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Das Private-Banking-Magazin Ihrer Sparkasse
[ Bodensee-Dampfer ] Die Jacht des Königs
[ Osterinsel ] Das Vermächtnis der Moai
[ Anselm Grün ] Die Stille des Klosters
PALAIS DES WISSENS Wie Bibliotheken voller Pracht und Schönheit Kulturgüter über viele Jahrhunderte bewahren
Spätbarocke Klosterbibliothek Benediktinerstift Admont
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Editorial
Wie wir Wissen und Werte schützen und bewahren
Ralf Kustermann, stv. Chefredakteur Deutscher Sparkassenverlag ralf.kustermann@dsv-gruppe.de
König Ptolomeus I. gründete 284 v. Chr. die legendäre Bibliothek von Alexandria. Mit ihr wollte er ein Forum für die Gelehrten errichten und das gesamte Wissen seiner Zeit an einem Ort sammeln. Alexandria war mit seiner Universalbibliothek die kulturelle und akademische Hauptstadt des ägyptischen Reiches. Dichter, Wissenschaftler und ihre Schüler diskutierten, lehrten und lernten an ihr. Die Schriften der griechischen Philosophen Sophokles, Euripides und Aristoteles standen ebenso vollständig im Original in den Regalen wie die des Priesters Zarathustra. Kluge Köpfe übersetzten das Alte Testament ins Griechische. Bis heute gibt es keinen Fund, der die Existenz der größten B ibliothek der Antike beweist. Doch zeichnen alte Schriften das Bild eines der ehrgeizigsten Projekte der Menschheit. Klosterbibliotheken im Frühmittelalter, wie die 719 in St. Gallen gegründete, waren bescheidener. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks entstanden vermehrt Bibliotheken. Die neue Technik leitete eine Medienrevolution ein. Könige und Kleriker finanzierten prächtige Bücherschlösser und -tempel, die Pergamente,
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Frühdrucke und Bücher beherbergten und sie vor Verfall, Diebstahl und Vergessen schützten. In unserer Titelgeschichte ab Seite 4 führen wir Sie an Orte, an denen Menschen der Weisheit ein Haus errichteten – Kunstwerke, die durch Architektur, Malerei, Bildhauerei und das in ihnen gehütete Erbe auch im digitalen Zeitalter inspirierend wirken. Dass die erste große B ibliothek des 21. Jahrhunderts als Reminiszenz an Alexandria an deren vermuteten Ursprungsort öffnete, zeigt: Der Geist alter Bibliotheken lebt noch immer. Das Private Banking Ihrer Sparkasse baut natürlich weder auf Steinen, Marmor, Regalen noch Papieren auf. Doch schützen und bewahren auch wir Ihre Werte und Ihr Vermögen – ganz wie die Bibliotheken immer im Sinne nachfolgender Generationen. Eine anregende Lektüre wünscht
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Inhalt
04 Wissen: Die Stiftsbibliothek St. Gallen sammelt seit dem Mittelalter wertvolle Schriften
10 Stille: Pater Anselm Grün
Fotos: Getty Images/Stuart Dee, action press/+FOTO, KTM Fahrrad; Cover: Getty Images/Lasting Images
rät uns zum Innehalten
04 Tempel der gedruckten Schätze Die Bibliothek von Alexandria ist bis heute legendär. Sie sollte das Wissen der Menschheit an einem einzigen Ort sammeln und wurde wegweisend. Über Jahrhunderte finanzierten Könige und Klerus prachtvolle, opulente Bauten, die Handschriften, Frühdrucke und alte Bücher hüteten. Inhalt und Optik ergänzten sich zu Gesamtkunstwerken. 10 „Die Tür der Arbeit schließen“ Das Bedürfnis nach Innehalten und Ruhe wächst. Viele Klöster stillen es mit Seminarangeboten. VENTURA sprach mit Pater Anselm Grün über Urlaub im Kloster, Komfort und wie erfüllend es ist, sich auf etwas einzulassen. 14 Lang lebe unser Mixtape Wer mit dem Radiorekorder aufgewachsen ist, erinnert sich noch gut an die alten Kassetten und Bandsalat. Doch der Zahn der Zeit knabbert unbarmherzig an den musikalischen Sammlungen.
16 Bergauf mit Flow Fahrräder mit Hilfsmotor sind gefragt. Selbst Mountainbiker nutzen vermehrt den Elektroschub in ihren Pedalen. 20 Alte Dame vom See Liebevoll restauriert, macht der über 100-jährige Raddampfer Hohentwiel auf dem Bodensee eine gute Figur.
19 Das Gedicht 23 Kunst 33 Die wunderbare Welt der Farben 34 Ein Bild und seine Geschichte 34 Impressum
24 Das Herz des Drachens Die Fotografin Beth Moon hält uralte Bäume auf der Welt mit ihrer Kamera fest und bewahrt so deren Schönheit. 26 Das Vermächtnis der Moai Bis heute geben die Steinkolosse der Osterinsel Rätsel auf. Das Volk der Rapa nui zelebriert wieder selbstbewusst, was es von seiner Kultur retten konnte.
16 Energie: Elektromotor für das Mountainbike
30 Der Mann, der einst Hollywood erfand Der jüdisch-schwäbische Auswanderer Carl Laemmle schrieb Filmgeschichte, war weitsichtig und wagemutig.
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Weltkulturerbe: Die Stiftsbibliothek St. Gallen geht auf das Jahr 719 nach Christus zurück. Sie zählt zu den größten und ältesten Klosterbibliotheken der Welt.
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Tempel der gedruckten Schätze Bibliotheken bewahren seit vielen Jahrhunderten kostbare Handschriften und Frühdrucke. Viele der Sammlungen inspirieren mit Inhalt und Architektur.
Foto: Getty Images/Stuart Dee
:: Von Ulrich Pfaffenberger und Ralf Kustermann
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Als Johann Wolfgang von Goethe im Juni 1801 die Bibliothek der Stadt Göttingen besuchte, stellte er fest: „Man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Kapitals, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spendet.“ Natürlich der deutsche Dichterfürst – wer anderes hätte es vermocht, einen Aphorismus von solcher Geistesdominanz und Zeitlosigkeit zu formulieren? Wer hätte das in Bibliotheken gesammelte und archivierte Wissen besser wertschätzen, die alten Schriften und Bücher mehr anerkennen können? Nun lebte Goethe in einer Zeit, in der Bibliotheken die einzigen Orte versammelter Gelehrtheit waren, gleichzeitig weit entfernt, als öffentliches Gut der Allgemeinheit zu dienen. Wer dort Zutritt hatte, stammte aus besten Kreisen oder Ämtern. Könige und Fürsten, Päpste und Bischöfe finanzierten die Bibliotheken. So entsprangen der Epoche kunstvoll und aufwendig gestaltete Bücherschlösser und -tempel, die bis heute mit ihrem Bestand und i hrer Op-
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Stiftsbibliothek Admont in der Obersteiermark, Österreich: Der 1776 fertiggestellte baro cke Bibliothekstrakt des 1074 gegründeten Stifts galt lange Zeit als achtes Weltwunder. Mit 70 Meter Länge, 14 Meter Breite und 13 Meter Höhe ist der klösterliche Büchersaal
Fotos: Getty Images/Lasting Images, ddp images/Markus Beck
der weltweit größte.
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tik begeistern. Zugleich setzten sie einen Standard für den Umgang mit Schriften und Büchersammlungen. Dieser wirkt bis heute nach – mitunter bis in unsere Häuser und Wohnungen. Schon der römische Philosoph Cicero legte Menschen nahe: „Wenn du einen Garten und dazu noch eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen.“ Heute besitzen wir freilich weit mehr. Und in Zeiten der Digitalisierung liefert das Internet einen nahezu grenzenlosen und mobilen Zugang zu Fakten, Hintergründen oder Unterhaltung in Schrift, Ton und Bild. Die Wertschätzung, die wir den Bibliotheken über Jahrhunderte entgegenbrachten, nimmt zweifelsohne ab. Ob die digitale Welt deshalb das Ende des Gedruckten und der Bibliotheken sein wird? Das ist nicht zu erwarten. Selbst wenn sie nur Schriften bewahren, bleiben alte Bibliotheken als ein Gesamtkunstwerk für nachfolgende Generationen.
dauerhaft zu konservieren, sie vor Verfall und schädlichen Kräften der Umwelt zu bewahren. Gerade in den alten „Biblioi“ aus vorindustrieller Zeit lagern Gegenstände aus vergangenen Zeiten, die nicht nur der Kategorie „Wissen“, sondern auch der Kunst zugeordnet werden. Sowohl die kostbaren Einbände dieser Bücher wie auch deren handgefertigte Illustrationen gelten, unabhängig vom Inhalt, als sammelnswerte Kunst – Unikate zumal. Darüber hinaus ermöglichen Bibliotheken das unmittelbare Arbeiten mit Büchern, seien es die einstigen Skriptorien zu deren Vervielfältigung oder aber die heutigen Lesesäle zur Einsichtnahme. Die notwendigen Einrichtungen dafür befinden sich seit jeher unter dem Dach der Bibliothek, um kurze Wege zwischen Aufbewahrung und Arbeitsplatz sicherzustellen – für die Bücher. Damit verbunden ist das geordnete Speichern des gedruckten Wissens. Genügte vielen Klöstern des Mittelalters noch eine einfache Truhe Die Bibliothek als Tempel des Wissens – die Chiffre zieht oder ein Schrank, um ein paar Dutzend Schriftrollen und sich als Motiv durch die Geschichte der schreibenden und Handschriften aufzubewahren, potenzierte sich das Bülesenden Menschheit. Begonnen hatte alles im alten Ägyp- chervolumen durch den maschinellen Druck. Ohne eine Systematik hätten sich die Nutzer nicht mehr ten. Der makedonisch-griechische König Ptolemäus I. gründete im Rahmen einer groß angelegten Kulturpolitik die im literarischen Besitz zurechtfinden können. Die Werke legendäre Bibliothek von Alexandria. Ziel: Das gesamte in ähnlicher Thematik unter einem einheitlichen Stichwort Schrift festgehaltene Wissen an einem einzigen Ort für die einzusortieren, gilt als Geburtsstunde der BibliothekswisGegenwart und Nachwelt zu sammeln – ein heiliger Hort senschaft. Zugleich entstanden die ersten Herausforderunmenschlicher Erkenntnis, ein Testament der Zeit und Welt. gen für Architekten, die beauftragt waren, „der Weisheit ein Diese Art einer Ikonisierung der Bibliothek gipfelt immer Haus zu bauen“, wie es vor einigen Jahren das Architekwieder in der Rolle, die sie als Schnittstelle zwischen Gut turmuseum der Technischen Universität München für eiund Böse, zwischen Macht und Ohnmacht in der Literatur ne Ausstellung formulierte – galt es doch, eine Anordnung der Räume zu schaffen, die multiplen Anfordespielt, vom Skriptorium in Umberto Ecos „Der rungen gerecht wurde. Mehr aber noch fühlName der Rose“ bis zu Hogwarts Library in New York Public Library: ten sich die Baumeister verpflichtet, dem Joanne K. Rowlings „Harry Potter“. Stets ragt 1911 in Manhattan sie nicht nur wegen ihres kostbaren Inhalts eröffnet, beherbergt sie aus dem Alltag heraus, sondern auch wegen über 50 Millionen Doku des architektonischen Gefäßes, das ihr Grünmente – darunter auch die der und Besitzer seit jeher gaben und das Unabhängigkeitserklärung durchaus sakrale Merkmale aufweist. „Der der Vereingten Staaten. B ibliotheksbau gehört von der vorchristlichen Antike bis ans Ende des 20. Jahrhunderts nach Christus zu den spannendsten Herausforderungen der Baukunst“, so der renommierte Bibliothekswissenschaftler Engelbert Plassmann. „Viele der im Lauf der Jahrhunderte gebauten Bücherhäuser stellen bedeutende Zeugnisse der Kulturgeschichte dar und bereichern unser Verständnis für die großen Linien der europäischen Wissenstradition.“ Dabei haben Bibliotheken etwas gemeinsam: Sie sind multidisziplinäre Werke. Das Gebäude an sich bietet Schutz vor Wind und Wetter sowie vor unbefugtem oder gar diebischem Zugriff auf das darin angehäufte Wissen. Gleichzeitig dient die Bautechnik dazu, Schrift- und Druckwerke
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Bände aus dem gesamten Bücherbestand des Stifts von fast 200 000 Bänden. Als kostbarster Schatz gelten die mehr als 1400 Handschriften ab dem achten Jahrhundert sowie die 530 Inkunabeln – das sind Frühdrucke bis zum Jahr 1500. Dass Licht oder Erleuchtung auch auf anderen Wegen in eine Bibliothek findet, beweist die Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University im amerikanischen New Haven. Das äußerlich höchst asketisch-monoton strukturierte Gebäude der 1960er-Jahre aus Granit und Marmor erhielt bei seiner Eröffnung den Namen „Weißer Elefant“. Heute gilt der Bau als ein geschätztes Unikat – „As Rare as Its Books“, wie der „Boston Globe“ titelte. Die marmornen Scheiben sind drei Zentimeter dick und lassen gerade genügend Licht ins Innere des Baus, um für indirekte Beleuchtung zu sorgen. Zugleich halten sie die für Bücher schädliche UVStrahlung fern. Im Inneren des Blocks ragt, umgeben von Lese- und Ausstellungsflächen, ein sechsstöckiger gläserner Turm auf, der den Bücherschatz birgt. Lichtspots setzen im Raum Muster und Akzente, um besondere Stücke wie die Gutenberg-Bibel der Universität ins Licht zu rücken.
Der Barocksaal der Stiftsbibliothek im schweizerischen St. Gallen etwa ist eine Eruption von Rokoko. Kenner zählen die Bibliothek zu den schönsten der Welt; gleichzeitig ist sie auch eine der ältesten. Zwar entstand das heutige Gebäude erst Mitte des 18. Jahrhunderts, doch datiert die Sammlung bis in das Jahr 719, als das Benediktinerkloster eine der führenden Bildungsanstalten Europas gewesen war. Schon damals betrieben die Mönche eine eigene Schreibwerkstatt, um Schriften zu vervielfältigen. Zugleich begannen sie, das in den Büchern gefasste Wissen zu sammeln. Mehr als 400 Bände des Stifts sind über 1000 Jahre alt. Eine ähnlich repräsentative Bibliothek steht im öster- Generell entstanden an den Universitäten, im unmittelreichischen Admont, das den größten klösterlichen Bib- baren Einfluss von Forschung und Lehre, einige der bedeuliothekssaal weltweit besitzt. Die Form des Baus geht eine tendsten und sehenswertesten Bibliotheksbauten der Welt. imposante Allianz mit seinem Inhalt ein – ein Gesamt- Sie alle sind Zeugnisse für die Wertschätzung öffentlicher kunstwerk aus Architektur, Malerei, Bildhauerei und Bü- Bildung im Gemeinwesen. Die Biblioteca Joanina der Unichern. So formulierte der österreichische Barockbaumeis- versidade de Coimbra in Portugal gilt etwa als eine der arter Josef Hueber zum 1776 vollendeten spätbarocken Saal: chitektonischen Meisterleistungen des Barock. Die Národní „Wie den Verstand soll auch den Raum Licht erfüllen.“ Ei- knihovna České republiky im Clementinum der Prager ne lupenreine Reverenz an die Prinzipien der Aufklärung. Altstadt, einem ehemaligen Jesuitenkolleg, schmückt ihre Diesen Geist versprühen auch die sieben Deckenfresken, Sammlung ebenfalls mit üppigem Barock und befindet sich die der Maler Bartolomeo Altomonte noch im hohen Alter im Wettstreit mit den nur einen Fußweg entfernten Leseschuf. Sie zeigen die Stufen der menschlichen Erkenntnis: sälen der Königlichen Kanonie der Prämonstratenser vom vom Denken und Sprechen über die Wissenschaften bis Strahov der traditionsreichen Hochschulstadt. Sie beherbergt auch kostbare Eigenproduktionen zur göttlichen Offenbarung in der Mittelkuppel. Beinecke Rare Book and wie das „Evangeliar von Strahov“, eine Der Bibliothekssaal allein beherbergt rund 70 000 Manuscript Library: Die über 1000 Jahre alte Handschrift. Bibliothek von Yale schützt Perfektioniert wurde dieses Prinzip ihren Schatz sehr seltener einer Buchlagerstätte in Südkorea. Die Schriften in einem sechs als Changgyong P’ango bezeichneten stöckigen gläsernen Turm. G ebäude im Haeinsa-Tempel bergen mehr als 6000 Bände einer der ältesten buddhistischen Kalligrafien der Menschheit. Die Tripitaka Koreana genannten Sammlungen entstanden Mitte des 13. Jahrhunderts auf 81 258 aus Kirsch- und Birnbaumholz handgeschnitzten Druckstöcken, die dort aufbewahrt sind und als Nationalschatz verehrt werden. Ein ausgefeiltes Belüftungssystem schützt die Druckstöcke und ihre Erzeugnisse über die Jahrhunderte, damit sie künftigen Generationen als Zeitzeugnisse zur Verfügung stehen.
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Fotos: mauritius images/Petr Svarc/Alamy, picture alliance/AP Images/David D. Driscoll
ertvollen Inhalt der Gebäude ein adäquates Äußeres zu w geben, wobei sich der jeweilige Baustil stets im Inneren fortsetzte. Auch wenn eine Bibliothek letztlich nichts anderes ist als ein Lagerhaus für Bücher, fungiert sie nicht als Durchgangsstation einer Wertschöpfungskette. Sie ist der Zielort, an dem sich der Charakter der Bücher von der Handelsware zum nützlichen Gegenstand wandelt. Grund genug für die Architekten, ihnen kein nüchternes Lager zuzuweisen, sondern einen schmucken Aufenthaltsraum.
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Bibliothek von Alexandria: Der Bau erstreckt sich über elf Stock werke. Der Innenraum wurde terrassenförmig gestaltet. Rund die Hälfte des Gebäudes nimmt der Lesesaal ein, der mit 2000 Plätzen der größte der Welt ist.
Mehr denn je stellt sich heute die Frage, wie es mit ibliotheken im digitalen Zeitalter weitergehen soll. Schon B längst haben selbst die traditionsreichsten und konservativsten unter ihnen damit begonnen, ihre Bestände elektronisch zu vervielfältigen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dass ihre Existenz und Aufgabe nicht gegenstandslos werden, weil Bytes die Lettern ersetzen, machte Klaus Ulrich Werner bereits 2013 beim Weltkongress der Bibliotheken in Singapur als Mitglied im Vorstand des Deutschen Bibliotheksverbands zum ersten Mal deutlich. Werner leitet in Berlin die Philologische Bibliothek der Freien Universität und beobachtet einen Megatrend – in der Gegenwart und nahen Zukunft wandelt sich die Bibliothek zu einem Lernort für alle Generationen. Werner: „Bibliotheken sind quasi halböffentliche Orte. Hier kann man im Stillen lernen oder in Gruppen sich zurückziehen und arbeiten. Es gibt nicht nur Lektüre, sondern auch Beratung und Unterstützung.“ Dieses Setting finde man nirgendwo sonst.
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Wissenschaftliche wie öffentliche Bibliotheken müssten das künftig auch baulich noch stärker berücksichtigen. „Die Bibliotheken der Zukunft sind individuelle Lernlandschaften“, glaubt Werner. Das gedruckte Buch werde dort weiter eine Rolle spielen – wenn auch eine bescheidenere. Zuversichtlich stimmt es die Freunde gedruckter Bücher, dass ausgerechnet im heutigen Alexandria 2002 die erste Großbibliothek des 21. Jahrhunderts eröffnete. Sie ist der Prototyp neuer Bibliotheken, wie sie Klaus Ulrich Werner skizziert, und Treffpunkt für Jung und Alt. Ihr Erscheinungsbild gleicht moderner Kunst und beinhaltet einprägend das Selbstverständnis des antiken Vorbilds. Beeindruckend und gewaltig wirkt die halbrunde, fensterlose und 32 Meter hohe Südfassade aus mehr als 3000 grauen Granitplatten. Sie ist verziert mit Schriftzeichen aus der ganzen Welt und symbolisiert – in Anlehnung an Ptolemeus’ Ziel –, die Weisheiten der Welt zu sammeln. Sicher hätten ihm das und der Tempel des Wissens in seiner Großzügigkeit gut gefallen.
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„Die Tür der Arbeit schließen“ Immer mehr Klöster stillen die Sehnsucht der Menschen nach einer Auszeit oder Seminaren in aller Abgeschiedenheit. Pater Anselm von der Benediktinerabtei Münsterschwarzach zum Trend der Zeit. :: Das Interview führte Günter Kast
VENTURA: Ein Augustinerkloster wirbt: „Unsere Zimmer sind komfortabel eingerichtet mit klöster lichem Ambiente. Sie haben ein Marmorbad mit begehbarer Regenwalddusche und verfügen über Minibar, TV und WLAN.“ Wie gefällt Ihnen das? Pater Anselm: Es steht mir nicht zu, Angebote anderer Klöster zu bewerten. Tatsächlich gibt es inzwischen ein kaum zu überblickendes Angebot, spirituelle Ferien in deutschen Klöstern, in Rom, Kroatien oder auf Mallorca. Auf dem Sinai kann man sich als „Eremit auf Zeit“ versuchen. Bei uns in Münsterschwarzach geht es deutlich einfacher und bodenständiger zu. VENTURA: Was genau bieten Sie denn an? Pater Anselm: Es gibt Programme für Einzelgäste, Jugendliche, Gruppen und kirchliche Mitarbeiter. Diese können im Gästehaus oder im Kloster wohnen, für sich allein sein oder geistliche Begleitung beanspruchen. Lehrer sind eingeladen, mit ihrer Klasse oder Jugendgruppe einige Tage in die klösterliche Welt einzutauchen. „Kloster auf Zeit“ ist bei uns der Name für ein spezielles Programm, das es Männern zwischen 18 und 35 Jahren ermöglicht, ein paar Tage wie ein Mönch zu leben. Insgesamt haben wir rund 100 Plätze, davon 30 für Einzelgäste. VENTURA: Luxus darf man aber bei allen diesen Programmen wohl nicht erwarten? Pater Anselm: Luxus definiert jeder anders. Ein bisschen weniger Komfort hilft beim Zu-sich-Kommen, beim Abschalten vom Alltag, bei der Meditation. VENTURA: Wie halten Sie es mit Komfort? Pater Anselm: Unsere Zimmer im Gästehaus haben alle Dusche und WC, das ist heutzutage Standard. Wir nutzen diese ja auch für Managerseminare. In
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den Zellen des Klosters können und wollen wir das nicht anbieten. Jeder muss sein Bett selbst machen. Es kommt auch niemand zum Putzen. Und wir haben fixe Essenszeiten, an die sich alle halten müssen. Benediktinerpater
VENTURA: Fühlen sich Mönche mitunter gestört? Pater Anselm: Wir wissen schon, wie wir Grenzen ziehen und uns auch schützen können. Die Klausur, den abgegrenzten und allein den Ordensangehörigen vorbehaltenen Bereich, dürfen unsere Gäste grundsätzlich nicht betreten.
Anselm Grün trat 1964 ins Noviziat der Abtei Münster schwarzach ein. 1974 promovierte er zum Doktor der Theolo gie und studierte
VENTURA: Welche Regeln haben Sie für die Medien nutzung vereinbart? Pater Anselm: Fernseher und WLAN gibt es im Gästehaus nicht. Wir ermutigen Besucher, das Handy ausgeschaltet zu lassen. Für ein spannendes Fußballspiel gibt es ja die Dorfwirtschaft. Ich selbst besitze kein Smartphone, nur ein einfaches, normales Handy. Und auch dieses bleibt oft ausgeschaltet. Mein Laptop steht im Arbeitszimmer, in der Zelle bin ich offline – und entsprechend selten bin ich natürlich auch im Internet unterwegs.
von 1974 bis 1976 Betriebswirtschafts lehre in Nürnberg. Er zählt zu den meist gelesenen Buch autoren unserer Zeit. Mehr als 300 Bücher zu überwiegend spirituellen Themen liegen in über 30 Sprachen vor. Zudem tritt er als Referent
VENTURA: Ist die grassierende Onlinesucht im privaten und beruflichen Bereich ein Grund dafür, dass sich viele Menschen ausgebrannt fühlen und nach Auszeiten in Klöstern sehnen? Pater Anselm: Ich vermute es, kann es aber nicht mit Zahlen belegen. Sehr wichtig ist es, am Ende des Tages die Tür der Arbeit zu schließen. Wer in der S-Bahn nur auf sein Smartphone starrt, wird dabei Probleme haben. Besser wäre es, den Tag gedanklich Revue passieren zu lassen, Geschehnisse zu verarbeiten. Was lief gut, was könnte ich besser machen? Wem habe ich Gutes getan, wem geschadet?
oder geistlicher Berater auf und leitet Kurse in den Gäste häusern der Abtei Münsterschwarzach.
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besuchen. Wenn alle Ablenkungen beseitigt sind, merken Paare auch besser, ob sie wirklich miteinander zurechtkommen.
Anselm lässt sich gerne auf Dinge ein, sucht stets nach den Möglichkeiten, ach tet auf das Ganze.
VENTURA: Viele Leute sagen, sie wünschten sich eine Ruhepause im Kloster, um ihr Burn-out-Syn drom zu lindern. Wie gefällt Ihnen dieser sehr in Mode gekommene Begriff? Pater Anselm: Das ist eine schwierige Frage, denn Ausgebranntsein ist ja ein sehr subjektives Gefühl. Ich möchte niemandem unterstellen, Simulant zu sein. Aber ich denke, manche schauen zu sehr auf ihre Grenzen statt auf die Möglichkeiten, sie zu überwinden. Man soll sich durchaus austoben, auch im Beruf. Wer nur auf seine innere Befindlichkeit schaut, läuft Gefahr, den Blick fürs Ganze zu verlieren. VENTURA: Ist Ihnen manchmal alles zu viel? Pater Anselm: Ich habe nicht das Gefühl, im Hamsterrad zu leben. Aber ich spüre die Gefahr natürlich auch, wenn ich von einem Termin zum nächsten gehe. Ich halte dann inne, sage mir: eins nach dem andern! Wenn mein Kalender sehr voll ist, konzentriere ich mich bewusst auf meinen inneren Raum.
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VENTURA: Viele Menschen fühlen sich auch ge stresst, weil sie ständig das Gefühl haben, etwas zu versäumen. Kennen Sie solche Gedanken? Pater Anselm: Ich ging gleich nach dem Abitur ins Kloster. Und ja, ich kenne dieses Gefühl. Ich habe nicht alles erlebt, bin nicht in allem satt geworden. Es kann einen aber durchaus lebendig machen, wenn nicht alle Bedürfnisse erfüllt werden. Ich habe mitunter über das Heiraten sinniert, aber wenn ich das zu Ende gedacht habe, bekam ich stets Angst, zu verbürgerlichen – und das war 1968 ein richtiges Schimpfwort (lacht). Aber gut: Meine Geschwister sind verheiratet und wohl genauso lebendig wie ich.
VENTURA: Die innere Mitte hoffen alle zu finden, die ins Kloster gehen. Eine Abtei im Harz stellt sich als „Treffpunkt östlicher und westlicher Heiltradi tionen“ vor. Haben Sie Yoga ausprobiert? Pater Anselm: Ja, während des Noviziats. Es ist sicher wichtig, eine bewusste Atemtechnik zu üben. Aber runterkommen kann man auch anders: bei Spaziergängen, beim Joggen, sofern es nicht wieder mit Leistungsdruck verknüpft wird. Ich denke, jeder muss selbst herausfinden, wie er am besten entspannen kann. Und deshalb haben auch die etwas exotisch anmutenden Programme von einigen Klöstern durchaus ihre Berechtigung. Man muss diese vor dem Buchen nur genau studieren, um eventuelle Enttäuschungen zu vermeiden.
VENTURA: Apropos Arbeit: Sie produzieren Bücher wie am Fließband. Wann schreiben Sie denn? Pater Anselm: Ich befolge ein festes Ritual, schreibe rund sechs Stunden pro Woche – Dienstag- und Donnerstagmorgen zwischen sechs und acht sowie am Sonntagnachmittag. Rituale sind wichtig für mich. Ich begann mit dem Bücherschreiben, als ich zwischen 25 und 30 Jahren eine längere persönliche Krise hatte. Das war damals eine Art Selbsttherapie.
VENTURA: Nehmen Sie auch Ehepaare auf? Pater Anselm: Ja, es gibt Doppelzimmer. Viele Paare wollen sich bei uns erholen und gleichzeitig Kurse
VENTURA: Und heute? Ist die Zeit, Bücher zu schreiben, Ihre Art, sich eine „Auszeit“ zu gönnen? Pater Anselm: Wenn Sie so wollen: ja!
VENTURA: Das Gegenteil von etwas versäumen? Pater Anselm: Sich einlassen auf etwas. Das kann auch Arbeit sein. Und diese wird dann als sehr erfüllend wahrgenommen.
Fotos: Frank Zauritz, ddp images/Breuel-Bild
Aktiv sein: Pater
VENTURA: Was können Sie den Klosterurlaubern raten, um Enttäuschungen zu vermeiden? Pater Anselm: Vor einem längeren Aufenthalt ist es gut, hinzufahren, mit den Menschen und Patres zu sprechen, einen Gottesdienst zu besuchen. Bene diktiner, Franziskaner, Kapuziner: Jeder Orden hat einen anderen Stil, eine andere Ausrichtung. Wichtiger ist, sich auf sich selbst einzulassen. In ein Kloster geht man nicht, um Abenteuer zu erleben. Bei uns muss man den „Stress“ der Stille und der Ruhe aushalten. Wer vor einer wichtigen Lebensentscheidung steht, Bilanz ziehen will und nachdenken möchte, ist im Kloster gut aufgehoben.
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„Wichtige Entscheidungen zu treffen, ist für mich ein elementarer Bestandteil meines Lebens. Einzig bei dieser Vielfalt an Reiserouten kann ich mich kaum entscheiden.“
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Weltreise 05.11.2017 – 06.04.2018 151 Tage ∙ 34 Länder ∙ 82 Häfen hl-cruises.de/weltreise
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Lang lebe unser Mixtape Bekanntlich ist alles im Wandel, doch selten erinnern wir uns mit einer solch großen Portion Nostalgie und Herz an die Zeiten, in denen wir Musik live im Radio mitschnitten und auf Kassetten bannten. :: Von Ulrich Paffenberger
Unzählige Male habe ich diesen Text gehört, genial übersetzt von Camillo Felgen. Aufgenommen auf einer sogenannten C90, irgendwann im Frühjahr 1977. Worauf, musikarchäologisch gedeutet, die auf der Kassette folgenden Titel „Don’t Cry For Me Argentina“ von Julie Covington aus dem Musical „Evita“ und der Hit „Orzowei“ der Oliver Onions hindeuten. Radiomoderator Joe Kienemann legte damals im Abendprogramm des Bayerischen Rundfunks ohne große Vorrede nacheinander zwei Titel der Beatles auf, gesungen in deutscher Sprache: „Sie liebt dich“ und „Komm gib mir deine Hand“. In der Aufregung – nebenher liefen die Vorbereitungen auf die Englischschulaufgabe am nächsten Tag – rutschten mein Daumen und Zeigefinger von der unvermeidlichen Aufnahme-Start-Tastenkombination ab, was den Auftakt des ersten Titels mit einem markanten Heuler versah und die Begleiterscheinungen tief im Gedächtnis verewigte. Über ähnliche Erinnerungen verfügt wohl jeder aus der Generation „Radiorekorder“, der sich mit erheblichem Aufwand an Konzentration und Fingerfertigkeit seine Mixtapes zusammenstellte. Einschließlich des frühen Einstiegs ins Zeitmanagement erforderten die unzuverlässigen Bandzähler und die stets in die Musik hineinquasselnden Sprecher ein Maximum an Vorbereitung und Aufmerksamkeit im laufenden Betrieb. Entstanden sind auf diese Weise einzigartige Dokumente der individuellen Zeitgeschichte, gespeichert auf rund 135 Meter Tonband in Kunststoff gehäusen von 10,16 Zentimeter Breite, 6,35 Zentimeter Höhe und 1,27 Zentimeter Tiefe. Diesen Schätzen droht unaufhaltsam die Zerstörung, denn während der Fachmann schreibt: „Im Allgemeinen ist bei Speichermedien auf eine trockene, saubere, wohltemperierte, nicht zu helle, sichere Umgebung zu achten. Datenträger vertragen keine zu feuchte oder zu warme Umgebung“, sah die Unterkunft Handschuhfach oder Mittel ablage ganz andere Bedingungen vor. Manche ruhen gar,
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„O komm doch, komm zu mir, du nimmst mir den Verstand. O komm doch, komm zu mir, komm gib mir deine Hand …“ Deutsche Übersetzung aus „I Want To Hold Your Hand“, Beatles, 1963.
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„Du bist es, an welchen sie denkt, und sie sagte mir, was zu sagen ist. Sie sagt, sie liebt dich, und du weißt, das kann nicht schlimm sein. Ja, sie liebt dich!“
wie mein 77er-Mix, gut abgelagert in einer Schachtel auf dem Speicher. Mit der Folge, dass erodierende Magnetstrahlung auf dem Band sowie elektrisierte Staubpartikel auf dem Tonkopf dem sehnsuchtsvoll Lauschenden ein klanglich (be)rauschendes Erlebnis bescheren – bis hin zur Unverständlichkeit und zum Bandsalat. Da helfen auch keine in Alkohol getränkten Wattestäbchen mehr und kein auf wickeltauglicher Sechskantbleistift. Auch die Empfehlung für eine Investition in höherwertige Aufnahmemedien – „Was heißt Chromdioxid? Du musst Ferrochrom nehmen!“ – erweist sich im Rückblick als reiner Schall und Rausch. Was tun? Experten raten dringend zum „Überspielen“ der Erinnerungen. Doch heute natürlich ganz anders als in Kassettenzeiten, nicht von einem Band zum anderen. Die Digitalisierung gilt als Lösung aller archivierten Probleme. Einschlägige Elektronikfachhändler halten entsprechendes Equipment parat mit Kosten im niedrigen zweistelligen Euro-Bereich. Womit allerdings nur der technische Transfer abgegolten ist inklusive der Eins-zu-eins-Reproduktion aller Stör- und Schadensfolgen der Aufnahme. Warum das nun so ist, erläutert mit großer Einfühlsamkeit der eine oder andere Musikliebhaber oder gelernte Fachmann im Medium jener Welt, die der Kassette das Grab schaufelte: dem Internet. Dort erfahre ich auch, warum es gilt, für die Nachbearbeitung der Digitalisierung nochmals ordentlich Zeit, Geld und Hand mit entsprechender Software anzulegen. Zum Beispiel, um das Rauschen herausund das Volumen hineinzubekommen. Der Unterschied? Etwa der zwischen Tiefkühlkost aus der Mikrowelle und einem Abendessen bei Küchenmeister Vincent Klink. Daher vergibt der eine oder andere Hüter und Bewahrer seiner analogen Schätze die Rettungsaktion auch zu Fachleuten außer Haus. Der Markt ist groß, denn die Vergänglichkeit alles Irdischen trifft nicht nur die Mixtapes, sondern auch Tonbänder, Dias, Fotonegative und Super-8-Filme. Sie alle vergehen. Nur die Erinnerungen, die leben ewig.
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Foto: imago/Niehoff
Deutsche Übersetzung aus dem Beatles-Hit „She Loves You“, 1963.
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Bergauf mit Flow Mehr Kraft für die Pedale – Fahrräder mit Hilfsmotor boomen. Selbst Mountainbikes und Rennräder sind nun elektrifiziert. :: Von Wolfgang Hörner
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Wer sportlich unterwegs sein will, achtet auf jedes Gramm. Bei Mountainbikes wird das besonders deutlich. Der Einsatz von Leichtmetallen und Carbon ist hier genauso selbstverständlich wie das Weglassen alles Überflüssigen. Fast schon paradox mutet es an, dass in den letzten Jahren ein überaus schweres Bauteil seinen Weg an viele Mountainbikes gefunden hat: der Elektromotor samt Akku. Doch die Vorteile sind am Berg genauso überzeugend wie in der morgendlichen Betriebsamkeit von Großstädten, wo sich Menschen mit Muskelkraft und Elektroantrieb ihren Weg zur Arbeit bahnen. Schweißtreibendes Treten ist passé, die Fahrt entspannter und die Ankunft gepflegter. „Als Praktikant fuhr ich mit meinem alten Bike zur Arbeit. Dort angekommen, musste ich mich zunächst frisch machen“, blickt Wahlmünchner Felix Ehrenfeld auf seine Zweiradkarriere. „Das kann ich mir nun sparen.“ Der 32-Jährige sattelte auf ein elektrisch unterstütztes Fahrrad um, ein sogenanntes Pedelec. Die noch jungen „Pedal Electric Cycle“ – kurz Pedelecs –, haben eine eindrucksvolle Karriere und einen Imagewandel hinter sich. Bis vor gut
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Hoch hinaus: Noch vor Kurzem wäre ein MountainbikePedelec undenkbar gewesen – heute sind sie ein Renner.
zehn Jahren waren Pedelecs als Hybridfahrräder vor allem etwas für Technikbegeisterte, die weniger einen Alltagsvorteil suchten als eine Evolution des klassischen Fahrradfahrens. Diese kam dann auch, denn fast über Nacht brachten Pedelecs einen Mobilitätsschub vor allem für ältere Menschen und Fitnessmuffel. Rad fahren, ohne sich besonders anstrengen zu müssen, lautete die revolutionäre Devise. Das sorgte einerseits für Zulauf, andererseits für ein angestaubtes Image. Doch einmal ausprobiert, begeistern Pedelecs inzwischen eine zunehmend jüngere Käuferschaft. Der technische Fortschritt mit den kaum noch sichtbaren Antriebskomponenten und die Eroberung vieler moderner Fahrradsparten wie Mountain- oder Citybikes durch Pedelecs haben den Boom zusätzlich beschleunigt. Der Erfolg in Zahlen: Als Ende vergangenen Jahrzehnts die erste Pedelec-Welle Deutschland erreichte, verkauften sich 150 000 Exemplare der Fahrzeuge. Bis 2015 legte die Verkaufszahl um mehr als das Dreieinhalbfache auf 535 000 zu – Tendenz weiter und stark steigend. Inzwischen erreichen Pedelecs einen Gesamtmarktanteil von
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knapp 13 Prozent. So geht der Zweirad-IndustrieVerband aktuell von über rund 3 Millionen Elektrofahrrädern in Deutschland aus. Die mit Abstand größte Gruppe unter den verschiedenen Klassen und Typen bilden mit 95 Prozent die Pedelecs. Sie sind definiert als Fahrräder mit elektrischem Hilfsmotor, der allerdings nur bis zu einer Geschwindigkeit von maximal 25 Stundenkilometern unterstützen darf – was nicht bedeutet, dass Radler nicht schneller fahren können. Das Treten dabei die wichtigste Voraussetzung: Nur dann stellt der Elektromotor seine Leistung bereit. Umgekehrt: Wird nicht gestrampelt, bleibt der Motor aus. Damit stellt das Pedelec rechtlich gesehen ein Fahrrad dar, da der Motor nur unterstützend zum Einsatz kommt. Daneben ist festgelegt, dass der Elektroantrieb maximal 250 Watt leisten darf – ein Wert, den praktisch alle Pedelecs punktgenau erfüllen. Weil sie rechtlich wie Fahrräder behandelt werden, gelten gleiche Regeln. So herrscht weder Helm- noch Versicherungspflicht. Auch müssen die Vorschriften des Radfahrens berücksichtigt werden, etwa die Benutzung von Fahrradwegen.
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Die Evolution der Pedelecs vollzog sich schnell, obwohl ihre Geschichte noch kurz ist. „Die Technik ist längst ausgereift“, resümiert Alex Kröper von Zweirad Stegmaier in Crailsheim. Indes gibt es Unterschiede. „Markenräder bürgen für Qualität, auch bei Wartung und Reparatur“, so Kröper. Doch im Detail geht es um mehr. Etwa, wo der Elektromotor platziert ist. Nur selten und eher bei preisgünstigen Pedelecs befindet sich der Elektroantrieb im Vorderrad. Das ist technisch die einfachste Lösung, sorgt aber für ein unnatürliches Fahrgefühl, weil die Vorderachse plötzlich zieht. Defizite gibt es auch bei der Traktion – Allradantrieb ist nicht gefragt. Zeitgemäß und insbesondere für Umsteiger die richtige Wahl ist das Mittelmotorkonzept. Hier wirkt der Elektromotor direkt aufs Tretlager und verstärkt damit den Tretvorgang. Über die konventionelle Kette wird die Leistung an das Hinterrad weitergegeben. So fühlt sich das Radfahren wie gewohnt an, ist aber kraftvoller. Ein weiterer Vorteil der weitverbreiteten Mittelmotorlösung ist, dass beide Räder elektronikfrei sind, was beim Reifenwechsel ein gravierender Vorteil ist. Genau das ist – in Verbindung mit einem durchweg höheren Anschaffungspreis – der größte Nachteil des Motors im Hinterrad. Dafür
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Hightech-Montainbike: KTM Macina Kapoho mit elektri-
bringt die Lösung durch eine hohe Traktion die Leistung optimal auf die Straße. Apropos Technik: Die Elektromotoren werden aus Akkus gespeist. Während man bei Elektroautos darauf wartet, dass größere Akkukapazitäten Reichweiten garantieren, spielt die Problematik bei Pedelecs eine untergeordnete Rolle. Selbst mit leerem Akku ist das Rad noch zu gebrauchen. Je nach Fahrradtyp und Grad der Unterstützung liegen die elektrischen Reichweiten oft im Bereich zwischen 30 und 80 Kilometern.
scher Unterstützung von Bosch für rund 3600 Euro.
Damenwahl: Das Diamant Achat Super Deluxe+ ist ideal für die Stadt und kleinere Touren, kostet 3200 Euro.
Ein Extremsportler: Das rund 2200 Euro teure Haibike Sduro Hard Seven zeigt, wie Mountainbikes und Pedelecs verschmelzen.
Wesentlich kniffliger ist schon die Frage, welches Pedelec es konkret sein darf. Nicht nur in Bezug auf die technischen Details ist die Auswahl groß. Entstammte bis vor ein paar Jahren ein Pedelec fast immer der Kategorie Trekking rad, sind inzwischen aufgrund der großen Nachfrage und immer jüngerer Kunden nahezu alle Segmente elektrifiziert. Das Angebot schließt inzwischen sogar Nischenprodukte wie Klappräder oder Cargobikes ein, die beide insbesondere im urbanen Umfeld beliebt sind. Auch das klassische Citybike ist längst als Pedelec zu haben. Sogar vor Rennrädern macht der Trend nicht halt, obwohl die elektrische Unterstützung zusätzliches Gewicht bringt. Den bedeutendsten Zuwachs verzeichnen allerdings Mountainbikes – ein Segment, in dem Elektroantrieb lange Zeit undenkbar war. Zu den sportlichen Gründen zählt, dass die zusätzliche Leistung extremere Steigungen ermöglicht. Weil viele Mountainbiker besonders technikaffin sind, stehen sie der Elektrotechnik auch nicht per se skeptisch gegenüber. „Lithium und Laktat sind längst keine Gegensätze mehr“, charakterisiert Gunnar Fehlau vom Pressedienst Fahrrad den Umstand, dass immer häufiger relativ schwere Akkus in Leichtbaurädern zu finden sind. Die Krux: Weil es einfacher nach oben gehe, überschätzten sich viele Mountainbiker, berichten Helfer der Bergwacht Bayern. Die Stürze folgen typischerweise beim Bergabfahren. Doch bei allem Reiz, selbst größere Steigungen und sogar Berge mit einem gewissen Flow zu erklimmen: Viele Käufer möchten gar nicht so hoch hinaus. Sie schätzen vielmehr den elektrischen Rückenwind, um leicht und entspannt ins eigentliche Mountainbike-Gelände zu kommen. Und im Anschluss auch wieder zurück …
Fotos: ralph klohs photographie, KTM Fahrrad, Diamantrad/roger richter, Winora-Staiger GmbH Copyright 2016/2017
Anders verhält es sich mit den sogenannten -Pedelecs. Sie sind technisch mit den normalen S Pedelecs verwandt, ihr Motor darf aber bis zu einer Geschwindigkeit von 45 Stundenkilometern unterstützend eingreifen. Auch darf er mit maximal 500 Watt doppelt so stark sein. Aus juristischer Sicht ist das S-Pedelec aber kein Fahrrad mehr, sondern gilt als Kleinkraftrad. Das hat zur Folge, dass der Fahrer einen Fahrradhelm tragen und ein Versicherungskennzeichen anbringen muss. In diesem Zusammenhang sind die Fahrradwege und alle anderen Fahrradvergünstigungen tabu. Trotz allem schiebt auch hier der Elektromotor nur dann an, wenn der Fahrradfahrer selbst in die Pedale tritt. Genau das unterscheidet das S-Pedelec vom E-Bike, das streng genommen ein Elektromofa ist: Es kann selbstständig beschleunigen und seine Geschwindigkeiten halten. Die Nachfrage nach dieser Gattung ist aber so gering, dass sich der markante Begriff E-Bike inzwischen als Oberbegriff für alle elek trischen Fahrräder eingebürgert hat.
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Das Gedicht
Glückliche Fahrt Die Nebel zerreißen, Der Himmel ist helle, Und Äolus löset Das ängstliche Band. Es säuseln die Winde, Es rührt sich der Schiffer. Geschwinde! Geschwinde! Es teilt sich die Welle, Es naht sich die Ferne; Schon seh’ ich das Land! Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) :: Illustration: Lisa Rock
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Alte Dame vom See Bereits 1913 lief sie vom Stapel – nach einer bewegten Geschichte versprüht die Hohentwiel mehr Charme denn je. :: Von Bert Röge
Der Star des Sees: Als einziger Schaufel raddampfer ist die Hohentwiel ein Blickfang für sich. Sie gilt als das am besten restaurierte und schönste Dampf schiff in Europa.
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Golden glänzt die Schiffsglocke im Nachmittagslicht, silberweiß schäumen die Spuren der Schaufelräder auf der sonst spiegelglatten Seefläche. Auf den polierten Planken des Sonnendecks genießen die Passagiere fruchtige Cocktails und die mediterrane Uferlandschaft mit Alpenhintergrund, die für das Schweizer Bodenseeufer typisch ist. Mit flotter Fahrt und dem treibenden Rhythmus ihrer Maschine eilt die Hohentwiel am Ende einer entspannten Kreuzfahrt ihrem Heimathafen Hard in der Nähe von Bregenz entgegen. Wer in einem solchen Moment neben Adolf Franz Konstatzky auf der Brücke steht, wie er im blauen Zweireiher und mit weißer Mütze ganz Kapitän ist und respektvoll das Holz der Reling berührt, der versteht seinen Satz nur zu gut: „Auf diesem Schiff Dienst tun zu dürfen, ist eine spannende und aufregende Geschichte, es hat ein unglaubliches Flair.“ Die Hohentwiel ist der einzige Raddampfer, noch dazu das einzige Dampfschiff auf dem Schwäbischen Meer. Im Winter 1962/1963 sah es nicht so aus, als würde es noch einmal so weit kommen, dass dieses Schiff aus eigener Kraft und mit Passagieren über den See fahren würde. Eiseskälte hat ganz Europa im Griff. Der Bodensee, größtes Binnengewässer Deutschlands, friert zu. Die Anwohner zelebrieren die „Gfrörne“ mit althergebrachten Ritualen, zum Beispiel der Eisprozession mit einer Büste des heiligen Johannes. Einigen ist richtig kalt ums Herz: den Freunden und Liebhabern der Dampfschifffahrt, denn die diversen staatlichen Eisenbahnen, denen der schwimmende Linienbetrieb auf dem Schwäbischen Meer anvertraut ist, mustern in ihrer Modernisierungseuphorie radikal alles aus, was da mit Schaufelrad und Schornstein übers Wasser fährt. Als einer der letzten Dampfer der alten Gilde war noch vor Wintereinbruch die Hohentwiel außer Dienst gestellt worden. Nach 49 Jahren im aktiven Dienst ließ die Deutsche Bundesbahn den einst stolzen Halbsalondampfer im Hafen von Konstanz überwintern, bevor ihm dann der Schneidbrenner ein letztes Mal einheizen sollte. Unter denen, die
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Abendstimmung: Die Schiffsglocke des Dampfers Hohen twiel wacht über dem Schwäbischen Meer.
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Auf dem Schiff von Kapitän Konstatzky und Haubenkoch Huber werden heute gerne außergewöhn liche Feste gefeiert – ganz in der Tradi tion eines Grafen Ferdinand von Zeppelin, der seinen 75. Geburtstag am 8. Juli 1913 lieber an Bord des Raddamp fers als in hoher Luft verbrachte.
Wer der Hohentwiel heute begegnet, sieht nichts mehr aus der traurigen Zeit. Im Gegenteil: Unter allen Passagierschiffen auf dem See gilt sie als schmuckstes, schönstes und elegantestes. Mit ihr kehrte die Dampfer-Epoche zurück, die auf anderen Gewässern Europas nie abgerissen ist. Möglich gemacht hat das eine Gruppe von Enthu siasten, die lieber glühende Öfen sehen wollte, als mit kaltem Herzen zu leben. Allen voran waren es ein bayerischer Landrat und ein in Österreich lebender Schiffsingenieur, die mit der Gründung eines grenzüberschreitenden Vereins die Wende im Leben der Hohentwiel einleiteten. Sie ließen sich nicht vom rostig-herunter gekommenen Zustand des Schiffs abschrecken und nicht von den 7 Millionen Mark, die erfahrene Werften für die Renovierung veranschlagten. Stattdessen teilten sie die Arbeiten kosten senkend in einzelne kleine Gewerke auf, die sie unter mittelständischen Handwerksbetrieben der Region ausschrieben. Sie konzentrierten Planung, Organisation und Bauleitung in den eigenen Händen, vor allem beim befahrenen Seemann Reinhard E. Kloser, der zuerst Restaurator und später erster Kapitän der wieder dampfenden Hohentwiel werden sollte. „Selbst als Schrotthaufen sah ich ihre Eleganz“, schwärmte er ein-
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Im Fass an Bord ge reift: der Edelbrand zum 100-jährigen Jubiläum des Schiffs.
mal. Er und seine Mitstreiter zeigten Gesicht und Präsenz rund um den See und gewannen durch ihr Vorbild jene Zuschüsse und Spenden, die es brauchte, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Als „entbehrungsreiche Schwerstarbeit“ bezeichnete Karl F. Fritz, der leidenschaftliche Chronist der Bodenseeschifffahrt, was es brauchte, um aus einem Beinahewrack ein Glanzstück zu machen. „Abgebrochene Bauteile, jedes Einzelstück, jede Armatur, selbst Schraubenmuttern wurden entfernt, katalogisiert und zeichnerisch erfasst“, beobachtete er die Vorbereitungen zum Wiederaufbau bei mitunter grimmiger Kälte. Weil es keine Originalpläne mehr gab, mussten unzählige Zeichnungen und Skizzen angelegt werden, um Bauteile passgenau zu rekonstruieren. Rund fünf Jahre zogen sich die Arbeiten hin, die dem Dampfschiff jene Silhouette und jenen Ausstattungsstil zurückgaben, mit denen es nach seiner Indienststellung 1913 begeistert hatte. Der in edlem Holz und mit feinen Polstern wiederhergestellte Hecksalon der Hohentwiel ist das wohl schönste Kaffeehaus westlich von Wien. Wie zu jenen Zeiten, als sie dem württembergischen Hof diente, geht die dampfende Schönheit seit 1990 wieder stilvoll auf Reisen. Knapp 20 000 Gäste begrüßt die Mannschaft um Kapitän Konstatzky jährlich. Mit Heino Huber als Chef der Bordküche, der für seine Künste bereits drei Hauben und siebzehn Punkte vom renommierten Gault Millau erhalten hat, genießen sie neben dem Ambiente auch das Amuse-Gueule an Bord. Dabei ziehen die meist bereits im Vo raus ausgebuchten Fahrten nicht nur Gourmets an, sondern auch internationale Filmproduktionen. Nach „James Bond 007: Ein Quantum Trost“ setzte auch David Cronenberg das Schiff ein, der am Bodensee den Historienfilm „Eine dunkle Begierde“ mit hochkarätigen Schauspielern wie Keira Knightley, Viggo Mortensen und Michael Fassbender drehte. Der wahre Star aber war die Hohentwiel, schöner unter Dampf denn je.
Fotos: Hohentwiel, Stefan Winterle
Begehrte Fahrten:
einen letzten wehmütigen Blick auf die ranke alte Dame warfen, befanden sich auch Mitglieder des Bregenzer Segelklubs. Auf der Suche nach einem Klubheim und in Ermangelung finanzierbarer Objekte an Land erwarben sie die Dampfveteranin zum Spott- und Schrottpreis von damals 70 000 Österreichischen Schilling, ließen sie nach Bregenz schleppen, vertäuten sie dort und bauten sie für ihre Zwecke um. Der Schornstein bekam eine rot-weiß-rote Banderole, die Schaufelräder wurden kupiert, um in den Radkästen Platz für Getränke zu schaffen. Das Schiff war so zwar dem Abwracker entgangen, aber mit Dampfschiff romantik hatte dies nichts mehr gemein.
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Hanami 2015, Sprühlack mit Schablonen auf Holz, Edition von 2 Exemplaren, 60 × 80 cm, 4800 Euro
Exklusive Leseraktion. Kunst kann sich sowohl monetär als auch emotional rentieren und verbindet im Idealfall eine Sammelleidenschaft mit einer Wertanlage. VENTURA präsentiert exklusiv für Sie ausgewählte Werke zu einem attraktiven Preis. :: Von Ralf Kustermann
Stefan Winterle gehört zu den führenden Vertretern der Stencil-Art, die hierzulande unter dem Namen Schablonenkunst bekannt ist. Bevorzugte Werkzeuge des Künstlers: Skalpell, Sprühlack sowie am Computer bearbeitete Fotografien. Letztere bilden die Vorlage für eine ungewöhnliche Präzisionsarbeit, die den Betrachter zum Gast einer extrem lebensnahen Naturszenerie macht. An Hanami arbeitete der Lörracher mehr als ein halbes Jahr. Rund 60 Schablonen fertigte er dabei mithilfe eines Skalpells an. Sie dienten dazu, in einem aufwendigen Prozess die Farben auf eine speziell produzierte Holzkassette akribisch aufzusprühen. Es entstanden zwei Master versionen des prächtigen Motivs von oben. Im Anschluss stellte Winterle mit den bereits vorhandenen Schablonen einfacher ausgeführte Papierabzüge her. Das Ergebnis ist erstaunlich: Ste-
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fan Winterle gelingt das fotorealistische Abbild eines Kirschblütenbaums, das nur wenig von der Graffitikunst erahnen lässt und stattdessen an ein perfektes klassisches Ölgemälde erinnert. VENTURA-Leser können beim DSV Kunstkontor des Deutschen Sparkassenverlags Hanami und andere Werke von Stefan Winterle erwerben. Die Kunstexperten des Deutschen Sparkassenverlags arbeiten seit vielen Jahren mit national und international bekannten Künstlern zusammen und beantworten gerne Ihre Fragen zu Kunstwerken, Künstlern und der VENTURA-Kunstserie.
Stefan Winterle 1976 in Lörrach geboren Studium der Betriebswirtschaftslehre 1993 Kontakt mit Graffiti und seitdem als Street-ArtKünstler tätig Seit 2003 eigenes Atelier
Weitere Informationen: www.dsvkunstkontor.de kunstkontor@dsv-gruppe.de Tel. +49 711 782-1566
Seit 2010 Kurator der Colab Gallery, Weil am Rhein Lebt und arbeitet in Weil am Rhein
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Fabelhafte Bilder: In Beth Moons Fotokunst scheint die Zeit zu ruhen.
Das Herz des Drachens Im Kampf gegen die Vergänglichkeit fängt Fotografin Beth Moon Jahrhunderte ein und lässt sie in ihren Bildern stillstehen. 15 Jahre reiste sie um die Welt – auf der Suche nach uralten Bäumen. :: Von Tim Holzwarth
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Fotos: PH NEUTRO Gallery Pietrasanta
„Der Friede ist ein Baum, der eines langen Wachstums bedarf“, so der berühmte französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry. Es ist nicht überliefert, ob er an die Drachenblutbäume der Insel Sokotra östlich des Horns von Afrika dachte, als er diese Worte sprach. Doch wer jene erblickt, kennt das Geheimnis eines der friedlichsten Orte der Erde. Schwierigsten Witterungsbedingungen zum Trotz recken die Bäume inmitten einer zerklüfteten und scheinbar unberührten Landschaft ihre majestätischen Kronen gen Himmel. Sie zeichnen das Bild einer Umgebung, die erahnen lässt, wie die Welt vor Millionen von Jahren aussah. In ihrem jahrhundertelangen Leben auf der heute heißesten Insel der Welt entwickelten sich die bis zu 20 Meter hohen hölzernen Riesen zu bizarren Monumenten, deren Optik unwirklich erscheint. Die charakteristische Form eines nach oben geklappten Regenschirms entstand in einem einzigartigen evolutionären Anpassungsprozess an die austrocknende Umgebung. Mindestens genauso alt wie der Baum selbst ist der Mythos, dem er seinen Namen verdankt. Das dunkelrote Harz, das durch die Adern des Giganten fließt und seine Wunden bedeckt, soll sowohl spirituelle als auch heilende Wirkung besitzen und wird im Volksmund als Drachenblut bezeichnet. Im Abbild von Beth Moon erscheint der Drachenblutbaum auf Sokotra wie ein artifizielles Fabelwesen. Dabei fotografierte sie ihn. In ihren prägnanten Werken gelingt es ihr immer wieder, die friedliche Faszination und surreale Schönheit uralter Bäume zu konservieren. Vor über 15 Jahren fasste die gebürtige US-Amerikanerin in ihrer damaligen Wahlheimat England den Entschluss zu einem außergewöhnlichen Projekt. Auslöser war die über 1000 Jahre alte B owthorpe Oak, die älteste Eiche Großbritanniens. Der Baum nahm sie innerlich gefangen, inspirierte sie zur weltweiten Suche nach vergleichbaren Motiven. Dabei verwendet sie eine einzigartige Drucktechnik, um die Aufnahmen zur Kunst zu erweken. Ein Computerscan vergrößert das Negativ einer Schwarz-Weiß-Fotografie, das anschließend auf ein mit einer Platinlösung versetztes Papier gepresst und belichtet wird. Die Amerikanerin verwendet ausschließlich Papier, das noch traditionell wie im 15. Jahrhundert hergestellt wird. Dessen tiefe Struktur erzeugt im Zusammenspiel
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mit den Platinteilchen eine dreidimensionale Wirkung mit einer speziellen und ungewöhnlich anmutenden Farbgebung. Das Metall sorgt zudem für eine extreme Stabilität und erhält das Bild für mehrere Tausend Jahre. Mit anderen Worten: Das Werk kann so alt wie ein Baum werden. Auf diese Weise schafft die Künstlerin ein adäquates Abbild, das dem Mythos dieser Giganten gerecht wird und ihren Zauber für die Nachwelt festhält. Die Motive der 61-Jährigen: „Sollte ein Baum durch Sturm, Krankheit, Gier oder Sorglosigkeit zerstört werden, bleibt der Beweis seiner Stärke und Schönheit und kann all denen gezeigt werden, die es nicht zu ihm schafften.“ Moon ist ambitioniert und fühlt sich berufen. Sie will vermitteln, dass Vergänglichkeit selbst vor den vermeintlich Zeitreisenden der Natur keinen Halt macht. Sie fotografiert sie, damit ihre Geschichten weiterleben. „Ich weiß, dass Worte allein nicht genügen. Ich fotografiere die Bäume, weil sie schon morgen vielleicht nicht mehr existieren“, erklärt Moon in ihrem Bildband „Ancient Trees: Portraits of Time“ mahnend.
Ihre Passion für uralte Bäume m achte die Künstlerin Beth Moon weltweit
Mittlerweile ist der Friede von Sokotra gestört – durch das zunehmend tropische Klima und die Zivilisation. Der Bau eines Flughafens und die Errichtung eines Straßennetzes erfolgten größtenteils zugunsten von ausländischen Forschern und Touristen, denn die nicht einmal 50 000 Inselbewohner leben unter einfachsten Bedingungen im Einklang mit der Natur. Sie kommunizieren in einer alten Sprache, die sonst nirgends auf der Welt gesprochen wird, die sich seit Jahrhunderten nicht verändert hat und deren Ursprung bis heute kaum erforscht ist. Das Wahrzeichen ihrer Heimat sind die Drachenblutbäume. In dieser Größe und diesem Wuchs sind sie die einzigen ihrer Art, und der einst stattliche und dichte Wald ist mit der Zeit auf vergleichsweise wenige frei stehende Exemplare geschrumpft. Die Existenz der Bäume gilt mittlerweile offiziell als gefährdet. Um sicherzustellen, dass man sich auch noch in Zukunft an sie erinnern wird, friert Beth Moon sie mitsamt der Aura des Unvergänglichen, die sie umgibt, in Bildern ein und erzählt ihre Geschichten auf einzigartig kunstvolle Weise weiter – immer verbunden mit der Hoffnung, dass die verbliebenen Naturheiligtümer ihre gedruckten Abbilder doch überleben werden.
bekannt. Mittlerweile hängen ihre Bilder in einigen der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Für die im US-Bundesstaat Wisconsin geborene Fotografin sind die Platindrucke eine Ode an die Natur.
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Das Vermächtnis der Moai Von der Welt isoliert entstand auf der Osterinsel eine Hochkultur. Bis heute bleiben Mythen und Rätsel um die berühmten Steinstatuen. :: Von Yorca Schmidt-Junker
Es war Ostersonntag am 5. April 1722, als der holländische Admiral Jacob Roggeveen auf seiner Suche nach dem sagenumwobenen Kontinent Terra Australis eine kleine Insel im Südpazifik entdeckte. Er beschloss zu ankern und schickte einen jungen deutschen Korporal mit Seesoldaten vor, das geheimnisvolle Eiland zu sichten. Carl Friedrich Behrens betrat als erster Europäer den Boden der frisch getauften „Osterinsel“ – und läutete damit ein Unheil ein. Zahlreiche Legenden und Mythen beherrschen die Historie der Insel. Fast 300 Jahre nachdem die Seefahrer aus der Alten Welt die Insel fanden, suchen Forscher noch immer Spuren und Fakten. Die Moai-Statuen bleiben eines der Rätsel der Insel und stehen zugleich als Mahnmal für ein unrühmliches Kapitel europäischer Entdeckergeschichte. Die nativen Inselbewohner, die Rapanui, begrüßten den jungen Rostocker und die Entourage überschwänglich, worauf Behrens’ Begleiter mit Musketen-
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schüssen und Feuersalven auf die Einheimischen reagierten und ein Blutbad anrichteten. Der Auftakt eines „kulturellen Missverständnisses“, das die Rapanui-Kultur in Folge nahezu auslöschen sollte. Als Behrens, dessen schriftliche Aufzeichnungen die Osterinsel fortan auf dem alten Kontinent berühmt machen sollten, die Insel näher erkundete, fielen ihm alsbald die monumentalen, bizarr anmutenden Steinfiguren auf. Die Einheimischen verehrten sie und beteten sie an. Behrens schrieb: „Nach meiner Feststellung verließen sie sich völlig auf ihre Götzenbilder, die allda am Strande in großer Menge aufgerichtet standen. Sie fielen davor nieder und beteten sie an. Diese Götzenbilder waren sämtlich aus Stein gehauen, in der Form eines Menschen, mit langen Ohren. Das Haupt war mit einer Krone geziert. Das Ganze war kunstvoll gemacht, worüber wir uns sehr wunderten.“
Hüter der Zeit: Bis heute bewahren die Moai-Statuen auf der Osterinsel ihr Geheimnis.
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Eine eigene Welt: Im Nationalpark Rapa Nui tragen die Einwohner nicht nur an
Fotos: action press/imagebroker/Erich Schmidt/GTW, Schapowalow/Ivano Fusetti/Massimo Ripani/SIME, vario images/Dani Friedman
Feiertagen die traditi-
Seit ihrer Entdeckung genießen die geheimnisvollen Steinkolosse – Moai genannt – Weltruhm. Doch trotz jahrhundertelanger Forschung konnte ihr ursprünglicher Zweck nie hinreichend geklärt werden, was sie bis heute zu einem der größten Mysterien in der Kulturgeschichte der Menschheit macht. Terry Hunt, US-Archäologe und emeritierter Professor für Anthropologie an der Universität von Hawaii: „Als ich im Mai 2000 das erste Mal auf die Osterinsel kam, h ätte ich nie gedacht, dass ich alles, was ich über Rapa Nui zu wissen glaubte, bald darauf infrage stellen würde.“ Zu viele Theorien, Jahreszahlen, vermeintliche Fakten und Mythen rankten sich um das Eiland, mit dessen Schicksal sich sogar Hollywood in dem von Kevin Costner produzierten Film „Rapa Nui“ von 1994 auseinandersetzte. Lange Zeit galt als gesichert, dass die Insel bereits im achten Jahrhundert besiedelt worden war. Rivalisierende Stämme der ursprünglich aus Polynesien kommenden Erstbesiedler und die später eingewanderten Südamerikaner sollen sich bis aufs Blut bekriegt haben. Ein Umstand, der wesentlich zur Auslöschung der polynesischen Rapanui- und der Moai-Kultur beigetragen habe. Doch existieren andere Vermutungen, etwa die Theorie des Ökozids. Sie geht davon aus, dass die Bewohner die einst reich bewaldete Insel sukzessive abholzten, um ihre Moai ungehindert darüber transportieren zu können, womit sie sich ihrer Lebensgrundlage selbst beraubten. „Gesteins- und Bodenproben, die wir über Jahre mit der Radiokarbonmethode untersuchten und datierten, liefern uns andere Erklärungen für
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das, was auf Rapa Nui geschah. Die Geschichte ist viel komplexer als früher dargestellt“, so Hunt. Stattdessen führt er die von den Erstbesiedlern (Bild links); Besucher eingeschleppten Ratten an, die maßgeblich die der Osterinsel zieht Deforestation der Insel verursacht hätten. „Unsees gerne zur Anlage re Ausgrabungen bei Anakena legten Tausende Ahu Nau Nau in der Anakena-Bucht (Bild von Rattenknochen frei, genauso, wie es frühere archäologische Studien ausführten. Ich persönMitte) oder zum Einstieg in den Rapa-Nui- lich glaube, dass die Entwaldung der Insel eher Nationalpark am Ahu auf Ratten als auf Menschen zurückgeht“, sagt er. Auch Ökologen bezweifeln die lange gültige Tahai (Bild rechts). Theorie des hausgemachten Ökozids. Agostino Merico vom Leibniz-Zentrum in Bremen konsta tiert: „Der Niedergang von Rapa Nui ist wohl einer Kombination aus einem schleichenden Palmen- und Ressourcenschwund zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert und dem systematischen Genozid durch die Europäer ab dem 18. Jahrhundert geschuldet.“ Der Tropenund Systemökologe entwickelte zusammen mit seinem Kollegen Gunnar Brandt ein viel beachtetes mathematisches Modell, das die zeitlichen Änderungen der Populationen von Menschen, Palmen und Ratten auf Rapa Nui simuliert und so neue Antworten liefert. Oder neue Fragen aufwirft, denn bereits Admiral Roggeveen muss eine größtenteils entlaubte Insel vorgefunden haben. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft besiedelten Polynesier – damals die wohl versiertesten und mutigsten Seefahrer der Zeit – die Insel um 1200 nach Christus. Sie ließen sich nieder und formierten sich in unabhängigen Stämmen, denen jeweils Häuptlinge vorstanden. In Verehrung von Ahnen und verstorbenen Stammesältesten onelle und geheimnis-
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Fundstück: Stein aus dem 18. Jahrhundert mit dem Abbild eines Vogelmanns.
Exotisch und bunt: Fischereihafen der Hauptstadt Hanga Roa (Bild links); Kinder auf dem TapatiFestival im Zeichen des archaischen Vogelmannritus (Bild Mitte); Blick über die weite Landschaft der Osterinsel vom Puna-PauKrater, etwas östlich von Hanga Roa
respektive Häuptlingen entstand vermutlich zwischen 1300 und 1400 der Moai-Kult. Im Krater des erloschenen Rano-Raraku-Vulkans ließen die Stämme aus dem dort vorgefundenen Tuffstein von den geschicktesten Handwerkern Steinfiguren hauen, die in die jeweilige Stammesregion transportiert und meist auf Zeremonialplattformen, den sogenannten Ahus, arrangiert wurden. Parallel dazu bildete sich der Vogelmannkult, basierend auf einem komplexen rituellen Wettstreit, bei dem junge Männer sich einer lebensgefährlichen Kletter- und Schwimmprozedur unterzogen, um stellvertretend für ihren „Herrn“ das hoheitsvolle Amt des Vogelmanns zu erlangen. Historiker nehmen an, dass spätere Siedler aus Südamerika den Vogelmannkult importierten und sich dieser in Konkurrenz zum Moai-Kult entwickelte. Fest steht einzig, dass die Herstellung und die Kultivierung von Moai zur Mitte des 17. Jahrhunderts plötzlich zum Erliegen kamen. Warum, bleibt ein Rätsel. Mit den Europäern gelangten im 18. Jahrhundert zahlreiche Krankheiten auf das Eiland, die das Inselvolk dahinrafften. Zudem kam es zur systematischen Unterdrückung, zu Folter, Tod und Versklavung durch die selbst ernannten Herren der Alten Welt. „Es war der weiße Mann, der den tatsächlichen Kollaps der Rapanui-Kultur herbeiführte“, bilanziert Terry Hunt. „Gab es vom 14. Jahrhundert bis zur Entdeckung Roggeveens eine stabile Population von circa 3000 bis maximal 4000 Rapanui, so betrug ihre Zahl um 1870 nur noch maximal 100.“ Nicht minder dramatisch war die Arbeit der christlichen Missio nare, die den Rapanui ihre Sprache, ihre Schrift und ihre Riten nahmen und sie ihrer kulturellen Identität beraubten. Den traurigen Höhepunkt markierte die Vernichtung der Rongorongo-
Schrifttafeln durch den französischen Missionar Eugène Eyraud in den 1860er-Jahren. Bis auf wenige verbliebene Exemplare, die aufgrund der komplizierten, auf unbekannten Glyphen beruhenden Symbolschrift bis heute niemand zu entschlüsseln vermochte, löschte er die einzige Niederschrift der alten Rapanui-Kultur unwiederbringlich aus. Der schweizerisch-amerikanische Ethnologe und Osterinsel-Experte Alfred Métraux beschrieb die systematische Ausrottung 1935 als „eine der größten Grausamkeiten, die Weiße im pazifischen Raum verübten“. Die Zustände besserten sich mit der Annexion durch Chile im Jahr 1888 nicht. Bis 1967 herrschte chilenisches Kriegsrecht, die Bewohner hatten keine Pässe, keine Bürgerrechte, keine eigenständigen demokratischen Strukturen. Ausgerechnet der als Diktator geschmähte Junta-General und spätere Präsident Chiles, Augusto Pinochet, entwickelte allerdings Wohlwollen gegenüber den Rapanui. So förderte er ab Mitte der 1970erJahre die Infrastruktur und den Tourismus. 1984 benannte er den ersten ethnischen Rapanui zum Gouverneur der Insel: Sergio A. Rapu, ausgebildeter Archäologe und einer von Terry Hunts Studenten. Hunt zur Entscheidung: „Das war ein Glücksfall für die Insel. Sergio führte die Menschen wieder an ihre Kultur heran. Und auf seine Einladung konnten wir später, um das Jahr 2000, mit unserem Forschungsprojekt beginnen.“ Einige der knapp 1000 Steinkolosse wurden im Laufe der unheilvollen Besatzungsgeschichte zwar geraubt – so findet sich bis heute ein Exemplar im British Museum in London –, während andere aus unbekannten Gründen umgestürzt wurden. Doch konnten die Jahrhunderte den Figuren erstaunlich wenig anhaben. Die zentrale Frage: Wie gelang es den Rapanui, die Moai
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Fotos: mauritius images/Nano Calvo/Alamy, M & G Therin-Weise Age/Wojtek Buss Age/F1online, action press/imagebroker/GTW
meilenweit durch unwegsames Gelände bis zu den entlegensten Stellen der Insel zu transportieren? Und warum? Um die lange vorherrschende These, die Moai seien waagerecht auf Schienen transportiert worden, womit die Rapanui ihre Wälder zuvor hätten abholzen müssen, zu widerlegen, fertigten Hunt und sein Kollege Carl Lipo eine fünf Tonnen schwere Moai-Replik an. In einem aufsehenerregenden Versuch versahen sie die Replik mit drei Seilzügen um den Kopf, die jeweils sechs Leute hielten und abwechselnd zogen und stabilisierten. Das Ergebnis: Die Statuen liefen aufrecht und konnten mit dieser so simplen wie genialen Technik relativ problemlos transportiert werden – womit die einstige Theorie vorheriger Wissenschaftler sprichwörtlich ins Wanken geriet. Lipo: „Die Moai waren von Anfang an zum ‚Laufen‘ konzipiert. Die Skulpteure der Rapanui waren demnach nicht nur grandiose Künstler, sondern auch versierte Ingenieure.“ Lange prägten die Moai sowohl die Kultur der Rapanui als auch das Bild der Insel. Seit 1995 zählen sie zum Unesco-Weltkulturerbe. Doch welche Rolle spielen sie heute im Leben der rund 6000 Bewohner? „Im Alltag haben sie keine Funktion, und im rituellen Kontext sind sie kaum noch relevant“, sagt Esteban Muñoz, gebürtiger Chilene und Osterinsel-Kenner. „Sie gehen sehr respektvoll mit den Statuen um und achten darauf, dass auch Touristen den Moai angemessen begegnen.“ Muñoz, der aktuell als Dramaturg in Berlin lebt, ist regelmäßig auf Rapa Nui und gründete dort zusammen mit Freunden einen E-Bike-Verleih. Seine Mission: die stetig wachsende Zahl von Touristen zu einem grünen Bewusstsein gegenüber der Insel zu animieren, denn ein mit Besuchern wachsender
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Autoverkehr, Ressourcenverschwendung und Müll sind ein zentrales Problem der Insel. Muñoz: „Mit unseren E-Bikes ist man von Hanga Roa, der Hauptstadt Rapa Nuis, innerhalb von 40 Minuten am Rano Raraku, in etwas über einer Stunde in Anakena. Schöner und umweltbewusster als auf diesem Weg kann man die Insel nicht erkunden.“ Neben einer Vollmond-Biketour zum Rano Raraku sowie einer Besichtigung der Moai-Zeremo nialanlagen Ahu Tongariki, Ahu Akivi, Ahu Te Pito Kura mit dem fast zehn Meter großen, liegenden Moai Paro und Ahu Nau Nau in der AnakenaBucht empfiehlt Esteban Muñoz, unbedingt ein Tanzlokal aufzusuchen, um dort die einheimischen Tänze, die dem Vogelmannkult huldigen, zu bewundern. Oder gleich zum berühmten Tapati-Festival im Februar anzureisen, das ganz im Zeichen des archaischen Vogelmannritus steht. „Das erste Mal seit ihrer Entdeckung vor fast 300 Jahren haben die Rapanui wieder die Hoheit über ihre Insel“, erzählt Muñoz. „Alle Entscheidungen werden von einem Ältestenrat getroffen, der unabhängig von der Politik Chiles auf dem Festland agiert.“ Die Rapanui sind stolz auf die zurückerhaltene Herrschaft und Würde. Was sie von ihrer Kultur retten konnten, wird heute selbstbewusst zelebriert. So ist Rapanui wieder zur Landessprache geworden. Das Kulturzentrum Toki mit angeschlossener Musik- und Kunstschule und eigenem Jugendorchester versteht sich als Förderer tradierter und zeitgenössischer Rapanui-Kultur. „Besucher der Insel sollten unbedingt die Sonntagsmesse in der Kirche von Hanga Roa besuchen. Dort werden Lieder auf Rapanui gesungen und mit der Ukulele begleitet. Das ist wunderschön und zeigt, dass man aus der Demütigung von einst etwas Neues machen kann“, sagt Muñoz. Und damit ein Stück Wiedergutmachung für den einstigen Fehltritt eines jungen deutschen Korporals leisten.
Spektakuläre Kunst: Auf der nur rund 160 Quadratkilometer großen Osterinsel wurden 887 Moai gezählt – sie sind zwischen zwei und zehn Metern groß bei einem Gewicht von bis zu 80 Tonnen. Der jüngste bekannte Moai entstand im Jahr 1680.
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Mit Weitsicht und viel Mut gründete der Auswanderer Carl Laemmle die US-Filmindustrie und blieb doch seiner Heimat treu.
Pionier und Patriarch: Carl Laemmle.
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Ein freundlicher älterer Herr grüßt uns aus der Vergangenheit. Er hat einen weiten Weg zurückgelegt und den Atlantik überquert. In seinem Gepäck befindet sich eine Vielzahl von Bildern, Plakaten und Requisiten aus der Entstehungsgeschichte Hollywoods, der Frühzeit des bewegten Bilds. Auch der höchste Filmpreis, ein Original-Oscar für die beste Regiearbeit aus dem Jahr 1930, der Schminkkoffer von Lon Chaney, einem der ersten Hollywoodstars, und eine Fledermaus aus „Dracula“ sind dabei. Cineasten aus der ganzen Welt feiern den 150. Geburtstag von Carl Laemmle und bewundern die Stücke in einer Ausstellung im Stuttgarter Haus der Geschichte. Der jüdische Schwabe und Deutsch-Amerikaner erkannte die Zeichen der Zeit – künstlerisch, wirtschaftlich und menschlich. Laemmle war ein Pionier: Er gab Kameraaufnahmen eine Handlung und erfand damit das Unterhaltungsformat Spielfilm. Sein Instinkt brachte ihn an die Westküste der USA. Dort begründete er Hollywood, formte die ersten Filmstars und produzierte Tausende von Filmen. Bis zu seinem Tod war er eng mit seiner Heimatstadt Laupheim in Oberschwaben verbunden und unterstützte Stadt und Bürger sowie Verfolgte des Nationalsozialismus. Laemmle träumte früh von einer Zukunft in der Neuen Welt. Nach dem Tod der Mutter schiffte sich der 17-Jährige am 28. Januar 1884 in Bre-
Fotos: Prisma Bildagentur/Buyenlarge/UIG, Museum zur Geschichte von Christen und Juden Laupheim, Fotolia/siam4510, ullstein bild/NMSI/Science Museum/National Media Museum
:: Von Antje Schmitz
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Fotos: Prisma Bildagentur/Buyenlarge/UIG, Museum zur Geschichte von Christen und Juden Laupheim, Fotolia/siam4510, ullstein bild/NMSI/Science Museum/National Media Museum
merhaven auf dem Dampfer Neckar ein und fuhr über den Atlantik – so wie Millionen Europäer in jenen Jahren. Er begann als Laufbursche für einen Drugstore in New York, ging nach Chicago, wechselte in die Textilbranche und arbeitete sich zum Geschäftsführer der Continental Clothing Company in Oshkosh hoch. 1889 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Ideenreich und ehrgeizig war der Schwabe. Er strebte nach Neuem, wollte sein eigener Herr sein. Für 3000 US-Dollar kaufte er 1906 in Chicago das White Front Theatre, ein Nickelodeon, dessen Besucher für ein paar Cent rund um die Uhr Filme anschauen konnten – diese waren in der Frühzeit nur wenige Minuten lang. Wenig später erstand der vom Film Gefesselte ein zweites Kino. Sein Bedarf an Filmstreifen nahm zu. Der Visionär gründete den Laemmle Film Service, der sich zum größten Filmverleih Amerikas entwickelte. Und er begann, Filme selbst zu produzieren. 1909 startete er die Independent Moving Picture Company. „Hiawatha“ hieß sein erster Film, ein 15-minütiger Indianerstreifen. In Thomas Alva Edison hatte Laemmle einen mächtigen Gegner. Dessen Firma Motion Picture Patents Company hielt die meisten Patente der Filmtechnik und beanspruchte die Kontrolle über Produktion, Verleih und Vorführung aller Filme. Laemmle trotzte Edison und siegte einige Jahre sowie unzählige Prozesse später. 1912 fusionierte er seine Firma mit anderen zur Universal Film Manufacturing Company in New York. Als Präsident der Universal dachte er weiter groß. Sein Motto: „It can be done!“ Als Erster erkannte er das Potenzial Kaliforniens. Dort war das für Produktionen wichtige Licht heller, das Lohnniveau niedriger. In der Nähe von Los Angeles kaufte er eine Hühnerfarm und baute die Filmstadt Universal City. Um Filme im großen Stil drehen zu können, ließ er Kulissen errichten – von der Westernstadt bis zum Kasino. Zur mehrtägigen Eröffnungsparty 1915 kamen 10 000 Gäste. Später folgten Touristen und staunten über die kleine Welt mit Zoo, Krankenhaus, Polizei sowie faszinierenden Drehorten. Der clevere
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Produzentenlegenden: Louis B. Mayer überreicht Carl Laemmle am 5. November 1930 den Academy Award für „All Quiet on the Western Front“.
Schwabe erfand zugleich die bis heute so beliebten Studiotouren und formte die ersten Filmstars: Florence Lawrence und Mary Pickford. Als einziges Studio beschäftigte die Universal Frauen in herausragenden Positionen. Lois Weber zählte neben David W. Griffith und Cecil B. DeMille zu den besten Regisseuren der frühen Jahre. Laemmle war ein Global Player. Er spannte ein weltweites Netz an Niederlassungen, getreu dem Namen seiner Firma. An seinem 66. Geburtstag blickte er auf rund 120 Niederlassungen in aller Welt, von Oslo bis Buenos Aires, von Vancouver bis Tokio. Er drehte spanische Fassungen amerikanischer Filme, feierte große Erfolge beim japanischen Publikum und gründete 1926 die Deutsche Universal-Film AG. Dieser Markt lag ihm besonders am Herzen. Dort brachte er „Der Rebell“ und „Der verlorene Sohn“ mit Luis Trenker auf den Weg sowie den Abenteuerfilm „S. O. S. Eisberg“, der unter härtesten Bedingungen in Grönland und der Schweiz gedreht worden war. Sein bedeutendstes Werk aber ist der Antikriegsfilm „All Quiet on the Western Front“. Lewis Milestone drehte ihn 1930 nach dem Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Laemmle über das Meisterwerk: „Wenn es irgendetwas
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Unterhaltung für jeden Geschmack: „The Prince of Avenue A“ von 1920, eine Regiearbeit von John Ford, sowie die klassischen Horrorfilme „Der Glöckner
in meinem L eben gibt, auf das ich stolz bin, dann auf ‚All Quiet on the Western Front‘.“ Ein Herzensanliegen, das 1930 den Academy Award als bester Film und für die beste Regie gewann. Wie groß sein Gespür für den Geschmack des Publikums war, zeigte sich an anderer Stelle. In den von sozialer Not und Unsicherheit geprägten 20er- und 30er-Jahren erlebte der Horrorfilm eine Blüte. Der Filmpionier entdeckte den Verwandlungskünstler Lon Chaney, der in „Das Phantom der Oper“ die Zuschauer erschauern ließ. Er holte den deutschen Regisseur Paul Leni nach Hollywood, der die Klassiker „The Cat and the Canary“ und „The Man Who Laughs“ drehte. Die Meilensteine „Dracula“ mit Bela Lugosi sowie „Frankenstein“ und „The Mummy“ mit Boris Karloff fielen dagegen unter die Ägide seines Sohns Carl Laemmle junior, dem er 1929 die Geschäfte übertragen hatte. Neben seiner Filmleidenschaft prägte ihn eine Spielsucht. Seine Aktienmehrheit an der Universal musste er verkaufen, weil er einen Kredit nicht fristgerecht zurückzahlen konnte. Am 14. März 1936 kündigte er seinen Rücktritt an – einen Tag nachdem er den späteren Westernhelden John Wayne unter Vertrag genommen hatte. Seiner Heimat blieb der Auswanderer verbunden. Während des Ersten Weltkriegs schickte er Hilfslieferungen nach Laupheim. Später rich tete er eine Armenstiftung ein, half beim Bau einer Turnhalle und unterstützte die Opfer einer Hochwasserkatastrophe. Doch verstieß man ihn ebenso wie alle anderen jüdischen Deutschen. Laemmle nahm die Drohungen der Nationalso-
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zialisten ernst. Schon 1932 warnte er vor ihnen. Nachdem er 1936 aus der Filmbranche ausgestiegen war, widmete er seine Kraft der Rettung Verfolgter und ermöglichte ihnen ein Leben in den USA. Rund 300 Bürgschaften stellte er aus, bis die US-Behörden keine weiteren mehr anerkannten. Der Erfinder Hollywoods starb am 24. September 1939 in seiner Villa in Beverly Hills und geriet in Vergessenheit. Anlässlich seines 150. Geburtstags erinnern sich die Filmfreunde und verneigen sich Stars, Produzenten und Regisseure in Hollywood. Das Stuttgarter Haus der Geschichte zeigt bis Ende Juli 2017 die weltweit erste umfassende Ausstellung über Laemmle und sein filmreifes Leben. Dessen 150. Geburtstag feierte es am 17. Januar standesgemäß mit einer 150 Pfund schweren Torte inmitten eindrucksvoller, exklusiver Exponate. Carl Laemmle hätte das sicherlich gefallen. Ob er gern Kuchen aß, ist nicht überliefert, wohl aber, dass er seine Geburtstage in großer Gesellschaft mit Torten feierte, die sein Alter in Pfund aufwogen. Die aus seiner Universal hervorgegangene NBC Universal ist bis heute einer der größten Unterhaltungskonzerne der Welt. Hollywood bleibt für immer das Synonym für die Filmindus trie. Die Klassiker des Horrorgenres haben nichts von ihrer morbiden Schönheit verloren und „All Quiet on the Western Front“ prägt unser Bild von den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Die Nachfahren der geretteten Juden erinnern an den engagierten Menschenfreund. Das Leben von Auswanderer Carl Laemmle bietet Stoff genug für einen bewegenden Film. Mehr zur Ausstellung lesen Sie auf www.hdgbw.de.
Fotos: action press/Everett Collection, ddp images/United Archives/Maksym Yemelyanov, Museum zur Geschichte von Christen und Juden Laupheim, Getty Images/Johner RF/Mark Harris/pixonaut/Victor Walsh Photography, picture alliance/Everett Collection, Daimler AG
von Notre Dame“ mit Lon Chaney und „Dracula“ mit Bela Lugosi.
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Die wunderbare Welt der FARBEN Silber ist mehr als der stete Lohn des Zweiten. Als edle und charismatische Farbe schmückt sie Mensch und Tier, steht für Technik, aber auch natürliche Mächte. :: Von Tim Holzwarth
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Gut, aber nicht das Beste. Wie im allseits bekannten Sprichwort muss Silber dem Mitstreiter Gold stets den Vortritt lassen. Dabei handelt es sich um eine Farbe, mit der wir weitaus mehr verbinden als einen zweiten Platz bei einem sportlichen Wettkampf. Ob als Medaille oder Schmuckstück in Form von Colliers, Ringen oder Ohrgeschmeide: Das Edelmetall Silber erstrahlt nie ganz so prunkvoll wie Gold, weiß aber mit seiner Kühle und Klarheit zu glänzen. Silber wirkt elegant und bringt in aller Bescheidenheit andere Farben mit zur Geltung. Im Sport ist Silber übrigens nicht immer mit einer Niederlage verbunden. Das zeigt etwa das Paradebeispiel Fußball: Der Champions-LeaguePokal für den wichtigsten Vereinswettbewerb Europas und die Europameisterschafts-Trophäe tragen Silber. Und noch heute sind die Silberpfeile von Mercedes in der Formel 1 ebenso legendär wie ehrenhaft oder erfolgreich. Der amtierende Weltmeister Nico Rosberg fuhr in Silber zum Titel. Dabei entsprang die für Sportboliden markante Farbe einem Zufall: Der Rennstall wollte bei seinem Sieg im Eifelrennen von 1934 eigentlich in Weiß antreten, musste den Lack aufgrund von Gewichtsüberschreitung aber entfernen lassen. Noch weiter zurück liegt der Höchststand des Silberwerts. Bis ins späte 19. Jahrhundert war das Metall in Münzenform die Farbe des Gelds und repräsentierte zugleich den Wohlstand. Hatte man reichlich davon, speiste man mit dem guten Tafelsilber. Dessen Strahlkraft wirkt – noch immer – sogar bis in die Tierwelt. So lässt der verlockende
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Glanz beispielsweise die Elster zum Dieb werden. Anderen Tieren verleiht eine silberne Färbung ihr unverwechselbares Aussehen. Einige Möwen, Karpfen und Füchse verdanken ihre Namen der einzigartigen Farboptik. Am ausdrucksstärksten präsentiert sich die Farbe unter den Gorillas, der größten lebenden Affenart. Mit der silbrig-grauen Fellfärbung umgibt die eindrucksvollen Primatenmännchen ab dem zwölften Lebensjahr eine überaus dominante und erhabene Aura. Nahezu majestätisch regieren sogenannte Silberrücken im Kreis ihrer Herden. Ein Begriff, den wir in seiner Analogie ebenso für reife Männer nutzen, die als Anführer an der Spitze von Gremien stehen. Daneben ist eine Reihe an Metaphern und Wortbildern fest mit der Farbe verbunden. Wer etwas versilbert, der macht es zu Geld; nach 25 Jahren Ehe feiern Paare Silberhochzeit; wer schielt, hat laut Volksmund einen Silberblick; für Hoffnung sorgt der Silberstreif am Horizont. Und oben am Firmament unterstreicht bei Nacht ein silberner Schein die Mystik des Monds, der als Naturmacht die Meere zu bewegen vermag. Lunas Pendant beeinflusst wiederum die Silberdistel, die ihre Blätter nur bei Sonnenschein von sich streckt und so ihre Blüten der Welt preisgibt.
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Magisch: Die Silberdistel öffnet sich bei Sonnenschein.
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Legendär: der Silberpfeil von Mercedes.
Der Mond taucht die Nacht in Silber.
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Silberrücken sind die Anführer unter den Gorillas. 4
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Ein Bild und seine
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ten Prozess der Fotoentwicklung in seinem Inneren integrierte, gelang Land und seiner Firma, die später unter dem Namen Polaroid allen Ruhm erlangte, eine technische Revolution. Die Präsentation der „Kamera mit eingebautem Labor“ in New York begründete den Start in ein neues Zeitalter der Fotografie. Erstmals war es möglich, Erinnerungen direkt und spontan zu konservieren, das Erlebte umgehend nach einem Ereignis in den Händen zu halten und zu zelebrieren.
Nur wenige Erfindungen hatten eine ähnliche Auswirkung auf das Hier und Jetzt in unserem Alltag. Vor allem der emotionale Aspekt der kleinen Bildchen, die ihren Zauber in Zeitlupe und doch rasend schnell entfalteten, in der Kombination mit einfacher Bedienbarkeit machten die Kamera zum Kultobjekt. Polaroid stieg unter Edwin Herbert Land zur Weltmarke auf und setzte in der Blütezeit, den 1970er-Jahren, mehr als 3 Milliarden US-Dollar im Jahr um. Mit dem Einzug des digitalen Zeitalters begann allerdings der Abstieg des Unternehmens. 2008, 17 Jahre nach dem Tod ihres Gründers, ließ die Firma die Produktion einstellen. Die Genialität Lands, der auch Apple-Gründer Steve Jobs inspirierte, wirkt bis heute nach. Dank des Start-ups The Impossible Project lebt der Polaroidkult aktuell an alten Stätten mit überarbeiteter Technik wieder auf.
Impressum Herausgeber und Verlag: Deutscher Sparkassen Verlag GmbH, 70547 Stuttgart, Tel. +49 711 782-0 Chefredakteur: Thomas Stoll Stv. Chefredakteur: Ralf Kustermann (Redaktionsleitung), Tel. +49 711 782-1586, Fax +49 711 782-1288, E-Mail: ralf.kustermann@dsv-gruppe.de Art Director: Joachim Leutgen Chefin vom Dienst: Antje Schmitz Layout und Grafik: 7Stars NewMedia, Leinfelden-Echterdingen Autoren und Mitarbeiter: Wolfgang Hörner, Tim Holzwarth, Günter Kast, Ulrich Pfaffenberger, Bert Röge, Yorca Schmidt-Junker Druck: MP Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn Anzeigen: Margarete Werdermann, Tel. +49 711 782-1199 Artikel-Nr. 330 155 047
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Foto: picture alliance/Everett Collection
Ein kurzes Klicken, ein tiefes Knarzen, gebannte Stille. 60 Sekunden lang lässt der US-Amerikaner Edwin Herbert Land das Publikum zappeln, dann präsentiert er eine Weltneuheit, die den Alltag der Menschen verändern wird: Das erste Polaroidfoto der Welt ist sichtbar. Was einige Zuschauer beim Treffen der wissenschaftlichen Gesellschaft für Optik am 21. Februar 1947 in New York noch für einen magischen Trick halten, wird zur weltweit gefeierten Sensation. Bis dato wartete man üblicherweise mehrere Tage auf die Entwicklung eines Fotofilms. Die nötige Geduld dafür hatte nicht jeder. Auch Lands Tochter Jennifer nicht. Die damals Dreijährige wollte von ihrem Vater wissen, warum sie den Urlaubsschnappschuss nicht umgehend sehen dürfe. Eine Idee, die den Tüftler selbst faszinierte. Mit einem Fotoapparat, der mit dem eigens dafür entwickelten Film den komplet-
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Was macht glücklich?
Gute Freunde, Musik, ein blauer Himmel, die Liebe, nette Kollegen, ein großes Eis? Jeder Mensch hat große und kleine Träume vom Glück. Wir wollen helfen, dass auch für Menschen mit Behinderungen viele dieser Träume wahr werden. In einem Leben, das so selbstbestimmt wie möglich ist, mit so viel Hilfe wie nötig. Denn Freiheit macht glücklich.
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