Das Private-Banking-Magazin Ihrer Sparkasse
01 18
Von der Muse berĂźhrt
Fernreisen Suche nach Heimat Autobranche Suche nach Mobilität Stiftungen Suche nach Nachfolge
118_GF_01_Cover_Ventura [P]{GF}_251620.indd 1
22.02.18 16:45
VENTURA 1.2018
Ralf Kustermann Chefredakteur Deutscher Sparkassenverlag Wir freuen uns über Anregungen, Lob und Kritik unter ralf.kustermann@dsv-gruppe.de
Mehr als eine Inspiration
Es ist reiner Zufall und doch passend, dass auch wir mit dieser Ausgabe – um im Bild der Titelgeschichte zu bleiben – von der Muse berührt wurden und Ventura optisch und inhaltlich modernisiert haben. Wie gewohnt finden Sie inspirierende Essays, Reportagen, Interviews und Porträts aus Kultur, Forschung, Politik und Gesellschaft. Neu sind nutzwertige Beiträge rund um Ihr Eigentum und Kapital – wohldosiert auf den letzten Seiten des Magazins. Weil auch Ihr Vermögen abhängig von Ihrer Lebensphase Impulse benötigt. Unserem Ansatz des Private Banking entspricht es jedoch nicht, diese auf ein paar wenigen Zeilen abzuhandeln. Unser Credo ist und bleibt es, gemeinsam mit Ihnen im persönlichen Gespräch kontinuierlich an einer auf Ihre Bedürfnisse und Wünsche zugeschnittenen individuellen Vermögensstrategie zu arbeiten und diese beständig weiterzuentwickeln. Wir möchten Ihnen Möglichkeiten aufzeigen, die Ihre Werte langfristig sichern und mehren. Ihr Kundenbetreuer und sein Netzwerk an Experten analysieren und bewerten deshalb konsequent Ihren Besitz, Ihre Absicherungen, Ihre Vorsorge- und Nachlassplanung ganzheitlich aus einer Hand und garantieren Ihnen auf diese Weise weit mehr als eine Inspiration für Ihr Vermögen. Eine anregende Lektüre wünscht Ihr
Ralf Kustermann
Fotos: Cover: CONTIFOTO/actionpress; imago/Leemage, akg/Bildarchiv Steffens, AUDI AG, Ekkehart Bussenius/laif
Ob technische Innovationen, Evolutionen oder Revolutionen – Fortschritt, Erfindungen, gesellschaftliche oder politische Umbrüche benötigen einen Impuls. Oft steht ein Problem, Protest oder eine Beobachtung dahinter. Gerne denken wir bildlich an einen Funken, der auf andere überspringen muss. Zuweilen sprechen wir in Anlehnung an Apoll, dem Gott der Künste, vom „Kuss der Muse“, wird uns Kreatives präsentiert. Ein für uns passender Anlass, das Sprachbild wörtlich zu nehmen. In der Titelgeschichte ab Seite 4 blicken wir auf die Rolle und den Wandel der Musen. Die Kunstgeschichte kennt zahlreiche Maler und Bildhauer, die ihre Geliebte wiederholt porträtierten und modellierten, geradezu magisch in ihrem Bann standen. Botticelli, Dalí, Picasso sind prominente Beispiele.
02
118_GF_02_Edi_Ventura [P]{GF}_294782.indd 2
22.02.18 16:42
1.2018 VENTURA
04 04 | IM BANN DER MUSE Wie die große Liebe und starke Anziehungskraft Dalí, Picasso und andere Maler inspirierten. 10 | LEBEN FÜR DIE BERGE Magdalena Messner tritt in die Fußstapfen ihres Vaters. 14 | ZURÜCK ZU FEDER UND TINTE Handschrift in der digitalen Zeit.
10 22
16 | ENDLICH ANGEKOMMEN Von der Sehnsucht nach Ferne und der Suche nach Heimat. 20 | ZEITENWANDEL Barock oder Jugendstil – der wahre Wert antiker Tischuhren. 22 | COMPUTER – ÜBERNEHMEN! Das autonome Fahren ist keine Science-Fiction mehr und bietet bereits Sicherheit und Komfort. 26 | SCHNITT UND STOFF IN PERFEKTION Feine Anzüge aus Neapel. 30 | SELBSTLOS HANDELN Warum wir uns für andere engagieren und Gutes tun.
14
32 | PLAN MIT HERZ FÜRS LEBENSWERK Wie Unternehmer mit Stiftungen die Nachfolge regeln können.
13 | Die Formen der Natur 19 | Ein Bild und seine Geschichte 19 | Impressum 29 | Das Gedicht
03
118_GF_03_Inhalt_Ventura-gelöst.indd 3
27.02.18 14:33
VENTURA 1.2018
Salvador Dalí mit seiner Frau Gala im Wohnhaus in Port Lligat an der Costa
Im Bann der
Brava, November 1957.
Muse
Seit Jahrtausenden dienen sie berühmten Künstlern. Sie inspirieren und prägen, sie unterhalten und stehen Modell. Doch die Rolle der Musen hat sich gewandelt – von der Göttin über die Diva bis zur Managerin.
S
„Porträt Galas mit dem Hummer“, 1949.
alvador Dalí verehrte seine Gattin und Geliebte Gala und trug sie regelrecht auf Händen. Sie war seine Muse und sein Lebenselixier. Kaum ein Künstler hat dies in der Öffentlichkeit so massiv betont wie der doch so extrover tierte Meister seines Faches. Dabei war er nicht der Erste, der seine Inspiration und Schaffenskraft in der Muse fand. Der Mythologie nach scharte Apoll neun Gefährtinnen um sich. Lange Zeit galten Apolls Begleiterinnen als Schutz göttinnen der Kunst und Inspirationsquelle aller Künst ler. Erst mit dem Niedergang der Antike und dem Aufstieg des Christentums verlieren die heidnischen Gottheiten an Einfluss. Fortan sind es vor allem Frauen aus Fleisch und Blut, die Dichtern, Musikern und Malern zum Musenkuss verhelfen. Zahlreiche Madonnenbildnisse zeugen von der körperlichen Anziehungskraft zwischen Künstler und Muse. So verliebte sich der Mönch Filippo Lippi Mitte des 15. Jahrhunderts in eine Nonne namens Lucrezia und ver ewigte ihre Gesichtszüge in Heiligendarstellungen. Auch Lippis Schüler Sandro Botticelli ließ sich von einer italienischen Schönheit verzaubern: Simonetta Vespucci. Die junge Adelige hatte einflussreiche Verehrer, darun ter ein Sprössling aus dem Hause Medici. Simonetta soll die nackte Schönheit in Botticellis Werk „Die Geburt
04
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 4
02.03.18 11:05
Fotos: © Salvador Dalí, Fundació Gala-Salvador Dalí/VG Bild-Kunst, Bonn 2018/akg images, imago/Leemage
1.2018 VENTURA
05
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 5
02.03.18 11:05
VENTURA 1.2018
Françoise Gilot war selbst Malerin. Sie lebte zehn Jahre mit Pablo Picasso zusammen und war die einzige Frau, die den Künstler verließ.
»ICH HABE MICH FÜR IHN INTERESSIERT, WEIL ER SO EIN GROSSARTIGER MALER WAR«
„La Belle Fernande“, 1906; das
Marie-Thérèse Walter, 1937;
Aktmodell Fernande Olivier
Picasso begegnete ihr in den
verbrachte acht Jahre an der
Galeries Lafayette. Von 1927
Seite des jungen Picasso.
bis 1940 waren sie ein Paar.
06
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 6
02.03.18 11:05
1.2018 VENTURA
Fotos: Robert DOISNEAU/Kontributor/Gamma-Rapho/Getty Images, © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2018/© Bridgemanimages.com/INTERFOTO/IFPAD, culture-images/fai, INTERFOTO/Granger, NYC, United Archives/WHA/ddp images/360° EDITORIAL
der Venus“ sein. Auch andere berühmte Renaissance künstler wie Piero di Cosimo ließen sich von S imonetta inspirieren. Mit nur 22 Jahren starb die zu Lebzeiten „schönste Frau von Florenz“. Botticelli blieb ihr immer verbunden, überlebte seine Muse gar um 34 Jahre. Und dennoch sind sie letztlich vereint als Paar in der Kirche Ognissanti in Florenz beigesetzt worden.
zählten Oskar Kokoschka, Lion Feuchtwanger, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Erich Maria Re marque, Heinrich und Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Richard Strauss und viele andere. Ihren ersten Kuss er hielt sie von Gustav Klimt. Alma war hochmütig und kritisch. Mit ihrem Klavierlehrer Alexander von Zem linsky begann sie eine Affäre, heiratete aber den deut lich älteren Hofdirigenten Gustav Mahler. Als ihr Mann an einem Herzleiden starb, drängte Alma zurück ins Rampenlicht der Wiener Künstlerszene.
Ob Raffael oder Rembrandt, Wagner oder Chopin, Goe the oder Rilke: Sie alle hatten Angebetete, Geliebte oder Ehefrauen, die ihre Kreativität entfachten. Davon zeu gen zahlreiche Gemälde, Skizzen und Zeichnungen, Zu den Eroberungen der Witwe zählte auch Oskar Ko aber auch Opern, Gedichte und Erzählungen. Welche koschka, der sich nach eigenen Worten in das „hübsche Rolle die Frauen im Leben der Künstler spielten und Gesicht hinter dem Trauerschleier“ verliebte. Nach einer ob jede von ihnen auch eine Muse war, lässt sich heute heftigen Liaison mit dem Maler, der sie in vielen seiner schwer beantworten. Schließlich ist nicht einmal der Gemälde verewigte, heiratete sie 1915 ihren langjähri Begriff eindeutig definiert. „Eine Muse ist eine Frau, gen Geliebten, den Architekten Walter Gropius. Später die in irgendeiner Weise einen Mann zu einem künstle begann die Diva ein Verhältnis mit dem Schriftsteller rischen Werk inspiriert“, sagt Eva Wagner, Autorin des Franz Werfel, den sie 1929 nach der Scheidung von Gro Buches „Von der Muse geküsst“. Den umgekehrten Fall, pius heiratete. Unter ihrer Regie wurde Werfel einer der dass ein Mann eine Künstlerin inspiriert, gab es in der beliebtesten deutschsprachigen Schriftsteller. Obwohl Kunstgeschichte hingegen selten. „Die Frau als Künst sie ihn wegen seiner jüdischen Abstammung offen kri lerin war gesellschaftlich einfach nicht vorgesehen“, so tisierte, ging Alma Ende der 1930er-Jahre mit ins Exil. Wagner. Selbst Ende des 19. Jahrhunderts hatten hoch Nach Werfels Tod führte sie in New York ihr glamourö talentierte Frauen wie die Bildhauerin Camille Clau ses Leben fort und hütete den Nachlass ihrer berühm del Schwierigkeiten, von ten Ehemänner. Erst 1964 ihrem sozialen Umfeld starb auch „die große Für „Die Geburt der Venus“ stand wohl anerkannt zu werden. So Witwe“, wie Thomas Simonetta Vespucci dem Renaissanceist Camille vor allem als Mann sie einst genannt maler Sandro Botticelli Modell. Muse Auguste Rodins in hatte. Im Gegensatz zu Erinnerung geblieben, den Werken von Mahler, obwohl sie ähnlich aus Gropius und Werfel bleibt drucksstarke Plastiken ihr Vermächtnis umstrit geschaffen hat wie der ten. Ihr Lebenswandel, Meister selbst. ihr schwieriger Charakter Zu schillernden Figuren und ihre antisemitische der europäischen Künst Haltung überschatten die lerszene stiegen um Erinnerung an die größte die Jahrhundertwende Muse ihrer Zeit. Frauen wie Lou AndreasSalomé, Eleonora Duse Alma und ihr Einfluss auf oder Alma Mahler-Wer die breite Künstlerszene fel auf. Jede von ihnen sind die Ausnahme. Fast schlug ganze Heerscha immer drehte sich das ren von Schriftstellern, Geschehen weniger um Komponisten und Ma die Musen als um die lern in ihren Bann. Die Komponistin Alma Mahler-Wer Künstler, so wie bei Pablo Picasso. Der Spanier hatte fel versammelte in ihrem Wiener Salon viele der be wechselnde Gefährtinnen, behandelte sie schlecht und deutendsten Künstler ihrer Zeit. Alma schlug Maler, doch blieben sie ihm treu ergeben. Seine erste langjäh Schriftsteller, Komponisten und Dirigenten gleicher rige Partnerin, Fernande Olivier, trifft Picasso in Paris. maßen in ihren Bann. Sie hatte ein Gespür für aufstre Im Künstlerviertel Montmartre leistet „die schöne Fer bende Talente und verlangte den Männern in ihrem nande“, wie Freunde sie nennen, ihrem Geliebten Ge Umfeld künstlerische Höchstleistungen ab. Einige sellschaft und steht ihm für Zeichnungen und Gemälde von ihnen heiratete sie, mit anderen hatte sie Affären, Modell. Ihr Optimismus färbt ab auf seine Kunst. Le und wieder andere trieb sie durch Zurückweisung in bensfrohe, rosafarbene Figuren lösen die traurigen Ge die Verzweiflung. Zu Almas Freunden und Verehrern stalten seiner vorangegangenen blauen Periode ab. 07
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 7
02.03.18 11:05
VENTURA 1.2018
Fotos: © Banco de México Diego Rivera Frida Kahlo Museums Trust/VG Bild-Kunst, Bonn 2018/Fine Art Images, ullstein bild/Granger, NYC, Archive Photos, © Fondation Oskar Kokoschka/VG Bild-Kunst, Bonn 2018/© Bridgemanimages.com
Nach ihrer Trennung heiratet der inzwischen interna tional bekannte Künstler die russische Tänzerin Olga Chochlowa. Fast zwei Jahrzehnte hält die Beziehung, aber Olga bleibt nur eine von vielen Frauen in Picas sos Leben. Als seine Geliebte Marie-Thérèse Walter ein Kind von ihm bekommt, trennt er sich von Olga. Den noch muss Marie-Thérèse weiter um die Gunst des Ma lers buhlen, der eine Affäre mit der Fotografin Dora Maar beginnt. Er spielt seine Musen gegeneinander aus und zieht Inspiration aus ihren Reaktionen. Während er Marie-Thérèse meist in hellen, strahlenden Farben darstellt, wird Dora auf seinen Bildern zum Inbegriff der tränenreichen Geliebten. Dora politisiert Picasso aber auch. Sie inspiriert ihn zu seinem Bild „Guernica“, bevor er sich erneut anderen Geliebten zuwendet, da runter die Malerin Françoise Gilot und seine zweite Ehe frau Jacqueline Roque. Für ihre Liebe zahlen Picassos Musen einen hohen Preis: Olga und Dora werden de pressiv, Jacqueline und Marie-Thérèse nehmen sich das Leben. Lediglich Françoise schafft es, sich loszusagen.
Für Picasso waren die Frauen Mittel zum Zweck, Göttin nen oder Fußabtreter. „Die Muse ist lediglich das Instru ment, das die emotionale und erotische Temperatur so weit in die Höhe treibt und den Künstler so aufwühlt, dass der schöpferische Akt vorangetrieben und erleich tert wird“, schreibt Francine Prose in ihrem Buch „Das Leben der Musen“. Dass die Musen dafür viel von sich selbst gaben – und sich manchmal sogar völlig selbst aufgeben mussten –, ist die Kehrseite der Medaille. Wenigen Musen ist es gelungen, ihre berühmten Ge fährten zu überflügeln. Dazu zählt Frida Kahlo, die ihren Ehemann Diego Rivera posthum an Bekanntheit in den Schatten stellte. Frida hat ihn auf vielen ihrer Ge mälde dargestellt, oft stehen sie auf den Bildern Seite an Seite. Obwohl er sie zeitlebens mit anderen betrog, hielt die Surrealistin an der Beziehung zu Diego fest. Immer hin förderte er ihre Karriere, wo er nur konnte. Seit Fri das Tod hat sich die Rolle der Musen in der Kunst wei ter gewandelt. Moderne Musen sind nicht länger nur für die Inspiration, sondern auch für das Management ihrer berühm ten Partner zuständig. Ein Beispiel dafür ist Gala Dalí. Sie war nicht nur Modell und Muse, sondern vermark tete die Kunstwerke ihres Mannes Salvador mit großem Erfolg. Die ge bürtige Russin hüllte sich zeitlebens in eine Wolke von Geheimnissen. Weder ihr Geburtstag noch die Her kunft ihres Vornamens ist bekannt. Gala spielte die Rolle der rätselhaf ten Muse perfekt. Zugleich führte sie ein ausschweifendes Leben. In ihrer ersten Ehe mit dem Dichter
„Selbstbildnis als Tehuana oder Diego in meinen Gedanken“, 1943, von Frida Kahlo.
Frida und Diego Rivera 1940; das große Talent von Frida belastete die Ehe des Künstlerpaars.
08
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 8
02.03.18 11:05
1.2018 VENTURA
Doppelbildnis Oskar Kokoschka, Alma Mahler, 1912/13; das Gemälde entlarvte die Liaison.
Alma Mahler-Werfel war die Femme fatale der Kunst, Musik und Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts.
»DAS IST DAS LOS DER FRAU. ABER NICHT DAS MEINE!«
Paul Éluard gönnte sie sich mehrere Affären und unter hielt jahrelang eine Dreiecksbeziehung mit dem Maler Max Ernst. Endgültig entfernte sie sich von Éluard, als sie den Ausnahmekünstler Dalí kennenlernte. Aufsehen zu erregen und ihrem Künstler den Rücken freizuhalten, war auch Elke Koskas Ziel. Jahrzehnte lang begleitete die selbst ernannte Muse von HA Schult ihren Ehemann auf Ausstellungen. Dabei zog sie durch ihre bunte Kleidung, grelle Schminke und den volumi nösen roten Haarschopf alle Blicke auf sich. Sie arbei tete als Aktionskünstlerin und war ein unverzichtbarer Teil seiner Projekte. Elke zog Aufträge an Land, küm merte sich um das Sponsoring und machte aus dem Künstler Schult eine Marke. Selbst nach der Scheidung arbeitete sie weiter als Managerin von Schult. Rosa Loy hingegen versteht sich eher als Sparringspartnerin.
Seit drei Jahrzehnten ist sie Ehefrau und Muse des Ma lers Neo Rauch. Die beiden Künstler stellen gemeinsam aus, arbeiten Seite an Seite und inspirieren sich dabei gegenseitig. Jeder von ihnen ist Künstler und Muse in einer Person. Im modernen Kunstbetrieb ist diese Ar beitsteilung keine Seltenheit mehr. „Die Muse im anti ken Verständnis hat ausgedient“, sagt die Kunsthisto rikerin Renate Berger. Im Laufe der Jahrtausende hat sich die Muse emanzipiert, Rollenbilder haben sich ge wandelt. Selbst männliche Musen werden heutzutage gesellschaftlich akzeptiert. Doch welche Aufgabe sie im Leben der ihnen nahestehenden Künstler auch über nehmen: Musen sind und bleiben unsterblich. Sie exis tieren für immer – verewigt in Werken von Komponis ten, Schriftstellern und Malern aller Epochen. — Autorin: Birga Teske
09
118_GF_04-09_Muse_Ventura.indd 9
02.03.18 11:05
VENTURA 1.2018
Leben für die Berge Magdalena Messner setzt seit 2017 als neue Verwalterin der Messner Mountain Museen in Südtirol eigene Akzente. Mit dem berühmten Herrn Papa versteht sie sich gut, meistens jedenfalls, wie sie VENTURA sagt.
E
Foto: akg/Bildarchiv Steffens
in Samstag auf Schloss Juval, dem Sommersitz der Familie Messner im Südtiroler Vinschgau. Eine Besuchergruppe hat einen besonderen Abend mit Reinhold Messner gebucht: private Führung durch Schloss und Museum, Weinprobe mit Rebensaft aus eigenem Anbau, danach Vortrag und Vier-Gänge-Menü mit dem Hausherrn. Für die Messners bedeuten solche Events zusätzliche Arbeit. Während der Vater seinen Fans vor dem Tor schon einmal die Geschichte von Juval erzählt, trifft seine Tochter Magdalena innen letzte Vorbereitungen. Die Messner-Fans machen derweil Selfies mit ihrem Helden. Dass Magdalena die Chefin ist, wissen nur wenige. Die Tochter kann damit gut leben. Ihr Vater ist das Zugpferd. Er spült Geld in die Kassen der Messner Mountain Museum GmbH (MMM). Jener Firma, der sie seit Anfang 2017 vorsteht und deren Mehrheitsgesellschafterin sie ist. Wer Magdalena Messner trifft, ist angenehm überrascht von 10
118_GF_10-12_Magdalena_Messner_Ventura.indd 10
27.02.18 16:06
1.2018 VENTURA
ihrer Offenheit. Und wer dachte, der „Gröbaz“, der größte Bergsteiger aller Zeiten, verweigere den Dialog über die Zukunft seines Imperiums aus Museen, Reliquien, Immobilien und Büchern, sieht sich getäuscht. Stattdessen entsteht der Eindruck: Da geht ein Familienunternehmen die kritischen Fragen ohne Tabus an. Das hänge mit dem Job des Vaters zusammen. „Wenn er auf Expedition ging, wusste ich immer, wo sein Testament liegt. Meine Mutter drängte ihn, dieses von Zeit zu Zeit zu aktualisieren“, sagt die Tochter. Überhaupt habe die Mama, die Textildesignerin Sabine Stehle, zu Hause die Hosen an. „Mama kümmert sich ums Geld. Ohne sie hätte mein Vater die Museen nie stemmen können“, betont Magdalena. Von Gelddingen, das hat Reinhold Messner öfter betont, verstehe er nur wenig. Insofern überrascht nicht, dass Magdalena jetzt die sechs MMM verwaltet und die Chefin von gut 20 Mitarbeitern ist. Sie tippte schon als Teenager die 11
118_GF_10-12_Magdalena_Messner_Ventura.indd 11
27.02.18 16:06
VENTURA 1.2018
sechste seiner Art. Magdalena Messner: „Wenn er auf Expedition ging, wusste ich, wo sein Testament liegt.“
anuskripte des Vaters ab. Dabei habe sie, die sich nicht M für das extreme Kraxeln begeistern kann, viel übers Bergsteigen gelernt. „Ich bin da schleichend hineingewachsen“, sagt sie. Außerdem hat sie in Wien und Rom Wirtschaft und Kunstgeschichte studiert – Fächer, die sie jetzt gut gebrauchen kann. Sie spricht drei Sprachen und hat früh den Umgang mit Prominenten geübt. Die waren bei Messners häufig zu Gast, von Künstlern über Politiker bis zu Managern wie Jürgen Schrempp. Als Chefin der MMM hat sich Magdalena zwei große Ziele gesetzt: Die Museen sollen wirtschaftlich erfolgreich sein. Und sie möchte eigene künstlerische Akzente setzen. Die MMM seien der einzige Kulturbetrieb Südtirols, der sich von Anfang an selbst getragen habe. „Wir haben nie Geld von der Provinz, vom Staat oder von der EU bekommen. Das soll so bleiben“, unterstreicht sie. Die Aussage bezieht sich allerdings nur auf den operativen Betrieb. Die Kosten für das gesamte Projekt werden auf bis zu 30 Millionen Euro geschätzt. Aufgeteilt wurden sie zwischen Messner und dem Land Südtirol sowie privaten Investoren. Letztere finanzierten den Ausbau der alten Gemäuer und auch den Neubau des MMM Corones von Zaha Hadid. Im Gegenzug muss die Familie Messner die Ausstellungen ohne Subventionen einige Jahrzehnte lang aufrechterhalten. Lediglich Juval und Ortles gehören Messner selbst, inklusive der Immobilien. Für das Zentrum Firmian (Bozen) und die drei anderen Satelliten Dolomites, Ripa und Corones gibt es dagegen lang laufende Pachtverträge mit der MMM GmbH. Die Firma sei als Handelsunternehmen eingetragen. „Da
Messners wertvollster Besitz ist allerdings Schloss Juval, das er 1983 – gegen den Rat einiger Freunde – für umgerechnet 30 000 Euro gekauft hatte und das heute 10 Millionen Euro wert sein dürfte. Juval ist der Sommerwohnsitz der Familie, beherbergt aber auch ein Museum, in dem Messner seine alpinhistorische Bibliothek untergebracht hat. Sie ist vermutlich die größte private Sammlung dieser Art weltweit. Juval und sein Mount Everest aus Büchern bereiten Messner Sorgen. „Die Sammlung sollte nach meinem Tod eigentlich Teil des Museums bleiben. Aber ich kann Juval auch nicht einem einzigen meiner drei Kinder vererben“, erklärt er. Magdalena Messner will sich Zeit lassen, in Ruhe in ihre neue Rolle hineinwachsen. Sie weiß: Die großen Bewährungsproben kommen erst. Noch geht es ihrem 73-jährigen Vater gut. Wenn er einmal nicht mehr ist, wird er ihr als Vater, aber auch als Sparringspartner fehlen. Und: Irgendwann werden die Pachtverträge mit dem Land Südtirol auslaufen, sie müssen dann neu verhandelt werden. Sie und ihre Geschwister werden älter, sie müssen sich überlegen, was einmal mit Schloss Juval passieren soll. Und um die Buchrechte des Vaters, einige davon Weltbestseller, muss sich auch jemand kümmern. Es gibt viel zu tun für die junge Frau. Aber sich vor einem Berg – und sei es ein Berg an Aufgaben – zu drücken, war noch nie die Art der Messners. — Autor: Günter Kast
Auf www.messner-mountain-museum.it finden Sie alles zu den Reinhold-MessnerMuseen und Magdalena Messners Buch „Selbstversorger & Bergbauer“, BLV 2017.
Fotos:© MMM Firmian Tower North, Georg Tappeiner, © MMM Ripa 6, Foto Tappeiner AG, Sigrid Reinichs
Das Messner Mountain Museum Corones ist das
tauchen komplexe steuer- und versicherungsrechtliche Fragen auf“, erklärt Magdalena. Fast drei Jahre lang hatte sie sich in diese Themen eingearbeitet, ehe sie Anfang 2017 Verwalterin wurde. Ihr Freund sei Jurist, das helfe. Viele der in den Museen gezeigten Objekte stammen aus Reinhold Messners Privatbesitz, sind juristisch betrachtet also kostbare, aber kostenlose Leihgaben an die MMM. Hinzu kommen Schenkungen, Käufe und Leihgaben Dritter. Anfangs habe sie Sorge gehabt, dass es zu wenige Aufgaben geben könnte. Heute sagt sie: „Eine schöne Illusion.“ Sie sei froh, dass sie sich nicht um das ganze Imperium ihres Vaters kümmern müsse. Um dessen Buchprojekte und -rechte sowie die Filme kümmere er sich selbst zusammen mit seiner Assistentin Ruth Ennemoser. Das gelte auch für die drei Bergbauernhöfe, die Messner verpachtet hat. Er will damit keinen Gewinn erzielen, möchte aber, dass die Höfe von den Pächtern nachhaltig und biologisch bewirtschaftet werden. Er gibt ihnen deshalb Richtlinien vor.
12
118_GF_10-12_Magdalena_Messner_Ventura.indd 12
27.02.18 16:06
1.2018 VENTURA
Die Formen der Natur
Foto: Hary/Shutterstock.com
Perfekte Geometrie entsteht durch Menschenhand. Doch zeigt sie sich in ihrer Komplexität auch im Tier- und Pflanzenreich.
Der Kreis gehört zu den grundlegenden Objekten euklidischer G eometrie, die der griechische Mathematiker Euklid begründete. Vor rund 2300 Jahren definierte er den Kreis als Menge aller Punkte einer Ebene, die einen konstanten Abstand zu ihrem Mittelpunkt haben. Seit der Antike zeichnen Menschen mit einem Zirkel in Sekunden Kreise. Weniger vollkommen und über Jahrtausende entstanden, finden sich ähnlich magische Strukturen in der Natur. Am offensichtlichsten: die Jahresringe von Bäumen. Sie geben Auskunft über Alter und
Wachstum. Der Methusalem unter den Bäumen ist der Old Tjikko. Die Fichte steht seit über 9500 Jahren in Schwedens Nationalpark Fulufjället. Weniger stattlich erscheint die „Königin des Herbstes“, die aus Mexiko stammende Dahlia, deren runde, körbchenförmige Blütenstände ebenso an Kreise erinnern. Auffälliger präsentiert sich da der Gepard in der Tierwelt. Was Euklid zu seinen kreisrunden schwarzen Tupfen gesagt hätte, bleibt hier leider unbeantwortet. — Autorin: Sophie Smakici
13
VENTURA 1.2018
Zurück zu Feder und Tinte Die Handschrift gerät im Zeitalter der digitalen Kommunikation immer mehr in Vergessenheit. Warum es sich lohnt, die Kunst des schönen Schreibens zu pflegen, und wie Technik Möglichkeiten schafft.
14
118_GF_14-15_Tinte_u_Feder_Ventura-gelöst.indd 14
27.02.18 11:53
1.2018 VENTURA
»SCHREIBEN AUF PAPIER AKTIVIERT DAS GEHIRN GANZHEITLICHER ALS TIPPEN AUF EINER TASTATUR«
D
Foto: Ekkehart Bussenius/laif
ie Finnen gelten als mutige Schulreformer und führen seit Jahren die Pisa-Studie an. Die starre Einteilung nach Schulfächern wurde abgeschafft, das Konzept geschlossener Klassenräume – und seit Kurzem auch die Schreibschrift. Wenn sie überhaupt noch zu Stift und Papier greifen, notieren finnische Schüler Wörter in Druckbuchstaben. Lesbarer mag die Schrift sein. Und effizienter ist vielleicht nur die Computertastatur. Allerdings fürchten Forscher, dass mit der Abkehr von der Schreibschrift nicht nur ein Kulturgut verloren gehen könnte, sondern auch das Denken negativ beeinflusst wird. Handschrift ist ein Denkwerkzeug. Der Motorik- und Handschriftexperte Christian Marquardt unterstreicht: „Schreiben auf Papier aktiviert das Gehirn ganzheitlicher als Tippen auf der Computertastatur.“ So zeigen Studien, dass sich Studenten, die in Vorlesungen mitschreiben, den Inhalt besser merken können als diejenigen, die Laptops nutzen. „Bei den Schreibern verankern sich Informationen besser im Gehirn, weil gleichzeitig viele verschiedene Areale aktiviert werden“, so Marquardt. Neben der Rechtschreibung werden Krea-
tivität, Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen trainiert. Dem Schreiben wird gar heilende Wirkung nachgesagt. So hilft das sogenannte expressive Schreiben bei der Traumabewältigung. Anfang der 80er-Jahre bat James Pennebaker, Psychologe an der University of Texas, eine Gruppe Studenten an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils 15 Minuten über ein Erlebnis zu schreiben, das sie emotional belastete – gescheiterte Beziehungen, Drogenprobleme oder der Verlust eines Angehörigen. Es stellte sich heraus, dass es diesen Studenten anschließend gesundheitlich besser ging als denjenigen aus der Kontrollgruppe, die lediglich über belanglose Erlebnisse geschrieben hatten. In Pennebakers Experiment hatten sich die Teilnehmer buchstäblich den Schmerz von der Seele geschrieben. Dieses Phänomen wurde in den Folgejahren mehrfach wissenschaftlich bestätigt. Notieren stärkt das Immunsystem und lindert depressive Symp tome. Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil weiß davon ebenfalls eine Geschichte zu erzählen, die er unter anderem in seinem Buch „Der Stift und das Papier“ festgehalten hat. Als Kind war Ortheil verstummt, sprach jahrelang kein Wort. Dann
begann er, seine Umwelt genau zu beobachten, notierte alle Eindrücke in seinen Tagebüchern und hielt seine Gedanken und Stimmungen darin fest. „Der Druck des Stifts auf Papier ist ein kontinuierliches, fließendes, gleitendes Einprägen der Gedanken“, schreibt der Autor in seinem Blog – veröffentlicht als Fotografie seiner handschriftlichen Notiz, versteht sich. „Während dieser Einprägung formiert sich das zur Konzentration aufgeforderte Gehirn laufend neu. Es denkt mit, begleitet die Streifzüge, erzwingt Varianten.“ Im Zeitalter von Bits und Bytes helfen smarte Stifte und Notizbücher, von Hand Geschriebenes zu digitalisieren. Tablets ermöglichen es, Aufzeichnungen mithilfe eines speziellen Eingabestifts festzuhalten. Das ist praktisch, lässt aber das Papiergefühl vermissen. Notizbuchhersteller Moleskine hat einen Stift entwickelt, der per eingebauter Kamera speichert, was der Schreiber in sein Büchlein einträgt. Per Bluetooth wird der Text dann in eine App übertragen. Dort lässt er sich sogar dank Schrifterkennungssoftware in ein editierbares Manuskript umwandeln. Schreiben auf Papier – lesen und bearbeiten am Bildschirm. — Autorin: Britta Scholz
15
118_GF_14-15_Tinte_u_Feder_Ventura-gelöst.indd 15
27.02.18 11:53
VENTURA 1.2018
Endlich angekommen Das Reisen ist die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen. Doch in der hyperbeschleunigten Zeit ist die Jagd von Destination zu Destination längst nicht mehr für alle erfüllend. Warum Heimat wohl das neue Reisen ist …
16
118_GF_16_18_Privileg_Reisen_Ventura.indd 16
02.03.18 11:05
1.2018 VENTURA
E
s gab einmal eine Zeit, da waren Flugzeuge Objekte der Verheißung. Man genoss opulente Beinfreiheit, einen aufmerksamen Bordservice und mit Glück noch leere Sitzreihen. Bei der Ankunft sonnte man sich in einer Gemengelage aus Zufriedenheit, Komfortgefühl und einer Tiefenentspannung. Das Unterwegssein erschien genauso beglückend wie das Angekommensein. Und heute? Schieben sich Massen von Menschen durch voll automatisierte Schalterparcours und Sicherheitsschleusen. Das Boarding wird zum kriegerischen Akt, das Flugzeug zur Kampfzone ohne Sitz- und Bewegungsspielraum. Jährlich reisen circa vier Milliarden Flugpassagiere. Bereits Mitte der 1920er-Jahre nahm der Schriftsteller und Romancier Stefan Zweig im Essay „Reisen oder Gereist-Werden“ die Auswirkungen des hoch technologisierten Tourismus vorweg: „Mit ihnen beginnt ein anderes Reisen, das Reisen
Die Malediven mit ihrer Mischung aus Ferne, Farben und Exotik zählen zu den Traumurlaubszielen.
Mag das Reisen auch von einer einstmals elitären, glamourösen Dienstleistung zum anonymisierten Akt verkommen sein: Was sich nicht geändert hat, ist der Anspruch an die symbolische Grenzüberwindung. Es geht um die Sehnsucht nach Exotik und Flucht aus dem Alltag. „Wenn wir reisen, tun wir’s doch nicht nur um der Ferne allein willen, sondern auch um des Fortseins vom Eigenen, um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-Seins und
Foto: Buena Vista Images/Getty Images
in Masse, das Reisen auf Kontrakt. Man wird nicht mehr reisen, sondern gereist werden.“ Zweig brach so mit der Romantik des Reisens, wie sie die Dichter Goethe, von Keyserling und Flaubert über Jahrhunderte beschworen hatten. Und wurde damit vielleicht zum ersten Reisekritiker des 20. Jahrhunderts.
17
118_GF_16_18_Privileg_Reisen_Ventura.indd 17
02.03.18 11:05
VENTURA 1.2018
»ES GIBT EINE KLUFT ZWISCHEN UNSEREN REISEFANTASIEN UND DEN DINGEN, DIE UNS FEHLEN«
Bei aller gebotenen Alltagsflucht impliziert das Reisen immer auch sein unausweichliches Ende: das Ankommen. Und mithin den archaischen Wunsch, neben der Aura des Exotischen, Unbekannten und Abenteuerlichen gleichzeitig das Vertraute, Geborgene und Sichere vorzufinden. Eine Art Heimat inmitten des Fremden. Doch lässt sich das vereinbaren? Oder sind wir nach Jahren der dynamisch wachsenden Mobilität und des jederzeit Auf-Abruf-Seins schlicht und ergreifend reisemüde? Und hatte Thomas Mann vielleicht unrecht?
Tatsächlich scheint das Reisen in der hoch beschleunigten und tendenziell unruhigen Welt vielen nur ein weiterer Stressfaktor zu sein – geknüpft an überzogene Erwartungen und falsche Vorstellungen. Der Philosoph Alain de Botton, Autor des Essaybands „Kunst des Reisens“, bemerkt dazu exemplarisch: „Es gibt eine riesige Kluft zwischen unseren Reisefantasien und den Dingen, die uns wirklich fehlen. Eigentlich bräuchten wir psychotherapeutische Reisebüros, die uns die passenden Ziele heraussuchen.“ Fraglich ist es also, ob eine Fernreise nach Ko Samui oder ein Trip zu Islands Vulkanen unsere wahren Bedürfnisse stillt. Flüchtlingsströme sowie problematische Entwicklungen in Ländern, die vormals als Urlaubsparadiese galten, verschärfen das Dilemma mit dem Fernweh.
So schön die Aussichten auf Strände und Buchten in Thailand sein mögen: Reisen sind nicht immer stressfrei.
Da wundert es nicht, wenn viele plötzlich von einem Gegenentwurf träumen. Der Begriff der Heimat, lange als spießig oder sogar reaktio när diffamiert und von Rechtspopulisten missbraucht, erlebt seine Renaissance. Nicht mehr der Reiz ferner Kontinente bestimmt unser Verlangen, sondern die Verortung und Selbstfindung fernab des gefühlten globalen Irrsinns. „Heimat ist ein Kontinent, wo nur ich bin“, antwortete die Schauspielerin Senta Berger unlängst, als sie den Begriff für sich definieren sollte. Und lieferte damit die perfekte Blaupause für das Gefühl des Angekommenseins. Dieses impliziert zugleich das Angekommensein bei sich selbst. Natürlich ist es legitim und zeitweilig sogar vonnöten, die Heimat und das Ich-selbst-Sein für eine Weile hinter sich zu lassen und das Unbekannte zu suchen. „Abenteuer – das magische Wort. Noch stärker als die Liebe“, wie der Reisejournalist Helge Timmerberg im Adrenalinrausch des Unterwegsseins feststellte. Doch dazu braucht es nicht zwangsläufig die Ferne. Dass Trophäenreisen und das Abreißen von Metropolen, die immer mehr zu Orten einer Disneyfizierung werden, uns unserem eigentlichen Ziel nicht näherbringen, wusste schon John Steinbeck. Zu den scheinbaren Antipoden Reisen und Heimat bemerkte der Literaturnobelpreisträger treffend: „Vielleicht ist das der Grund für meine Rastlosigkeit: Ich habe noch nicht jedes Zuhause gesehen.“ Er fand es schließlich doch noch in einem bescheidenen Fischeranwesen auf Long Island, wo er sich nach eigenen Angaben endlich angekommen fühlte. Und als glücklicher Mann starb … — Autorin: Liora Jacobsen
Foto: Paul Quayle/Getty Images
deshalb Nicht-sich-selbst-Seins“, schrieb Zweig. Thomas Mann erweiterte den Reisebegriff gar noch um den Aspekt der Entschleunigung: „Reisen ist das einzig Taugliche gegen die Beschleunigung der Zeit.“
18
118_GF_16_18_Privileg_Reisen_Ventura.indd 18
02.03.18 11:05
1.2018 VENTURA
Ein Bild und seine Geschichte
Stolz, majestätisch, selbstbewusst und sehr erhaben thront die Dame seit nun 132 Jahren auf Liberty Island im Hafen von New York. Sie zählt zu den TopDenkmälern der Welt, trägt das Symbol der Freiheit in ihrem Namen, grüßt und wacht über Stadt, Bewohner und Besucher. Den ersten großen Auftritt feierte sie – besser gesagt ihr Kopf – auf der Pariser Weltausstellung. Dieser konnte fertiggestellt ab dem 30. Juni 1878 im Garten des Trocadéro Palastes besichtigt werden. Mit einer Figurenhöhe von 46,05 Metern und einer Gesamthöhe von 92,99 Metern gehört das Abbild der römischen Göttin Libertas bis heute zu den höchsten Statuen der Welt. Sie ist ein Geschenk des französischen Volkes zu Ehren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Die USA kümmerten sich um den Sockel, Frankreich verant-
rechten Hand hält die Göttin eine vergoldete Fackel, die als Leuchtturm geplant war, in der linken eine Inschriftentafel mit dem Datum der Unabhängigkeitserklärung. Was viele nicht wissen: Die Statue geht, sie steht nicht still. Abgestoßene Ketten an ihren Füßen symbolisieren die Befreiung Amerikas. Eigentlich sollte die neoklassische Statue die zerrissene Kette in der Hand halten, aber Bartholdi befürchtete, dass Betrachter dies als Reverenz an die Sklavenzeit verstehen könnten. Auch andere symbolische Gegenstände ließen die Verantwortlichen aus Angst vor Interpretationen weg. Stephen Grover Cleveland, 22. und 24. Präsident der Vereinigten Staaten, weihte die Statue am 28. Oktober 1886 ein.
Foto: Hulton Archive/Getty Images
Paris, 30. Juni 1878 wortete die Statue. Eigentlich wollte man die Freiheitsstatue bereits zum 100. Jahrestag der Unabhängigkeit präsentieren, doch gab es neben einer anfänglichen Skepsis immer wieder Finanzierungsprobleme auf amerikanischer Seite. Joseph Pulitzer rettete 1885 mit einem Spendenaufruf in seiner Zeitung „New York World“ das Vorhaben. Der Legende nach ließ sich der französische Bildhauer Frédéric-Auguste Bartholdi beim Gesicht der Libertas von dem seiner Mutter inspirieren. In der
— Autor: Ralf Kustermann
Impressum Herausgeber und Verlag: Deutscher Sparkassen Verlag GmbH, 70547 Stuttgart, Tel. +49 711 782-0 Chefredakteur: Ralf Kustermann, Tel. +49 711 7821586, Fax +49 711 782-1288, E-Mail: ralf.kustermann@dsv-gruppe.de Art Director: Joachim Leutgen Redaktion: Gunnar Erth, Daniel Evensen Chefin vom Dienst: Antje Schmitz Layout und Grafik: 7Stars NewMedia, Leinfelden-Echterdingen Autoren und Mitarbeiter: Wolfgang Hörner, Andreas Hohenester, Günter Kast, Yorca Schmidt-Junker, Britta Scholz, Sophie Smakici, Birga Teske Druck: MP Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn Anzeigen: Sarah Bellido-Schmidt, Tel. +49 711 782-1199 Artikel-Nr. 330 155 010
19
118_GF_19_Bild_Impressum_Ventura-gelöst.indd 19
27.02.18 11:53
VENTURA 1.2018
Zeiten Wandel Üppiger Barock, verspielter Jugendstil oder schlichte Eleganz: Den wahren Wert antiker Tischuhren bestimmen Materialien und das Innenleben. Die Kreativität kannte keine Grenzen.
Fotos: LA PENDULE GMBH, Stolberg, Auktionen Dr. Crott, Jaeger-Le Coultre, INTERFOTO/National Maritime Museum, London
E
ine Fischerfigur aus Biskuitporzellan, die die Zeit fest im Griff hält? Kitsch oder Kostbarkeit? Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Aber auf jeden Fall sind antike Stutzuhren, die auf Tischen, Konsolen und Kaminen stehen, Zeitzeugen, die fast immer eine spannende Geschichte erzählen. „Wer solche Uhren kauft oder sammelt, will auch etwas darüber wissen“, sagt Uhrenkenner und Händler Hans Oskar Dötsch. Er betrieb mehr als 30 Jahre in Münster ein Fachgeschäft und ist heute im Onlinehandel (www.antike-uhren-doetsch.de) und auf Messen präsent. Allerdings: Ohne Fachwissen oder spezialisierte Berater gerät der Kauf derartiger Antiquitäten zum Glücksspiel. Neben geschickten Fälschungen und Replikaten kursieren auf dem Antiquitätenmarkt auch unzählige unsachgemäß reparierte und dadurch stark im Wert geminderte bis wertlose Originalobjekte. Nur wer sich intensiv mit der Technikgeschichte befasst hat, kann die Echtheit beurteilen. Dötsch klärt bei jedem Modell zuerst: Wann konnte man was herstellen? Welche Werkzeuge und welche Metalle waren wann verfügbar? Die Fachleute stehen zudem oft fassungslos vor einem katastrophalen Innenleben. „Mein Gott, was hat denn da einer zusammengeschraubt?“, fragt sich Hans Eichler so manches Mal bestürzt, wenn er eine Uhr zur Begutachtung in die Finger bekommt. „Da wird oft regelrecht Kulturgut zerstört“, entrüstet sich Eichler. Er hat sich auf antike französische Großuhren – Pendulen – spezialisiert (www.la-pendule.de). Antik nennen darf sich alles, was älter als 100 Jahre ist. Auch Replikate aus dem 19. Jahrhundert können als antike Stücke Wert besitzen, wenn sie von berühmten Uhrmachern stammen. In der damals bereits arbeitsteiligen Welt kamen Gehäuse und Uhrwerke oft aus verschiedenen Manufakturen. So baute auch die französische Uhrenfabrik Japy um 1860 moderne Rohwerke in Gehäuse ein, die oft his-
1660
1740
1787
Tischuhren von 1660 bis zur Gegenwart: Jede Epoche zeigt ihre Highlights in Design und Technik. Raritäten und begehrte Sammlerstücke sind sie alle.
20
118_GF_20_21_Tischuhren_Ventura.indd 20
02.03.18 11:05
1.2018 VENTURA
1855: Pendule aus Biskuitporzellan.
torischen Vorbildern nachempfunden waren. Dazu zählt auch die Fischerfigur aus Biskuitporzellan mit einem Japy-Uhrwerk, das auf der Pariser Weltausstellung 1855 eine Goldmedaille erhielt. Für gut erhaltene oder restaurierte Exemplare blättern Liebhaber und Sammler oft mehrere Tausend Euro hin. Dennoch halten Fachleute wie Eichler und Dötsch die Preise für derartige Raritäten derzeit für moderat. Wer nicht auf eine spezielle Epoche und ein enges Sammelgebiet fokussiert ist, findet auch ein breites Angebot. Sowohl bei Christie’s und Sotheby’s als auch beim Mannheimer Auktionshaus Crott kommen regelmäßig französische Pendulen und englische Bracket Clocks unter den Hammer. Im 15. Jahrhundert wurden die ersten federgetriebenen Tischuhren hergestellt. Zuvor standen Räderuhren auf Holzkästen oder hingen an Wänden, weil die ablaufenden Gewichte Platz benötigten. Im 16. und 17. Jahrhundert dominierten Türmchen- und Figurenuhren mit verzierten Gehäusen, vorzugsweise aus vergoldeter Bronze. Dabei sind Statuetten wie Tiere, Schiffe oder Wagen häufig technisch raffiniert mit Geh- und Schlagwerken verbunden. Aber auch heute noch produzieren Manufakturen wie Jaeger-Le Coultre, Cartier oder Patek Philippe Tischuhren, die neben extravagantem Design ein außergewöhnliches Innenleben bieten. Patek Philippe in Genf stellt jedes Jahr seit der Markteinführung nur wenige Modelle her. Die kunstvoll emaillierten Unikate funktionieren mit Solarenergie. Sie werden für mehr als 150 000 Euro gehandelt. Das Tischuhr-Spitzenprodukt von Jaeger-Le Coultre namens Atmos bezieht seine Antriebskraft allein aus der Veränderung des Luftdrucks und der Lufttemperatur. Laut Hersteller genügt ein Grad Temperaturunterschied, um die Uhr für 48 Stunden aufzuziehen. Neu kostet die Atmos zwischen 6500 und 27 400 Euro. Ob der Klassiker von morgen noch an Wert zulegt, wird die Zukunft zeigen. — Autor: Andreas Hohenester
1890
1900
1928
1976
1995
21
118_GF_20_21_Tischuhren_Ventura.indd 21
02.03.18 11:05
VENTURA 1.2018
Computer – übernehmen! Autonomes Fahren soll für Komfort und Sicherheit sorgen. Längst ist es k eine Zukunftsvision mehr, sondern ein fester Teil der Mobilitätsplanung. Ein paar Hürden gilt es trotzdem noch zu überwinden.
Den Vordermann im Visier: Solange es um reine Längsbewegung geht, ist autonomes Fahren relativ leicht realisierbar. Schwieriger ist Querverkehr.
O
b die Fahrt mit Kollegen zu einem Geschäftstermin oder mit der Familie in den Urlaub: Wie schön ist es, unterwegs bequem um ein Tischchen zu sitzen, sich zu unterhalten, ein Buch zu lesen oder vielleicht ein bisschen zu schlafen. Was im ersten Moment nach entspannter Bahnfahrt klingt oder einer Fahrt in einer Luxuslimousine mit Chauffeur, könnte künftig Realität in allen Automobilen sein. Der Traum vom autonomen Fahren steht viel näher vor seiner Erfüllung, als man vor wenigen Jahren noch gedacht hätte. Angestachelt durch Initiativen von Technologieunternehmen wie Google und Tesla gerieten die Automobilhersteller unter Handlungsdruck. Dass autonomes Fahren kommen wird, ist 22
118_GF_22-25_Autonomes_Fahren_Ventura-gelöst.indd 22
27.02.18 14:57
1.2018 VENTURA
»DIE ZUKUNFT DES FAHRENS IST AUTONOM«
Foto: AUDI AG
Audi-Vorstand Peter Mertens
längst sicher. Die Frage ist nur noch, wie schnell, denn noch liegen einige Hindernisse auf dem Weg zur voll automatisierten Mobilität. Wer möchte, kann aber heute bereits teilautonom unterwegs sein. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Assistenzsystemen, die den Fahrer aktiv unterstützen – Systeme, die selbstständig Fahrsituationen analysieren und Lenk-, Beschleunigungsoder Bremseingriffe vornehmen. Dazu gehört der Spurhalteassistent, den viele Marken im Programm haben; eine automatische Lenkkorrektur bringt das Fahrzeug wieder auf Kurs. Nicht anders bei dem bei Vielfahrern
beliebten aktiven Stauassistenten: Mittels Radar überwacht er den Abstand zum Vordermann, bremst bei Bedarf ab und beschleunigt das Fahrzeug im Anschluss wieder. Modelle von BMW und Mercedes-Benz wechseln bei Bedarf selbstständig die Spur im Stop-and-goVerkehr. Umgekehrt fahren sie auch bei hohem Auto bahntempo eigenständig, lenken durch Kurven und reagieren auf andere Verkehrsteilnehmer. Das Manko: Bisher scheuen sich die Autohersteller, die Systeme vollständig freizugeben. Sie funktionieren entweder maximal 20 Sekunden bei Geschwindigkeiten von bis zu 23
118_GF_22-25_Autonomes_Fahren_Ventura-gelöst.indd 23
27.02.18 14:57
VENTURA 1.2018
30 Kilometern pro Stunde oder erfordern eine Hand am Lenkrad. Weiter ging US-Hersteller Tesla: Für das knapp 100 000 Euro teure Modell X bot der Elektropionier einen Assistenten an, mit dem man völlig autonom durch die City cruisen konnte. Nach einigen Unfällen wurde das System per Software-Update entschärft und zwingt seither seinen Fahrer, öfter zum Steuer zu greifen. Auf der Skala des autonomen Fahrens erreichte Tesla das sogenannte Level 3 – ein Niveau, auf dem seit einigen Monaten als einziger Serienhersteller weltweit Audi mit dem neuen A8 rangiert. Er geht einen wesentlichen Schritt weiter als die Konkurrenz, denn er kann ohne zeitliche Begrenzung bei Geschwindigkeiten von bis zu 60 Kilometern pro Stunde aktiv steuern. Die einzige Einschränkung: Er muss sich auf einer Autobahn befinden und damit also im stockenden Verkehr. Sich innerorts von A nach B bringen zu lassen,
geht nicht. Warum sich die AudiEntwickler auf das Stauszenario fokussierten, ist logisch: Erstens zählt es zu den nervigsten Momenten für Autofahrer, in denen sie für autonomes Fahren besonders empfänglich sind, und zweitens sind die Fahrbedingungen im Stau vergleichsweise klar definiert – jedenfalls eindeutiger als im Stadtverkehr. Damit der Staupilot ordnungsgemäß funk tioniert, setzt Audi neben Ultraschallsensoren, einer Frontkamera, vier 360-Grad-Umgebungskameras und drei Radarsystemen einen Laserscanner ein. Das Bauteil ist elektronisch und mechanisch hochempfindlich. Deshalb sind ein Wischer für seine Schutzscheibe und eine eigene Heizung nötig. Experten gehen davon aus, dass ein vollautonomes Fahrzeug fünf dieser Scanner benötigt, um gemäß Level 5 sicher und gefahrlos durch Innenstädte zu kommen. Der Staupilot hat bislang keine Zulassung in Europa und ist deshalb noch nicht erhältlich. Die
Bundesregierung wiederum öffnete im vergangenen Sommer dem autonomen Fahren juristisch ein Fenster. Im Straßenverkehrsgesetz ist nun verankert, dass der Computer das Steuer übernehmen darf. In allerletzter Instanz bleibt der „Fahrer“ verantwortlich, selbst wenn er sich nun eingeschränkt auch anderen Tätigkeiten zuwenden darf. Dass diese Regelung nur einen Übergang darstellt, zeigt die Pflicht zur Blackbox ab Level 3. Der Fahrtenschreiber soll nach Unfällen offenbaren, ob der Fahrer oder die Technik einen Fehler beging. Letztlich stellt die Vorgabe einen ersten, wenn auch kleinen Schritt zur Abkehr vom sogenannten Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr von 1968 dar, nach dem sämtliche Verantwortung beim Fahrer liegt. Damit autonomes Fahren sicher funktioniert, ist eine Vernetzung der Fahrzeuge unumgänglich. Genau darin sieht Dieter Becker, Leiter
Darf Verantwortung abgeben: Beim Platooning können die ten Lkw auch lesen oder fernsehen.
Fotos: Daimler AG, AUDI AG, Tesla
Fahrer der gekoppel-
24
118_GF_22-25_Autonomes_Fahren_Ventura-gelöst.indd 24
27.02.18 14:57
1.2018 VENTURA
Stufen der Autonomie Level 0: „Driver only“: Der Fahrer fährt selbst, lenkt, gibt Gas, bremst et cetera.
Der Audi A8 ist das weltweit erste Automobil, das Level 3 in den Autonomiestufen erreicht.
Level 1: Bestimmte Assistenzsysteme helfen bei der Fahrzeugbedienung, beispielsweise der Abstandsregeltempomat (ACC).
Tesla Modell X: musste nach Unfällen wieder auf Level 2
Level 2: Teilautomatisierung. Funktionen wie automatisches Einparken, Spurhalten, allgemeine Längsführung, Beschleunigen, Abbremsen werden von den Assistenzsystemen übernommen, etwa vom Stauassistenten. Level 3: Hochautomatisierung. Der Fahrer muss das System nicht dauernd überwachen. Das Fahrzeug führt selbstständig Funktionen wie das Auslösen des Blinkers, Spurwechsel (siehe unten) und Spurhalten durch. Der Gesetzgeber arbeitet darauf hin, Level-3-Fahrzeuge zuzulassen. Level 4: Vollautomatisierung. Die Führung des Fahrzeugs wird dauerhaft vom System übernommen. Werden die Fahraufgaben vom System nicht mehr bewältigt, kann der Fahrer aufgefordert werden, die Führung des Fahrzeugs zu übernehmen. Level 5: Kein Fahrer erforderlich. Außer dem Festlegen des Ziels und dem Starten des Systems ist keinerlei menschliches Eingreifen nötig.
zurückgestuft werden.
Freightliner: Die Daimler-Tochter ist führend beim Platooning von Lkw.
der Automotive-Sparte beim Beratungsunternehmen KPMG, eine Herausforderung. „Es fehlt in Deutschland ein flächendeckendes Hochleistungs-Mobilfunknetz“, moniert er. Warum der permanente Datenaustausch zur Verkehrslage eine so zentrale Rolle spielt, zeigt eine spezielle Form des automatisierten Fahrens: das Platooning, in das die Nutzfahrzeugbranche Hoffnungen setzt. Per „elektronischer Deichsel“ hängt sich auf der Autobahn ein Sattelzug an einen vorausfahrenden Lkw und folgt ihm automatisch. Ein Bündel Sensoren sorgt dafür, dass der hintere Lastzug – an den sich weitere hängen können – exakt in der Spur bleibt, rechtzeitig bremst und immer das richtige Tempo fährt. Schert ein anderer Verkehrsteilnehmer in die Lücke, deaktiviert sich das System, und der Fahrer übernimmt wieder. Das gilt auch dann, wenn er selbst ausschert, um zum Beispiel die Autobahn zu verlassen. Ansonsten dürfen sich Fahrer entspannt zurücklehnen – vorausgesetzt, die Datenübertragung zum Vordermann ist sicher und stabil. — Autor: Wolfgang Hörner
25
118_GF_22-25_Autonomes_Fahren_Ventura-gelöst.indd 25
27.02.18 14:57
VENTURA 1.2018
Schnitt und Stoff in Perfektion Die hochwertigsten Anzüge der Welt kommen aus einer Manufaktur in Neapel: Kiton steht für feinstes Tuch und virtuose Schneiderkunst direkt zu Füßen des Vesuvs.
Schneider von Kiton zeichnen mit Kreide auf Tüchern die Einzelteile auf, die ausgeschnitten und per Hand vernäht werden.
E
in ungeschriebenes Gesetz in der Businesswelt lautet: je feiner das Tuch eines Anzugs, desto souveräner der Auftritt – was für die Performance auf dem Geschäftsparkett nicht unerheblich sein dürfte. Und so vertrauen viele CEOs, Staatsoberhäupter und andere Männer, die im Fokus der Medien stehen, gern auf einen Namen: Kiton. Der Firmenname ist ein Mythos, was nicht allein an der illustren Kundschaft der neapolitanischen Manufaktur liegt, sondern vielmehr an den Superlativen der Edelschneiderei. „Kiton ist wahrscheinlich die einzige Textilfirma weltweit, die 350 Schneider im eigenen Land vollbeschäftigt. Jeder Nadelstich erfolgt hier in Neapel, von Hand, ohne Einsatz von Maschinen“, erklärt Antonio De Matteis, Geschäftsführer von Kiton. „Unsere Kunden wollen nichts we-
26
118_GF_26-28_Feines_Stoeffchen_neu_Ventura-gelöst.indd 26
01.03.18 09:45
1.2018 VENTURA
»WIR SIND WENIGER DESIGNER ALS LIEBHABER VON HOHER QUALITÄT« Maria Giovanna Paone geht im Sinne der Familie mit einer Damenlinie auf Expansion.
Fotos: Fotonews/Splash News/Renna, Pacific Press/ddp images/360° EDITORIAL
niger als die perfekte Passform und den am besten geeigneten Stoff. Deshalb ist es unsere Pflicht, ihnen die feinsten und rarsten Tücher zu liefern.“ In puncto Feinweberei hat die Firma einen Rekord aufgestellt. Mit einer Dichte von 11,9 Mikron, wobei ein Mikron einem tausendstel Millimeter entspricht, stellt Kiton das dünnste Anzuggarn der Welt her. Um dies zu erreichen, wird ein Kilogramm Wolle zu einem Faden von rund 150 Kilometer Länge gesponnen. „Das ist ein höchst diffiziler Prozess, den nur Spezialwebereien beherrschen“, betont De Matteis. Ausgangsmaterial ist die Wolle australischer Merinoschafe, die als sehr fein und hochrobust gilt. Doch die Qualität hat eine Kehrseite. „In der Qualität unterhalb von 13 Mikron können wir eine Tuchmenge produzieren, die bestenfalls für 40 Anzüge reicht, manchmal noch weniger“, erklärt De Matteis. Beginnt ein Einsteigermodell aus „gröberem“ Merinotuch bei 4000 Euro, schlägt ein Ensemble in dieser federleichten Tuchklasse dann schon einmal mit 20 000 Euro zu Buche. Und es geht noch edler. Wer den ultimativen Tragekomfort will, greift zum Tuch aus Vicuñawolle. Sie wird aus dem Wollhaar der zur Famile der Kamele zählenden peruanischen Vicuñas hergestellt. Deren Haarfasern sind innen hohl und dadurch extrem anschmiegsam und wärmeregulierend. Zudem verfügt die
Vicuñafaser über einen natürlichen Seidenglanz, der auch beim Einfärben nicht verloren geht. Ein KitonZweiteiler in dieser Kategorie kostet bis zu 40 000 Euro. Dennoch verwehrt sich Antonio De Matteis dagegen, Luxusgüter zu fertigen, und sagt: „Wir sprechen lieber von Qualität. Unsere Herstellungsmethoden müssen wir transparent machen, um Verständnis für unsere Preiskalkulation zu schüren. Deshalb ist die persönliche Kundenansprache für uns sehr wichtig. Manchmal laden wir Kunden in unsere Schneiderei ein, um ihnen zu zeigen, wie komplex die Anzugfertigung ist. Danach stellen viele fest: Antonio, eigentlich seid ihr viel zu günstig!“ Doch warum gilt der Kiton-Anzug besser als ein maßgefertigtes Stück von der Savile Row in London? Beim Zuschnitt beginnt der Unterschied:
Kiton-Schneider greifen nicht zum sonst üblichen Papiermodell, sondern binden das Tuch in die Herstellung ein. Mit Schneiderkreide werden die Einzelteile auf dem Stoff aufgezeichnet, dann wird die Form ausgeschnitten und anschließend jedes Teil separat genäht. Per Hand Die Herausforderung liegt dann im Zusammennähen der Einzelteile, wobei die Schulterpartie den schwierigsten Part darstellt. „Wir nennen es den chirurgischen Teil der Schneiderarbeit“, erklärt De Matteis. „Den maßgerechten Übergang vom Ärmel zur Schulter einzuarbeiten, gleicht einer komplizierten Operation.“ Die Schulter bleibt dabei ungepolstert, sodass am Ärmelansatz bewusst Knitterfalten entstehen. Doch dank dieses Kniffs bleibt die Schulterpartie rund und besonders elastisch.
Dank einer hauseigenen Akademie konnte Kiton die Belegschaft verjüngen.
27
118_GF_26-28_Feines_Stoeffchen_neu_Ventura-gelöst.indd 27
01.03.18 09:45
VENTURA 1.2018
Hier zeigt sich der Unterschied zur britischen Maßarbeit. Während die Savile-Row-Schneider mit Einlagen aus Steifleinen und Wattierungen für ein Strukturgerüst sorgen, garantieren bei Kiton allein die sorgsam platzierten Nähte zwischen Tuch und Seidenfutter, dass der Anzug Form und Gestalt annimmt. Zur Signatur gehören auch spezielle Doppelabnäher, die die schlanke Silhouette eines Kiton-Jacketts erzeugen, sowie die bootsförmige Brusttasche – damit das Einstecktuch gut sitzt. Selbst beim profansten Element wird hier Liebe zum Detail zelebriert. So werden die Knopflöcher rund 140-mal mit einem speziellen Rand-
produktion unabhängig zu machen, kaufte Kiton 2010 die Wollweberei Lanificio Carlo Barbera bei Biella im Piemont auf. Dort werden Stoffe für Neapels Edelschneiderei gefertigt. Durch einen Schlaganfall vor einigen Jahren schwer gezeichnet, überlässt Ciro Paone das Geschäft heute seinen zwei Kindern und drei Neffen, darunter Antonio De Matteis. Aber als Patron alten Schlags mischt er auch heute noch kräftig hinter den Kulissen mit. So ermunterte er Tochter Maria Giovanna Paone 2015 zum Launch einer Damenlinie, die den Kundenkreis von Kiton erweitern soll. Und er unterstützt das Expansionsstreben seiner
stich, dem Cordoncino, versehen. Alle Arbeitsschritte eingerechnet, kann ein Jackett 50 Arbeitsstunden in Anspruch nehmen, weshalb eines der beliebtesten Modelle auch K50 heißt. Dass ein Kiton-Jackett trotz dieser Finessen niemals perfekt ist, ist gewollt. „Wenn etwas von Hand genäht wird, dann fällt der eine Ärmelansatz anders aus als der andere“, sagt Ciro Paone, Gründer von Kiton. „Das gibt dem Anzug Individualität. Nach zwei Stunden des Tragens hat sich der Anzug seinem Träger angepasst, denn das Handgeschneiderte gibt im Gegensatz zum maschinell Gefertigten nach.“ Paone entstammt einer Dynastie neapolitanischer Stoffhändler und hatte Kiton 1956 gegründet. 1968 lancierte er das Unternehmen am Markt. In nunmehr fünf Jahrzehnten hat er aus der kleinen Schneiderei mit damals drei Angestellten ein weltweit agierendes Unternehmen mit 700 Mitarbeitern gemacht. 2016 betrug der Umsatz rund 118 Millionen Euro. Um sich bei der Garn- und Tuch-
Arbeitsschritte in Handarbeit sind das Gütesiegel und Markenzeichen der perfekten Kiton-Anzüge.
Nachfolgegeneration. Zu den derzeit 52 Stores weltweit, von denen 4 in Deutschland zu finden sind, sollen weitere hinzukommen. Stolz ist Ciro Paone auch auf die von ihm gegründete hauseigene Schneiderakademie, die das Erbe seiner Zunft für die Nachwelt bewahren soll. „Als wir anfingen, betrug das Durchschnittsalter unserer Schneider 55. Heute liegt es bei 37, was nicht zuletzt an unserer Scuola di alta Sartoria liegt“, so Antonio De Matteis. Als gesichert gilt, dass John Elkann, Vorsitzender des Fiat-Konzerns, George Clooney und Prinz Charles zum Kreis der Kiton-Kunden zählen. Gerüchteweise auch Wladimir Putin und Donald Trump. Doch bei der Frage nach den prominenten Kunden gibt sich Antonio De Matteis zugeknöpft: „Wir nennen aus Prinzip keine Namen. Wenn sich jemand als KitonKunde zu erkennen gibt, freut uns das. Egal, ob dieser Mensch prominent ist oder nicht.“ — Autorin: Yorca Schmidt-Junker
Fotos: Fotonews/Splash News/Renna, Pacific Press/ddp images/360° EDITORIAL
Die vielen kleinen
28
118_GF_26-28_Feines_Stoeffchen_neu_Ventura-gelöst.indd 28
01.03.18 09:45
DAS GEDICHT
1.2018 VENTURA
Die Bäume blühen überall Die Bäume blühen überall, die Blumen blühen wieder, und wieder singt die Nachtigall nun ihre alten Lieder. O glücklich, wer doch singt und lacht, dass auch der Frühling sein gedacht. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874) — Illustration: Lisa Rock
29
118_GF_29_Gedicht_Ventura-gelöst.indd 29
27.02.18 11:53
VENTURA 1.2018
handeln
SEL BST LOS UneigennĂźtzig handeln, sich in die Gesellschaft einbringen: Gutes zu tun, ist vielen ein Anliegen. Dass dabei sowohl rationale als auch profitorientierte Kriterien eine Rolle spielen sollten, ist neu.
30
118_GF_30_31_Ehrenamt_Ventura-gelĂśst.indd 30
27.02.18 11:53
1.2018 VENTURA
M
anche tun es regelmäßig. Manche sporadisch. Manche im großen Stil, andere wiederum mit kleinen Gesten, die mitunter überraschende Wirkungen erzielen können. Die Rede ist von Menschen, die selbstlos handeln und sich zum Wohle anderer engagieren. Zum Beispiel, indem sie das Projekt der Tafeln – kostenlose Mahlzeiten für sozial Benachteiligte – unterstützen und aktiv begleiten. Oder Flüchtlingen bei der Abwicklung bürokratischer Vorgänge helfen. Aktuellen Schätzungen zufolge üben circa 30 Millionen Deutsche ein Ehrenamt aus, angefangen beim Schöffen über den THW-Helfer bis zum freiwilligen Telefonseelsorger oder Streetworker. Dennoch scheint die Bereitschaft so vieler Menschen, sich in die Gesellschaft einzubringen und somit „Gutes“ zu tun, im öffentlichen und medialen Kontext eine eher geringe, ja nahezu unsichtbare Rolle zu spielen. Im Beruf, ja sogar in der Freizeit gelten die Parameter der Profitmaximierung und Selbstoptimierung. So scheint der Homo oeconomicus das Maß aller Dinge zu sein. Der Soziologe Hartmut Rosa hierzu: „Der systemimmanente Steigerungszwang nötigt uns zu einer permanenten Selbstoptimierung, zur unentwegten Akkumulation von ökonomischem, kulturellem, sozialem und körperlichem Kapital.“ Spätestens mit Margaret Thatchers Formulierung, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht gebe, tatsächlich existierten nur Individuen, haben wir unter dem Deckmantel des Neoliberalismus den Weg zur postmodernen Egokultur beschritten. Doch so sehr wir auch vordergründig die Ellenbogenmentalität und den sprichwörtlichen Selfiewahn um uns herum kritisieren: Jenen, die sich dem entgegenstellen und nach
bewusst humanistischen Kriterien handeln, stehen wir oftmals nicht minder skeptisch gegenüber. Und unterstellen ihnen eine gewisse Naivität, „falschen“ Idealismus oder belegen sie mit dem Unwort des Gutmenschen. „Praktizierte Selbstlosigkeit hat in Zeiten von Turbokapitalismus, Sozialabbau und zunehmender gesellschaftlicher Spaltung einen schweren Stand“, weiß Fachmann Rosa. Dabei ist sie angesichts genau dieser Probleme sowie globaler Krisen wie Armut, Hunger und Gewalt wichtiger denn je – und bietet sogar evolutionäre Vorteile. So konnten die Sozialökonomen Thomas Grund und Dirk Helbing von der ETH Zürich in einer komplexen Studie nachweisen, dass Altruisten sich selbst bei einer D ominanz von Egoisten genetisch behaupten und sukzessiv vermehren. Ihre so simple wie verblüffende Strategie: Sie bilden kooperative Einheiten und verschaffen sich verbesserte Lebensbedingungen im Kampf um Ressourcen und eine gesicherte Nachkommenschaft. Damit scheinen die Vertreter des Homo socialis den Egoisten evolutionär und makroökonomisch überlegen. Doch verurteilen sollte man den Homo oeconomicus nicht, denn auch sein Antrieb kann wertvolle Dienste fürs Allgemeinwohl leisten – siehe Großunternehmer wie Bill Gates oder Warren Buffett, die mit ihren Stiftungen Millionen in kari tative Projekte investieren. Dass eine profitorientierte Gesinnung gar die Basis für selbstloses Handeln sein kann, beweist die Avantgarde der neu erstarkten Wohltäter: die effektiven Altruisten. Ihre Vordenker sind die beiden Philosophen Peter Singer und William MacAskill, die sich für eine neue Form des sozialen Engagements aussprechen: weg von rein emotionsgesteuerter, unspezifizierter Hilfe, hin zu
einer monetären Unterstützung, die aufgrund rationaler Kriterien erfolgt. William MacAskill, Professor für Philosophie an der Universität Oxford und Autor des Buches „Gutes besser tun“: „Im Fokus des effektiven Altruismus steht die Frage: Wie kann ich die größte mir mögliche Wirkung erzielen, um möglichst vielen zu helfen?“. Dabei wird nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert, wo Spenden am effektivsten wirken und welche Organisationen kosteneffizient arbeiten. Der latente Appell von MacAskill und seinen Mitstreitern: Verdiene möglichst viel Geld, von dem du möglichst viel, mindestens jedoch 10 Prozent zielgerichtet spendest – und das ein Leben lang. „Wir wollen, dass Empathie sich rechnet und nicht ein willkürliches Individuum, sondern die Ärmsten der Armen gestärkt werden“, erklärt der 30-jährige Oxford- Gelehrte. Genau diese Evaluierung bemängeln einige Kritiker, die den effektiven Altruismus als kalkulierte Nächstenliebe einordnen. Aber trotzdem zollen sie den Ideen von MacAskill Respekt, weil sie an die Verantwortung finanziell privilegierter Menschen appellieren und eine politische Dimension haben, indem sie zur Lösung globaler Probleme beitragen können. Ganz gleich, ob Ehrenamt, sporadische Spende oder effektiver Altruismus: Ein Hauch von Homo oeconomicus kann nicht schaden, um den uns innewohnenden Homo s ocialis zu wecken und auszuleben, denn in der Tat schlagen beide Seelen in unserer Brust. Und mit dieser Erkenntnis lässt sich dann auch die Zerrissenheit zwischen unserem sozialem Gewissen und egoistischen Schüben überwinden. Wie sagte schon Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes – außer man tut es! — Autorin: Yorca Schmidt-Junker
31
118_GF_30_31_Ehrenamt_Ventura-gelöst.indd 31
27.02.18 11:53
VENTURA 1.2018
Plan mit Herz fürs L ebenswerk Wenn mittelständische Unternehmer keine Nachfolger finden, lohnt sich das Nachdenken über Stiftungsmodelle.
A
ls Götz Werner, Gründer der Drogeriemarktkette DM, im August 2010 verkündete, seine Firmenanteile an eine Stiftung zu übergeben, gab es in den Medien dramatische Schlagzeilen wie „Die Kinder gehen leer aus“. Dabei wollte Werner lediglich die Zukunft seines Lebenswerks absichern. „Ich habe meine Anteile in eine Stiftung eingebracht, damit DM auf lange Sicht im Sinne meiner unternehmerischen Intention weitergeführt werden kann“, ließ er mitteilen. Es klang wie eine Rechtfertigung. Völlig zu Unrecht, denn derzeit müssen in Deutschland mehrere Hunderttausend Mittelständler Nachfolgefragen lösen. Oft haben Eigentümer weder Kinder noch andere familiennahe Erben, trauen potenziellen Nachfolgern die Unternehmensführung nicht zu oder wollen Erbschaftsteuern in existenzgefährdender Größenordnung abwenden. In diesen Fällen kann die Eigentumsübertragung auf eine Stiftung der richtige Weg sein, die Firma ohne Substanzverlust zu erhalten. Die Bertelsmann-Stiftung und das Bonner Institut für Mittelstandsforschung schätzen, dass eine von drei solcher Einrichtungen primär deshalb gegründet wird, um die Nachfolge zu regeln. Viele Neustifter seien zwischen 60 und 70 Jahren alt. Dabei spiele der Wunsch, sich gemeinnützig zu engagieren und der Gesellschaft etwas zurückzugeben, auch oft eine Rolle. Andere Manager liebäugeln zwar mit einer Stiftungslösung, scheuen davor aber zurück. Der Grund: Sie wissen nicht, an wen sie sich mit ihren Fragen wenden sollen. Welche Stiftungsart ist die richtige? Welchem Zweck soll sie dienen? Welche Steueraspekte sind zu beachten? Ist der Schritt unwiderruflich? Und: Ab welcher Summe lohnt sich eine Stiftung?
32
118_GF_32_34_Stiftungen_Ventura.indd 32
27.02.18 16:07
1.2018 VENTURA
DAS THEMA „GESELLSCHAFT“ PRÄGT DEN STIFTUNGSSEKTOR 52,0 Verteilung der Stiftungszwecke nach Themen (in Prozent, rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts)
Gesellschaft 34,5 Bildung
Mehrfachnennungen möglich, n = 19 468 Quelle: Datenbank Deutscher Stiftungen, Stand März 2017
32,0 Kunst und Kultur 24,4 Wissenschaft 19,9 Gesundheit und Sport
Illustration: GOOD-BUT-MOUTH/Shutterstock.com
Professor Stephan Schauhoff, Partner der Kanzlei Flick Gocke Schaumburg und Mitglied des Vorstands im Bundesverband Deutscher Stiftungen (BVDS), ist fast täglich mit solchen Fragen befasst. „Es lohnt sich, fachkundigen Rat einzuholen“, sagt er. „Aber es ist auch kein Hexenwerk.“ Der Experte rät vor allem dazu, die passende Stiftungsart sorgfältig auszuwählen. Zur Debatte stehen zwei Formen: die Familienstiftung und die gemeinnützige Stiftung. Bei Ersterer fließen die Erträge der Familie zu, bei Letzterer einem gemeinnützigen Zweck. Die Familienstiftung ist die beste Wahl, wenn viele oder keine geeigneten Kinder vorhanden sind. Die gemeinnützige Variante bevorzugt man, wenn die Unternehmer keine Kinder haben. „Mischformen gibt es nicht“, erklärt Stephan Schauhoff. „Aber man kann bestimmte Vermögensgegenstände der Familie vorbehalten, wenn man eine gemein-
nützige Stiftung gründet. Auf diese Weise ist gewährleistet, dass die Familie nicht leer ausgeht.“ Eine andere Option ist eine Doppelstiftung, also die Gründung einer gemeinnützigen und einer Familienstiftung. Für diesen Weg entschied sich zum Beispiel DM-Patriarch Werner. Mit seiner Donata-Stiftung unterstützt er gemeinnützige Zwecke im Bildungsbereich. Und die DM-WernerStiftung mit den Unternehmensanteilen als Kapitalstock generiert Erträge, die an die Familie ausgeschüttet werden. „Beide Formen lassen sich aus steuerrechtlicher Sicht günstig gestalten“, erklärt Schauhoff. „Das Erbschaftsteuerrecht ermöglicht das.“ Bei gemeinnützigen Einrichtungen sei die Steuerfreiheit garantiert, bei Familienstiftungen gebe es einen Verschonungsabschlag oder eine Vollverschonung. Schauhoff: „Bei kleineren Mittelständlern ist das sogar Standard. Dennoch sind Stiftungen keine grenzenlosen Steuersparmodelle.“
Der Steuervorteil sei der Dank des Staats dafür, dass sich der Mäzen unwiderruflich im sozialen, kulturellen, kirchlichen oder sonstigen gemeinnützigen Bereich engagiere. „Der Entschluss ist nicht umkehrbar. Das muss dem Stifter bewusst sein“, warnt der Experte. „Das Auflösen einer Stiftung ist schwierig. Das geht eigentlich nur, wenn die Fortführung des Stiftungszwecks nicht mehr gewährleistet ist.“ Bei gemeinnützigen Zwecken sei dieser Nachweis fast unmöglich zu erbringen. Bei Familienstiftungen ließen sich eher Gründe finden, berichtet Stephan Schauhoff. Er rät seinen Mandanten, eine Regelung in die Satzung aufzunehmen, die präzisiert, unter welchen Voraussetzungen die Stiftung aufgelöst oder in eine Verbrauchsstiftung umgewandelt werden darf, bei der das Stiftungsvermögen und nicht nur die Erträge für die Stiftungszwecke verbraucht werden kann. 33
118_GF_32_34_Stiftungen_Ventura.indd 33
27.02.18 16:07
VENTURA 1.2018
»DER ENTSCHLUSS IST NICHT UMKEHRBAR – DAS MUSS DEM STIFTER BEWUSST SEIN«
Überhaupt ist das Ausarbeiten einer Satzung keine Sache, die man im Vorbeigehen erledigt. Bei gemeinnützigen Stiftungen muss ein Zweck formuliert werden. In Deutschland stehen hier Bildung, Erziehung und Studentenhilfe mit 34,5 Prozent an erster Stelle, gefolgt von Kunst und Kultur mit 28,6 Prozent. Für Umwelt- und Naturschutz engagieren sich 12,2 Prozent, für Völkerverständigung 7,4 Prozent. Die Arbeit als Gönner könne sehr erfüllend und facettenreich sein, heißt es beim BVDS, aber sie sei Arbeit. Der Wille allein, Gutes zu tun, sei nicht immer ausreichend. Stifter sollten über die Ziele, die sie mit der Stiftung verfolgen wollen, gründlich nachdenken, rät Schauhoff. Im Idealfall wählt der Gönner einen Zweck aus, der auch seine persönliche Passion ist. Derzeit verdoppelt sich die Zahl der Stiftungen in Deutschland laut BVDS etwa alle zwölf Jahre. Der Verband begrüßt diesen Trend, mahnt aber an, dass sich das Stiftungswesen weiter professionalisieren sollte. Das Stiftungsrecht ermögliche Stiftern die höchst individuelle Satzungsgestaltung und Ausrichtung. Auch die Transparenz des Stiftungshandelns wird ganz unterschiedlich gelebt, was auch zulässig ist. Einige möchten ihr gemeinnütziges Handeln nicht bekannt werden lassen. Andere fürchten, dass die Veröffentlichung des Stiftungsvermögens Rückschlüsse auf ihr Privatvermögen zulasse. Gedanken müssen sich angehende Stifter auch frühzeitig über das Thema Kapitalanlage machen, denn eine Stiftung darf nur die Erträge, nicht aber das Vermögen ausgeben. In Zeiten niedriger Zinsen ist das kein einfaches Thema. Es soll schließlich möglichst viel Rendite erwirtschaftet werden, die dann ausgeschüttet wird. Gleichzeitig ist Kapitalerhalt das oberste Gebot. „Die Anlagegrundsätze kann der Stifter in der Satzung vorab festlegen oder dies den Organen ausdrücklich überlassen“, erläutert Schauhoff. 2017 gelang es etwa jeder fünften Stiftung hierzulande nicht, nach Abzug aller Kosten eine Rendite zu erwirtschaften, die oberhalb der Inflationsrate lag.
Trotz dieser Herausforderungen ermutigt der BVDS- Experte zur Gründung einer Stiftung, wenn Mittelständler mit Nachfolgeproblemen konfrontiert würden, und sagt: „Es ist eine sehr gute Alternative zum Verkauf der Firma. Ihr Bestand lässt sich zeitlich unbegrenzt sichern, wenn eine kluge Stiftungsorganisation mit einer guten Corporate Governance für die Firma verbunden wird. Gerade für Unternehmer, die selbst Gründer waren, ist das auch emotional sehr wichtig.“
WACHSTUM AUCH IN ZEITEN VON NIEDRIGZINSEN Stiftungsbestand 2010–2016 (rechtsfähige Stiftungen des bürgerlichen Rechts)
21 806
Quelle: Umfrage unter den Stiftungsaufsichtsbehörden, Stichtag 31. Dezember 2016
20 784
19 551
18 162
— Autor: Günter Kast
34
118_GF_32_34_Stiftungen_Ventura.indd 34
2010
2012
2014
2016
27.02.18 16:07
Wilhelm Busch hinterließ der Welt die Geschichte von Max und Moritz. Auch wenn Sie kein berühmter Dichter sind: Sie können etwas Bleibendes für die Nachwelt schaffen. Mit einem Testament oder einer Stiftung zugunsten von UNICEF. Wir informieren Sie gern: UNICEF, Höninger Weg 104, 50969 Köln, Tel. 0221/93650-252, www.unicef.de.
Kunst kaufen ist einfach ! Bei uns finden Sparkassen, Unternehmen und Privatpersonen die Kunst, die zu ihnen passt. Entdecken Sie unser neues Angebot unter www.dsvkunstkontor.de oder besuchen Sie uns in unseren Stuttgarter Galerieräumen.
Besuchsadresse: DSVKUNSTKONTOR Industriestr. 68 70565 Stuttgart
Anzeige_DSVKK_Ventura_210x280_2017_RZ.indd 1
Tel.: +49 711-782-1566 Fax: +49 711-782-1294 kunstkontor@dsv-gruppe.de www.dsvkunstkontor.de
Öffnungszeiten: nach Vereinbarung Offener Verkaufstag jeden ersten Mittwoch im Monat (außer Januar), von 12-18 Uhr
18.09.17 17:06