührend und komisch, gefühlvoll und geistreich zugleich, mit einem glänzenden weiblichen Schurken, Debbie Reynolds als Ikone der Unschuld und Gene Kelly, der mit Stanley Donen Regie führt und dessen gesangliche und tänzerische Leistungen hier unübertroffen sind.

2. Stagecoach 1939 Mit diesem Film wurden Hauptdarsteller John Wayne und Regisseur John Ford zu Legenden. Er hat alles: Pokerspieler, Apachen, Schießereien, die 7. Kavallerie, eine dramatische Geburt im Kugelhagel und eine Hure mit goldenem Herzen. Rio Bravo ist vielleicht stilistisch überlegen, Red River hat mehr Action und Mein großer Freund Shane die besseren Darsteller, Spiel mir das Lied vom Tod ist vielleicht stimmungsvoller und Zwei glorreiche Halunken hat Clint Eastwood, doch Stagecoach ist für mich der perfekte Western. 3. Casablanca 1942 Krieg und Liebe, Pflicht und Betrug, exotischer Handlungsrahmen und moralische Verstrickungen – all das fließt ein in einen der vollkommensten Filme, die je gedreht wurden. Humphrey Bogart, Ingrid Bergman und Claude Rains spielen darin ihre schönsten Rollen, und klugerweise überließ Michael Curtiz die Regie ganz dem Drehbuch von Julius Epstein, der mir später ein guter Freund wurde. Als er eines Abends zum Essen in unser Haus kam, brachte er seine Freundin Fay Wray mit, den Star aus King Kong. Unsere damals zehnjährige Tochter Fanny war von diesem Film sehr beeindruckt; als ihr Fay nun begegnete, sagte sie: »Entschuldigen Sie, Miss Wray, aber hatten Sie keine Angst, von diesem riesigen behaarten Affen auf den Arm genommen zu werden?« Fay lächelte, tätschelte ihr die Wange und antwortete: »Schätzchen, wenn du mal so alt bist wie ich, wird dich bestimmt so mancher riesige behaarte Affe auf den Arm genommen haben.« 4. Der dritte Mann 1949 Graham Greene schrieb das Drehbuch, Carol Reed führte Regie, und Orson Welles brillierte in der Rolle des Schurken. Doch die eigentlichen Stars sind die Stadt Wien und ein kriegsversehrtes Europa zwischen russischen Truppen und amerikanischem Geld. 5. Singin’ in the Rain 1952 Broadway-Musicals zählen zu den größten

drohte und es keinen Ausweg aus der perversen Logik der Abschreckungsspirale zu geben schien. Damit der Film gelingen konnte, bedurfte es des verrückten Genies von Peter Sellers, der darin drei verschiedene Rollen verkörpert – und die perfekt. Später lernte ich Edward Teller kennen, den Vater der Wasserstoffbombe und eins der Vorbilder für Sellers’ Dr. Seltsam, dessen Porträt der Wirklichkeit gespenstisch nahekommt.

9. Blade Runner 1982 Obwohl fast dreißig Jahre alt, ist dieser dystopische Blick auf Los Angeles und das Jahr 2019 nach wie vor ungemein überzeugend als unsere mögliche Zukunft, und je häufiger ich Ridley Scotts Meisterwerk sehe, desto besser gefällt es mir. Dass Harrison Ford nicht besonders gut spielt oder die Androiden ohne jeden Charme und Pathos sind, tut dem keinen Abbruch. Was den Film so beängstigend real macht, liegt vor allem am Set.

6. Das Fenster zum Hof 1954 Es fällt mir nicht leicht, mich nur für einen der Filme Hitchcocks zu entscheiden. Vertigo und Die 39 Stufen stehen ebenfalls in der engeren Auswahl. Aber dieser Film über einen Pressefotografen, der, an den Rollstuhl gefesselt, das Leben seiner Nachbarn beobachtet, hat etwas unvergesslich Voyeuristisches. Die Geschichte wird zu einer Allegorie über die Rollen des Journalisten, Kritikers und Zeugen, gewürzt mit einer perfekten Darbietung von Grace Kelly, die alles verkörpert, was wir am überschäumenden und optimistischen New York der fünfziger Jahre lieben. 7. Jules und Jim 1962 Truffauts Meisterwerk, in dem Jeanne Moreau ihre schönste Rolle spielt, ist ein episches und liebevolles Lamento auf ein Europa, wie es hätte sein können, wenn unsere europäische Zivilisation nicht 1914 Suizid begangen hätte. Sooft ich diesen Film sehe, verlasse ich das Kino mit einem Lächeln auf den Lippen, aber Tränen in den Augen. 8. Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben 1964 Vielleicht ist die schwarze Komödie das einzige Mittel, dem nihilistischen Kern des nuklearen Weltuntergangs beizukommen, doch Kubrick drehte diesen Film im Schatten der Kubakrise, als der Atomkrieg unmittelbar

10. Das Leben der Anderen 2006 Während der 80er-Jahre verbrachte ich vier Jahre als Reporter in Moskau, und dieser großartige deutsche Film über die Bespitzelung eines ostdeutschen Theaterautors durch die Stasi spiegelt die Macht eines autoritären Staates, der jederzeit auch in die privatesten Bereiche eindringen kann, auf schauerlich realistische Weise wider. Der Staat vergiftet alles, was mit ihm in Berührung kommt, und trotzdem blüht etwas in diesem moralischen Sumpf; eine Spur von Menschlichkeit, Mitgefühl und Liebe, und man spürt, dass das Böse nicht andauern wird. Es ist ein großer, erhebender und eindrücklicher Film über die Möglichkeit der Flucht aus der Hölle. P.S. – Mir ist bewusst, dass ich an einem anderen Tag, in anderer Stimmung oder nach einem Glas Wein womöglich eine Liste mit anderen zehn Favoriten zusammengestellt hätte. Wahrscheinlich wäre Eisensteins Alexander Newski darunter gewesen, Marcel Carnés Die Kinder des Olymp, Kubricks Clockwork Orange, Billy Wilders Manche mögen’s heiß, David Leans Lawrence von Arabien oder vielleicht Mel Brooks’ Frühling für Hitler. Doch wie hätte ich Laurence Oliviers Heinrich V, Charles Crichtons Ein Fisch namens Wanda oder Robert Hamers Adel verpflichtet auslassen können? Die Nummer 10 dieser Liste hätte auch alternativ Wim Wenders’ Himmel über Berlin sein können, aber da fällt mir gerade noch ein anderer Film ein, nämlich Die glorreichen Sieben.

Im nächsten Magazin: Top 10 Jazz-Antidepressiva von Peter Rüedi 76

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Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

1. Ärger im Paradies 1932 Ernst Lubitschs für mich schönster Film ist eine leichte, freche Gaunerkomödie zwischen Venedig und Paris. Hinter der glitzernden Kulisse der Reichen und der Grand Hotels in mitunter expressionistisch anmutendem Dekor entwickelt sich eine Liebesgeschichte von unwiderstehlichem Charme, Witz und prickelnder Erotik.


Serie

Das erste Mal Brian Moore über seine ersten Leseerfahrungen

Foto: © www.kennys.ie

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anche Menschen scheinen sich noch so genau an ihre ersten Leseerfahrungen erinnern zu können, als wäre es gestern gewesen. Ich nicht. Aber ein Detail aus einer der ersten Geschichten, die ich gelesen habe, ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben. Ich war in der Grundschule, und nachdem ich das Alphabet gemeistert hatte, lernte ich laut zu lesen. Den Namen der Geschichte habe ich ebenso vergessen wie ihre Auflösung. Aber ich weiß noch, dass ein Riese getötet wurde und ein Junge einen Gürtel trug mit dem gestickten Schriftzug ›Sieben auf einen Streich‹. Beim Weiterlesen stellte sich heraus, dass diese Prahlerei ein Trick war, denn es waren sieben Fliegen und nicht Männer, die er mit diesem einen gewaltigen Schlag getötet hatte. Dieses Märchen versetzte mich in Aufregung; zum ersten Mal wollte ich unbedingt noch mehr Geschichten

lesen. Das Alphabet, das ich erlernt hatte, ohne zu wissen, wozu, eröffnete mir eine Welt, die faszinierender und geheimnisvoller war als diejenige,

Es ist das einzige Buch, das ich jemals gestohlen habe, und ich besitze es noch immer: Ulysses. die ich kannte. Geschriebene Worte konnten täuschen. Mit ihrer Hilfe konnte man Menschen Unwahrheiten vorgaukeln. Und ich hatte, ohne es zu wissen, mit der Hyperbel, der Übertreibung, Bekanntschaft gemacht. Oder war es Ironie? Und so wurde in sehr jungen Jahren ein begeisterter Leser aus mir. Unser Haus war voller Bücher, aber wenn ich an diese Zeit meiner ersten

Leseerfahrungen zurückdenke, fallen mir nur längst eingestellte Kinderzeitschriften wie Gem und Magnet und eine Reihe mit dem Titel Der Wolf von Kabul ein. Ich glaube, meine erste und wichtigste Erfahrung mit großer Literatur machte ich im Alter von elf Jahren, als ich in der Schule Shakespeares Macbeth, Julius Caesar und Der Kaufmann von Venedig las – die für die Prüfungen vorgeschriebenen Stücke. Die Begegnung mit diesem großartigen Sprachgewitter und mit so lebendigen Charakteren wie Lady Macbeth, Shylock und Marc Anton sowie der Umstand, dass ich gezwungen war, die Reden auswendig zu lernen und sie vorzutragen, nährten in mir eine Überzeugung, die ich heute noch vertrete: Das Vergnügen zu lesen übertrifft das Vergnügen selbst an der besten Theatervorstellung. Wenn ich hier meine Lehrer lobe, Priester in dem engstirnigen irischDiogenes Magazin

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Christine Westermann / WDR, Köln

Borger & Straub

Sommer mit Emma

Roman · Diogenes

416 Seiten, Leinen ISBN 978-3-257-06713-2

Die Ferien auf dem Hausboot sollten ein abwechslungsreiches Abenteuer werden, und das werden sie – allerdings auf andere Weise, als die Familie es sich vorgestellt hat … Eine rasante Tragikomödie mit berührendem Finale.

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katholischen Internat, die mich diese Zeilen auswendig lernen ließen, so weiß ich doch heute, dass sie das Wahre und Gute auch niederwalzen können. Nicht nur, dass sie nie auch nur einen einzigen Autor oder ein Buch erwähnten, das nicht auf dem Lehrplan stand, sie schienen auch kein Gefühl für die Werke zu haben, die sie unterrichteten. Ich erinnere mich, wie unser Englischlehrer eintönig diese Zeilen aus Die Seeinsel von Innisfree von William Butler Yeats herunterleierte: »›Und hab neun Reihen Bohnen, ein Bienenvolk, das brummt / Und leb allein im Wald, von Bienen umsummt.‹ Das ist onomatopoetisch, Jungs. Ihr könnt den Klang der summenden Bienen hören.« Ich tat es und musste jahrelang bei Yeats Poesie ans Einschlafen denken. Tatsächlich wäre die moderne Lyrik in jungen Jahren beinahe völlig an mir vorbeigegangen, hätte ich nicht im Alter von 16 Jahren The Faber Book of Modern Verse entdeckt, herausgegeben von Michael Roberts. Es wurde für mich, wie für viele andere meiner Generation, die Einführung zu Eliot, Auden, MacNeice, Wallace, Stevens, Hart Crane und anderen. Die Lektüre von Das wüste Land führte mir vor Augen, dass den Büchern im Haus meines Vaters und denen, die ich in der Schule lesen musste, der Kitzel des Neuen fehlte. Und dann, an einem unvergesslichen Sonntagnachmittag, während ich meinen Schwestern beim Tennisspielen im Garten meines Onkels in Belfast zusah, gab mir mein älterer Cousin heimlich ein Buch, das er gerade aus Paris eingeschmuggelt hatte; er schlug es auf einer Seite auf, die, wie er sagte, »ziemlich heiß« war. Ich las besagten Abschnitt, voller erotischer Erregung, las dann aber langsam weiter mit einem Interesse, das nichts mehr mit dem sexuellen Gehalt des Buches zu tun hatte. Es war ein Roman, wie ich noch nie zuvor einen gelesen hatte, und er handelte erstaunlicherweise auch noch von Irland, seiner Religion und seinem Volk. Ich lieh es mir von meinem Cousin und

gab es nie zurück. Es ist das einzige Buch, das ich jemals gestohlen habe, und ich besitze es noch immer: die zweibändige Odyssey-Press-Ausgabe von Ulysses. Und dann lag ich eines schönen Tages mit 18 – ich hatte Irland noch nie verlassen – auf dem Gipfel des Cave Hill, dem Berg, der meine Heimatstadt überblickt. Ich las Fiesta, versunken in Hemingways glänzende Beschwörung eines spanischen Stierkampfes und des Bohème-Lebens der Exilamerikaner an der Pariser Rive Gauche in den 1920er Jahren. Ich las von einem Mann namens Jake Barnes und seiner zum Scheitern verurteilten, fruchtlosen Affäre mit einer wunderschönen Frau namens Brett Ashley. Ich erkannte, dass Jake Barnes, genau wie Stephen Dedalus, eine Art Schriftsteller war, beide halb verliebt in Länder, die nicht ihre eigenen waren. Wenn ich heute zurückblicke, so glaube ich, dass diese beiden Bücher meine Sehnsucht geweckt haben, Irland zu verlassen und Schriftsteller zu werden. Das habe ich dann getan. Aus dem Englischen von Marion Hertle

Buchtipp

Brian Moore Hetzjagd

Roman · Diogenes

detebe 23096, 304 Seiten ISBN 978-3-257-23096-3

44 Jahre lang hat sich Kriegsverbrecher Brossard der gerechten Strafe entziehen können, listig wie ein alter, böser Fuchs. Nun aber trifft Verrat den Verräter, und eine gnadenlose Jagd beginnt.

Foto: © Peter Peitsch / peitschphoto.com

»Wo Borger & Straub draufsteht, ist was Gutes drin. ›Sommer mit Emma‹ ist wie Sommerkino mit Gänsehaut.«


Briefe an die Redaktion

Briefumschlag: © Tomi Ungerer

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o eine schöne neue Literaturzeitschrift und zwei so traurige Listen – Worstsellers –, gibt es Bücherheime für ungewollte Bücher? Man möchte sie tröstend streicheln und ihnen sagen, dass diese Vernachlässigung nur ein Missverständnis, nur ein dummer Zufall sein kann – umso mehr, als sich unter den Ungelesenen ein paar meiner Lieblingsautoren finden. Frank McCourts Die Asche meiner Mutter war ein großer Erfolg im deutschsprachigen Raum, wieso ist dann das Interesse an Frank O’Connor so gering? Er schreibt besser und amüsanter über die »kleinen Leute« in Irland als sein Namenskollege. O’Connor ist ein Kenner des Kleinstadtlebens, wo die Menschen eng beieinander leben und sich und anderen wegen Kleinigkeiten das Leben zur Hölle machen können oder Vergnügen an den eigenen Schwächen und denen anderer finden. Manches mag typisch irisch, katholisch und erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sein, aber vieles ist zeitlos und allgemeingültig. Es ist schade, dass im deutschsprachigen Raum, außer bei echten OrwellFans, nur das grimmige 1984 und die Farm der Tiere bekannt sind – Orwell hat viel mehr Lesenswertes hinterlassen. Als blutjunger Polizeibeamter in Burma erlebt er die britische Kolonialherrschaft in ihrem Endstadium und begreift, dass hier nur noch eine Fassade aufrechterhalten wird. Er hat auch ein waches Auge für die Entwicklungen in Großbritannien, die Kommerzialisierung, die Ausbeutung der Beschäftigten und den zunehmenden Leistungsdruck, unter dem die Menschen arbeiten müssen. Orwell hat, was man beim Autor von 1984 nicht unbedingt erwartet, durchaus Sinn für (eher schwarzen) Humor (Die Wonnen der Aspidistra) und die Gabe, gerade sich selbst nicht immer ernst zu nehmen. Griff in den Staub ist ein spannender Roman, ein wahrer Krimi, und beim ersten Lesen vor über drei Jahrzehnten habe ich mitten in der Geschichte vorsichtshalber am Ende nachgeschaut, ob auch alles gut ausgeht. Die Handlung spielt Ende der 1930er Jahre. Ein weißer Mann wird erschossen, und ein Schwarzer wird als mutmaßlicher Täter festgenommen, steht er doch neben der Leiche und hat eine erst kürzlich abgefeuerte Schusswaffe bei sich. Es geht um Freundschaft, Loyalität, (widerwillige) Achtung und Verpflichtungen über Rassengrenzen hinweg. Faulkners Humor ist subtiler als der Hitchcocks, und er hat ein natürliches Gespür für Absurdes und Skurriles im Alltagsleben. Zugegeben: Die einsame Passion der Judith Hearne gehört nicht zu meinen Lieblingsbüchern von Brian Moore (das sind Schwarzrock

und Die Farbe des Blutes), zu freudlos ist das Dasein dieser alten Jungfer, die ihre Jugend der Pflege eines anderen geopfert hat und beim Versuch, aus ihrem Leben auszubrechen, kläglich scheitert. Aber es ist eine bemerkenswerte Menschen- und Milieustudie – wenn die Karten falsch gemischt sind, lässt sich aus einem Leben nicht viel machen. Gleich in zwei Jahren schaffen es Brian Moore und William Faulkner unter die Worstsellers – das lässt wohl eher auf mangelnde Bekanntheit als fundamentalen Widerwillen gegen deren Stil und Inhalte schließen. Man sollte zu seinen Freunden stehen, und so habe ich denn erst einmal Die Große Viktorianische Sammlung in meiner Lieblingsbuchhandlung bestellt. Hätte ich auch ohne Aufforderung dazu im Diogenes Magazin gemacht! Ich freue mich schon auf das nächste Heft! Brigitte Hilgner, Wien

chen Kundenmagazinen, da es tatsächlich lesenswert ist und gleichzeit neugierig macht auf jene Ihrer Bücher, die man noch nicht kennt. Meine Bücherwunschliste wächst nach der Lektüre Ihres Magazins auf jeden Fall jedes Mal weiter an. Mirjam Reither, Wien

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in ganz großes Lob für das neue Diogenes Magazin! Wenn ich es habe, lasse ich erst mal jedes Buch liegen – und sei es noch so spannend – und lese das Magazin von vorne bis hinten. Es ist spannend, unterhaltsam und einfach toll! Machen Sie weiter so! Eva Seitz

L

iebe Diogenes-Macher! Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem wunderbaren neuen Magazin. Ich freue mich schon auf weitere Artikel über meine Lieblingsautoren Patricia Highsmith, John Irving, Ian McEwan, Carson McCullers und die irischen Autoren, die alle bei meinem Lieblingsverlag versammelt sind. In diesem ersten Heft haben mir besonders die Venedig-Themen gefallen und darin die Zeichnungen von F. K. Waechter. Können Sie die nicht in ähnlicher Form als Buch herausgeben? Werner Pohlmann, Hamburg

Künstlerische Post an den Verlag von Tomi Ungerer, 1976

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ieber Diogenes, Sie fragen, wie Sie auf den Brief mit dem beigelegten Manuskript unter dem Titel: »Gott schaut es zu, aber helfen tut er nicht!« hätten reagieren sollen. Es gibt für mich nur eine Antwort: Veröffentlichen! Ich würde ein Buch mit einem so wunderlichen Titel mit Interesse kaufen. Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch einmal, ob dieses Werk nicht der Erstling der neuen (vermutlich erfolgreichen) Diogenes-Reihe »Unveröffentlichte Werke« werden könnte. Bücher dieser Reihe würden fast sicher nicht zu Ihren Worstsellern gehören. Zeno Schneider, Egg bei Einsiedeln (Schweiz)

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it Freude habe ich eben die zweite Ausgabe Ihres Kundenmagazins fertig gelesen und war genauso begeistert davon wie schon von der ersten Ausgabe. Es ist Ihnen wirklich gelungen, ein Magazin zu erschaffen, das gut geschriebene, interessante Artikel enthält. Auch oder gerade für VielleserInnen. Es unterscheidet sich angenehm von herkömmli-

Ein Buch mit den schönsten Blättern aus den vielen Skizzen-Büchern von F.K. Waecher ist in Planung.

Das Diogenes Magazin bittet um Verständnis, dass nur eine Auswahl von Leserbriefen veröffentlicht werden kann. Aus Platzgründen werden Leserbriefe gekürzt.

Heft 4/2009: Freie Zeit. Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben. ERHÄLTLICH AN BAHNHÖFEN UND FLUGHÄFEN ODER UNTER WWW.IFA.DE

Kulturen prägen die Welt. Wir machen die Zeitschrift dazu. KULTURAUSTAUSCH. Die Welt aus anderen Perspektiven.

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Adam Davies

Was ist für Sie das größte Unglück? Dass es Luftfahrtingenieure nicht geschafft haben, ihr Versprechen – das sie uns immer wieder gegeben haben, seit ich Comics lesen kann – in die Tat umzusetzen, einen bezahlbaren und voll funktionsfähigen Raketenrucksack auf den Markt zu bringen. Wo möchten Sie leben? Um an einem Ort zu bleiben, bin ich zu sehr der Wanderlust verfallen. Doch New York City mag ich besonders gern. Es ist die einzige mir bekannte Stadt, deren Anmaßung berechtigt ist: Von allen amerikanischen Städten gibt es hier das beste Essen, die besten Sportmannschaften, das beste Theater, die beste Kunstszene, den besten … nun, die Liste ist schier endlos. Ich träume davon, mich in diverse südamerikanische Dörfer zurückzuziehen, um mein nächstes 80

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Buch zu schreiben. Mich faszinieren alle griechischen Inseln, Malta, die großen Städte Europas. Ich würde gern in Thailand leben und mit den dortigen Thaiboxern trainieren. Punjab ist für mich auch unwiderstehlich, obwohl sich mein Punjabi auf den Satz »Ich möchte etwas haben, was meinen Mund süß macht« beschränkt. Aber vielleicht reicht der ja aus. Anmerkung: Wenn ich so einen verdammten Raketenrucksack hätte, könnte ich quietschvergnügt von einem dieser Orte zum nächsten reisen. Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? Das ist wohl kaum für die Veröffentlichung geeignet. Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? Ich kann alles entschuldigen außer das Unvermögen, um Verzeihung zu bitten.

Ihre liebsten Romanhelden? Als ich ein ernster Sechzehnjähriger war, hieß er Jay Gatsby. Als ich einundzwanzig war und frisch aus dem College kam, war es Nicolas Urfe aus Der Magus. Bis Ende zwanzig identifizierte ich mich wohl am ehesten mit dem gepeinigten Ich-Erzähler aus A Fan’s Notes von Frederick Exley. Auf der Liste stehen außerdem Henry Chinaski (Bukowski), Jimmy Zoole (James Kirkwood), Martha aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, der Reverend T. Lawrence Shannon (Tennessee Williams), John Self (Martin Amis), Binx Bolling (Walker Percy), Alexander Portnoy (Philip Roth) und Jake Donaghue (Iris Murdoch). Anscheinend mag ich Aufrührer. Eine meiner dauerhaftesten Lieblingsfiguren stammt aus einem Kinderbuch von Lloyd Alexander, Drei Leben für

Foto: © Ray Baldino

Der ProustFragebogen


Lukas Kasha. Lukas, der kindliche Held des Buches, bekommt die Gelegenheit, ein neues, zweites Leben zu führen. Als Kind wollte ich das unbedingt. Heute will ich es immer noch. Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte? Es ist verlockend, einen Kriegshelden zu nennen, nicht wahr? Oder eine Königin, einen Erfinder oder Rockstar, einen Philantropen, berühmten Koch, prominenten Therapeuten oder dergleichen. Aber meine Lieblingsgestalt in der Geschichte ist wohl ein ungenannter spartanischer Soldat, dessen Tapferkeit Plutarch erwähnt. Der Mann war verkrüppelt und konnte nicht laufen. Als ihm sein General mitteilte, er dürfe nicht an der Schlacht gegen die Perser teilnehmen, sagte er: »Aber mein Herr, es kommt doch nicht darauf an, dass man wegläuft, sondern dass man seine Stellung gegen den Feind behauptet.« Ich finde, genau diese Sorte Mut – eloquent, aber idiotisch, Respekt einflößend, aber leichtsinnig – brauchen alle Künstler. Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit? Meine Mutter, Stiefmütter, Tanten, Babysitter, Lehrerinnen – alle Frauen, die irgendwie an meiner Erziehung beteiligt waren. Ihre Lieblingsheldinnen in der Dichtung? Die Dichterinnen selbst. Besonders bewundere ich das Leben der Aphra Behn. Ihre Lieblingsmaler? Um einen Lieblingsmaler zu haben, bin ich nicht Experte genug, aber meine Faszination für Hieronymus Bosch lässt nie nach. (Ich glaube, dass er Sünder aller Zeiten in Angst und Schrecken versetzt.) Die Dadaisten sagen mir zu. Ich bewundere das Bild Christinas Welt von Andrew Wyeth. Wie alle würde ich gern das sehen, was Christina sieht. Und ich will sie beschützen. Ich möchte immer die Leinwand jedes Singer-SargentGemäldes küssen, vielleicht um es zu erwärmen. Gleiches gilt für Ingres’ erotische frigidaires. In Museen ein nicht unproblematisches Verhalten.

Ihr Lieblingskomponist? Auch um einen Lieblingskomponisten zu haben, fehlt mir das Fachwissen. Doch wenn wir Musiker generell nehmen, schätze ich keinen höher ein als Bob Dylan und Tom Waits. Bob Dylan entdeckte ich erst mit zirka fünfundzwanzig Jahren und war entrüstet, dass mein Vater ihn mir verschwiegen hatte. Schließlich gehörte Dylan seiner Generation an, und ich fand es obszön, dass mein Vater es nicht für wichtig hielt, mir von ihm zu erzählen. Ich fühlte mich betrogen. Als er mir sagte, er könne Dylan nicht leiden, machte mich das nur noch wütender. Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Loyalität. Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? Humor und Mitgefühl. Ihre Lieblingstugend? Vermutlich bin ich nicht tugendhaft genug, um mich in diesem Punkt festzulegen. Ich sage nur, dass ich – wie ein Zuschauer bei einem Maskenspiel – die Leute bewundere, die sich tugendhaft verhalten können. Ihre Lieblingsbeschäftigung? Ist selbstredend zur Veröffentlichung ungeeignet, doch Platz zwei gehört Sparring. Mir gefällt das Paradoxon: Man muss mit seinem Gegner sehr vertraut sein (damit man ihn gut genug kennt, um zu antizipieren, was er vorhat), doch man muss sich auch im körperlichen Wettstreit mit ihm auseinandersetzen. Beim Sparring gibt es keine Sublimierung, keine passive Aggression, kein politisches Taktieren. Entweder trainiert man hart und ist gut, oder man trainiert schlecht und wird bestraft. Und noch nie habe ich einen Kampf beendet und anschließend einen Groll gegen einen Gegner gehabt. So eine Ehrlichkeit findet man nur selten im Leben. Wer oder was hätten Sie sein mögen? Mein Bruder wollte als Kind ein Halteschild sein, damit »alle das tun müssen, was ich ihnen vorschreibe«. Mir war so eine Macht nie wichtig. Aber

ich wünsche mir oft, bei der Arbeit mehr Kontakt mit anderen Menschen zu haben. Vermutlich wäre ich ein guter Arzt geworden. Ich mag auch die Vorstellung, ein Orgelstimmer zu sein, oder vielleicht Lepidopterologe oder Parfümeur – etwas, bei dem man Experte für etwas Geheimnisvolles sein muss, aber auch Liebe braucht. Ihr Hauptcharakterzug? Wunschträumerei. Was schätzen Sie bei Ihren Freunden am meisten? Loyalität. Ihr größter Fehler? Eine pathologische Angst vor Durchschnittlichkeit. Ihr Traum vom Glück? Ohne Konsequenzen konsumieren. Außerdem würde ich gern – wie ein Otter oder Pinguin – als Hauptfortbewegungsart auf meinem Bauch herumrutschen können. Das sieht aus, als würde es Spaß machen. Was wäre für Sie das größte Ungglück? Den Tastsinn zu verlieren. Oder wieder nach Wisconsin zu ziehen, was aufs Gleiche hinausläuft. Ihre Lieblingsfarbe? Schwarz, dicht gefolgt von Lila. Laut einer gehässigen Exfreundin: Ich halte mich für undurchdringlich und majestätisch zugleich, was meiner Ansicht nach beides nicht zutrifft. Ihre Lieblingsblume? Die Tulpe. Sie ist ehrlich, sie ist bunt, sie ist ein tolles Sinnbild für die Schönheit der Schöpfung. Und haben Sie schon mal ihr Gesicht fest in einen Tulpenstrauß gesteckt? Ihr Lieblingsvogel? Ich habe keinen Lieblingsvogel. Aber das Gegenteil habe ich sehr wohl: die Taube. Ich kann es nicht ausstehen, wie Tauben beim Gehen ruckartig den Kopf bewegen, so, als würden sie den einzigen Gedanken in ihren Federviehhirnen physisch Ausdruck verleihen, wenn sie näherkommen oder sich entfernen: »Futter / Tod? Futter / Tod? Futter / Tod?« Außerdem koten sie alles zu, was ihnen unter die Bürzel kommt. Verlangt man zu viel vom städtischen Leben, Diogenes Magazin

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wenn man hofft, nicht aus dem Himmel angeschissen zu werden? Ihr Lieblingsschriftsteller? Meine Lieblingsschriftsteller sind meist die Schriftsteller, die ich gerade lese. Zur Zeit ist das bei mir Raymond Chandler. Ich bewundere Marisha Pessls neuen Roman Die alltägliche Physik des Unglücks. Auch habe ich kürzlich Die Straße von Cormac McCarthy gelesen und fand das Buch genauso erschütternd und visionär, wie die Kritiker es fanden. Ich lese selten Nicht-Literatur, finde aber Anthony Lanes Kritiken hinreißend. Zu meinen absoluten Lieblingsschriftstellern gehören: Martin Amis, Bret Easton Ellis, Djuna Barnes, Tim O’Brien, Donald Barthelme, F. Scott Fitzgerald, Joy Williams, Salman Rushdie, Isaac Babel, Tibor Fischer, Marsha Norman, Martin McDonagh, Edward Albee, Noël Coward, Oscar Wilde und J.P. Donleavy. Die Großen also. Langweilig, nicht wahr? Ihr Lieblingslyriker? Paul Celan. Ihre Helden in der Wirklichkeit? Mein Großvater war Stukkateur und litt mit fünfunddreißig an schwerer Arthritis. Seine Hände sahen aus wie verkrümmte Baumwurzeln, er konnte die Arme nicht mehr strecken. Jeden Tag kam er nach Hause, ging in den Wandschrank – damit es seine Kinder nicht sahen – und bog mit Gewalt die Arme gerade. Nachts drückte dann meine Großmutter seine Fäuste auf und band seine flachen Hände an ein Holzbrett, damit er morgens nach dem Aufwachen wieder arbeiten gehen konnte. Das ging jahrzehntelang so. Es ist die schwerste Art von Heldentum – Durchhaltevermögen. Ihre Heldinnen in der Geschichte? Fürstin Encheduanna, Hohepriesterin von Sumer, ca. 2300 v. Chr. Sie ist nicht nur die erste bekannte Schriftstellerin der Welt, sondern überhaupt der erste namentlich bekannte schreibende Mensch. Sie schrieb über ihren Unmut, dass sie aus Ur und Uruk verbannt worden war, was sie auch zur ersten Memoirenschreiberin macht. Meiner Ansicht nach ist es kein Zu82

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fall, dass das erste bekannte Werk der ersten bekannten Autorin von Klagen und Entfremdung handelt. Auch vier Jahrtausende später schreiben wir immer noch über dieselben Dinge. Was mich daran erinnert, dass Schreiben eine notwendige, elementare Schwarze Kunst ist. Ihre Lieblingsnamen? Jungs: Phineas. Mädchen: Myrtle. Auch hätte ich gern einen Kumpel, den ich ›Pop-top‹ nennen könnte. Daran gefällt mir einfach der Klang. Er könnte in Wirklichkeit Philip heißen, hätte aber komische Haare. Eventuell würde er sich gern in einer Schubkarre durch die Gegend ziehen lassen, vielleicht könnte er auch hervorragend Zitate aus alten Screwball-Komödien vortragen. Wenn wir mal gemeinsam irgendwohin gingen und uns verspäteten, könnte ich sagen: »Meine Güte! Nun mach hin, Pop-top!« Was verabscheuen Sie am meisten? Falschheit. Außerdem Hipster und Kritiker, die glauben, Hohn sei gleichzusetzen mit Diskriminierung. Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie am meisten? Alle gewalttätigen religiösen Fanatiker. Welche militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten? Jede Unterzeichnung eines Waffenstillstands. Zweiter Platz: Eine ZenLegende erzählt von zwei Generälen, die vor einer Schlacht gemeinsam Tee trinken. Dabei erkennt jeder, dass der andere ein brillanter Kommandeur ist, der fähige Krieger befehligt, und dass ein Kampf nur zu einem blutigen Patt führen würde. Sie trinken den Tee aus, verbeugen sich voreinander und schicken ihre Truppen nach Hause, ohne dass jemand ein Schwert zückt. Dritter Platz, dank Unblutigkeit und eines dramatischen Auftritts: John Mosby war im Amerikanischen Bürgerkrieg ein Ranger der Konföderierten, der wiederholt waghalsige Guerillaangriffe auf Unionstruppen durchführte. Einmal betrat er dreist das Lager eines feindlichen Kommandanten und nahm zahlreiche hochrangige Offiziere gefangen. Einer davon war General Edwin Stoughton, den

Mosby durch einen Schlag auf den Arsch weckte. »Aufwachen, Sir«, rief der Ranger. »Mosby ist da!« Der General hielt ihn für einen Boten, der ihn von Mosbys Gefangennahme informierte, und sagte: »Was? Mosby? Sie haben ihn? Ausgezeichnet!« Darauf Mosby: »Nein, Sir, er hat Sie.« Welche Reform bewundern Sie am meisten? Das Ende des Feudalwesens. Wer braucht so’n Scheiß? Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? Die Fähigkeit des Schauspielers, fremde Akzente nachzumachen. Bei mir hören sich alle Akzente gleich an – französische, deutsche, britische, spanische, ganz egal. Aus meinem Mund klingen sie alle wie konfuses Chinesisch, ein echter Nachteil, wenn man schmutzige Witze erzählt. Wie möchten Sie sterben? Wie alle Männer möchte ich von einer mir unbekannten nackten Frau erdrückt werden. Ihre gegenwärtige Geistesverfassung? Voller Panik beim Gedanken, dieser Fragebogen könnte falsch oder richtig interpretiert werden. Ihr Motto? Ich bin weder organisiert noch zielgerichtet genug, um ein Motto zu haben, doch falls ich eins nennen müsste, würde ich wahrscheinlich irgendeinen überzeugend klingenden Spruch nehmen, den ich kürzlich gelesen oder gehört habe und der mir sinnvoll vorkam. Ein paar Tage später würde ich das Motto wieder ändern, wie schmutzige Bettwäsche. Heute ist ein Zitat aus einem Song der Gruppe Silver Jews an der Reihe, das mir in dieser Woche nicht aus dem Kopf ging: »Scotch and Penicillin«. Es enthält das Yin und Yang von Verlangen und Bestrafung und würde auch ein schickes Wappen abgeben, vielleicht eins mit gekreuzten Flaschen, vagabundierenden Bakterien und einem Aspirin in der Tiefe des Raumes. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog


Adam Davies Dein oder mein es Roman · Diogen

ril 2010 Erscheint im Ap

Adam Davies über seinen Roman

Dein oder mein

Foto: © Robert Wilson

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er Schwarzmarkt für gestohlene und geplünderte Kunstwerke – nach dem Drogenhandel der lukrativste Schwarzmarkt der Welt – hat mich schon immer fasziniert. Auch habe ich eine Schwäche für Menschen, die einsame, schwierige, möglicherweise selbstzerstörerische Arbeiten verrichten. Um meinen Erzähler Otto Starks zu zitieren, Leute, die »in dunklen Räumen herumsitzen und auf eine Kugel warten«. (Die gleiche gefährliche Arbeit, scheint mir, die von Schriftstellern erwartet wird.)

Irgendwie vereinigten sich diese beiden Interessen und schufen einen rein fiktiven Beruf, den ›Guardian‹, der im Original ›pulse‹ heißt. Dieser Begriff stammt aus einer Formulierung der Security-Branche, in der es heißt: Natürlich muss es in gesicherten Einrichtungen technisch komplexe Einbruchsmelde- und Abschreckungssysteme (repulsion systems) geben – Lasernetzwerke, Bodenplatten mit Drucksensoren, hydraulisch schließende Sicherheitstüren, hitzeempfindliche Blablablas –, aber wenn man Sicherheit und Bewachung wirklich groß schreibt, wenn man behalten will, was einem gehört, dann muss man in dem Raum mit den zu bewachenden Gegenständen auch einen ›Guardian‹ haben. Also einen menschlichen Wächter, der immer einen Finger auf dem Alarmknopf hat. Wenn man behauptet, ›Guardians‹ seien hochqualifizierte Wachleute, springt man ein wenig zu kurz. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Kronjuwelen immer noch Großbritannien gehören und im Iran noch keine Atomsprengköpfe aufgetaucht sind. Sie sind keine Polizisten, sie können nicht mit Schusswaffen umgehen. Es sind auch keine Nahkampfspezialisten, und sie werden nie ein Autorennen gewinnen. Aber sie schulen ihre Sinne – sie können den Herzschlag einer Maus hören, jeden Bestandteil eines Parfümhauchs analysieren, sie spüren mit ihren Füßen die Erschütterungen, wenn ein Dieb ein Loch in den Fußboden bohrt –, und sie verbringen Jahre damit, Giftresistenzen und ungeheure Toleranzen für Schlafentzug aufzubauen. Vielleicht lag im Zentrum dieses Romans mein Interesse an der Verbindung von Liebe und Diebstahl, und irgendeine neurologische Zündung (oder ein Zufallsereignis, irgendeine Sonneneruption des Unterbewusstseins) führte dazu, dass ich mir einen ultramoralischen Securityexperten ausdenken wollte, der nur dann eine Chance hat, seine große Liebe zu bekommen, wenn er genau das macht, was ihm zutiefst wider-

strebt: Verbrechen begehen. Schwere Verbrechen. Entweder bekommt er die Frau, die er liebt, oder er behält die Arbeit, die er liebt. Und welche Entscheidung er auch treffen mag, sie könnte sein gesamtes Selbstverständnis zerstören. Oder ihm das Herz brechen, irreparabel. Oder ihn ins Gefängnis bringen. Oder ihn töten. Außerdem wollte ich eine spielerische, witzige, respektlose Geschichte über die Welt der Wachleute und Security-Experten schreiben. In Büchern und Filmen kommen sie meist zu kurz. Sie erleiden ein ebenso trau-

In Filmen erleiden Wachleute ein ebenso trauriges Schicksal wie Hubschrauber – sie tauchen nur auf, damit sie gegen irgendetwas prallen und in der Luft explodieren. riges Schicksal wie Hubschrauber – in einem Buch oder Film taucht ein Hubschrauber nur auf, damit er gegen irgendwas Eindrucksvolles prallen und in der Luft als Feuerball explodieren kann. Wachleute tauchen nur auf, damit sie auf ihren Hockern einnicken oder nach einem einzigen Karateschlag gegen den Hals zu Boden gehen. Das fand ich einfach ungerecht. Meiner Ansicht nach brauchten sie einen Helden. Man müsste mehr Verständnis für sie aufbringen. Jemand sollte ihre Geschichte erzählen. Sie sollten die Chance haben, zu lieben und geliebt zu werden. Auftritt Otto Starks, der hingebungsvollste ›Guardian‹, den es je gab, der sich entscheiden muss zwischen der einzigen Arbeit, die er je machen wollte, und der einzigen Frau, die er je geliebt hat.

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog

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Owl’s Eye

Bücherordnung Wie sortiert man seine Bücher am besten? / 2. Teil

Foto: © Andrew Gadd / Private Collection / The Bridgeman Art Library

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ie gängige Methode, Bücher zu ordnen, ist die alphabetische nach Autorennamen. Da fangen die Probleme schon an: Die Bücher, die man häufig braucht, sind meist genau diejenigen, die nach dieser strikten Regel in die obersten Regale verbannt wurden und die man nur auf einem Stuhl stehend erreicht (die meisten Unfälle passieren in den eigenen vier Wänden). Oder die Lieblingsbücher wandern in die untersten Regale, und man macht sich ständig die Knie staubig. Schlimm auch, wenn genau in der Mitte der Bücherwand, sozusagen im Fokus jedes Betrachters, beispielsweise die Werkausgabe von Hans Henny Jahnn steht, die man vor einem Jahrzehnt gekauft hat, weil sie so günstig war (was nie ein guter Grund ist, ein Buch zu kaufen). Nach zehn Jahren hat man es nicht einmal geschafft, die Titel der acht Bände zu lesen, geschweige denn, sie sich zu merken (wie soll das bei Titeln wie Die Niederschrift des Gustav Anias Horn nachdem er neunundvierzig Jahre alt geworden war auch gehen?). Aber jeder Besucher sieht als Erstes den beigen HansHenny-Jahnn-Schuber und fragt sofort: Alles gelesen? Oder noch schlimmer: Ach, findest du Jahnns Auseinandersetzung mit dem harmonikalen Weltbild auch so faszinierend? Zu Recht wettert Hans Erich Nossack gegen die alphabetische Ordnungswut: »Bücher sind nicht einfach Sammelobjekte, die sich wie Briefmarken in einem Album an vorbestimmten Plätzen unterbringen oder wie Schmetterlinge nach einem System ordnen lassen«, man hat es im Gegenteil »mit höchst lebendigen Individuen zu tun, die nie aufhören, Rücksicht und Teilnahme zu verlangen«. Eine ganz persönliche Sortierung nach Vorlieben ist die Lösung. Und hier gilt: Alles ist erlaubt. Vernünftig wäre, die wichtigen und liebsten Bücher in Reichweite zu platzieren, die seltener benötigten Bände höher und die verschmähten

ganz unten. Aber das hört sich fast an wie im Supermarkt, wo die Markenartikel auf Augenhöhe stehen und die billigen Eigenmarken in Bodennähe. Warum nicht mehr Mut zur Unkonventionalität? Genau umgekehrt zum Beispiel, die absoluten Lieblinge ganz unten, damit man sich demütig vor ihnen verbeugen oder vor sie hinknien muss, wenn man sie zur Hand nehmen möchte. Und die Sachbücher auf die oberen Regalbretter – ist nicht auch der Weg zum Wissen ein beschwerlicher? Bücher, die

nicht mehr so hoch in unserer Gunst stehen (oder noch nie standen, wie es sich manchmal mit Geschenken von Bekannten und Verwandten verhält), gehören in einer Bibliothek in unmittelbare Nähe der Heizung, wo der Bindeleim allmählich austrocknet und die Seiten auseinanderfallen. Oder noch gemeiner: dorthin, wo die Mittagssonne besonders stark einfällt, so dass Autorennamen und Titel auf dem Buchrücken langsam verblassen und schließlich ganz verschwinden. Andere Sortierungsmöglichkeit: Romane nebeneinanderstellen, deren Helden sich gut verstehen würden, zum Beispiel

Tolstois Anna Karenina und Fabrizio del Dongo aus Stendhals Die Kartause von Parma. Wären die beiden nicht ein Traumpaar gewesen, hätte das Malheur im Bahnhof so nicht vermieden werden können? Oder Romane nach dem Alter sortieren, in dem der Autor sie geschrieben hat; so hat man die Frühwerke aller Autoren in der ersten Regalreihe, die weisen Alterswerke ganz am Schluss. Auch schön: Bücher zusammenstellen, die irgendeine geheime Verbindung haben. Zum Beispiel Fitzgeralds Der große Gatsby und Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead, weil auf den letzten Seiten des Gatsby ein grünes Licht eine poetische und symbolgeladene Rolle spielt und in Brideshead ein rotes. Ein Bekannter von mir hat seine Bücher gar nicht sortiert, sondern so viele Kunstpostkarten auf den Regalen aufgestellt, dass er ganz genau weiß: Dürrenmatt steht hinter dem Matisse-Stillleben (was eigentlich nicht sehr gut passt) und Paulo Coelho hinter Dürers Hasen. Georges Perec meinte überdies: »Es ist gar nicht so schlecht, wenn unsere Bibliotheken ab und zu auch als Gedächtnisstütze, Katzennische oder Rumpelkammer dienen.« Noch einige Ratschläge für die Sortierung nach Zimmern. Im Korridor am besten Lyrik, damit man sich, wenn man aus dem Haus geht, noch schnell einen Band in die Manteltasche stecken kann. Im Schlafzimmer ist der Ratschlag von Julian Barnes zu befolgen: »nur Bücher, die sich gut auf dem Nachttisch machen, falls man plötzlich und unerwartet stirbt«. Die ehrlichste Sortierung ist übrigens die nach gelesenen und nicht gelesenen Büchern. Richtig verzwickt wird es aber, wenn man nicht nur für seine eigene Bibliothek eine Ordnung finden muss, sondern auch noch die Bücher des Partners dazukommen. Aber davon das nächste Mal mehr. Jan Sidney

Im nächsten Magazin: Wenn Bibliotheken heiraten Diogenes Magazin

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H 10331 3. Quartal 2009 Euro 14,– www.die-horen.de

54. Jahrgang

die horen Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik

Die Katze /

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Träume, Realien – Stimmen & Stimmengewirr aus der Gegenwart Rumäniens.

Vorschaufenster Kino Maurice Sendak, Wo die wilden Kerle wohnen. Regie: Spike Jonze. Kinostart (D, CH): 17.12.2009. Martin Suter, Lila, Lila. Regie: Alain Gsponer, mit Daniel Brühl, Hannah Herzsprung und Henry Hübchen. Kinostart (D, CH): 17.12.2009. René Goscinny/Jean-Jacques Sempé, Der kleine Nick. Regie: Laurent Tirard, mit Kad Merad, Valérie Lemercier, François-Xavier Demaison. Kinostart: 4.2.2010.

TV

235 die horen – 1980 und 1988 ausgezeichnet mit dem Alfred Kerr – Preis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, »weil sie mit großer Aufmerksamkeit die internationale Literatur beobachtet und vorstellt; weil sie in der deutschen Literatur nicht nur das Neueste behandelt, sondern sich auch um vergessene Autoren kümmert; weil sie mit Text und Kritik zu wesentlichen, wenig beachteten Autoren und Werken hinführt; weil sie den Leser durch Nachrichten und Kommentare am literarischen Leben beteiligt.« (Jury-Spruch) die horen – »Eine der markantesten und vielseitigsten Literaturzeitschriften der Gegenwart.« Paul Raabe // »So umfang- wie inhaltsreich, so lesens- wie sehenswert.« Neue Zürcher Zeitung. * edition die horen im Wirtschaftsverlag NW Verlag für neue Wissenschaft GmbH Postfach 101110 · D-27511 Bremerhaven Tel. (04 71) 9 45 44 61 · Fax (04 71) 9 45 44 88 E-Mail: vertrieb@nw-verlag.de

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Martin Suter, Porträt von Hilde Heim. Erstausstrahlung am 24.01.2010 auf Arte. Ingrid Noll, Ladylike. Mit Monica Bleibtreu, Günther Maria Halmer, Gisela Schneeberger, Ende 2009 im ZDF. René Goscinny, Jean-Jacques Sempé, Der kleine Nick. Im Frühjahr 2010 auch als Animationsserie in 52 Folgen auf KI.KA. Donna Leon. Die Brunetti-Verfilmungen werden ab 2010 im französischen Fernsehen (France 2) gesendet.

Ausstellungen Paul Flora. Austellung Capitano, Zanni und Harlekin vom 7.2.–18.4.2010 im Olaf Gulbransson Museum, Tegernsee. James Cook und die Entdeckung der Südsee. Wanderausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, bis 28.2.2010, im Kunsthistorischen Museum – Museum für Völkerkunde Wien, 10.5.–13.9.2010. Das Musée Tomi Ungerer in Straßburg zeigt vom 1.4.–30.6.2010 eine Retrospektive mit den Zeichnungen von Slow Agony und Heute hier, morgen fort. Hugo Loetscher. Ausstellung über Leben und Werk anlässlich seines 80. Geburtstags. Literaturmuseum Strauhof Zürich, 6.12.2009–28.2.2010.

Tatjana Hauptmann

Impressum Ehren-Herausgeber: Daniel Keel und Rudolf C. Bettschart / Geschäftsleitung: Katharina Erne, Stefan Fritsch, Ruth Geiger, Daniel Kampa, Winfried Stephan Chefredaktion: Daniel Kampa (kam@diogenes.ch) Mitarbeiter dieser Ausgabe: Julia Stüssi (js), Nicole Griessman, Martha Schoknecht, Silvia Zanovello (zan), Ruth Geiger, Anna von Planta Grafik-Design: Catherine Bourquin Fotograf: Bastian Schweitzer Scans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart Webausgabe: Susanne Bühler (sb@diogenes.ch) Korrektorat: Franca Meier, Dominik Süess Bildredaktion: Regina Treier Freie Mitarbeiter: Jan Sidney (sid), Marie Brach (mb) Buchhandels-Vertrieb: Renata Teicke (tei@diogenes.ch) Anzeigenleitung: Simone Wolf (wo@diogenes.ch) Zurzeit gilt Anzeigenliste Nr. 1 von 2008 Abo-Service: Christine Kownatzki (diogenesmagazin@diogenes.ch) Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die beigeheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.– für drei Ausgaben in Deutschland und Österreich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder auf Anfrage. Herzlichen Dank an Anna von Planta, Bernhard Tinner, Martin Walker, John Simenon, Sibylle Breitbach, Heike Makatsch und Max Martin Schröder, Urs Kienberger und Felix Dietrich vom Hotel Waldhaus Sils Maria, Robert Walter, Christoph Poschenrieder, Tomi Ungerer, Martin Suter, Anna Gavalda, Urs Widmer, Peter Urban, Maya Dickerhof, Jacques Berndorf, Gert Heidenreich, Vincent Klink, Wiglaf Droste, Burkhard Spinnen, Adam Davies, Toshido Fukuda und an alle Fotografen, Zeichner und Übersetzer. Beim Gewinnspiel sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausgeschlossen. Die Gewinner werden schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Über unverlangt eingesandte Manuskripte kann leider keine Korrespondenz geführt werden. Programmänderungen vorbehalten. Alle Angaben ohne Gewähr. Redaktionsschluss: 30.9.2009 / ISSN 1663-1641

Illustration: © Tatjana Hauptmann

»EINE TRIBÜNE DER LITERATUR, OFFEN FÜR DIE LITERATUREN DER WELT …« (WALTER HINCK)


Schreibtisch

Gewinnspiel

Fotos: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag

A

ls politischer Journalist war er schon auf allen Kontinenten tätig. Nun hat unser Autor seinen gut aufgeräumten Schreibtisch wieder in Europa eingerichtet – im wärmeren Teil und in einem der schönsten, wie er beteuern würde und wie wir Leser auch aus seinem Roman-Erstling dieses Jahr erfahren durften. Ganz sesshaft ist der 62-Jährige noch immer nicht. Oft reist er umher, weshalb er seine Krimi-Ideen auch per Hand auf Blöcke schreibt, die stets Platz im Handgepäck finden. Neben Schreibutensilien hat er auch immer einen Strohhut aus seiner nicht kleinen Sammlung dabei, der fast schon ein Markenzeichen ist und ihn gegen die Sonne seiner Wahlheimat schützt. Wenn diese dann doch einmal zu heiß vom Himmel brennt, trifft sich unser Autor auch gern mit seinen Freunden, zu denen sogar Gesetzesvertreter gehören und die ihn außerdem zu seinen Figuren inspirieren, auf ein Gläschen guten Wein im Bistro des Dorfs.

Wer schreibt hier?

Schicken Sie die Antwort bis zum 30. Mai 2010 per Post oder per E-Mail (gewinnspielmagazin@diogenes.ch) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, Schweiz. Als Hauptpreis gibt es einmal die komplette MaigretEdition in 75 Bänden im Wert von € 675.–. Außerdem werden drei Büchergutscheine à € 100.– verlost.

Lösung Diogenes Magazin Nr. 1: Magdalen Nabb Die Gewinner: Gabriele Jagau, Walsrode (Hauptpreis); Alicia Vollmer, Monheim am Rhein; Daniel Erni, Reinach (Schweiz); Gisela Bauer, Bad Hersfeld; Bea Schneider, Bindlach Diogenes Magazin

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Mag ich – Mag ich nicht

Federico Fellini Vorschau Das nächste Diogenes Magazin, das im Mai 2010 erscheint, macht Lust aufs Reisen: Ian McEwan berichtet von einer Fahrt in den hohen Norden, Arnon Grünberg über seine Erfahrung als Couch-Surfer, und Martin Walker schreibt über das Périgord. Und fünf Autoren verraten, was sie auf die einsame Insel mitnehmen würden. Mit Spielen, Rätseln, Psychotest, Erzählungen und Interviews und einem großen Gewinnspiel, damit der Sommer zum Vergnügen wird. Um die Wartezeit zu verkürzen, besuchen Sie unsere Website mit aktuellen News und Magazinen:

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D Nr. 4

Sommer 2010

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Der neue Roman von John Irving

Sommer-Reisen Im Périgord mit Martin Walker, am Nordpol mit Ian McEwan, Couch-Surfing mit Arnon Grünberg Sommer-Spaß Spiele, Tests, Erzählungen, Interviews – Mit großem Preisausschreiben

Mag ich:

Mag ich nicht:

Bahnhöfe. Matisse. Flughäfen. Risotto. Eichen. Rossini. Rosen. Die Marx Brothers. Tiger. Auf jemanden warten, mit dem man verabredet ist, und hoffen, dass der Betreffende nicht mehr kommt (selbst wenn es eine schöne Frau ist). Totò. Nicht dabeigewesen zu sein. Piero della Francesca. Alles, was an einer schönen Frau schön ist. Homer. Joan Blondell. Den September. Nougat-Eis. Kirschen. Brunello di Montalcino. Frauen mit großen Hintern auf Fahrrädern. Züge und Picknicken in Zügen. Ariost. Cockerspaniels und Hunde ganz allgemein. Den Geruch von nasser Erde. Den Duft von Heu und gehackten Lorbeerblättern. Zypressen. Das Meer im Winter. Leute, die wenig sagen. James Bond. Den Onestep. Leere Lokale. Verlassene Restaurants. Kahle Räume. Leere Kirchen. Die Stille. Ostia. Torvajanica. Glockengeläute. Sonntagnachmittags allein in Urbino sein. Basilikum. Bologna. Venedig. Ganz Italien. Chandler. Concierges. Simenon. Dickens. Kafka. London. Geröstete Kastanien. Die U-Bahn. Busfahren. Große hohe Betten. Wien (wo ich allerdings noch nie gewesen bin). Aufwachen. Einschlafen. Schreibwarengeschäfte. Faber-Bleistifte Nr. 2. Das Varieté. Bittere Schokolade. Geheimnisse. Morgendämmerung. Nacht. Geister. Wimpies. Laurel and Hardy. Turner. Leda Gloria – aber Greta Gonda gefiel mir auch sehr. Soubretten, aber auch Tänzerinnen.

Parties. Feiertage. Kutteln. Interviews. Podiums-Gespräche. Autogrammwünsche. Schnecken. Reisen. Schlange stehen. Berge. Ruderboote. Laufende Radios. Musik in Restaurants. Musik allgemein (ihr ausgesetzt sein). Telefonrundspruch. Witze. Fußballfanatiker. Woody Allen (ich weiß zwar nicht, vielleicht sollten wir uns einmal miteinander unterhalten). Ballett. Weihnachtskrippen. Gorgonzola. Preisverleihungen. Austern. Diskussionen über Brecht. Brecht überhaupt. Offizielle Essen. Trinksprüche. Ansprachen. Eingeladenwerden. Meinungsumfragen. Humphrey Bogart (man kann nicht dauernd wütend sein). Quizveranstaltungen. Magritte. Einladungen zu Ausstellungen von Malern, zu Theaterpremieren. Dario Fo. Manuskripte. Schwarztee. Kamillentee. Kaviar. Vorpremieren jeglicher Art. Das Teatro della Maddalena. Zitate. Den echten Mann. Die Filme der Jungen. Theatralik. Temperament. Fragen. Pirandello. Crêpes Suzette. Schöne Landschaften. Unterschriftensammlungen. Politische Filme. Psychologische Filme. Historische Filme. Fenster ohne Jalousien. Engagement und Nicht-Engagement. Ketchup.

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ugo ist tot. Wir sind traurig. Er, der bis kurz vor seinem Tod schier alterslos war, quicklebendig, neugierig, herzlich, witzig. Wir sind traurig, sage ich, und erlaube mir, mit diesem Plural im Namen seiner schreibenden Freundinnen und Freunde zu sprechen. Im Namen unserer Literatur. Denn Hugo kannten wir alle, er kannte uns, er war ein sozial ungeheuer begabter Mann – und doch auch einer, der immer von seiner Einsamkeit umgeben war. Ein einsamer Gesellschaftsmensch. Er, der alles andere als den Rückzug praktizierte, war gleichzeitig auch der große Einzelgänger in unserer Literatur. Er hatte das Genie, auch andere Widersprüche aufs Müheloseste in sich zu versöhnen. Er brach, wir wissen es, immer wieder ins Fremde auf – er ist mehr gereist als alle anderen Schriftsteller in der Schweiz zusammen –, aber er war nie Von Urs weg, verschwunden. Er war trotz seinen langen Aufenthalten in Portugal, in Brasilien, in Asien, in den USA ganz selbstverständlich einer von uns, von hier, in der Schweiz, in Zürich. Weggehen und zurückkommen, niemand beherrschte dieses schwierige Spiel besser als Hugo. Es gab noch andere Gegensätze, die er versöhnen oder wenigstens aushalten musste. Er war zum Beispiel der Prolet von jenseits der Sihl und ging mit der größten Selbstverständlichkeit und Gelassenheit mit Menschen um, die, anders als er, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden waren. Große Tiere machten ihm keine Angst, und er fiel auch ihrem Glanz nie zum Opfer. Er kam aus einem Haus, in dem es keine Bücher gab, und wurde ein Mann von einer stupenden Bildung, die er nie, kein einziges Mal, als Waffe be-

nützte, um andere zu demütigen. Ja, er war eine Art städtischer Thomas Platter, den er ja auch aufs Höchste schätzte. Er war mehr ein Platter als ein Goethe, auch wenn diese Gedenkfeier heute just an Goethes Geburtstag stattfindet. Und schreiben konnte er! Seine Mittel waren so reich, dass er sich in schlicht allen Genres zu bewegen wusste. Und er war mit ganzem Herzen und sehr intensiv ein Journalist, einer in der Tradition der Aufklärung. Er ließ sich von keinem Zeitgeist ins Bockshorn jagen. Er war also nie ein kalter Krieger, und er war auch nie ein 68er. Jede Ideologie war ihm zuwider. Er war der Anti-Fundamentalist par excellence. Er selber war, als junger Mann, drauf und dran gewesen, dem Teufel vom Karren zu fallen – sein Lebensweg war keineswegs gradlinig, sondern ein oft eher unfreiwilliges als freiwilliges Auf und Ab. So hatte er, Widmer der dann doch glanzvoll erfolgreich wurde, viel Herz und Verstand für die, die scheiterten. Und die Homosexualität. Als Hugo sein Leben begann, war diese noch eines der ganz großen Tabus. Bewundernswert, wie Hugo sie literarisch verarbeitet hat. Nichts verschweigend, nicht auftrumpfend. Mir – und uns allen – fehlt Hugo, der herzliche Mann, der drei Mal den Nachtisch essen konnte und nicht nur ein Glas Rotwein schätzte, sondern auch drei Gläser. Der lachen und uns wie kein Zweiter zum Lachen bringen konnte und der, wenn’s drauf ankam, ganz ernst, ganz konzentriert, messerscharf denkend, präzise formulierend war, kompromisslos erst, wenn er die Kompromisse zuvor in sich erwogen und verworfen hatte.

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PRINZ

Urs Widmer hielt diese Rede während der Gedenkfeier zu Ehren von Hugo Loetscher im Großmünster Zürich. Hugo Loetscher starb am 18. August 2009, kurz vor Erscheinen seines letzten Buches ›War meine Zeit meine Zeit‹ – »der beeindruckende Schlussstein seines Lebenswerks« (Der Spiegel, Hamburg).

Magazin, ab Nr. 4

Name

Hugo Loetscher

Über Leben in der Großstadt.

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10:15 Uhr

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20.10.2009

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Datum/Unterschrift

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10:15 Uhr

Seite 1

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3

D

»Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde.«

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Illustration: © Sempé

Jean Paul

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D Nr.3

Frühling 2010

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Martin Suter Sein neuer Roman Der Koch

25 Jahre Das Parfum Geschichte eines Weltbestsellers Anna Gavalda Eine Liebeserklärung an Tomi Ungerer

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Diogenes Verlag AG Diogenes Magazin Sprecherstrasse 8 8032 Zürich Schweiz

Andrea Camilleri Anton ¢echov Adam Davies F. Scott Fitzgerald Anna Gavalda Brian Moore Amélie Nothomb Christoph Poschenrieder Georges Simenon Martin Suter Tomi Ungerer Martin Walker Banana Yoshimoto

20.10.2009

1569 Bücher von 344 Autoren:

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