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Der britische Schauspieler Cary Grant pflegte über viele ahrzehnte das Image des selbstironischen Weltmanns J
Der perfekte GENTLEMAN Warum wir uns wieder nach Stil, Höflichkeit und Haltung sehnen
Editorial
Traditionelle Werte bewahren und einer guten Sache dienen
Ralf Kustermann, stv. Chefredakteur Deutscher Sparkassenverlag ralf.kustermann@dsv-gruppe.de
Als Jules Verne 1873 seinen Helden Phileas Fogg in „80 Tagen um die Welt“ schickte, schuf er den Archetyp des Gentlemans. Dieser reift auf einer abenteuerlichen Reise vom gebilde ten, tadellos gekleideten und auf Konventionen bedachten Exzentriker zum mutigen, toleran ten und weltoffenen Protagonisten. Literarisch überzeichnet, definiert er einen Charakter, den wir mit dem modernen Ehrenmann verbinden. Hollywood verfilmte den Roman 1956 mit David Niven als Phileas Fogg und brachte – nicht zum ersten Mal – einen Ehrenmann auf die Leinwand, der seine Rolle zur Lebens einstellung machte und dafür verehrt wurde. Niven steht in einer Reihe mit Filmstars wie Fred Astaire, Cary Grant oder Gregory Peck. Sie begeistern durch Stil und Souveränität, Takt und Toleranz, Höflichkeit und Haltung. Selbstverständlich existiert der Gentleman nicht nur im Film, doch finden wir ihn dort am häufigsten. Ob er das Gegenbild zu einem Alltag ohne Werte ist? Ob Akteure authentisch sein können oder wir unsere Sehnsüchte auf sie pro jizieren? Gerne betrachten wir Filmstars und in ihrem Handeln das Wahre, Gute und Schöne.
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Ebenso bemerkenswert: Philosophen wie Kon fuzius, Sokrates oder Platon beschäftigten sich bereits vor Jahrtausenden mit dem „Edelmann“ als Ideal und Garant einer guten Gesellschaft. In unserer Titelgeschichte ab Seite 4 widmen wir uns dem Phänomen des Gentlemans. Wir er klären, was ihn auszeichnet, wie er traditionelle Werte bewahrt, ohne antiquiert zu erscheinen, und warum wir uns heute mehr denn je nach ihm und seinen Repräsentanten sehnen. Er ist hoch engagiert, dient der Sache und nimmt sich stets angenehm zurück. Eine Begegnung mit ihm löst Vertrauen aus und gibt dem Gegen über ein gutes Gefühl. Wir im Private Banking Ihrer Sparkasse teilen seine Ideale und wid men uns mit Überzeugung und Sorgfalt Ihren Vermögenswerten. Damit schaffen wir Ihnen Freiraum für die schönen Dinge des Lebens. Eine anregende Lektüre wünscht
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Inhalt
04 Vorbild der Gentlemen: Die Figur des John Steed aus „Mit Schirm, Charme und Melone“ vertraute stets auf Wortwitz an der Seite von Emma Peel.
26 Aufgalopp der Sieger: Pferdezüchter tragen zum Erfolg
Fotos: interTOPICS/mptv/360° EDITORIAL, Juniors Bildarchiv, Goetz von Sternenfels/AUTO BILD Cover: Bettmann/Getty Images
der deutschen Reitsportler bei.
04 Die Rückkehr des Gentlemans Unsere Sehnsucht nach kultivierten und leisen Männern wächst angesichts der rüden Umgangsformen auf den politischen Bühnen. In diesem Umfeld verhandeln wir ganz öffentlich über den Gentleman und seine Attribute. Obgleich seine Domäne Literatur und Film sind, gibt es erfreulicherweise noch immer einige reale Vertreter. 10 Neues Leben für alte Werke Restauratoren bewahren Kunstschätze vor dem Verfall der Zeit. Ihre Arbeit und Methoden erinnern an Kriminologen oder Mediziner. Mit aller Vorsicht, voller Leidenschaft und Geduld arbeiten sie akribisch an wertvollen Kulturgütern. 14 Das Märchen von Meissen Seit mehr als 300 Jahren stellen Kunsthandwerker in der Manufaktur Meissen hochwertiges Porzellan her. Sie können auf bewährte Rezepturen und 800 000 verschiedene Formen zurückgreifen.
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16 Der Ton macht den Konflikt Mystisch, historisch oder martialisch – von Wettstreiten und Kriegen, die große Komponisten auf die Bühne brachten. 20 Genuss-Raritäten Für kulinarisch Weltoffene wird die Speisekarte immer größer. Manches bekommen sie aber nur auf Reisen.
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Kolumne Das Gedicht Kunst Die wunderbare Welt der Farben 34 Ein Bild und seine Geschichte 34 Impressum
24 Fabelhafte Klangexoten In Konzertsälen werden Nyckelharpa, Spazierstockflöte und Theremin selten gespielt, dabei bieten sie Hörgenuss. 26 Mit Ross und Reiter Deutsche Reiter feiern seit Jahrzehnten Erfolge auf internationalen Turnieren. Ihre Siege gründen auf h arter Arbeit, Erfahrung und einem rigiden Prüfsystem. 30 Die Zeit der Pioniere Der Markt für Elektromobilität wächst. Dabei dominierten vor hundert Jahren Autos mit Stromantrieb die Straßen.
30 Antrieb der Zeit: Autos mit Elektromotoren waren einst sehr beliebt.
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ohn Steed Die Figur des britischen Agenten und MusterGentleman verabscheute Gewalt, wahrte lieber die Etikette und vertraute auf Charme und Wortwitz an der Seite von Emma Peel.
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Die Rückkehr des
Gentlemans Nicht die äußere Hülle oder spezielle Formalien definieren den Gentleman, sondern seine innere Haltung. Ein Plädoyer für ein Männerbild, das in allzu lauten Zeiten eine Lanze für das Leise und Weise bricht.
Foto: interTOPICS/mptv/360° EDITORIAL
:: Von Yorca Schmidt-Junker
„Mit Schirm, Charme und Melone“ heißt die beliebte TV-Serie der 60er-Jahre, die im Krimi- und Actiongenre spielte und mit dem Agentenduo John Steed und Emma Peel heute Kult ist. Patrick Macnee verkörperte einen ultrabritischen Gentleman. Ein wenig blasiert und überaus kultiviert, waren Scharfsinn und Ironie seine stärksten Waffen im Kampf gegen Gefahren und Verbrechen. Seine Insignien in Form von Schirm, Bowler Hat und obligatorischem Dreiteiler samt Krawatte suggerierten selbst im Angesicht des Todes noch Eleganz und Haltung – der Gentleman bleibt innerlich wie äußerlich stets aufgeräumt in seiner Mitte. Titelheld John Steed zeigte über mehrere Jahre unkultivierten, form- und stillosen Nicht-Gentlemen ihre Grenzen auf. Ein nicht minder kontrastreiches Programm liefert heute die Hochpolitik. Da poltert einer, rüpelt und präsentiert alternative Fakten. Ein anderer besticht mit bedachten Worten, liberalen Gedanken und humanitärer Gesinnung. Und während der Erste sich unablässig in Rage twittert, verbreitet der Zweite ein Foto, das ihn läs-
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sig in perfekter Yogapose auf dem Kabinettstisch zeigt. Die öffentlichen Auftritte von US-Präsident D onald J. Trump und Kanadas Premierminister Justin Trudeau könnten kaum unterschiedlicher sein. Präsidentengattin Melania Trump bezeichnet ihren Ehemann dennoch als Gentleman, während das Feuilleton diskutiert, ob das Realsatire, Mythomanie oder eine „postfaktische“ Größe ist. Die Debatte um den Gentleman erlebt eine Renaissance – und überrascht nicht. Auch Politmänner wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan oder der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders und ihre verbalen Ausfälle steigern unser Verlangen nach dem viel zitierten Gentleman. Wir schwelgen in wehmütigen Erinnerungen an Männer in Amt und Rampenlicht, die Stil und klare Kante zeigten. Und erfreuen uns am Regierungschef aus Ottawa. Handelt es sich um ein punktuelles Phänomen oder ein universelles, kulturevolutionäres Begehren? Warum sehnen wir uns nach den leisen, kultivierten und in sich ruhenden souveränen Männern? Gibt es
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red Astaire Der US-Amerikaner war ein Allroundtalent und zählte zu den Begründern des Tanz- und Musicalfilms. Seine Stepptanznummern mit Ginger Rogers sind weltberühmt. Eleganz, Stil, Ausdruck und Körperbeherrschung machten ihn zum tanzenden Gentleman.
sie wirklich oder suchen wir idealisierte Muster? Auffallend ist, dass viele von ihnen auf der Kinoleinwand agieren. Filmstudios und Drehbuchautoren bedienen gerne unsere Vorliebe für noble und korrekt handelnde Figuren. Sie projizieren sie regelrecht in Fiktionen. Nicht immer differenziert das Publikum zwischen Rolle und Darsteller. So mancher Star wird davon geradezu verfolgt. Doch begleiten sie uns über Jahrzehnte und bieten Werte, Haltung und Halt. Martin Oßberger, Wissenschaftler, Autor und Mitglied von Treffpunkt Philosophie, einer Schule, die den Praxisbezug zur Philosophie sucht und einen Gentle men Club bietet: „Die großen Theorien der Moderne wie Kommunismus und Kapitalismus scheinen ausgeträumt, und auch die Idee der Demokratie stößt an Grenzen. Das schürt die Sehnsucht nach dem sinnbildlich starken, edlen Mann, der Problemen entgegentritt und Lösungen aufbietet.“ Damit meint er explizit nicht den Despoten oder Autokraten, sondern die „schöne Seele“; ein Begriff, der auf Sokrates zurückgeht. Viele Philosophen beschäftigten sich mit dem Edelmann, der über Jahrhunderte als Ideal gelten sollte. Konfuzius sprach in seiner Anthologie vom Chün-Tzu, dem durch Geburt, Charakter und Benehmen überlegenen Mann mit hoher Moral, ausgeglichenem Temperament und Selbstkontrolle. Gleichgültig gegenüber Erfolg wie Misserfolg, dient er der höheren Sache und handelt nie aus Kalkül oder Egoismus. Platon erweiterte diese Vorstellung um den Aspekt der Schönheit, wo vollkommene Körperproportionen, Bewegungsabläu-
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fe sowie angemessene Kleidung ebenso relevant sind wie Großherzigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufrichtigkeit. „Vom Schönen, Weisen und Guten nähren sich und an diesem wachsen die Flügel der Seele. Am Hässlichen und Bösen welken sie und fallen ab“, lautet ein Zitat Platons, das als Blaupause des antiken Gentlemans gedeutet werden darf. Der Philosoph Martin Scherer liefert in seinem Buch „Der Gentleman: Plädoyer für eine Lebenskunst“ einen zeit genössischen Ansatz. Dort heißt es: „Hinter dem Gentleman verbirgt sich – ausgesprochen oder nicht – eine Lebenskunst, in der sich in besonderer Weise Reflexion und Erfahrung, stolze Einsamkeit und soziale Kultur verdichten.“ Dieser Lebenskunst spürten neben den Philosophen auch große Schriftsteller nach. Shakespeares Tragödien und Komödien stellten etwa dem Bösewicht immer einen Gentleman als Antagonisten zur Seite. Mit seinem Frühwerk „The Two Gentlemen of Verona“ verewigte er den Charakter um 1510 in der Weltliteratur. Auch Cervantes’ tragischer Ritter Don Quijote, den Oßberger einen „verkannten Gentleman“ der Literatur nennt, darf getrost als solcher bezeichnet werden, kämpft er im Glauben an die Liebe und Gerechtigkeit doch bedingungslos und voller Stolz für das Gute – allen Widrigkeiten und Schmähungen zum Trotz. Die Geburtsstunde des neuzeitlichen Gentlemans markiert Phileas Fogg in Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“. Der 1873 veröffentlichte Roman liefert das Muster zur Gentleman-Werdung. Fogg ist am Anfang der Geschichte ein respektabler Repräsentant der britischen Upperclass: wohlhabend, gebildet, distinguiert, pünktlich, anspruchsvoll gegen sich und andere, aber auch ein wenig eingefahren, entrückt und spleenig. Ein Gentleman? Vordergründig ja. Aber zu den wahren Tugenden des edlen Mannes findet Fogg erst durch seine irrwitzige Wette und die anschließende Hatz
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Der Brite zählt bis heute zu den Top-Filmstars und pflegte mit Selbstironie sein Image eines gut situierten Weltmannes.
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avid Niven Über mehrere Jahrzehnte war der Darsteller mit der Rolle des britischen Gentlemans verbunden. Zuschauer
Fotos: Silver Screen Collection/Herbert Dorfman/John Springer Collection/Kontributor/Getty Images, Album/akg-images
und Filmstudios gewährten ihm kein anderes Image.
um den Globus, denn er muss seine Komfortzone verlassen und mit dem wahren Leben konfrontiert werden, um zum wirklichen Gentleman zu reifen. Zu einem Mann, der sukzessiv Standesdünkel, Steifheit und anfänglichen Narzissmus ablegt und an Eigenschaften wie Mut, Souveränität, Toleranz und Mitgefühl gewinnt. Zudem thematisiert Verne die Zeit, einen wichtigen und heute sehr aktuellen Aspekt des Gentleman-Seins. Laut Scherer lässt dieser sich nicht fremdbestimmt seine Zeit stehlen, sondern nutzt sie selbstbestimmt, um Situationen und Menschen mit Zuwendung und Respekt begegnen zu können. Das muss auch der c h ro n i s c h unter einem Zeitmangel leidende Phileas Fogg auf der Hetzjagd lernen, und er überwindet als vollendeter Gentleman nicht nur Kontinente und damit Raum, sondern auch die Zeit. Ein Talent, das auch Arthur Conan D oyles Kreation Sherlock H olmes auszeichnet. Als streng analytischer Geist und genialer Beobachter ist der Meisterdetektiv ein Zeit- und Raum-Lasser, der weder Konfrontation und Regel bruch noch Grenzüberschreitung scheut, um für das Wahre und Gute zu kämpfen. Obwohl extrem selbstbewusst und ichbezogen, was zwischen Anflügen von Autismus
und leiser Arroganz oszillieren kann, bleibt Holmes doch immer höflich, würdevoll und voller Respekt gegenüber Verbündeten wie Gegnern. Als Kompensation für seine kontrollierten Emotionen bedient er sich der Ironie; ein weiteres Gentleman-Merkmal, über das Scherer sagt: „Wenn der Zynismus eine Attitüde der Macht ist, dann ist die Ironie ein Signal der Humanität.“ Anders formuliert: Obwohl ein Gentleman wie Sherlock Holmes um die Malaisen der Welt weiß, reagiert er nicht mit Resignation, Wut oder dystopischer Gesinnung, sondern mit subversivem Humor und gelassener Distanz, was weniger allgemeiner Nüchternheit als vielmehr einer Art von bewusstem Trotz zuzuschreiben ist. Mit der Technik des Films verlagerte sich der GentlemanKult im 20. Jahrhundert von der Literatur zur Leinwand und zum Boulevard. Oßberger: „Das Kino hatte von Anbeginn die selbst gestellte Aufgabe, die Menschen zu verzaubern. Keine Figur eignete sich daher besser für die Ausgangsidee einer Heldenerzählung als der Gentleman.“ Der Protagonist durchläuft in 90 Minuten eine Entwicklung, die Drehbuchautoren als „Hero’s Journey“ bezeichnen und an deren Ende er den Nimbus des geläuterten, edlen Mannes erlangt hat. James Stewart, Cary Grant, Gary Cooper und Rock Hudson etwa verkörperten diesseits wie jenseits des Zelluloids das Bild vom perfekten Gentleman. Oder versuchten es, oft auf Anraten ihrer PR-Agenten und Studiobosse, die so ein Saubermann-Image ihrer Stars forcieren wollten. War der Gentleman Jahrhunderte zuvor in Philosophie und Literatur ein eher intellektuell geprägtes Wunschbild gewesen, wurde er mit der Filmindustrie zum popkulturellen Phänomen. Womit sich die Frage stellte, inwieweit der Gentleman auch zu einer Fiktion und Projektion wurde,
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regory Peck Der Kalifornier galt als vielseitiger Charakterdarsteller und Gentleman, beeindruckte im Film und Privaten durch sein integres, engagiertes und verbindliches Auftreten.
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enedict Cumberbatch Der hoch gehandelte Brite zählt zur neuen Generation der Gentlemen und brilliert in der Serie „Sherlock“, basierend auf Arthur Conan Doyles Detektiv-Ikone.
die sich, b edingt durch ein Rollenmuster, vom Film auf den Schauspieler als Menschen übertrug – und umgekehrt. Cary Grant, den Regisseur Alfred Hitchcock in Filmen wie „Der unsichtbare Dritte“ und „Über den Dächern von Nizza“ zum Prototyp des Gentlemans stilisierte, schien auch privat immer mehr mit dem von ihm dargestellten Edelmann zu verschmelzen: immer elegant, weltgewandt, diskret und erfrischend selbstironisch. Sein Zitat „Jeder wäre gerne Cary Grant. Sogar ich“ bringt diese Schizophrenie zwischen Kunstfigur und Mensch mehr als deutlich auf den Punkt. Auch an David Niven klebte das Image des Gentlemans, nicht zuletzt dank seiner Darstellung des Phileas Fogg in der legendären Verfilmung von „In 80 Tagen um die Welt“ von 1956. Niven stammte aus bestem Haus, hatte eine Offiziers laufbahn im Hintergrund, galt als Kriegsheld und integrer Familienmensch mit sozialem Gewissen – wie geschaffen für die Rolle des Gentlemans. Doch kaum ein Star des 20. Jahrhunderts verkörperte und lebte den Gentleman so authentisch wie Gregory Peck. Der Kalifornier war bekennender Pazifist, engagierte sich zeitlebens für die Rechte von Afro amerikanern und gegen Atomwaffen, unterstützte Initiativen zum Tierschutz und wählte seine Rollen oft nach sozial und politisch relevanten The-
men aus, um so subtil für Liberalität und Humanität zu werben. Die von ihm dargestellte Figur des aufrechten Anwalts Atticus Finch in „Wer die Nachtigall stört“, der einen zu Unrecht der Vergewaltigung angeklagten Schwarzen verteidigt, wurde 2003 vom American Film Institute zum größten Leinwandhelden aller Zeiten gewählt. Peck, für diese Rolle mit dem Oscar gekrönt, hatte das Talent, beruflich wie privat immer alles richtig zu machen, weshalb ihn Publikum und Kritiker gleichermaßen verehrten und Weggefährtinnen und -gefährten wie Ingrid Bergman, Martin Scorsese, Audrey Hepburn, Kirk Douglas und Sidney Poitier, der als Hollywoods „leading black gentleman“ galt, unisono als „einen wunderbaren Menschen“ bezeichneten und ihn für seine Großzügigkeit, seinen Humor, seine Herzlichkeit und seinen Geist rühmten. Noch dazu erfüllte Gregory Peck den platonschen Anspruch der äußeren Schönheit – was ihn bis heute zu einem Inbegriff des real existierenden Gentlemans macht. In Deutschlands Filmlandschaft avancierten Curd Jürgens, Oskar Werner und Karlheinz Böhm zu Heroen der Gentleman-Kultur. Eine nahezu drehbuchreife GentlemanEntwicklung durchlief dabei zweifelsohne Mario Adorf. Zunächst fast nur auf Schurkenrollen und zwielichtige Figuren abonniert, reifte er im Laufe der Jahrzehnte zu einem Charakterdarsteller und Edelmimen, der gleichsam als Mensch glänzt. Seine diskrete Eleganz, das wohltuend Unaufgeregte, seine immerwährende Höflichkeit und Bescheidenheit, seine kosmopolitische Gesinnung sowie sein stabiles Privatleben, frei von Skandalen und sonstigen Auf-
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ario Adorf Der in Zürich geborene Darsteller spielte zu Beginn seiner Karriere überwiegend Filmschurken. Heute zählt er zu den beliebtesten deutschen Akteuren, mimt gerne den Patriarchen und gilt als Ehrenmann.
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ustin Trudeau Kanadas Premierminister gilt als attraktiv, redegewandt und sympathisch. Auch in schwierigen Phasen zeigt er Werte und Haltung. Als moderner
Fotos: Visual China/all4prices/100 Pro, Edouard BERNAUX/Luca Teuchmann/Kontributor/Getty Images, imago/Future Image/100 pro imago
Gentleman ist er Feminist und fordert die Gleichberechtigung der Frau ein.
fälligkeiten, qualifizierten ihn für die „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ und bewiesen eindrucksvoll, dass Haltung und Wirkung nichts mehr mit der über Jahrhunderte verbreiteten elitären Herkunft zu tun hatten. Mario Adorf, als nicht eheliches Kind in den 1930er-Jahren in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist der Prototyp des emanzipierten, neuzeitlichen Edelmannes, von dem Martin Scherer sagt: „Der Gentleman repräsentiert die hohe Kultur, aber nicht unbedingt die Upperclass. Er ist vielmehr ein klassenloses Ideal.“ Ebenso liberalistisch mussten die Macher der eingangs erwähnten Kultserie „Mit Schirm, Charme und Melone“ gedacht haben, als sie ihren Gentleman Steed als Kunstfigur der Pop-Ära schufen. Zweifelsohne ist er ein Vertreter der Eigenschaften, die den zeitgenössischen Gentleman ausmachen. Die ultraemanzipierte Emma Peel behandelt er als vollkommen gleichwertige Partnerin. An ihrer Seite ist er es, der weibliche Eigenschaften offenbart. Martin Oßberger beobachtet: „Der Gentleman erkennt die Qualitäten seines Geschlechts, reichert es um vermeintlich weibliche Tugenden an. So erscheint er als übergeordnetes Wesen, das Mut, Klarheit und emotionale Kontrolle mit Wärme, Anteilnahme und Mitgefühl in sich vereint.“ Hierzu passt, dass Oßberger zunehmend vor allem jungen Männern in Workshops diese Tugenden und die erweiterte Lebenskunst des Gentlemans nahebringt – und damit auch ein Stück zur
Selbstfindung und der Debatte um eine neue Definition des Mannseins beiträgt. „Die Rolle des Mannes erscheint durch die fortwährende Diskussion um Frauenförderung, Frauenquote und Gleichstellung zunehmend aufgeweicht und diffus. Männer müssen lernen, sich in einer immer komplexer werdenden Welt und deren soziokulturellen Kontexten neu zu positionieren“, sagt Oßberger. Die Gentleman-Werdung könnte demnach eine Art von männlicher Emanzipation und Selbstverwirklichung darstellen, die gleichermaßen Rückkehr wie Aufbruch zu zeitlosen Werten und Tugenden bedeutet. Die neuen Gentlemen wie die Schauspieler Ryan Gosling und Benedict Cumberbatch leben das vor. Sie bekennen sich ganz selbstverständlich zu Feminismus und Vielfalt, setzen sich für liberale Werte ein und bestechen mit Klugheit, Weitsicht, Selbstironie und exzellentem Benehmen, sind dabei aber selbstbewusst, fordernd, kämpferisch und anspruchsvoll. Was uns zurück zur Politik bringt. Sind Gentleman- Tugenden hier wirklich dienlich? Oder zählt in diesem Fach mehr ein gewisser Machiavellismus? Fakt ist, dass moralische Qualitäten, über die beispielsweise ein Nelson Mandela, ein Winston Churchill oder ein Helmut Schmidt verfügten, schnell an Grenzen stoßen, wenn ein Gegenüber sie fortwährend bedroht oder – um im Bild zu bleiben – wenig schicklich mit Füßen tritt. Das sprichwörtlich reine Herz als „Zentrum des Gentlemans“ hat es in der Politik schwer. Aber Männer wie Justin Trudeau oder Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, lassen uns hoffen, solange sie mit Wärme, Anteilnahme und Aufrichtigkeit, taktischem Geschick und gesundem Kalkül zwischen Richtig und Falsch abwägen und dafür einstehen. Dann erinnern wir uns wiederum an den Charakter von John Steed, der in jeder Situation Haltung zeigte und sie mit Souveränität nach außen ausstrahlte.
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ofi Annan
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Der Diplomat aus Ghana war bis 2006 Generalsekretär der Vereinten Nationen und hatte 2001 den Friedensnobelpreis für Geschick und Engagement erhalten.
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Neues Leben für alte Werke Hüter der Historie. Sie retten mittelalterliche Fresken, gotische Bauten und impressionistische Gemälde – mit persönlichem Einsatz und viel Liebe zum Detail. :: Von Birga Teske
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Ehrfürchtig betrachten Kunstinteressierte alte Gemälde, Fresken oder Skulpturen auf Burgen, in Schlössern und Museen. So bewundern Besucher der Kirche San Marco in Florenz ein Fresko von Giovanni Antonio Sogliani von 1536. Es zeigt – angelehnt an das letzte Abendmahl Christi – zwölf Dominikanermönche des Klosters, die der Maler individuell porträtierte. Ein Kunstschatz, der gegenwärtig ist, doch nagt an ihm der Zahn der Zeit. Nur Klimavorkehrungen und Restaurationen schützen ihn vor dem schleichenden Verfall. Anne Levin zählt zu den Hütern alter Kulturgüter und arbeitet als Gemälderestauratorin bei der Klassik Stiftung Weimar. Dort ist sie für 3000 Werke aus 20 Museen zuständig. Obwohl die meisten Objekte gut klimatisiert im Depot lagern, kennt Levin den Zustand und die Maße aller Schätze, denn erst 2014 zog der Großteil der Ölbilder, gemeinsam mit weiteren Kunstgegenständen, in ein neues Gebäude. Jedes einzelne wurde zuvor vermessen, gereinigt und fotografiert, einige davon konserviert. Generell ist es ruhiger, doch nie langweilig. Levin: „Als Restaurator ist man eine Mischung aus Kriminologe und Mediziner.“ Wie ein Detektiv müsse man herausfinden, welche Schäden ein Werk aufweise und wie sie entstanden seien. „Ist es ein Riss oder ein Schnitt oder gab es einen Stoß?“, erklärt sie. Von der Analyse, so Levin, hänge die Behandlung ab. Wurde eine Leinwand überdehnt, muss die Stelle geschrumpft werden – ein aufwendiger Prozess. Bei einem alten Riss hingegen sind die Ränder häufig auseinandergealtert und können nur über einen längeren Zeitraum vorsichtig wieder zusammengeführt werden. Hier ist viel Geduld gefragt. Eine Eigenschaft, die die 3000 zertifizierten Restauratoren in Deutschland verbindet. „Unsere Mitglieder teilen eine Leidenschaft für Kunst, Kulturgüter und Materialien“, betont Patricia Brozio, Sprecherin beim Verband der Restauratoren mit Sitz in Bonn. „Sie versuchen, mit kleinstmöglichem Eingriff größtmögliche Wirkung zu erzielen.“ Die Belohnung ist ideeller Art. „Restauratoren dürfen Objekte anfassen, die sonst niemand berühren darf, und sie tragen eine hohe Verantwortung für Werke, die unwiederbringlich sind“, sagt Brozio. Vor der Arbeit wird geprüft: Wie alt ist das Objekt? Welche Materialien wurden verwendet? Gab es früher schon einmal eine Restaurierung?
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Und wie ist das Schadensbild? Allein das Konzept für eine Restaurierung zu erstellen, kann viel Zeit beanspruchen. Geht es um das Werk eines namhaften Künstlers, diskutieren meist mehrere Restauratoren und Kunsthistoriker in einem Komitee über Mittel und Methoden – oft kontrovers. Dabei sind Eingriffe längst nicht so invasiv wie noch vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Restauratoren sahen sich früher selbst als Künstler und ergänzten fehlende Fragmente aus subjektiver Sicht. Levin: „Restauriert im Sinne von wiederhergestellt oder ergänzt wird heute, wenn der ursprüngliche Zustand belegbar ist. Zudem müssen alle Eingriffe reversibel sein und dokumentiert werden.“ Noch im 20. Jahrhundert führte man einschneidende Veränderungen durch. So trennte man etwa die Malerei von Holztafelgemälden ab und brachte sie auf neue Bildträger auf, um Schäden durch Holzwürmer zu vermeiden. Oder man klebte Ölgemälde mit einem Gemisch aus Wachs und Harz auf eine zweite Leinwand – e ine Technik, bei der warme Klebmasse durch das Gewebe sickert und Originalfarben verdunkelt. Heute existieren Untersuchungsmethoden, die Einblicke in Kunstwerke geben, ohne sie zu beschädigen, etwa durch Auflicht, Streiflicht oder Durchlicht, Infrarot- und Röntgenstrahlen oder UV-Licht. Um Malschichten genau zu untersuchen oder Bindemittel zu analysieren, entnehmen Restauratoren in Ausnahmefällen mikro skopisch kleine Proben per Skalpell. Wenn sie eingreifen, dann nur, um den Verfall aufzuhalten. Es werden Risse geschlossen, Oberflächen gereinigt oder Farbschichten befestigt. Dem ungeübten Auge fallen solche minimalen Eingriffe selten auf. Ein Problem, wie Stefanie Göltz weiß. Die 25-Jährige studiert Konservierung und Restaurierung von Gemälden und gefassten Skulpturen an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ein längeres Pflichtpraktikum absolvierte sie vor Beginn der Hochschulausbildung, nun sammelt sie in den Semesterferien weitere Erfahrungen. Zuletzt unterstützte sie ein Restaurierungsprojekt an der Dreifaltigkeitskirche in Speyer. Im Oktober wird das Gotteshaus aus dem 18. Jahrhundert wiedereröffnet werden. Der Aha-Effekt bei den Kirchgängern könnte ausbleiben. Göltz: „1929 wurde die K irche letztmals groß renoviert
Moderne Prüfgeräte: Eine Restauratorin kontrolliert die Beschaffenheit eines wertvollen Freskos.
Handarbeit: Ein Restaurator prüft das Fresko von Sogliani in der San-Marco-Kirche in Florenz. Das Werk begeistert durch die individuellen Gesichtszüge der damals im Kloster lebenden Mönche.
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Dichtererinnerung: das 2014 fertig res taurierte WielandZimmer im Stadtschloss Weimar (Bild oben) sowie Anne Levin von der Klassik Stiftung bei der mikroskopischen Arbeit an einem Gemälde (Bild unten).
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Jedes Kunstwerk stellt spezifische und oft auch neue Anforderungen. Levin: „Der Wert oder persönliche Geschmack ist nicht entscheidend.“ Sie sieht ein Gemälde wie ein Arzt einen Patienten und sagt: „Der liebt vielleicht nicht jeden Kranken, kümmert sich aber trotzdem um alle.“ Und ähnlich wie die Mediziner pflegen auch die Restauratoren ihre eigenen Ethikgrundsätze. Als eine Art „Grundgesetz“ für den Berufsstand Restaurator gilt die 1964 von Architekten und Denkmalpflegern verabschiedete Charta von Venedig. Sie fordert Respekt vor Kulturgütern und ihrer Integrität. Nach dem Zweiten Weltkrieg drohten zahlreiche Baudenkmäler in Europa der Modernisierung geopfert zu werden. In vielen Fällen schien eine Rettung kaum noch möglich, zumal viel Wissen um traditionelle Handwerkskunst und alte Materialien verloren gegangen war. Der Warnruf der Experten brachte die Wende. In mühevoller Arbeit eigneten sich einzelne Betriebe die althergebrachte Herstellung von Glas oder Farben an. Anders als viele moderne Farben sind die traditionellen Pigmente aus Naturprodukten, beispielsweise Erden, Mineralien oder organischen Farbstoffen. Zu deren Lieferanten zählt die Firma Kremer aus Aichstetten im Allgäu. Ihre Angebotspalette umfasst 1500 Nuancen, darunter Lapislazuli, Purpur, Karmin oder Smalte, ein mit Kobalt gefärbtes, fein gemahlenes Glas, das Maler schon im 16. Jahrhundert nutzten.
Zu den Abnehmern zählt neben dem L ouvre in Paris und dem Prado in Madrid auch die Klassik Stiftung Weimar. Juniorchef David Kremer: „Gelegentlich besichtigen wir Museen oder Kirchen, um die Restauratoren zu beraten.“ Manche Rohstoffe können selbst die Kremers nicht liefern, etwa Bleiweiß, das aus Gesundheitsgründen nicht produziert werden darf, oder Indischgelb, ein tierisches Protein, das früher durch die stetige Fütterung von Kühen mit Mangoblättern erzeugt wurde. Immerhin gelang es der Firma jüngst, die Farbe Korallenrosa aus einem Mineralgestein zu gewinnen. Das hilft, die wertvollen und bedrohten Korallenriffe zu schonen. Diese Arbeit ist ähnlich zeitaufwendig und knifflig wie die Restaurierung von Kunstwerken. Vom Farbton eines Steins oder der Erde in einem Gemälde lässt sich nicht immer auf das daraus gewonnene Pigment schließen. Mancher Sud wird wochenlang aufgesetzt, bis das Ergebnis sichtbar wird. Die Herstellung ist zeitintensiv und teuer. David Kremer kennt den finanziellen Druck, unter dem viele seiner Abnehmer, darunter Künstler, Handwerker und Instrumentenbauer, stehen. „Alles muss schnell und günstig sein, sonst bekommen sie den Auftrag nicht“, klagt er. Solche Zeichen der Zeit bekommt auch Anne Levin zu spüren, etwa wenn es um den Werkverleih an andere Museen, Galerien oder öffentliche und private Sammlungen geht. „Ausstellungen gewinnen kontinuierlich an Umfang“, sagt sie. Möglichst viele Werke namhafter Künstler führen die Veranstalter auf größerer Fläche immer schneller zusammen. Eine Sonderausstellung jagt die nächste. Dieser Drang zu Superlativen kollidiert mit einer einjährigen Vorlaufzeit, die für eine Gemäldeausleihe obligatorisch ist – Bilder müssen immer sorgfältig vorbereitet, im Bedarfsfall restauriert sowie sicher verpackt und versichert sein. Eine Vorgabe, für die nicht jeder Ausstellungsorganisator Verständnis hat. Levin: „Man muss diese Zeit einfordern.“ Doch die Stiftungsmitarbeiterin ist fest überzeugt, dass eines bleibt, selbst wenn die Restaurierungsmethoden und der Kunstgeschmack sich über Jahrhunderte wandeln: „Jeder Restaurator will stets das Beste für sein Objekt“ – ganz gleich, ob dies in einem der Weimarer Museen, im Louvre von Paris oder in der San-Marco-Kirche in Florenz ist.
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Fotos: robertomm/David Lees/Corbis/VCG/Getty Images, Candy Welz/Klassik Stiftung Weimar, Levin, Wölfle
und erneuert.“ Altar, Kanzel, Skulpturen und Ornamente strahlten in neuen Farben, überall glänzten die Goldauflagen. Nun hat das Restauratorenteam vor allem gereinigt, lose Malschichten gefestigt und Fehlstellen ausgebessert. Die geringe Sichtbarkeit hat ihre Tücken. Wer Auftraggeber und Öffentlichkeit nicht von der Effizienz seiner Arbeit überzeugen kann, hat es in Zeiten knapper Kulturbudgets schwer. Feste Stellen für Restauratoren sind rar, die Verdienstmöglichkeiten begrenzt, die A usbildung ist anspruchsvoll. Volker Schaible, Professor an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart: „Insbesondere der Aspekt der naturwissenschaftlichen Untersuchungen ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden.“ Neben Kreativität, einem Gefühl für Ästhetik, handwerklicher Begabung und fotografischem Talent sind Kenntnisse in Chemie und Physik erforderlich.
Respekt zeigen und leben „Über den Umgang mit Menschen“ heißt das berühmte Buch von Adolph Freiherr von Knigge aus dem Jahr 1788. Bis heute gilt dieses vor allem als Ratgeber für Umgangsformen. Dabei ist das Werkeigentlich eine praktische Gesellschaftslehre. :: Von Annette Wölfle
Auf der jüngsten Jahrestagung der Gesellschaft für moderne Umgangsformen diskutierten die Mitglieder über die Sorge um die Verrohung unserer Gesellschaft und Kultur. Zur Letzteren gehören nicht nur Kunst und Literatur – Sprache, Wertesysteme, Traditionen und eine Vielzahl an sicht- und spürbaren Attributen sind fester Bestandteil unserer Kultur. Beobachten Sie unsere Welt, nehmen Sie sich Zeit, und halten Sie kurz inne. Sie erkennen, wie wir im erhöhten Tempo des digitalen Zeitalters nachlässig werden. Die Sprache ist in diesem Kontext ein starkes Signal. Sie dokumentiert, ob und wie wir unser Gegenüber wertschätzen. Respektloser, gleichgültiger Umgang zeigt nicht nur den Wert, den wir anderen – etwa Ordnungshütern oder Lehrerinnen und Lehrern – entgegenbringen, sondern auch, wie wir sind. Es ist höchste Zeit, wieder einen einfühlsamen und respektvollen Umgang miteinander herzustellen, denn die Kultur trägt unsere Zivilisation. Deshalb müssen wir Kindern und Jugendlichen vorleben, wie „Kultur“ in ihren Facetten funktioniert. Das beginnt bei der Ernährung, idealerweise verbunden mit einem gemeinsamen Essen im Kreis der Familie. Wie viele Jugendliche und Erwachsene können oder wollen nicht mehr zwischen guter und schlechter Nahrung unterscheiden, begeistern sich an FastFood-Angeboten? Die Gründe sind vielschichtig. Es wäre schon geholfen, würden Schulen stärker aufklären oder wertiges Essen bieten. Apropos Essen: Wann waren Sie zum letzten Mal in einem Restaurant? Ist Ihnen aufgefallen, dass auf vielen Tischen digitale Störenfriede liegen? Immer mehr Gäste bedienen neben dem Essen und der Konversation Smartphones und
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Tablets, die kontinuierlich leuchten oder klingeln. Ein despektierlicher, weder dem Ort noch der Situation angemessener Auftritt. Angemessen? Das erinnert mich an die Worte „Kleider machen Leute“ nach Gottfried Kellers Novelle. Beim Bewerbungsgespräch, einer Einladung im Kollegenkreis oder einem Geburtstag: Eine angemessene Kleidung wird geschätzt oder erwartet. Sich daran zu erinnern, ist ein Zeichen des Respekts! Natürlich sollten Sie sich in Ihrer Kleidung wohlfühlen. Wenn Sie sich „kostümieren“, fällt dies auf. Kleidung beeinflusst Ihre Körperhaltung und Körpersprache. Sie sollte selbstbewusst getragen werden. Selbstbewusst enthält das Wort „selbst“, also bleibe immer du selbst! Umgangsformen gehören auch zum modernen Leben dazu. Mein Vater sagte stets: „Freundlichkeit tut nicht weh, kostet dich höchstens hin und wieder Überwindung, doch ist die Wirkung positiv für alle Seiten!“ Es ist bewiesen, dass Einstellung und innere Haltung auch in mentaler Hinsicht innerlich aufgeschlossener machen. Ein freundliches, mit einem kleinen Lächeln unterlegtes „Guten Tag“ hat noch nie geschadet. Ein „Danke“ oder „Bitte“ fügt niemandem Schmerzen zu. Oder haben Sie schon einmal jemanden schreien gehört, den Sie freundlich grüßten? Halten Sie die Tür auf oder drücken Sie den Knopf im Fahrstuhl, damit Personen noch einsteigen können. Jüngere sollten älteren Menschen behilflich sein. Aber Vorsicht, dies alles muss wechselseitig gelten, sonst funktioniert der vorgelebte Respekt nicht. Ein respektvoller Umgang gelingt über Wertschätzung und Herzlichkeit. Es sind oft nur die kleinen Dinge im Leben, die ein Miteinander fördern und eine gewisse Offenheit fordern!
Annette Wölfle ist Mitglied in der Knigge-Gesellschaft für moderne Umgangsformen. Als zertifizierte Kniggetrainerin bietet sie Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung, zur Kommunikation und zur Körpersprache. Mit ihrem Golfknigge lehrt sie die wichtigsten Regeln auf dem Golfplatz.
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Das Märchen von Meissen Porzellan aus Sachsen ist weltweit berühmt. An der Fertigung hat sich seit 300 Jahren nur wenig geändert. :: Von Britta Scholz
Klassiker: Seit 1739 bietet die Manufaktur das Zwiebeldekor an.
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Es war einmal vor langer Zeit ein Held, der in die Welt hinausging und sich anschickte, eine Aufgabe zu lösen. Plötzlich aber trat ein böser Widersacher auf den Plan, spielte des Helden Schwäche aus und versuchte, ihn von seinem Weg abzubringen. Wir wissen, dass die meisten Märchen ein gutes Ende nehmen und frei erfunden sind. Das Märchen von Meissen sieht es anders aus: Vor 300 Jahren, zu Zeiten des sächsischen Kurfürsten August des Starken, war der Apothekergeselle Johann Friedrich Böttger fest davon überzeugt, die Rezeptur für Gold zu finden. Seine Prahlerei brachte ihn ins Gefängnis. Dort durfte er unter Aufsicht weiter forschen, seine Versprechungen konnte er jedoch nicht halten. Böttger stieß aber auf einen anderen Schatz: Er spürte im Boden nahe Dresden Kaolin auf. Mithilfe dieser feinen Tonerde gelang es ihm schließlich 1708 gemeinsam mit Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und Gottfried Pabst von Ohain, das strahlend weiße Porzellan herzustellen. Zwei Jahre später nahm die Königlich-Polnische und Kurfürstlich-Sächsische Porzellan-Manufaktur ihren Betrieb auf. Barockfürst August der Starke liebte es opulent. Unter seiner Herrschaft wurden die mit Gold und Blumenmalereien üppig verzierten Tafelservice, Vasen und Figuren zum Markenzeichen der Manufaktur. Kaum ein Adelshaus, in dem man nicht vom „weißen Gold“ aus Meissen tafelte. Die meisten Stücke dieser Zeit waren Auftragsarbeiten von den vielen Fürsten und Königen aus der Zeit der Kleinstaaterei. Und ihr Anspruch an Prunk kannte kaum Grenzen. Kurt Krockenberger sammelt und begutachtet seit vielen Jahren die Arbeiten aus dem Keramikhaus. Prächtige Plastiken und detailverliebte Malereien, die unter „kolossalem Aufwand hergestellt wurden, der heute unvorstellbar ist“, wie Krockenberger sagt. Die mehr als 1000 Stücke seiner Privatsammlung sind echt. Das beweist das unverwechselbare Markenzeichen: zwei gekreuzte Schwerter in blauer Farbe. Krockenberger erkennt den Meissen-Look, ohne vorher einen Blick auf das Emblem geworfen zu haben. „Die Qualität der Arbeit und die Brillanz der Farben sind unvergleichlich“, sagt der Schwabe. Zu den prächtigsten und aufwendigsten Arbeiten der Manufaktur zählt das Schwanenservice. Die Herstellung des 2200 Einzelteile umfassenden Tafelgeschirrs in reiner Handarbeit nahm fünf Jahre in Anspruch. Das edle Design findet sich noch heute im Programm – moderner, eleganter und mit weniger Pomp –, ähnlich wie das Zwiebelmusterdekor, das einer Hunderte Jahre alten Tradition folgt und seit 1739 ununterbrochen im Angebot ist. Es ist das bekannteste Dekor – und das meistkopierte. Selbst Hersteller aus China, dessen typisches blau-weißes Vasendekor eigentlich das Vorbild des Zwiebelmusters gewesen war, kupferten es ab.
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Unikate: Figuren, Service und Vasen entstehen in aufwendiger Handarbeit. Bei der Aufglasurtechnik werden farbenprächtige und detaillierte Kunstwerke wie die barocke Szenerie (rechts) auf das bereits glasierte Porzellan gemalt.
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Barock: Goldreliefs und die naturgetreue Blumenmalerei der Henkelvase erinnern noch heute an die Historie.
Fotos: MEISSEN
Theoretisch könnte heute noch jedes einzelne Stück aus der langen Meissen-Vergangenheit reproduziert werden, denn in den Magazinen und Archiven lagern gut sortiert rund 800 000 verschiedene Formen. Ebenso wurden Rezepturen für Porzellan, Glasur und Farben über Generationen hinweg weitergereicht, und Auszubildende lernen das Kunsthandwerk im Unternehmen von der Pike auf. Was die Manufaktur seit jeher getragen hat, waren die Menschen, die sich ihr verschrieben hatten und mit aller Hingabe Kaolin hochwertig formten. Der Kunstmaler Johann Gregorius Höroldt beispielsweise trat 1720 ins Unternehmen ein. 45 Jahre malte und forschte er, um auf dem weißen Gold seine eigens entwickelten Aufglasurfarben zu verewigen. Höroldt hinterließ darüber hinaus eine umfangreiche Sammlung an Zeichnungen, die sogenannten Chinoiserien, die Szenen aus dem chinesischen Alltagsleben zeigen – gemalt von einem Mittel europäer, der niemals einen Fuß auf asiatischen Boden gesetzt hatte. Die Grafiken dienen heute noch als Vorlagen für Porzellandekore. Wenige Jahre nach Höroldt stellte Kurfürst August der Starke den jungen Modelleur J ohann Joachim Kändler ein. Von ihm stammen die anmutigen, naturgetreuen Porzellanfiguren, für die einige Sammler bereitwillig ihre Portemonnaies zücken. Eine seiner Figuren, ein Reiherpaar in Lebensgröße, wurde 2005 bei Christie’s in Paris für umgerechnet 5,6 Millionen Euro versteigert – der bisherige Höchstpreis für Porzellan aus Meissen bei einer Auktion. Die Meissener Porzellan-Manufaktur überstand zwei Weltkriege und das System der Planwirtschaft der DDR, ohne die Produktion einstellen zu müssen. Die überbordende Pracht in den Dekoren wich im Laufe der Zeit einem schlichteren, eleganteren Design und wurde alltagstauglicher – immer mit einem Hauch von Luxus. 2010 feierte die Meissener Porzellan-Manufaktur ihr 300-jähriges Bestehen. Zeit, das Märchen fortzuschreiben, dachte sich die Unternehmensleitung und trat erneut hinaus in die Welt, um Heldenhaftes zu leisten. Die Manufaktur versuchte sich in den Nischen Architektur und Inneneinrichtung, Tisch- und Tafelkultur sowie Schmuck platzieren. Zudem trat man an, die Modewelt mit Meissener Haute Couture aufzumischen, eröffnete Schauräume in Mailand und Schanghai und ein Outlet in Peking. Die unternehmerische Diversifikation schlug fehl, und der Ausflug in die Welt von Prada, Tiffany & Co. bescherte dem Unternehmen und damit dem Land Sachsen als alleinigem Gesellschafter Millionenverluste. Heute besinnt man sich wieder auf die Wurzeln und kehrt zurück zum Porzellan, sodass die Kunsthandwerker in Meissen hoffentlich glücklich weiterleben werden – bis ans Ende ihrer Tage.
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Der Ton macht den Konflikt Musik lebt von der Auseinandersetzung der Stimmen und Klänge – und vom Buhlen um die Gunst des Publikums. Der edle Wettstreit, mystisch, historisch, martialisch: Seit der Antike ist er Leitmotiv auf der Bühne und im Orchester. :: Von Ulrich Pfaffenberger
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Richard-WagnerFestspiele 2011: „Die Meistersinger von Nürnberg“ in der Inszenierung von Katharina Wagner unter der musikalischen Leitung von Sebastian Weigle.
Fotos: Bayreuther Festspiele, Enrico Nawrath, Städel-Museum – U. Edelmann/ART
Aus der Romantik:
Es besteht eine lange Tradition in der Musikgeschichte, einen Wettstreit aus der Historie zu vertonen. Der „Sängerkrieg auf der Wartburg“ ist das wohl bekannteste Beispiel für eine sagenhafte Quelle, unsterblich zugleich und im deutschen Sprach- und Phrasenschatz fest verankert. Richard Wagner integrierte das Thema des Wettstreits sehr prominent im „Tannhäuser“. In den „Meistersingern von Nürnberg“ stellte er wiederum dem mythologischen Stoff ein historisches Pendant hinzu und wertete beide auf. Beiden Stücken gemeinsam ist die friedliche Form der Auseinandersetzung. Anders als beim Begriff „Sängerkrieg“ zu erwarten, kommt es hier nicht zu einem blutigen Kampf. Vielmehr erleben wir ein Kräftemessen im Kollegenkreis mit vertonten Botschaften zum ehrwürdigsten Lobpreis weiblicher Schönheit und fürstlicher Klugheit, verbunden mit der zunächst bedrohlichen Konsequenz, dass der Verlierer des Wett-
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bewerbs – es sollte nur einen geben – noch am selben Tage unter dem Henkersbeil sterbe. Nach etlichem Hin und Her geht die Geschichte für den geschmähten Heinrich von Ofterdingen dank eines salomonisch weisen Urteils gut aus. Weder Dirigenten noch Orchester müssen eine Nationalhymne wie die Marseillaise bemühen, um Kampfszenen in Dur und Moll aufzuspüren. Derlei ergibt sich von selbst, weil Komponisten Partien eines Werks gerne als „Duelle“ anlegen oder gleich das ganze Opus als ein Gegeneinander von Stimmen und Klangkörpern arrangieren. Dazu bedienen sie sich bei Vorlagen der Literatur und der Geschichte, um Konflikte mit kontrastierenden Stimmlagen und Instrumentenklängen in die Sprache der Musik zu übersetzen. Der Fundus ist so unendlich wie die Sammlung von Märchen, Sagen und Legenden der verschiedenen Kulturen, ergänzt um tatsächliche historische Ereignisse und deren Deutungen.
Moritz von Schwind, „Sängerkrieg auf der Wartburg“, 1846, aus dem Städel-Museum, Frankfurt am Main.
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van Beethoven, „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria op. 91“.
Ob Leonard Bernstein, Herbert von Karajan oder Lorin Maazel: Sie und andere Dirigenten tauschten den Frack gegen eine Generalsuniform. Nicht, weil sie in den Krieg ziehen wollten – zu verführerisch war einfach die Gelegenheit, bei „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“ oder in der „Ouvertüre 1812“ Napoleons Einzug und Flucht aus Moskau in mächtigen Klangbildern nachzuerzählen. Sie alle machten den Orchestergraben zum Schützengraben, ließen Gewehrfeuer knattern, Kanonen donnern und Bajonette klirren. Keine Geringeren als Ludwig van Beethoven und Pjotr Iljitsch Tschaikowski lieferten ihnen die beiden Kompositionen, angelegt auf große Tonkulisse und maximalen Klangeffekt. Dirigenten und Regisseure lieben solche Stoffe, versprechen sie doch große Musik und Emotionen. Während „Konzert“ heute als wohlklingend und harmonisch empfunden wird, lauert im Wortursprung mehr ein Gegeneinander denn ein Miteinander – das lateinische Wort „concertare“ bedeutet „wetteifern“. Die früheste Erwähnung eines Duells findet sich in der griechischen Mythologie, in der Hirtengott Pan mit Flöte den Musengott Apollo mit Kithara herausfordert. Der wahre Verlierer sitzt am Ende im Publikum: Midas, der König mit den Goldhänden, will das edle Spiel Apollos nicht würdigen, worauf der den Kritiker mit Eselsohren straft. Mühsam darauf bedacht, das Geheimnis zu wahren, kann Midas es vor seinem Barbier nicht verbergen. Zur Geheimhaltung verpflichtet, flüstert der sein überflutendes Wissen in ein Erdloch. Die daraus sprießenden Grashalme verbreiten es dann in alle Winde …
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Foto: Eastblockworld.com
Komplex: Ludwig
Hinter solchen Sagen und Mythen verbirgt sich, wovon schon der Sängerkrieg zeugt, ein weiteres Motiv künstlerischen Handelns: Nicht vom Applaus allein leben Künstler, auch nicht von ihrem Honorar, sondern vom Nachweis, über andere Musiker hinauszuragen. Diesem Prinzip huldigt eine weitreichende Wettbewerbskultur von Eurovision Song Contest bis Grammy, von Nashville bis Sanremo, von „Jugend musiziert“ bis zum Poetry Slam. Sogar bei den Olympischen Spielen gab es zwischen 1912 und 1948, analog zum antiken Vorbild, künstlerische Wettbewerbe. Neben Literaten, Bildhauern, Malern und Architekten traten auch Musiker gegeneinander an, dies allerdings auf sehr theoretischem Terrain, weil die Jury jeweils nur die eingereichten Noten bewertete, keine Aufführungen. Wie auf der Wartburg geht es bei allen Konkurrenzen vor allem um ruhmreiche Sieger, die ins Rampenlicht rücken. Verlierer kommen auch hier mit dem Leben davon, müssen allenfalls mit einem angekratzten Ruf leben. Oft korreliert die Tiefe der Kratzer mit mangelndem Niveau im Wettbewerb. Die Motive, sich der breiten öffentlichen Kritik zu stellen, scheinen mehr auf der gut bezahlten Hand als im künstlerischen Anspruch zu liegen. Und nicht jeder Eurovisionssieger erlebt eine Karriere wie einst die schwedische Erfolgsgruppe Abba. Auch Beethoven wäre nicht glücklich, wenn sich herumspräche, dass er „Wellingtons Sieg“ für das Orchestrion – das technische Wunderwerk Jahrmarktsorgel – komponiert hatte, das heute musikalisch irrelevant ist. Die subtilste Kriegsform auf den Bühnen der Welt kann beobachten, wer regelmäßig Opern, Konzerte oder Festivals besucht. Reiht sich das Ensemble vor dem Vorhang auf, leitet scheinbar zufällig einer die Truppe an der Hand heraus und legt auf dem Rückweg freundschaftlich die Hand auf die Schulter des Nebenmanns. Dass er zunächst vorausstürmt und dann den anderen mit aller Kraft hinter den Vorhang schiebt, um für sich ein paar zusätzliche Applaussekunden einzuheimsen: Das ist wahre Sängerkriegskunst. Dieses Gebaren können die Besucher auch in diesem Jahr wieder bei den Bayreuther Wagner- Festspieltagen beobachten. Dort buhlen nach einer sechsjähriger Abstinenz in den „Meistersingern von Nürnberg“ die Dichter um die Gunst der Fürsten und den Sieg im Sängerwettstreit.
Das Gedicht
Die blaue Blume Ich suche die blaue Blume, Ich suche und finde sie nie, Mir träumt, dass in der Blume Mein gutes Glück mir blüh. Ich wandre mit meiner Harfe Durch Länder, Städt und Au’n, Ob nirgends in der Runde Die blaue Blume zu schaun. Ich wandre schon seit lange, Hab lange gehofft, vertraut, Doch ach, noch nirgends hab ich Die blaue Blum geschaut. Joseph von Eichendorff (1818) :: Illustration: Lisa Rock
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Kulinarisches Risiko: Das zarte und sehr süßliche Fleisch sowie das Wissen um seine toxischen Stoffe machen den Kugelfisch zu einer von Japanern und Touristen begehrten Delikatesse.
Genuss-Raritäten Die Welt rückt zusammen – auch auf dem Teller. So manche Delikatesse der Kontinente lässt sich aber nur auf Reisen entdecken. :: Von Liora Jacobsen
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Fotos: Foodcollection/F1 online/mauritius images, ddp images/360° CREATIVE
Eine der Annehmlichkeiten der Globalisierung ist es, dass sie die kulinarische Vielfalt auf unseren Tellern signifikant erhöht hat. Waren es bis weit in die 80er-Jahre italienische und französische Restaurants und deren Kreationen, die unseren mehr oder minder „exotischen“ Geschmackskanon definierten, gehören heute vietnamesische Garküchen, japanische Teppan-Grills und Spe zialitäten der Anden-Küche zum selbstverständlichen Gastroangebot deutscher Großstädte. Und Gerichte wie Tom Yam Gai – eine thailändische Hühnersuppe – und Tajine – ein marokkanischer Eintopf – sind längst im Sprachschatz des passionierten Restaurantgängers oder autodidaktischen Weltkochs verankert. Doch es gibt Köstlichkeiten, die hierzulande gänzlich unbekannt sind, aber Lust aufs Entdecken und Probieren machen. Das geht natürlich am besten vor Ort, weshalb das Geheimnis wahren Genusses auch immer mit Reisen verbunden ist. Anthony Bourdain, amerikanischer Starkoch und weltweiter Delikatessenjäger: „Die Reise ist Teil der kulinarischen Erfahrung und bildet somit nicht nur die Persönlichkeit, sondern auch den Geschmack.“ Auf dem Spitzenplatz für außergewöhnliche Delikatessen steht unangefochten Japan. Während Sushi und Sashimi in Europa meist mit heimischen Atlantik- oder Mittelmeerfischen wie Thunfisch, Lachs und Makrele sowie Garnele zubereitet werden, greift der Japaner gerne zum pazifischen Kugelfisch, dem Fugu – was einer Art kulinarischen russischen Roulettes gleichkommt, denn der possierliche Plusterfisch weist in seinen Organen als natürlichen Abwehrstoff gegen Feinde das Nervengift Tetrodotoxin auf. Dieses kann – je nach Dosis – auch für Menschen innerhalb kürzester Zeit tödlich wirken. Da nur das Muskelfleisch genießbar ist, müssen japanische Köche in einer zweijährigen Spezialausbildung eine Lizenz zum perfekten, giftfreien Filettieren des Fischs erwerben, bevor sie ihre Gäste bedienen dürfen. Dennoch sind geringe Mengen des Toxins auch im Fischfleisch enthalten, was auf der Zunge zunächst mit einem Prickeln, gefolgt von einem leichten Taubheitsgefühl einhergeht und im Idealfall zu einem subtilen Rauschzustand führt. „Das Fleisch des Fugus ist sehr zart, schmeckt süßlich und weist feine Meeresaromen auf“, so Anthony Bourdain. Für diesen
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Geschmack, flankiert von einer kolportierten aphrodisischen Wirkung, gehen Japaner und risikofreudige Gourmet touristen aufs Ganze – was fünf Todesopfer pro Jahr belegen, die den Fugu-Tod allerdings ausschließlich bei privater Zubereitung finden. Weitaus ungefährlicher ist der Verzehr der Abalone, einer großen Meeresschnecke, die auch als Seeohr oder Irismuschel bekannt ist. Ebenso wie Fugu gilt sie als kulinarisches Statussymbol – und wegen ihres leider nur noch geringen Wildbestands als begehrtes Spekulationsobjekt auf Tokios berühmtem Fischmarkt Tsukiji. Äußerlich sehr apart mit großer, blauviolett schillernder Schale, stellt das Innere eine echte He rausforderung für Köche dar. Tim Raue, mit zwei Michelin-Sternen gekrönter deutscher Spitzenkoch: „Die Abalone darf in frischem Zustand nur kurz angebraten oder gedämpft werden, sonst schmeckt sie wie Radiergummi.“ Wird sie vorher, ähnlich wie Tintenfisch, vorsichtig weich geklopft und richtig zubereitet, darf ihr Geschmack jedoch als einzigartig bezeichnet werden. Zwar ist die Abalone auch in China eine begehrte Delikatesse, doch gibt es für Chinesen ungleich höhere Gourmetweihen. Zu ihnen zählt Pinyin Yan Wo: eine Suppe aus Schwalbennestern. Die filigranen Vogelbauten bestehen aus dem Speichel südostasiatischer Weißnestsalangane. Wegen ihres hohen Protein- und Nährstoffgehalts gelten sie in der traditionellen chinesischen Medizin seit Jahrhunderten als Wunderwaffe gegen Infekte und Erschöpfungssymptome. Da die Schwalbenart hauptsächlich in Thailand, Indonesien und Borneo beheimatet ist, müssen die kostbaren Nester importiert werden. Sie kosten bis zu 300 Euro pro Unze, das sind weniger als 30 Gramm. Den Preis verdankt die Delikatesse vor allem der aufwendigen „Ernte“, bei der Sammler an steilen Felswänden klettern müssen, in versteckte Höhlen und schwer zugängliche Grotten.
„Süße“ Frucht: Die zum Dessert gereichte Durian gilt als königlich – dabei ist ihr Geruch nur wenig majestätisch.
Apartes Seeohr: Mit der Abalone, hier in Kräuter-ZwiebelSoße, wird in Tokio spekulativ gehandelt.
Ungewöhnliche Genüsse locken auch im schottischen Hochland in Form von Haggis, einer Mischung aus Innereien vom Schaf, Hafermehl und Zwiebeln, ummantelt von einem Schafsmagen. Mit Haggis lassen sich die gängigen Geschmacksgrenzen beherzt testen. Der britische Starkoch Jamie Oliver meint: „Haggis ist definitiv nur
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etwas für Fortgeschrittene, allein schon wegen der darin verwendeten Innereien. Aber als Trifle mit Steckrübenpüree und Whiskygelee angerichtet, hat es durchaus Gourmetqualität.“ So liegt die Kunst der Zubereitung mancher gewöhnungsbedürftiger Ingredienzien in der Melange mit anderen Zutaten, um sich zu einer gelungenen Gesamtkomposition aufzuschwingen. Das lässt sich auch von Llullucha sagen, essbaren Cyanobakterien, die in Perus Hauptstadt Lima als kulinarisches Maß gelten. Die optisch an Kaviar erinnernden grünen Kugeln gedeihen in Pfützen und Tümpeln des peruanischen Hochlands auf 5000 Meter Höhe. Aufwendig sind Ernte und Transport, absolute Frische ist ein Muss. Pia Leon, Küchenchefin in Limas hoch dekoriertem Restaurant Central und eine der besten Köchinnen der Welt: „Ich kombiniere die Kugeln mit einer Trilogie aus diversen heimischen Kartoffelsorten, bestehend aus einer Creme aus
südwestaustralischen Marron, einen Süßwasserkrebs, der im Vergleich zu herkömmlichem Hummer als ungleich zarter gilt und mit raffinierter, leicht süßlicher Note betört. Um die Wildbestände zu schonen, züchtet man die Delikatesse in australischen Aquakulturen. Bodenständiger und kerniger geht es in I sland zu. Dort erfreut sich Hákarl, eine Spezialität aus fermentiertem getrockneten Fleisch des Grönlandhais, großer Beliebtheit. Dabei bringt schon der Geruch so manchen aus der Fassung, unlängst etwa Tim Raue, der bei einer Kochsendung im Windschatten des Hákarls stand. Geschmacklich dominiert Lakritze. Kleiner Trost: Hákarl soll sehr gesund sein – was vielleicht die hohe Lebenserwartung der Isländer erklärt. Zum Schluss noch etwas Süßes gefällig? Dann nach Indonesien, der Heimat der Durianfrucht. Das stachelige, hartschalige Gewächs wird von
(1) Grüne Perle: Llullucha wächst nur im Hochland Perus und überrascht Genießer mit Kartoffeln, Lachs oder Ente. (2) Feine Pilze: Der Omajova ist eine Rarität, kann wie Spargel nur einmal geerntet werden und erinnert an Trüffel.
fermentierten Kartoffeln, tiefschwarzen Kartoffelchipsbröseln und knusprigem Kartoffelstroh. Das harmoniert exzellent mit dem frischen, klaren und sehr grünen Geschmack der Llullucha.“ 3
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Ein perfekter Partner scheint die Kartoffel zu sein, um außergewöhnliche Genussraritäten zu erden oder geschmacklich in neue Dimensionen zu katapultieren. So auch bei dem Omajova, einem stattlichen Lamellenpilz, der auf Termitenhügeln im nördlichen Namibia gedeiht und dort in etwa so goutiert wird wie bei uns Spargel, weil er nur einmal pro Jahr wächst. In Kombination mit Kartoffelstampf ist er ein Gedicht, aber auch als Suppe oder pur gebraten eine Offenbarung, über die Anthony Bourdain sagt: „Fein, fleischig, mit einem leichten Trüffelaroma. Eine der besten Pilzsorten, die ich jemals gegessen habe.“ In Australien findet man wiederum viele Tierarten, die aufgrund der geografischen Isolation des Erdteils nur dort leben. Das gilt auch für den
Einheimischen als „Königin der Früchte“ bezeichnet – mit einem kleinen Handicap: Die Durian riecht extrem intensiv, wobei das Odeur zwischen Verwesung, Terpentin und faulen Eiern oszilliert. Das Mitführen in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie der Verzehr in Hotelzimmern sind deshalb in Singapur und Malaysia strikt untersagt. Der Geschmack ist dafür umso versöhnlicher: sahnigcremig, mit einer starken Vanillenote, flankiert von Butter- und Schokoladenaromen und dazu etwas zwiebelig. Spitzenkoch Anthony Bourdain ist begeistert, obgleich er zum Geruch lieber schweigt. Sein Geschmacksfazit: „Unbeschreiblich. Entweder man liebt die Königin oder man hasst sie, dazwischen gibt es nichts. Ich gehöre mit ganzem Herzen zur ersten Fraktion.“ Und da es in Geschmacksfragen bekanntlich weder ein Richtig noch ein Falsch gibt, halten Sie es einfach wie die großen Köche und probieren Sie sich mit kindlicher Neugier durch die schöne, kunterbunte Welt exotischer Delikatessen …
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Fotos: Alex Robinson/AWL Images Ltd., Annabelle Venter, A1PIX/Your Photo Today, Berthold Steinhilber, Dennis Drosson
(3) Schottische Legende: Haggis ist ein mit Innereien gefüllter Schafsmagen, der gut kombiniert Gourmets anspricht.
Berthold Steinhilber, Stilfser Joch II, 2014 Fine-Art-Print kaschiert auf 2 mm Alu-Dibond mit Schattenfugenrahmen, Auflage 9, 60 × 90 cm, 900 Euro
Exklusive Leseraktion. Kunst kann sich sowohl monetär als auch emotional rentieren und verbindet im Idealfall eine Sammelleidenschaft mit einer Wertanlage. VENTURA präsentiert exklusiv für Sie ausgewählte Werke zu einem attraktiven Preis. :: Von Ralf Kustermann
Wer die Alpen überquert und sich die Zeit für einen intensiven Blick auf das gebotene Panorama nimmt, erkennt die ganze Kraft und Energie der Bergwelt. Genau solche Momente unverfälschter Inspiration hält der Fotograf Berthold Steinhilber in eindrucksvollen Aufnahmen seines Projekts „Passbilder“ fest. Dabei fokussiert er auf von Menschenhand geschaffene Bergpfade, Wanderrouten und Alpenpässe. 77 von ihnen hat er auf seiner Tour durch die Berge in einer einzigartigen Sammlung festgehalten. Steinhilbers Motive machen es deutlich: „Jeder Pass hat sein eigenes, unverwechselbares Bild: sein Passbild.“ Ob verschneite Berge am Horizont, tiefgrüne Täler oder atemberaubende Felsmassive: Filigran schlängeln sich die Passagen ins Bild der weiten Natur. Dabei dokumentieren sie alle Eingriffe des Menschen und erinnern zugleich daran, dass sie
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die Lebensadern der Berge sind, Menschen zusammenführen. Steinhilber gelingt dies durch wechselnde Perspektiven, überraschende Standpunkte und perfekte Lichtverhältnisse. VENTURA-Leser können beim DSV Kunstkontor des Deutschen Sparkassenverlags das Motiv „Stilfser Joch II“ und andere Werke des Künstlers erwerben. Die Kunstexperten des Deutschen Sparkassenverlags arbeiten mit national und international bekannten Künstlern zusammen und beantworten gerne Ihre Fragen zu Kunstwerken, Künstlern und der VENTURA-Kunstserie.
Berthold Steinhilber 1968 in Tübingen geb. Fotodesign-Studium FH Dortmund und College of Arts Falmouth (GB) 2009 World-Press-PhotoAuszeichnung
Weitere Informationen: www.dsvkunstkontor.de kunstkontor@dsv-gruppe.de Tel. +49 711 782-1566
Seit 2010 Mitglied der Deutschen Fotogra fischen Akademie Lebt, arbeitet in Stuttgart
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Unsichtbare Saiten: Carolina Eyck ist Theremin-Virtuosin.
Fabelhafte Klangexoten Musikalische Sonderlinge sind selten unter den Instrumenten in den Konzertsälen. Umso faszinierender ist die Begegnung mit ihnen. Ein Ausflug in die unerhörte Welt der ungewohnten Laute. :: Von Stefan Dangel
Sie gleicht einer Dirigentin ohne Taktstock, einer versonnenen Träumerin oder einer Zauberin sphärischer Töne. Ein mystischer Klang schwebt durch den Saal, erinnert zuweilen an Cello, an die experimentelle Musik von Rockbands der 70erJahre, dann wiederum an Töne wie von einem anderen Stern. Carolina Eyck zählt zu den wenigen professionellen Theremin-Interpretinnen und -interpreten weltweit. Sie spielt ein außergewöhnliches Instrument, das Klänge erzeugt, ohne berührt zu werden. 2015 erhielt sie den Preis Echo Klassik für die Konzerteinspielung einer Komposition des Finnen Kalevi Aho. Das Theremin war das erste elektronische Instrument der Welt und ein Wegbereiter des Synthesizers. Erfunden hatte es 1919 der russi-
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sche Physiker und Cellist Lew Sergejewitsch Termen, der sich später Leon Theremin nannte. Der Aufbau und das Prinzip der Spielweise wirken einfach: Aus einem hölzernen Kasten ragen eine senkrechte und eine waagerechte Antenne, die ein elektromagnetisches Feld erzeugen. Dieses Feld reagiert auf den menschlichen Körper und seine Bewegungen. Carolina Eyck: „Wenn ich die rechte Hand der senkrechten Antenne nähere, wird der Ton höher, hebe ich die linke Hand, wird er lauter.“ An Knöpfen kann die Musikerin die Klangfarben variieren; pedalgesteuerte Effektgeräte erweitern das Spektrum, ähnlich wie bei E-Gitarren. „Das Theremin eignet sich grundsätzlich für jegliche Musik, doch sind dem Instrument in Sachen Geschwindigkeit Grenzen gesetzt“, er-
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nern in Deutschland als Schlüsselfidel bekannt, gleicht einem „mittelalterlichen Verstärker“. Es hat vier Melodiesaiten, die gestimmt sind wie eine Bratsche. Unter ihnen liegen zwölf Resonanzsaiten, die nicht mit dem Bogen angestrichen werden, sondern bei jedem Ton mitschwingen.
Fotos: Christian Hüller, Bernhard Mollenhauer, Lebrecht/culture-images
klärt die 29-Jährige. „Aber mit Hilfsgeräten geht es schon auch schnell.“ Das beweist beispielsweise ihre Interpretation und Aufnahme von Nikolai Rimski-Korsakows „Hummelflug“. Als Siebenjährige nahm die in Leipzig lebende Musikerin Unterricht bei der Virtuosin Lydia Kavina aus Moskau. Diese lernte bei Leon Theremin selbst noch die Kunst des Spielens. Über ihre Empfindungen beim Spielen sagt sie: „Man ist sich selbst ganz nah, nicht bildlich, sondern wörtlich gemeint.“ Das Theremin sei wie ein Spiegel und bilde alle Stärken und Schwächen direkt im Klang ab. „Man kann tatsächlich mit den Händen singen, das ist wunderbar“, beschreibt es Eyck.
Um die Geheimnisse der Nyckelharpa zu ergründen, benötigt man Spielpraxis. Claudia Elmer aus Plochingen musiziert und unterrichtet das Instrument seit vielen Jahren und sagt: „Durch ihre Bauweise erzeugt die Schlüsselfidel einen sehr vollen Ton mit beeindruckendem Halleffekt.“ Musiker bringen das Instrument mit einem kurzen Geigenbogen zum Klingen. Die Melodie entsteht nicht wie bei der Geige über den Griff der Finger auf die Saiten, sondern über
Nicht minder euphorisch pries Ludwig Uhland 1810 den Klang der Spazierstockflöte: „Von seinem Wanderstabe schraubt jener Stift und Habe, und mischt mit Flötentönen sich in des Hornes Dröhnen.“ Der wandernde Musikant war ein beliebtes literarisches Motiv in der Romantik. Es war aber das Verdienst des österreichisch- ungarischen Flötenvirtuosen Anton Heberle, die Wanderlust und die Freude am Musizieren miteinander zu koppeln. Er gilt als Erfinder der Spazierstockflöte, die er selbst 1807 in Pest – damals noch nicht mit Buda verbunden – in einem Konzert spielte. Die Stockflöte, auch Csakan genannt, baute er in den damals obligatorischen Gehstock ein. Schraubte man Griff und Spitze ab, bildete das Mittelstück eine Form der Blockflöte. Bald entwickelte sich die Spazierstockflöte zum Verkaufsschlager, und alle wanderfreudigen Bürger fühlten sich berufen. Genervt schrieb damals der Musikkritiker Eduard Hanslick: „Die Zahl und Passion der flötenden Dilettanten ist überaus groß. Und kein Musikstück ist vor ihnen sicher.“ Zugleich entstanden anspruchsvolle Kompositionen für den Csakan. Heberle etwa schrieb viele Stücke, ebenso Komponisten wie Ernest Krähmer, Anton Diabelli oder Johann Strauß. Über 400 Werke sind bekannt und werden bis heute aufgeführt. Der Csakan erklingt meist zart in einer tiefen Sopranlage und erweitert so die große Blockflötenfamilie um eine Variante. Wesentlich kraftvoller, wie in einer Kathedrale, erklingt die Nyckelharpa – selbst wenn sie in einem Wohnzimmer gespielt wird. Das traditionelle Streichinstrument aus Schweden, unter Ken-
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Mittelalterstimmung: Die Nyckelharpa erzeugt verblüffende Klänge.
Biedermeierzeit: Die Spazierstockflöte sorgte für viele Töne.
Tasten, die Holzfähnchen andrücken. Auch wenn die Nyckelharpa vor allem in Schweden gespielt wurde und wird, so gibt es doch Belege dafür, dass sie ursprünglich von Kontinentaleuropa nach Skandinavien kam. Dort hat sie die Jahrhunderte vor allem in Uppland überdauert, wo es heute noch eine regelrechte Szene gibt. Die traditionelle Folkmusik mit Nyckelharpa und Geige wird dort bis heute intensiv gepflegt. In den 70erJahren verbreitete sich die Schlüsselfidel wieder zurück über den europäischen Kontinent. Sie kommt oft in der Renaissance- und Barockmusik zum Einsatz. So spielt Claudia Elmer in dem Duo „Soebenmal“ alte Musik und Folk sowie in der Formation „Herbstzeitlose“ Folk- und Mittel altermusik mit Nyckelharpa, Drehleier, Dudelsack, Mandoline, Dulcimer und Gesang. „Wenn ich Nyckelharpa spiele, verzaubert sie mich“, schwärmt die Multi-Instrumentalistin. „Die Resonanzsaiten versetzen den Körper in Schwingung, man möchte abheben, wenn der verstärkte warme Ton einen wegträgt und sich ein engelsgleicher Klang erhebt.“ Das erinnert wiederum stark an die mystische Atmosphäre des Theremins.
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Mit Ross und Reiter Sportler, Trainer, Züchter sowie Finanziers bilden hierzulande eine feste Einheit für den Dauererfolg auf internationalen Reitturnieren. Dahinter stehen ein strenges Prüfsystem, Ausdauer und Erfahrung. :: Von Birga Teske
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ten in Deutschland. Mehrmals im Jahr finden dort Prüfungen für zukünftige Deckhengste aus ganz Deutschland statt. Doch vor allem kümmern sich die Marbacher um die Steuerung der nächs ten Pferdegeneration. Von Velsen-Zerweck: „Wir sorgen durch unsere geprüften D eckhengste mit dafür, dass es auch in Zukunft leistungsfähige Sportpferde und zuverlässige Pferde für Reiten und Fahren, Therapie und Freizeit gibt.“ Tatsächlich wird die Pferdezucht in Deutsch land besonders akribisch betrieben. Tausende meist kleinerer Züchter studieren die Stammbäu me ihrer Tiere bis in die vierte Generation und weiter zurück. Der deutsche Vielseitigkeitsreiter Michael Jung lobt: „Die Züchter machen sich sehr viele Gedanken, welche Hengste zu ihren Stuten passen.“ Damit sorgen sie für eine hohe Qualität der Reitpferde. Der Mehrfacholympiasieger be zieht seine Pferde zwar nicht nur aus Deutsch land, doch sein Olympia-Wallach Sam kommt aus Marbach, und auch der Vater seiner Gewin nerstute Rocana, der Vollbluthengst Ituango, lebt im Gestüt des Landes Baden-Württemberg. In Marbach wird Pferdezucht bereits seit über 500 Jahren betrieben. Auch andere Gestüte in Deutschland blicken auf eine jahrhunderte lange Tradition. Dabei finanzierten früher die Landesherren Stallungen, um durch gute Pferde Landwirtschaft und Wirtschaft zu fördern. Heute sind sogenannte Reiterfamilien in das Geschäft um Reitpferdezucht und -sport involviert. Ihre Namen, etwa Beerbaum, Klimke oder Schocke möhle, sind sogar den Laien bekannt. Sie finan zieren sich häufig über Preisgelder, die Ausbil dung oder den Verkauf von Jungpferden.
Haupt- und Landgestüt Marbach: In der Zucht findet sich auch die Rasse der Araber. Hier verlassen Stuten und Fohlen den Stall.
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Foto: Boiselle, G./juniors@wildlife
Mit sechs Medaillen holte die deutsche Reiter equipe bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio ein Drittel der zu vergebenden Auszeichnungen im Reitsport. Ob in der Dressur, im Springen, Volti gieren oder der Vielseitigkeit: Bei internationalen Turnieren zählt sie seit Jahrzehnten zu den Favo riten. Dabei hat der anhaltende Siegeszug nichts mit Zufall zu tun. Hinter den Top-Platzierungen stecken jede Menge harter Arbeit und ein strenges Prüfungssystem für Ross und Reiter. Dessen Ur sprünge reichen zurück bis ins Jahr 1882. Das Mi litär versuchte, Pferde und Reiter für den Einsatz in Kavallerieeinheiten zu qualifizieren. Heute geht es in den Prüfungen um Leistungssport. Die Anforderungen sind die gleichen: an den Reiter „eine sichere Beherrschung des Pferds“, an das Pferd „Gehorsam, Gewandtheit und Ausdauer“. Die Grundlagen dafür erarbeiten sich die Pro tagonisten Schritt für Schritt. Schon Kleinkinder können sich heute auf Reitturnieren und in Prü fungen fachkundigen Juroren stellen. Nur wenn eine Schwierigkeitsstufe gemeistert wurde, wird die nächste angegangen. Dasselbe Prinzip gilt für Jungtiere. Erst nach mehreren Jahren und zahlreichen Turnieren gelten sie als ausgebildet. Besonders hart sind die Anforderungen für Reit pferde, die in der Zucht eingesetzt werden. Zum Teil mehrwöchige Leistungsprüfungen sind nö tig, bevor Stute oder Hengst mit dem Segen eines Zuchtverbands Nachkommen zeugen darf. „Ein Hengst kann im Jahr durch künstliche Befruchtung mehrere Hundert Stuten decken“, erklärt Astrid von Velsen-Zerweck das strenge Auswahlverfahren. Die promovierte Agraringe nieurin leitet das Haupt- und Landgestüt Mar bach, eines von zehn staatseigenen Landgestü
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Gold-Wettbewerb: Michael Jung bei Olympia 2016 im Vielseitigkeitswettbewerb – Geländeritt, Dressur und Springen (von links nach rechts oben, rechts unten).
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band mehr als 3500 gemeldet – loben Preisgelder aus und werben um neue Mitglieder für fast 7600 deutsche Reit- und Fahrvereine. Weil vor allem junge Mädchen und Frauen im Reitsport aktiv sind, haben Ausrüster im mer Konjunktur. „Reitbekleidung macht jede Modewelle mit“, so Gestütsleiterin von VelsenZerweck. Auch die Pferdegesundheit wird in Deutschland großgeschrieben. „Pferdebesitzer sind bereit, sehr viel Geld für ihre Lieblinge aus zugeben. Pferdekliniken sind inzwischen fast so gut ausgestattet wie Kliniken für Menschen“, sagt sie. Darüber hinaus können einzelne Jung pferde, die zu den Besten des Jahrgangs gehören
und von einem guten Reiter ausgebildet wurden, mehrere Zehntausend Euro beim Verkauf erzie len. Ein Prämienhengst wechselt für sechsstelli ge Beträge den Besitzer. Champions wie Michael Jungs Sam sind weit über 1 Million Euro wert. Uta Helkenberg von der Deutschen Reiterli chen Vereinigung, dem Bundesverband für Pfer desport und Pferdezucht: „Die Tiere sind Einzel stücke und wecken oft große Begehrlichkeiten.“ Das musste selbst Michael Jung feststellen, als sein Gold-Wallach Sam 2010 spurlos aus seiner Box verschwand. Die Hauptbesitzerin des Pferds, eine finanzkräftige Dame aus Bayern, hatte das Tier abtransportieren lassen. Es gab damals wohl mehrere Kaufinteressenten. Nach vielen Verhandlungen und Diskussionen kehrte Sam schließlich zurück. Andere Geldgeber wiederum stellen „ihren“ Profireitern immer neue Cham pions in den Stall, darunter die wohl wichtigste Mäzenin des deutschen Reitsports, Madeleine Winter-Schulze. Sie ist finanziell an den Pferden zahlreicher deutscher Spitzenreiter beteiligt. Die enge Verbindung von Reitern, Züchtern und finanzkräftigen Pferdefreunden bildet die Basis für den anhaltenden Erfolg der deutschen Equipe. Und sie alle sind zusammengefasst unter dem Dach der Deutschen Reiterlichen Vereini gung, der größten Pferdesportvereinigung welt weit. „Eine so enge Zusammenarbeit zwischen Zuchtverbänden, Sportverbänden und Reitver einen gibt es sonst nirgendwo“, bestätigt Astrid von Velsen-Zerweck. Zwar plagen viele Vereine Nachwuchssorgen, weil Ganztagsschulen und Horte zeitlich mit dem Reitunterricht kollidieren, doch der Pool, aus dem junge Talente nachwach sen können, ist weiterhin groß. „Während in manchen Ländern der Reitsport nur einer kleinen, elitären Gruppe vorbehalten ist, ist er bei uns ein Breitensport“, sagt Helken berg. Sowohl die Ausbildung der Reiter als auch der Pferde gehe stufenförmig voran. Von Anfang an werde großer Wert auf Rhythmus, Eleganz und die Einheit von Reiter und Pferd gelegt. Dabei zählt der Stil mehr als die Schnelligkeit. „Die Deutschen sind sehr systematisch, sehr genau und beharr lich“, hat von Velsen-Zerweck beobachtet. Diese Eigenschaften, gepaart mit viel Erfahrung, sind es, die sich bei den Olympischen Spielen in Tokio 2020 eventuell wieder auszahlen werden.
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Fotos: David Hecker/ddp images/dapd, Straubmeier/nordphoto, Jacques Toffi/Sven Simon/100 pro imago sport
Der Pferdesport ist in Deutschland ein großes Geschäft. Die Deutsche Reiterliche Vereinigung schätzt, dass etwa 300 000 Menschen in diesem Wirtschaftsbereich tätig sind. Der Jahresumsatz mit Reitstunden, Futtermitteln und Ausrüstung beträgt demnach rund 6,7 Milliarden Euro. Der Profisport zählt dabei nur zur Spitze. Hochrech nungen zufolge werden in Deutschland etwa 1,3 Millionen Pferde und Ponys gehalten. Noch mehr Menschen gehen regelmäßig reiten. Zahlreiche Turnierveranstaltungen – 2016 wurden dem Ver
Der Reitmeister Michael Jung gehört zu den besten Reitern aller Zeiten. VENTURA traf den Champion. :: Das Interview führte Birga Teske
Erfolgsturnier Rio
VENTURA: Herr Jung, was war Ihr größter Erfolg? MICHAEL JUNG: Da gab es verschiedene. An erster Stelle steht die WM 2010, mein erster ganz großer Erfolg. Dann natürlich die Olympiaden in London und Rio, aber auch der Grand-Slam-Sieg, weil man dafür drei große Siege in Folge haben muss. VENTURA: Was sind die Grundvoraussetzungen, um ein Spitzenreiter zu werden? MICHAEL JUNG: Man muss Leidenschaft haben und sehr viel Arbeit reinstecken. Und das nicht über Monate, sondern über Jahre. Dabei durchläuft man Höhen und Tiefen, wobei am Anfang die Tiefen überwiegen. Man braucht Durchhaltevermögen, Willen, Disziplin, und es sollte richtig Spaß machen. VENTURA: Sie sind von klein auf von Ihrem Vater trainiert worden. Kann man in Ihrem Sport nur erfolgreich sein, wenn man möglichst früh anfängt? MICHAEL JUNG: Es ist wichtig, dass man von klein auf regelmäßig trainiert. Entscheidend ist aber auch, den Trainer und die Methode nicht zu oft zu wechseln. Ich halte zum Beispiel nichts davon, auf viele verschiedene Lehrgänge zu fahren, weil man am Ende nicht mehr weiß, welcher Weg der richtige ist. Und das geht dem Pferd auch so. Jede Umstellung heißt, dass man sich umgewöhnen muss. Dadurch verliert man wertvolle Zeit. Letztlich führen viele Wege zum Ziel. Deshalb ist es wichtig, den eigenen Weg konsequent weiterzugehen. VENTURA: Profireitsport gilt als Knochenjob. Wie sieht ein normaler Arbeitstag für Sie aus? MICHAEL JUNG: Unterschiedlich. Wir fangen morgens um acht Uhr an und sind um sechs Uhr abends fertig. Wenn ich bis zum nächsten Turnier nur zwei Tage Zeit habe, sitze ich den ganzen Tag im Sattel. Wenn zwei
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Wochen Zeit sind, kann ich in Ruhe ein Pferd nach dem anderen reiten, den Parcours umbauen, Reitschüler trainieren oder anderes erledigen.
2016: Michael Jung gewinnt die Gold medaille in der Einzelwertung sowie die
VENTURA: Wie häufig fahren Sie zu Turnieren? MICHAEL JUNG: Wir sind pro Jahr auf 40 bis 45 Turnieren unterwegs. Im letzten Winter hatten wir nur drei Wochen Pause. Von Anfang Februar bis November ist jede Woche Turnier. Manche sind klein, da hat man vielleicht ein Nachwuchspferd dabei. Manche Turniere sind groß und laufen über mehrere Tage. Das ist sehr unterschiedlich und macht den Reitsport so interessant und spannend.
Silbermedaille in der Teamwertung und reitet anschließend eine Ehrenrunde.
VENTURA: Wie groß ist Ihr Team? MICHAEL JUNG: Wir sind ein großes Team, ungefähr zwölf Leute, und haben etwa 40 Pferde auf der Anlage. Zu den Turnieren reisen ein Pferdepfleger und bis zu vier Pferde mit. VENTURA: Sie sind jetzt 34 Jahre alt und haben in der Vielseitigkeit alle internationalen Preise gewonnen, die man gewinnen kann. Wie lange werden Sie Ihren Sport noch professionell ausüben? MICHAEL JUNG: Ich mache das, solange es mir Spaß macht und ich körperlich fit bin. Unseren Sport kann man relativ lange ausüben, und nach dem Reiten kann man sich in anderen Bereichen verwirklichen. VENTURA: Sie gelten als „größter Reiter der Epoche“. Ist es da nicht schwierig, sich noch sportliche Ziele für die Zukunft zu stecken? MICHAEL JUNG: Es stimmt, dass ich durch die vielen Siege ein wenig verwöhnt bin. Mir macht es besonderen Spaß, junge Pferde auszubilden. Von diesen möchte ich gerne das eine oder andere zum Championat bringen. Das ist derzeit mein größtes Ziel.
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Die Zeit der Pioniere Die Elektromobilität gewinnt an Fahrt. Die wenigsten wissen, dass sie auf eine lange Geschichte zurückblickt. :: Von Ralf Kustermann
Kurios: Das Elektroauto 1905 Woods Electric Style 214A Queen Victoria Brougham wurde 2015 für 85 000 Euro verkauft – so viel kostet das heutige Vorzeige-E-Mobil Tesla S.
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Fotos: Photoshot/InSight media, Rene Fluger/dpa, CTK/Alamy/mauritius images, Glow Images
Als das sogenannte Torpedo-Auto des Belgiers Camille Jenatzy am 29. April 1899 mit über 100 Stundenkilometern einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellte, feierten die Zuschauer den schnellsten Mann der Welt euphorisch. Die Mediziner staunten wiederum: Sie waren skeptisch gewesen, ob der menschliche Körper die Kräfte verkraften und der Erfinder die Fahrt überleben könnte. Schließlich saß Rennwagenpilot Jenatzy aufrecht und ungeschützt auf dem ungewöhnlichen Gefährt in Zigarrenform. Dass der Wagen elektrisch angetrieben wurde, fand hingegen keinerlei Beachtung. Dies war um die Jahrhundertwende nicht ungewöhnlich und es schien, als ob die Zukunft des Automobils rein elektrisch wäre. Bis um 1930 der Markt einbrach. Inzwischen ist die Elektromobilität zurückgekommen. Auch wenn die Gründe andere sind, alternative und saubere Energien gefordert werden. Ob E-Bikes, Elektroroller oder Elektroautos: Idee, Nutzen und Zweck finden Zuspruch, die Anzahl an Neuzulassungen wächst kontinuierlich. Global betrachtet erreicht das Segment der Elektroautos aktuell zwar nur einen Marktanteil von rund einem Prozent, doch fahren mehr als zwei Millionen Fahrzeuge weltweit mit Strom. Politik, Subventionen, Förderprogramme und andere Anreiz-Instrumente zeigen ihre Wirkung. An der Spitze der Elektromobilität stehen China und die USA, die in 2016 gemeinsam einen Marktanteil von rund zwei Dritteln hielten. Vor allem die imposanten Zulassungszahlen in China belegen den Boom. Der Energieanbieter LichtBlick und die Naturschutzorganisation WWF Deutschland legten im Februar 2017 einen umfassenden Report vor. Dieser analysiert, wie Elektromobilität die Energiewende unterstützen kann. Dort heißt es: „China ist nicht nur zum größten Automarkt
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der Welt aufgestiegen, China ist jetzt auch der elektrische Leader mit einer E-Flotte von mehr als 650 000 Autos zum Jahresbeginn 2017.“ Damit verdoppelte sich die Anzahl verkaufter Fahrzeuge zum Vorjahr. Die Maßnahmen der politischen Führung, die den Verbrennungsmotor gerne ablösen möchte, zeigen Erfolge. Wie und vor allem wie schnell die Zukunft der Elektromobilität weiter voranschreiten mag, bleibt spekulativ. Doch ist ihre Geschichte ebenso spannend: Heute kaum vorstellbar, aber zur Jahrhundertwende dominierten mit Strom betriebene Fahrzeuge den Automarkt. Zehntausende von Ihnen surrten nahezu geräuschlos und längst vergessen durch die Städte der Welt.
Mixte-Wagen: Der Lohner-Porsche Automobil Typ II von 1902 verfügte bereits über Hybridelektroantrieb.
Die Erfindung des Automobils schreiben wir dem schwäbischen Tüftler Carl Benz zu. Das stimmt allerdings nur bis zu einem bestimmten Grad – Benz konstruierte ab 1885 das erste Auto mit Verbrennungsmotor. Auf der Weltausstellung in Paris 1855 zeigte dagegen der schottische Autokonstrukteur Robert Anderson einen Elektrokarren, der als Vorläufer der Elektroautos gesehen wird. Als eigentlicher Erfinder gilt der Franzose Gustave Trouvé. Dieser fuhr 1881 in einer Art Dreirad mit Elektomotor durch die Seine-Metropole Paris. Er erreichte 12 Stundenkilometer und kam damit bis zu 40 Kilometer weit. In eine Kutsche baute der deutsche Unternehmer und Erfinder Andreas Flocken 1888 seine MotorVariante ein – der Flocken Elektrowagen gilt als das erste vierrädrige Elektroauto der Welt. Nur wenig später konstruierten Ingenieure aus Westeuropa und den USA eine Vielzahl neuer Modelle. Die Königshäuser rund um die Erde orderten die Wunderkisten. Kaiser Wilhelm stellte etwa 1907 gleich drei mit Batte-
Der Akku wurde mithilfe eines Verbrennungsmotors von Daimler aufgeladen, Antrieb hatten nur die vorderen Räder.
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Der Hauptabsatzmarkt war in den USA. Rund 60 000 batteriebetrie bene Fahrzeuge mischten dort Straßen und Menschen auf. Über 30 000 Neufahrzeuge eroberten allein 1912 die Herzen der US-Amerikaner. Fast 40 Prozent aller Autos wurden zu dieser Zeit mit Strom, 40 Prozent mit Dampf und nur 22 Prozent mit Benzin bewegt. Elektro boomte und der lange ungewisse Ausgang über die Art der Motorisierung schien entschieden. Der Elektroantrieb war gegenüber den lauten und die Umwelt belastenden Benzinern klar überlegen. Verbrennungsmotoren ratterten und ruckelten, stanken und qualmten zuweilen ex trem. Nicht wenige Menschen hatten Angst vor Benzinern, verglichen den Treibstoff mit explosivem Dynamit. Noch mehr vermissten allerdings den Komfort der strombetriebenen Fahrzeuge. Immer dann, wenn sie ihren Wagen mit den noch heute berühmten Kurbeln unterhalb der Motorhaube anwerfen mussten. Die Elektroautos waren nach Knopfdruck sofort mit voller Leistung fahrbereit. Sie benötigten weder eine Kupplung noch ein Getriebe, keinen Auspuff und Kühler. Der führende Autojournalist der Zeit, Louis Baudry de Saunier, notierte: „Der geräuschlose Motor verbreitet weder einen üblen Geruch, noch lässt er weiße oder schwarze Rauchwolken als unangenehmes Zeichen seiner Gegenwart am rückwärtigen Teile des Gefährtes zurück.“ Elektromotoren schienen praktisch unschlagbar und waren umgekehrt unschlagbar praktisch. Ihr Handicap war und ist bis heute die Energiespeicherung, die sich auf Reichweite und Gewicht auswirkt. Der 24-jährige Ferdinand Porsche, Ingenieur und Konstrukteur beim Wiener Hofwagenlieferant Ludwig Lohner, löste im Ansatz das Problem der Reichweite und
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Rekordfahrt: Camille Jenatzy lässt sich am 29. April 1899 feiern, nachdem er die magische Grenze von 100 Stundenkilometern durchbrach.
Zeitdokument: Werbeanzeige der Hupp-Yeats Electric Car Company Detroit aus dem Jahr 1910.
entwickelte das erste Hybridauto – über einen Stromgenerator, der von einem Daimler-Verbrennungsmotor angetrieben wurde. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 feierte man diesen Porsche-Lohner als Sensation. Die Radnabenmotoren befanden sich im Rad selbst und sorgten für einen direkten Vortrieb. Trotz aller Innovation und Begeisterung floppte der LohnerPorsche, denn auch er konnte das Batterieproblem nicht lösen. Baudry de Saunier schrieb: „Die hochsensiblen Batterien liefern trotz eines großen Volumens und Gewichts nur sehr wenig und bloß für kurze Zeit elektrischen Strom.“ So konnten viele E-Wagen bei einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern nur 60 Kilometer zurücklegen. Die Ausnahme war der Detroit Electric von der Anderson Electric Car Company. Der Wagen war seiner Zeit weit voraus, schaffte bis zu 340 Kilometer Strecke – freilich bei nur 20 Stundenkilometern. Der technische Fortschritt, der die Elektroautos in Fahrt brachte, stoppte sie in Person von Charles F. Kettering. Dieser erfand den elektrischen Anlasser, der mitfinanziert von Henry Ford in Serie ging. Ketterings Patent veränderte das 20. Jahrhundert. Die Marke Cadillac stattete 1912 erste Benzinfahrzeuge mit dem elektrischen Anlasser aus. Autos mit Benzinmotor galten von da an als ebenso einfach zu bedienen. Zudem erhöhte sich ihre Leistung dynamisch, während E-Motoren stagnierten. Entscheidend für die Wende war dann jedoch der Preis: Der Detroit Electric kostete 1914 über 3000 US-Dollar – das in Serie am Fließband produzierte T-Modell von Ford nur 300 US-Dollar. Es ist Ironie, dass uns die Historie so vertraut ist. Doch nach über 100 Jahren Fortschritt kreist die Branche noch immer um die gleichen Probleme. Stromer scheiterten einst an hohen Kosten und der Reichweite – potenzielle Käufer von heute zögern aus genau diesen Gründen.
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rien betriebeneelegante „MercédèsÉlectrique“ in seinen Fuhrpark. Ob Kleinwagen oder Autobus, in allen Kategorien entstanden aufgrund der starken Nachfrage Fahrzeuge.
Die wunderbare Welt der FARBEN Frisch, modisch und doch nicht ganz zeitgemäß: Bei Türkis denken viele an Urlaubsfreuden und Accessoires, mit denen sie ihre Kleidung aufpeppen. :: Von Antje Schmitz
Wie sieht Türkis aus? Das empfindet jeder Betrachter anders, denn der Farbton ist nicht näher definiert. Physiker sehen hier klarer. Türkistöne bewegen sich im sichtbaren Spektrum zwischen 490und 495 Nanometer Wellenlänge, also an der Schwelle zu Blau und Grün. Die Bezeichnung Türkis stammt übrigens vom gleichnamigen Halbedelstein. Türkis empfinden und bezeichnen die meisten Menschen als kälteste aller Farben. Zugleich wirkt es jedoch frisch. Gerade deshalb werden Schwimmbecken oft türkis gefliest, weil dadurch das Wasser in ihnen klarer und sauberer aussieht. Auch in Badezimmern war die Farbe einst häufig anzutreffen, ist dort aber gänzlich aus der Mode gekommen und wird nur noch bei Handtüchern oder Pflegeprodukten gewählt. Türkis begegnet uns verstärkt in der Tierwelt, etwa beim Türkis-Diskus oder im Gefieder exotischer Vögel wie den türkisblauen Katharina sittichen. Aber auch eine uns bekanntere heimische Art schmückt sich gerne mit der Farbe: der Eisvogel. Auf seinem Rücken befindet sich ein leuchtend blauer Streifen, der ihn aus der Schar der dezenter gefärbten Vögel hervorhebt. Aufmerksamkeit erwecken modische Damen und Herren, die blaugrüne Accessoires tragen. Mit Ketten, Halstüchern und Krawatten setzen sie Akzente, die zuweilen auf den Schmuck der Navajo-Indianer verweisen. Aber auch Künstler des Jugendstils und des Art déco mochten Türkis. Eine berühmte und stolze Repräsentantin des Türkis ist die Freiheitsstatue, die seit 1886 im Hafen von New York auf Liberty Island steht und ein
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Geschenk des französischen Volks an die Vereinigten Staaten war. Frédéric-Auguste Bartholdi hatte die neoklassizistische, 46,05 Meter hohe Kolossalstatue geschaffen. Sie reckt das Licht der Aufklärung empor und hat Millionen Einwanderer begrüßt, die aus dem alten Europa in die Neue Welt gekommen sind, um dort ihr Glück zu finden. Mit farbenprächtigen Bildern von türkisblauem Wasser locken dagegen die Reiseveranstalter Urlauber aus den wechselhaften mitteleuropäischen Regionen über das Meer in die sonnenverwöhnte Karibik. Wer jetzt an „Miami Vice“ denkt, die US-amerikanische Krimiserie aus den 80erJahren, liegt richtig. James „Sonny“ Crockett und Ricardo „Rico“ Tubbs ermittelten in Floridas Metropole, die das größte Art-déco-Viertel der Welt besitzt. Folgerichtig findet sich Türkis neben Flamingo-Rosa prominent im Serienlogo. 400 Kilometer südlich, auf der Karibikinsel Kuba, cruisen dagegen noch einige der berühmten türkisfarbenen Oldtimer über die Straßen und geben dem Alltag Farbe. Früher wagten die Autohersteller beim Lack mehr. Heute entscheiden sie sich nur alle paar Jahre für eine auffällige Alternative zum gängigen Dunkelblau oder Schwarz. Dann reihen sich türkisfarbene Kleinwagen in den Verkehrsstrom – und fallen angenehm auf. Türkis ist ohne Frage die Farbe für Mutige.
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Stolz: Freiheitsstatue in New York.
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Farbenprächtig: Eisvogel.
Modeschmuck.
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Akzentuiert:
Cool: Cadillac.
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Ein Bild und seine
1.7.1917 :: Von Antje Schmitz
tenen Stadt auf. Umgeben von einem riesigen Hofstaat muss er sich einem strengen Tagesablauf unterwerfen. Unterdessen zerbricht das chinesi sche Kaiserreich unter den Folgen von Korruption und Misswirtschaft sowie den Ambitionen regionaler Kriegsher ren und ausländischer Großmächte.
Am 1. Januar 1912 wird die Repu blik China ausgerufen. Puyi muss am 12. Februar abdanken, darf sich aber weiter mit dem Titel „Kaiser von China“ schmücken und pompös im Palast leben. Als General Zhang Xun sich an die Macht putscht, setzt er den klei nen Puyi am 1. Juli 1917 wieder auf den Thron – für zwölf Tage. Im Jahr 1924 verlässt der in zwischen 18-Jährige seinen gol denen Käfig. Das Schicksal ver schont ihn nicht: Er kollaboriert mit den japanischen Invasoren und gerät 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Fünf Jah re später liefert man ihn an die Volksrepublik China aus; dort steckt man ihn ins Gefängnis, um ihn „umzu erziehen“. 1959 wird er entlassen und arbeitet als Gärtner im Botanischen Garten von Peking, später als Archivar. Am 17. Oktober 1967 stirbt Puyi. Der italienische Regisseur Bernardo Berto lucci setzte dem ernsten und einsamen Kind 1987 mit dem Monumentalfilm „Der letzte Kaiser“ ein Denkmal.
Impressum Herausgeber und Verlag: Deutscher Sparkassen Verlag GmbH, 70547 Stuttgart, Tel. +49 711 782-0 Chefredakteur: Thomas Stoll Stv. Chefredakteur: Ralf Kustermann (Redaktionsleitung), Tel. +49 711 782-1586, Fax +49 711 782-1288, E-Mail: ralf.kustermann@dsv-gruppe.de Art Director: Joachim Leutgen Chefin vom Dienst: Antje Schmitz Layout und Grafik: 7Stars NewMedia, Leinfelden-Echterdingen Autoren und Mitarbeiter: Stefan Dangel, Liora Jacobsen, Ulrich Pfaffenberger, Yorca Schmidt-Junker, Britta Scholz, Birga Teske, Annette Wölfle Druck: MP Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn Anzeigen: Margarete Werdermann, Tel. +49 711 782-1199 Artikel-Nr. 330 155 048
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Foto: Mondadori Portfolio/akg-images
Der Junge ist elf Jahre alt, als man ihn zum zweiten Mal in sei nem noch so jungen Leben zum Kaiser von China ernennt. Nur zwölf Tage wird seine Herrschaft dauern. Ernst blickt der Regent in die Kamera, eingeschnürt in seine pompöse Kleidung – ein Sinnbild des streng geregelten Lebens, das er in der Verbotenen Stadt führt. Puyi kennt jedoch nichts ande res. Er kommt am 7. Februar 1906 im Nördlichen Herrschaftssitz zur Welt, einem Palast nahe Peking. Das Kind entstammt dem mand schurischen Fürstengeschlecht der Aisin Gioro, das seit 1644 die chinesischen Kaiser stellt. Als sein Onkel, der kinderlose Kaiser Guangxu, 1908 im Sterben liegt, installiert die ebenfalls um ihr Leben ringende Kai serinwitwe Cixi den damals zweijähri gen Puyi als Thronerben. Puyi wird am 2. Dezember 1908 in der Halle der höchsten Harmonie auf den Thron gesetzt. Von seinen Eltern getrennt, wächst der kindliche Kaiser, der kein Kind sein darf, in der Verbo
Wilhelm Busch hinterließ der Welt die Geschichte von Max und Moritz. Auch wenn Sie kein berühmter Dichter sind: Sie können etwas Bleibendes für die Nachwelt schaffen. Mit einem Testament oder einer Stiftung zugunsten von UNICEF. Wir informieren Sie gern: UNICEF, Höninger Weg 104, 50969 Köln, Tel. 0221/93650-252, www.unicef.de.
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