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Das Private-Banking-Magazin Ihrer Sparkasse
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Monochrome Momente
Mutiger MĂśnch
Maritime Meisterwerke
Als die Werbung laufen lernte Wie sich in TV-Spots der Zeitgeist spiegelt
Kultwerbung: der Afri-Cola-Spot von 1968 des KĂźnstlers Charles Paul Wilp
Editorial
Warum TV-Werbespots ein Spiegel der Gesellschaft sind
Thomas Stoll, Chefredakteur Deutscher Sparkassenverlag thomas.stoll@dsv-gruppe.de
Was das Fernsehen mit der Werbung gemacht hat, ist vergleichbar mit der Veränderung, die das Internet in unsere Kommunikation bringt. Technik ist hie wie da der Motor: Die gute alte Reklame stieg erst mit der Erfindung und Verbreitung von TV-Geräten zum Alltagsphänomen auf. Sie drang bis in die Wohnzimmer der Republik und damit unweigerlich ins Private vor. Radikale Neuerung gab es also schon lange vor der Digitalisierung. Die laufenden Bilder veränderten indes nicht nur die Wahrnehmung von Produkten. Sie definierten Ästhetik, spielten mit dem Zeitgeist und sind bis heute ein Spiegel von Lebenswirklichkeit und Träumen. Von Beginn an setzte die Werbebranche auf Prominente, die als Botschafter der Marke Sympathie aufbauen sollten. So flimmerte am 3. November 1956 die erste Kauf-michBotschaft mit den Volksschauspielern Liesl Karlstadt und Beppo Brem über Bildschirme. Im Internetdeutsch würde man die beiden heute als „Influencer“ bezeichnen, was mit dem Einfluss zu tun hat, den diese kraft Reichweite, Sympathiewerten und manchmal sogar aufgrund von eigener Kompetenz ausüben.
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Noch immer ist das Fernsehen der größte Werbeträger. Marktforscher Nielsen Media Research zählte 2016 mehr als 2,04 Millionen Minuten Sendezeit in 4,36 Millionen Werbespots und Einnahmen von 4,56 Milliarden Euro. In unserer Titelgeschichte ab Seite 4 nehmen wir Sie mit auf eine Reise durch sechs Dekaden TV-Werbehistorie. Die Spots halten unserer Gesellschaft den Spiegel vor und platzierten auch mal Themen, die damals weit weg vom Konsens lagen, etwa die Emanzipation. Auch die Werbung der SparkassenFinanzgruppe sehen Sie seit Jahrzehnten im Fernsehen. Gerne erinnern wir uns an Spots wie „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“, den roten Helikopter oder an die „Spießer“-Werbung der Landesbausparkassen. Denn sie haben uns die Sparkasse unterhaltsam nähergebracht. Eine anregende Lektüre wünscht
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Inhalt
04 Historisch: Als TV-Werbespots Kommerz und Konsum in die Wohnzimmer brachten.
26 Klassisch: Jachten aus Holz
Fotos: Lambert/Kontributor/Kollektion Archive Photos/Getty Images, Robbe & Berking Classics, Firmenarchiv Dr. August Oetker KG, picture alliance/Westend61, Cover: Steven Taylor/Getty Images, selected-celebs.com
begeistern nicht nur Liebhaber.
04 Im Spiegel der Gesellschaft Vor über 60 Jahren flimmerte der erste TV-Werbespot über die deutschen Bildschirme. Er brachte den Konsum und Kommerz in die Wohnzimmer der Republik. Geradezu ikonische Werbeträger begleiteten uns durch Dekaden, spiegelten gesellschaftliche Werte sowie den Zeitgeist der Generationen. Bis heute prägen uns die bewegten und bewegenden „Kauf-mich-Botschaften“. 10 Auf dem Rücksitz der Republik Wenn unsere Bundeskanzler mit dem Auto zu einem öffentlichen Auftritt vorfahren, blicken wir auf Fahrzeuge der Premiumklasse. Staatskarossen sind vor allem komfortabel und sicher. Einst spielte auch ihre Marke eine Rolle.
16 Die schöne Migrantin Sultane verehrten die Schönheit der Tulpen, bevor diese im Amsterdam des 17. Jahrhunderts für Aufsehen sorgten. 20 Alles andere als farblos Schwarz-Weiß-Fotografie ist magisch und zieht mit ihrer monochromen Kraft und Tiefe viele Bewunderer an.
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Kolumne Das Gedicht Kunst Die wunderbare Welt der Farben 34 Ein Bild und seine Geschichte 34 Impressum
24 Das Gespür für Äpfel Thomas Kohl und seine erlesenen Säfte erinnern an die Welt der Winzer. 26 In alter Tradition über alle Meere Klassische Jachten, aus Holz gebaut, sind die Leidenschaft und Kunst von Robbe & Berking Classics. Auf der Werft entstehen maritime Meisterwerke.
16 Exotisch: Tulpen kamen im 17. Jahrhundert nach
14 Tradition verpflichtet Hierzulande mag der Kimono exotisch und doch auch elegant wirken. In ihm verknüpfen sich Kultur und Kunst.
30 Der Unbeugsame Vor 500 Jahren läutete Martin Luther die Reformation ein. Bis heute bleibt er ein Mysterium und zugleich Vorbild.
Amsterdam.
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Im Spiegel der Gesellschaft Die Welt der bunten TV-Spots: Ein Streifzug durch die Dekaden zeigt, wie Werbung mit dem Zeitgeist spielt – und ihn mitunter prägt. :: Von Yorca Schmidt-Junker
Die Trümmer sind beseitigt, die Welt ist wieder in Ordnung und das Familienleben heilig. Inmitten dieser vermeintlichen Nachkriegsidylle öffnet sich plötzlich das Tor zu einer neuen, verheißungsvollen Dimension. Man schreibt den 3. November 1956, als die bayerischen Volksschauspieler Liesl Karlstadt und Beppo Brem im ersten, 55 Sekunden dauernden Fernsehspot der deutschen TV-Geschichte in einer Restaurantszene das Waschmittel Persil bewerben – und damit die Ära des Massenkonsums einläuten. Die laufenden Bilder veränderten nicht nur die Wahrnehmung von Konsumgütern; sie definierten eine gänzlich neue Ästhetik, spielten mit dem Zeitgeist und wurden zunehmend zum Spiegel aktueller Lebenswirklichkeit – und zur Projektionsfläche für Träume. Was man haben, wie man leben und sein wollte: Die Werbespots gaben es vor. Tobias Grewe, geschäftsführender Gesellschafter der Agentur Serviceplan Köln: „Werbung griff von Anbeginn sowohl den Status quo als auch Trends, Moden und neue Strömungen in der Gesellschaft auf, die sie dann in passende Bilder und Botschaften kleidete.“ Grewe muss es wissen, sein Unternehmen verantwortet Kampagnen für Becks, BMW und die Deutsche Telekom. Dem Wandel der Zeit und der Werte unterworfen, musste sich auch Werbung inhaltlich, dramaturgisch und ästhetisch immer wieder neu ausrichten, um nachhaltig sichtbar und relevant zu sein. Als
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1957 Dr. Oetker: Die Frau darf backen, der Mann muss arbeiten. Der Backin-Spot bringt das eheliche Rollenverständnis der Adenauer-Zeit auf den Punkt.
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Foto: Lambert/Kontributor/Kollektion Archive Photos/Getty Images, Firmenarchiv Dr. August Oetker KG
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Foto: Dennis Hallinan/Kollektion Archive Photos/Getty Images, FrauAntjeTV
1975 Antje Pikantje: Die blond bezopfte Holländerin wird zur Botschafter ikone für Goudakäse. Sie markiert mit ihrer Expertise einen neuen Werbetypus, der größtmögliche Authentizität und Glaubwürdigkeit
Foto: Dennis Hallinan/Kollektion Archive Photos/Getty Images, FrauAntjeTV
verkörpert.
z eitloseste Komponente und somit Allzweckwaffe ikonischer Spots hat sich dabei Humor erwiesen. Das bewies auch die Sparkasse, die über Jahrzehnte auf Witz, Ironie und parodistische Elemente bei ihrer TV-Werbung setzte. Man erinnere sich an das Wortgefecht der alten Schulfreunde von 1998, mit dem der Spruch „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ zum geflügelten Satz einer Dekade wurde. Oder den legendären „Kuchen“-Clip von 2011, in dem ein Mitarbeiter-Meeting der fiktiven „08/15-Bank“ ad absurdum geführt wird. Generell gehen Werbespots im Laufe der Jahrzehnte weg von rein aufklärerischer, auf Informationen basierender Funktion, hin zum maßgeschneiderten Storytelling mit teils hollywoodesker Anmutung. 4,56 Milliarden Euro verdienten die TV-Sender mit Werbung 2016. Für Hersteller und Marken gilt dabei, die so schlichte wie aggressive Botschaft des „Kauf mich!“ in einzigartige, kongeniale Erzählkontexte einzubetten und sich durch Distinktion, Originalität und eine klare Vision Aufmerksamkeit zu sichern. Doch schon die alten Spots erzählten trotz vergleichsweise narrativer Schlichtheit Geschichten, in denen viel über damalige Werte, Moralvorstellungen und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau veranschaulicht wird. Natürlich brachen gesellschaftliche Muster mit der Zeit auf; und die Werbung musste darauf reagieren. Dabei stieg sie mitunter vom bloßen Abbild zum Vehikel für neue soziokulturelle Phänomene auf. Sujets wie Emanzipation, Selbstverwirklichung und Freizügigkeit tauchten in der Werbung bereits auf, als sie noch längst nicht zum breiten Konsens gehörten. Ein Streifzug durch die Dekaden deutscher TV-Werbung lässt Rückschlüsse auf die Befindlichkeiten, Freuden und Träume, Ängste, Nöte und Sorgen der Gesellschaft zu. Die Zielgruppe der 1950er-Jahre war klar eingegrenzt und wenig diversifiziert. Sie beschränkte sich auf wohlstandsfixierte Familienväter und ihre ergebenen, koch-, back- und bügelfreudigen Ehefrauen. Marken wie Dr. Oetker veranschaulichten das. Im Backin-Spot doziert eine männliche Sprecherstimme über weibliche Privilegien, wonach die Frau es besser habe: „Sie darf backen!“ Weiter gehend versteigt sie sich zu der These, dass es im Leben der Frau nur zwei Fragen gebe: „Was soll ich anziehen? Und was soll ich kochen?“ Das traute Heim wird huldvoll inszeniert, es geht
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betont gemütlich, bieder und traditionell zu. Sauberkeit in Gestalt der vielen Waschmittelwerbungen gilt als das Maß aller Dinge. Werbepsychologe Jürgen Krause: „Die typisch deutsche Sauberkeit hatte eine tiefer gehende Bedeutung. Sie stand implizit für das Sich-rein-Waschen von der Kriegsschuld. Mit ihr ließen sich symbolisch die letzten Reste der Geschichte tilgen.“ Im Jahr 1957 kam mit der ersten animierten Werbefigur Schwung auf: Bruno, das cholerische HB-Werbemännchen. Die Idee hatte Theo Breidenbach. „Ich wollte eine Figur haben, die Probleme des Alltags erlebt und mit der sich jeder identifizieren konnte“, erklärte er. Die Umsetzung übernahm Roland Töpfer, ehemals Zeichner der Deutschen Film AG, des Filmunternehmens der DDR in Potsdam-Babelsberg. Bruno wurde über viele Jahre zum Liebling der Deutschen, die sich nicht sattsehen konnten an seinen Pannen und Ausfällen. „Brunos Abenteuer markierten die Geburtsstunde des Storytellings in Deutschland“, so Grewe. „Kleine Filme, in denen der Held eine Krise durchlaufen musste und am Ende gestärkt mit einer Zigarette als glücklicher Sieger aus den Tücken des Alltags hervorgeht.“ In den 1960er-Jahren drängen internationale Produkte wie Marlboro und Coca-Cola auf den Markt. Die Werbung wird vielfältiger und distinguierter, Exzellenz und Internationalität sind Leitmotive vieler Spots. Es treten ausgewiesene Experten auf, die für „Echtheit“ und Qualität ihrer Produkte stehen sollen. Allen voran Frau A ntje aus Holland, die erstmals 1961 im d eutschen Fernsehen erscheint, gewandet in die typische Tracht Südhollands samt Spitzhaube und Holzschuhen, um „ihren“ Hollandkäse zu promoten. Klementine wiederum, die ab 1968 mit Latzhose und Käppi selbstbewusst wie kompetent für Ariel wirbt, mutiert zur ersten androgynen Werbefigur der Geschichte und distanziert sich damit vom bisherigen Bild der adretten, devoten Hausfrau. Gegen Ende der Dekade finden die Werber eine neue Zielgruppe: die inzwischen erwachsene Nachkriegsgeneration, die für Rolling Stones, außerparlamentarische Opposition und den Summer of Love schwärmt. Ihnen setzt der Werber und Künstler Charles Paul Wilp 1968 mit dem berühmt-berüchtigten Afri-Cola-Spot ein Denkmal. Hinter einer vereist-verrauchten Glaswand berauschen sich ätherische M odels, sündige
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Mit Einführung des Privatfernsehens, das sich primär über Werbeeinnahmen finanzieren sollte, folgte in den 1980er-Jahren die Dekade des ultimativen Werbebooms. Die Gesellschaft frönte dem Rausch des Kapitalismus. Krause: „Elitäres Markenbewusstsein und eine hedonistische Attitüde gehörten zum soziokulturellen Kanon der 1980er-Jahre.“ Diesen Lifestyle zelebrierte TVWerbung in Form von Clips, die Genuss, Exotik und einen Hauch von Dekadenz verströmten. Ikonisch werden artifizielle, in kühlen Bildern gefilmte Campari-Spots, die den Narzissmus einer ganzen Generation abbilden, während die Dreiwetter-Taft-Frau, geschäftig einem Businessjet entsteigend, 1989 zur Symbolfigur für vermeintliche Frauenpower und Weltbürgertum wird. Die 1990er-Jahre prägten der Mauerfall und die New Economy. Die Werbung wird spezifischer, weil sie die Bürger der neuen Bundesländer als Zielgruppe fokussieren muss. Ein riesiger unerschlossener Markt lockt die Unternehmer und Werber. „Die 90er werden zu Recht als das goldene Jahrzehnt der Branche bezeichnet“, sagt
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2006 Tobias Grewe. „Zumal mit der New Economy und der Entstehung einer Aktienkultur ganz neue Werbekunden auf den Plan traten.“ Amerikanische Großkonzerne wie AOL schalten Kampagnen, für die sie Boris Becker anheuern. Die Tennislegende ist dabei nur einer von vielen deutschen Prominenten, die in dieser Zeit zu Werbe-Ikonen stilisiert werden. Schauspieler Manfred Krug wirbt 1996 für die Telekom-Aktie, Thomas Gottschalk für Haribo, Claudia Schiffer für Citroën und Steffi Graf für Barilla-Nudeln. Das anbrechende Millennium läutet eine neue Epoche der Fernsehwerbung ein. Mit fortschreitender Digitalisierung geht die Werbung globale Wege, Kampagnen sowie Testimonials werden international. Deutsche Autokonzerne verpflichten Formel-1-Weltmeister, Kosmetikund Modekonzerne wie L’Oréal, Lancôme und Chanel setzen in Spots auf Gesichter berühmter Aktricen und Supermodels wie Penélope Cruz und Gisele Bündchen. Auch die Sparkassen setzen auf weltberühmte Testimonials: 2002 „engagieren“ sie Waldorf und Statler, die berüchtigten älteren Herren der Muppet Show, die in ihrer Theaterloge gewohnt bissig und humorvoll über den vermeintlichen Wohlstand junger Leute lästern. Ob Puppen oder Schauspielstars: Bekannte Gesichter befördern den Anspruch der Clips, eine unverwechselbare Geschichte zu erzählen. Bestes Beispiel dafür sind die Nespresso-Kampa gnen mit George Clooney, die ihn in wechselnden Locations und Ländern zeigen mit fortschreitender Geschichte und die ironische R ückbezüge
Nespresso: ein Amerikaner, der in einer Londoner Kaffeeboutique für ein Schweizer Produkt wirbt. George Clooney läutet die Ära globaler Werbung ein, die auf Filmstars aus Hollywood setzt. Fotos: Getty Images/ONOKY/Eric Audras/Robert Daly, ddp images Planet Photos/Target Press
Nonnen und langhaarige Anhängerinnen der Beatmusik an der braunen Brause, untermalt von LSD-geschwängerten, extraterrestrischen Tönen und dem verrücktesten und längsten Claim aller Zeiten: „Sexy-mini-super-flower-popop-cola – alles ist in Afri-Cola“. Mehr Provokation ging nicht. Auch deshalb wohl ließen die Macher des TV-Spots der Seife Fa ihr Model im folgenden Jahr gleich ganz nackt auftreten. Diese Freizügigkeit hielt in den 1970er-Jahren nur bedingt an. Die Werbung wurde zwar fantasievoller, unterhaltsamer und emotionaler, gleichzeitig fand jedoch eine Versachlichung statt. Die verkörperte niemand besser als der stocksteife Persil-Mann, der Werbung wie Nachrichten aussehen ließ. Oder die stets lächelnde, bis zur Schmerzgrenze konturlose Frau Sommer aus der Jacobs-Kaffeewerbung. Und Fußballkaiser Franz Beckenbauer wirkte auf dem Werbeparkett für Suppen ungemein hölzern. Da waren die tierischen Testimonials weit unterhaltsamer. Milka präsentierte 1973 die lilafarbene Kuh, die so stoisch wie glaubwürdig für Schokolade warb. Und Duracell setzte auf einen rosafarbenen, batteriebetriebenen Plüschhasen, der dauertrommelnd zum Synonym für Energieeffizienz wurde.
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auf die Privatperson Clooney gewähren. Auf der anderen Seite setzt sich in Deutschland eine Form von „Trash“-Werbung durch, die mit gezielt aggressiv-provokanten Claims bewusst auf Konfrontation gehen. „Geiz ist geil!“, „Ich bin doch nicht blöd!“ und „Da werden Sie geholfen!“ werden zu geflügelten Worten, die den dahinterstehenden Unternehmen größtmögliche Aufmerksamkeit und Distinktion bescheren. Wie Experten Werbung der 2010er-Jahre rückblickend beurteilen werden, bleibt abzuwarten. Fakt ist: Durch die sozialen Medien und ihre Verbreitung sowie die neuen Distributionskanäle wie Youtube oder die Streamingdienste wird Werbung zunehmend viral. Die Werbegeschichte muss aufgrund von Digitalisierung und technischem Fortschritt ganz neu erzählt werden. „Die Medien sind heute viel diversifizierter und komplexer, das Fernsehen wird für die Generation der Millennials zunehmend bedeutungslos“, so Tobias Grewe. „Deshalb müssen Spots heute in verschiedenen Umfeldern funktionieren. Sie müssen an Content angebunden sein, der sich online verlängert und dort weiterentwickelt wird.“
2014 Chanel No. 5: Mehr Filmkunst als Werbespot – Starregisseur Baz Luhrmann inszeniert Supermodel Gisele Bündchen in reinster Kinomagie. Da
Wie das gelingen kann, zeigte der „Supergeil!“Spot von Edeka, der 2014 auf Youtube geschaltet wurde und innerhalb weniger Tage vier Millionen Klicks generierte. In dem dreiminütigen Video tänzelt der Berliner Künstler Friedrich Liechtenstein durch einen Edeka-Supermarkt und diverse Settings, um Kekse, Müsli und Würstchen aus dem Sortiment zu bewerben. Der Clip katapultierte die Bekanntheit der Supermarktkette in neue Höhen, vor allem bei der jungen Zielgruppe. Die Sparkassen hingegen setzten 2016 auf Facebook, wo sie mit gewohnt gewitzter Werbung in Form perfekter „Jugendsprech“-Claims – „Gönn Dir ist einfach. Wenn man 1 gute Bank hat vong Vorsorge her.“ – einen viralen Hit landeten. Grewe, Krause und andere Experten prognostizieren, dass Clips mit direkter Social-MediaAnbindung, interaktiven Elementen und Testimonials die nähere Zukunft bestimmen werden. Wobei eingängige Claims und Musik aufgrund ihres emotionalen Charakters weiterhin wichtige Komponenten bleiben. Werbekunst und Kommerz werden weiter Hand in Hand gehen. Aber ob die Clips der Neuzeit auch Kult werden, darüber entscheidet die nächste Generation …
wird der Duft fast nebensächlich.
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Auto-Ausgleich: Im Gegensatz zu
Auf dem Rücksitz der Republik Die Staatskarossen der deutschen Bundeskanzler haben eine wechselvolle Geschichte und sind stark geprägt vom Typ des Politikers. Neben Komfort bieten sie vor allem eines: Sicherheit.
ihrem Vorgänger hat Angela Merkel ein rationales Verhältnis zu ihrer Flotte und ist um Gleichbehandlung der großen Marken bemüht.
:: Von Wolfgang Hörner
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Foto: ullstein bild – Reuters/CHRISTIAN HARTMANN
Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem offiziellen Termin vorfährt, steht die Frage, in welchem Automobil sie chauffiert wird, meist im Hintergrund. Dabei hat die „A-Frage“ durchaus ihre Berechtigung. In welchem Fahrzeug die Bundeskanzlerin sitzt, ist längst keine rhetorische Frage mehr. Neben Modellen von Mercedes-Benz stehen ihr Fahrzeuge von BMW und Audi zur Verfügung. Ist sie im Ausland, kann es insbesondere bei kurzfristig organisierten Reisen ein Cadillac in den USA oder ein Maserati in Italien sein. Es ist noch nicht lange her, da gab es zumindest bei der innerdeutschen Beförderung nur eine Wahl: Mercedes-Benz. Ein Jahrhundert lang – bis zum Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl – prägten die Stuttgarter das Bild der großen Staatskarossen. Schon Kaiser Wilhelm II., der unter anderem auch dadurch legendär wurde, dass er noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Auto
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mobil für eine kurzfristige Modeerscheinung hielt, setzte auf den „guten Stern“. In den unruhi gen 1920er-Jahren setzte sich keine Staatsmarke durch, doch entstanden bei Mercedes-Benz die ersten gepanzerten Limousinen – freilich nicht für deutsche Politiker, sondern etwa für den japanischen Kaiser Hirohito. Während der Zeit des Nationalsozialismus formte sich ebenfalls kein klares Bild von der Staatskarosse. In der Nachkriegszeit wurden dann schwarze Limousinen zur bevorzugten Wahl von Politikern. Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Stab entschieden sich gleich aus mehreren Gründen für Mercedes-Benz. So hatte der Zweite Weltkrieg die Zahl der Automarken in Deutschland reduziert und auch zum Aus von Luxusmarken wie Maybach und Horch geführt. Der Stuttgarter Autobauer wurde damit endgültig zum Aushängeschild deutscher Fahrzeugtechnik, was für ihn als Kanzlerausstatter sprach. Als Newcomer drängte allerdings BMW mit den im Volksmund Barockengel genannten Typen 501 und 502 in das Segment großer Limousinen. Konrad Adenauer registrierte das wohlwollend und ließ den Hersteller aus Bayern zu Probefahrten antreten. Doch er – die Legende will es so – stieß sich beim Einsteigen so sehr den Kopf, dass er aus lauter Ärger BMW von der Beschaffungsliste strich. Barocke Formen durften zur Nachkriegszeit allerdings sein, und so fiel die Wahl des Bundeskanzlers auf den Mercedes-Benz 300 Typ W 186. Er war die erste Repräsentationslimousine nach dem Krieg und Symbol für Luxus. Das bis 1964 produzierte Fahrzeug blieb rar und fest mit dem Politiker verbunden. Wird heute vom AdenauerMercedes gesprochen, wissen Oldtimerliebhaber genau, von welchem Modell die Rede ist. Tatsächlich wählten auch andere Staatsmänner den 300er-Mercedes. König Gustav VI. Adolf von Schweden, Kaiser Haile Selassie von Äthiopien oder der Schah von Persien begeisterten sich für ihn. Überall dort, wo deutsche Produkte in der Nachkriegszeit nicht negativ behaftet waren, fanden Politiker Gefallen an dem Fahrzeug. Es kam auch als viertüriges Cabriolet bei Staatsempfängen zum Einsatz – eine heute praktisch ausgestorbene Karosseriespezies. Der Wechsel zu einem anderen Fahrzeugtyp fand erst 1964 statt, als der kantige MercedesBenz 600 zu dem Repräsentationsfahrzeug
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Die große Zäsur bei den bundesdeutschen Staatskarossen erfolgte mit Gerhard Schröder. Als ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen saß er als erster Kanzler auch im Aufsichtsrat von Volkswagen. Mit seiner Wahl zum Bundeskanzler startete die Karriere der VW-Tochter Audi in der Politik. Schröder wählte den großen A8 als Alternative zur Mercedes-Benz-S-Klasse. Da gleichzeitig Volkswagen mit der Limousine P haeton in diese Fahrzeugklasse vordrang, kam in Schröders zweiter Amtszeit auch die Marke VW zu politischen Ehren. Eine Periode, die jedoch nur kurz dauerte, weil sich die Wolfsburger wieder aus dem Segment zurückzogen. Mit BMW zog aber eine weitere Marke ins politische Berlin. Er sei der Kanzler aller Autos, betonte Gerhard Schröder Ende der 1990er-Jahre, und so ließ das Kanzleramt auch jenes Fabrikat zu, das bis dahin die politischen Kontrahenten in Bayern fuhren. Gleichwohl waren es nicht die ersten Gehversuche von BMW in der großen Politik. FranzJosef Strauß zählte als Bundesminister zwar zu den zufriedenen Mercedes-Benz-Nutzern, konnte
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es als bayerischer Ministerpräsident aber nicht verwinden, im Stuttgarter Fabrikat unterwegs zu sein. So entstanden auf seinen direkten Wunsch spezielle 7er-BMW, die sporadisch durch die Straßen von Bonn und Berlin rollten. Auto-Kanzler: Gerhard S chröder brachte den VWKonzern in den Dienst der Spitzenpolitik. Audi ist bis heute im Fuhrpark.
Luxussymbol: Adenauer schätzte seinen Dienstwagen so sehr, dass eine ganze Baureihe einfach AdenauerMercedes hieß.
Als Angela Merkel 2005 die Regierungsgeschäfte übernahm, erbte sie einen großen, gemischten Fuhrpark. Doch während Schröder ausgewiesener Automann war, ist Merkel sachlich nüchtern geblieben. Sie setzt Autos der drei deutschen Premiumhersteller Audi, BMW und MercedesBenz abwechselnd ein. Die Entscheidung über den Wagen erfolgt situativ: Wo ist welches Fahrzeug verfügbar? Selbst wenn die Flotte groß ist, mietet das Bundeskanzleramt zuweilen Autos von Herstellern an. Charakteristisch ist der hohe Komfort. Das betrifft Platzangebot und Ausstattung gleichermaßen. Allerdings haben sich die Ansprüche gewandelt. Während Adenauer und Erhard durchaus längere Strecken im Auto zurücklegten, nimmt die Bundeskanzlerin weit seltener einen Dienstwagen. Sie fliegt mehr denn je per Hubschrauber. Langstreckenkomfort, wie ihn der Geschäftsreisende etwa mit Hightech-Infotainmentsystemen im Auto schätzt, ist nicht gefragt. Bequeme Sitze, Platz für Begleitpersonen und moderne Kommunikationstechnik stehen im Fokus. Und natürlich die Sicherheit. Sie hat von jeher einen wesentlichen Einfluss auf die Fahrzeugwahl. Spätestens seit dem Terror der RAF in den 70er-Jahren fahren Spitzenpolitiker in gepanzerten Limousinen, sogenannten Sonderschutzfahrzeugen. Äußerlich kaum von regulären Fahrzeugen zu unterscheiden, halten sie mit kugelsicherem Glas und ballistischer Dämmung aus Stahl und Kunststoff Angriffen mit Schusswaffen stand. Je höher die Gefährdungsstufe, desto aufwendiger und teurer ist der Schutz, der auch Raketen- und Bombenangriffen standhalten soll. Außen- und Wirtschaftsminister stehen auf der Risikoliste weit oben, die Bundeskanzlerin rangiert darüber – ganz wie in der Politik.
Fotos: ddp images/Sven Simon, ullstein bild/Herbert Maschke, Prof. Dr. Guido Quelle
schlechthin wurde – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Außergewöhnlich, dass die Stuttgarter ihn bis 1981 optisch unverändert fertigten. Ebenso verblüffend: Die Langversion des 600ers sah man bis vor wenigen Jahren noch regelmäßig im politischen Dienst von Ägypten, Algerien, Ghana, Jordanien, Österreich sowie der Türkei. In Deutschland nutzten sie Erhard, Brandt, Kohl sowie Bundespräsidenten. Weil die Limousine so selten blieb und regelmäßig in Nachrichtensendungen zu sehen war, prägte sie sich in der Öffentlichkeit als Fahrzeug hochrangiger Politiker ein. Dies steigerte die Reputation von Mercedes-Benz. Ab den 1970er-Jahren bauten die Schwaben diesen Vorsprung aus. Die S-Klasse entwickelte sich über verschiedene Modellreihen hinweg zum Politikerfahrzeug Nummer eins. Sie ist mit der Regierungszeit Kohls genauso eng verbunden wie die Wiedervereinigung.
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Warum Wachstum so wichtig ist Neuen Schub für ein Unternehmen gibt es dann, wenn es gelingt, die internen Bremsen zu lösen. Dafür bedarf es viel Aufklärungsarbeit, denn gesundes, profitables Wachstum kommt immer von innen. Sein Schlüssel ist die Innovation. :: Von Guido Quelle
Ist Wachstum wirklich erforderlich? Eine Frage, die man mir häufig stellt. Meine Antwort dazu ist immer dieselbe: Ja! Unternehmen müssen wachsen. Wer nicht wächst, stirbt. Das Interessante daran: Selbst um den Standard von heute zu halten, müssen Unternehmen wachsen. Wer das nicht akzeptiert, hat ein echtes Zukunftsproblem. Dabei geht es bei Wachstum nicht um ein reines „Mehr des Gleichen“. Dies würde dem Sinn des Wachstums nicht gerecht. Leider wird Wachstum immer wieder auf dieses „Mehr des Gleichen“ reduziert, und schon reden sich Menschen heiß über die sogenannten Grenzen des Wachstums, die irgendwann erreicht seien. Es geht aber gar nicht darum, immer dasselbe zu tun, nur in größerer Menge oder Intensität. Nein, es geht um intelligentes Wachstum und um profitables Wachstum obendrein. Gesundes, profitables Wachstum, das muss das Ziel sein, und dieses Wachstum entsteht nur durch Innovation. Mehr noch: Dieses gesunde, profitable Wachstum kommt stets von innen. Von innen? Jawohl, es muss aus dem eigenen Unternehmen stammen. Der Umkehrschluss ist zulässig: Schuld an mangelndem Wachstum ist nicht die Konjunktur, die Politik, das Wetter oder der dumme Kunde, der es einfach nicht verstehen will. Die Ursache für Wachstum oder mangelndes Wachstum liegt stets im eigenen Unternehmen. Wie sonst wäre erklärbar, dass sich manche Unternehmen viel besser entwickeln als Wettbewerber gleicher Größenordnung in der gleichen Branche? Erinnert sich noch jemand an Praktiker? Hornbach prosperiert. Um den Ursachen für mangelndes Wachstum auf die Spur zu kommen, ist es zunächst zwingend erforderlich, sich auf die im Unternehmen
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wirkenden Bremsen (und Bremser) zu konzen trieren, denn diese Bremsen sind es, die die Kraft des Unternehmens oft verbrauchen. Der Bremser ist immer stärker als derjenige, der Gas gibt. Wir kennen das: Motor an, linker Fuß voll auf die Bremse, rechter Fuß aufs Gas. Das Auto bewegt sich keinen Zentimeter, bis die Bremse gelöst wird. Dann aber schnellt es voran. Wo finden sich diese Hindernisse im Unternehmen? Ich habe zahlreiche Veröffentlichungen und Bücher zu diesem Thema verfasst, viele Projekte mit meinem Team begleitet und sicher 100 Vorträge zum Thema gehalten, sodass ich mir erlaube, einige Muster erkannt zu haben. Es hat sich empfohlen, zunächst den größten internen Engpass zu entdecken und bereichsweise im Unternehmen vorzugehen. Bedauerlicherweise wird man oft den Vertrieb als größten Engpass erkennen. Als Motor des Wachstums gedacht, entpuppt er sich bei genauerem Hinsehen häufig als Barriere des Wachstums: Silodenken, mangelnde Verbindlichkeit, mangelnde Strategie, Intransparenz, falsche Belohnungssysteme, unzureichende Kenntnis über Kundenbelange sind nur einige der potenziellen Bremsen-Orte, die es zu lösen gilt. Aber nicht nur der Vertrieb birgt Bremsen, auch im Marketing, in der Produktion, im Einkauf und in den Supportbereichen lauern zahlreiche Hindernisse. Wer diesen Blockaden wirklich auf die Spur kommen will, darf nicht vor unlieb samen Wahrheiten zurückschrecken. Will man wirklich eine neue Grundlage schaffen, gesund profitabel zu wachsen, wird man Enttäuschungen erleben, aber man wird später belohnt, denn wahres Wachstum kommt von innen.
Prof. Dr. Guido Quelle ist Experte für das Thema Wachstum. Als Autor veröffentlichte er dazu 16 Bücher und mehr als 400 Fachartikel. Zugleich arbeitet er als Berater, Redner und Unternehmer. In der Mandat Managementberatung GmbH mit Hauptsitz in Dortmund und Büros in London und New York ist er geschäftsführender Gesellschafter.
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Tradition verpflichtet Der Kimono ist mehr als ein Kleidungsstück. Er ist Kulturgut und Kunstgegenstand. Jahrhundertelang spiegelten seine Farben und Muster den Wandel. :: Von Birga Teske
Wenige Kleidungsstücke sind so schlicht in der Form und so extravagant in der Herstellung wie der Kimono. Tatsächlich war das Gewand zur Zeit seiner Entstehung in der Heian-Zeit (794–1192) eine Alltagstracht. Angelehnt an die aktuelle Mode der chinesischen Tang-Dynastie, entwickelte sich am Hof der früheren japanischen Kaiserstadt Kyoto der noch heute gültige T-förmige Schnitt des Kimonos, der sich in allen Bevölkerungsschichten durchsetzte. Schmückten sich die Ehefrauen, Konkubinen und Töchter des Tenno – des Kaisers – mit zwölf übereinandergezogenen Kimonoschichten aus feinster Seide, so kleideten sich die Damen der Samurai-Familien, der Kaufmannschaft oder des Bauernstands bedeutend schlichter. Zur genauen Abgrenzung der gesellschaftlichen Ränge spielte neben der Qualität des Stoffs auch die Farbe eine wichtige Rolle. So durften bestimmte Farbtöne nur von Adeligen eines bestimmten Ranges getragen werden. Andere Nuancen waren den Damen der kaiserlichen Familie vorbehalten. Auch in den niederen Ständen signalisierte die Farbe der Kleidung über Jahrhunderte die soziale Stellung. Während der Edo-Zeit (1603–1868) erlebte der Kimono eine wahre Blüte. Die politische Stabilität brachte Wohlstand, ließ die Bevölkerung in Städten wie Tokio anschwellen und bescherte Seidenhändlern, Tuchherstellern und Schneidern volle Auftragsbücher. Asymmetrische große Muster kamen in Mode. Aufgestickte Blüten, Vögel oder Landschaften bedeckten die Oberfläche. Heutzutage kann fast keine Japanerin mehr ohne Hilfe einen Kimono anziehen. Das Anlegen der Unterkleidung, das exakte Falten und Fixieren des überlangen Gewands und das kunstvolle Binden des sogenannten Obi, des Gürtels, erfordern erhebliches Geschick. Deshalb – und wegen der hohen Kosten für Kauf und Reinigung – tragen die meisten Japanerinnen das Gewand nur zu besonderen Feierlichkeiten wie Hochzeiten oder Volljährigkeitsfeiern.
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Farbenprächtige Eleganz: Models präsentieren auf der Tokyo Fashion Week die Entwürfe des japanischen Stardesigners Jotaro Saito zur Herbst-Winter-Kollektion 2017.
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Foto: TORU YAMANAKA/freier Fotograf/Getty Images
In heißen Sommernächten, wenn Schinto-Schreine zu Sommerfesten einladen oder Feuerwerke zahlreiche Zuschauer anlocken, tragen viele Besucher leichte Sommerkimonos namens Yukata. Sie ähneln vom Schnitt den traditionellen Kimonos, sind aber aus Baumwolle oder Polyester gefertigt und extrem pflegeleicht. Der Seidenkimono wiederum erlebte seine letzte Renaissance in den 1970er-Jahren. Wer es in Zeiten des Wirtschaftsbooms zu Wohlstand gebrachte hatte, leistete sich Exemplare für viele Tausend Euro pro Stück. Dazu boten hochklassige Designer und Hersteller exquisite handgewebte Obis mit Gold- oder Platinfäden für mehrere Zehntausend Euro in den Geschäften feil. Je nach Machart dauert der Produktionsprozess mehrere Wochen. Jedes der in Handarbeit hergestellten Gewänder ist ein Unikat. Auch deshalb gibt es sie noch immer, die treuen Kimonofans. Weil sie gleichzeitig Kunst- und Gebrauchsgegenstand sind, werden Kimonos oft mit Perserteppichen verglichen. Noch dazu erzählt jedes der Gewänder ein Stück Familiengeschichte. Farben, Muster und Schnitt des Kimonos beeinflussen seit Langem die westliche Kunstszene. Designer wie Jotaro Saito entwerfen Kimonos für ein internationales Publikum. Seine unverwechselbaren und edlen Kreationen zählen zu den jährlichen Höhepunkten auf der Tokyo Fashion Week. Geometrische Formen dagegen sind das Markenzeichen von Takahashi Hiroko. Sie arrangiert Kreise und Linien zu zeitlos eleganten Mustern und spielt, wie sie selbst sagt, am liebsten mit den „unendlichen Möglichkeiten, die in den Grenzen der Form liegen“. Während manche Traditionalisten moderne Entwürfe ablehnen, verteidigt Saito die neue Vielfalt. In der Vergangenheit sei die Auswahl der Farben und Muster der Kimonos zu häufig nicht von der persönlichen Vorliebe, sondern von Alter, Geschlecht oder Familienstand vorgegeben gewesen. „Wir müssen Kimonos ohne Regeln herstellen“, sagt er.
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Die schöne Migrantin Im Kino grassiert das „Tulpenfieber“ – ein Kostümfilm, der von Liebe, Eifersucht und Blumen erzählt und ins Amsterdam des 17. Jahrhunderts führt. Die schon von Sultanen verehrten Liliengewächse gelangten über Handelswege nach Europa. :: Von Julia Lutzeyer
Die weiße Lilie steht für Reinheit. Die rote Rose ist ein Symbol leidenschaftlicher Liebe. Und die Tulpe? Leuchtend und in all ihrer Vielfarbigkeit? Bekommt man sie überreicht, zumeist nicht solitär, sondern in einem Strauß, sollte man sich über eine mögliche Bedeutung besser nicht den Kopf zerbrechen, denn aus der Tulpe wird auf Anhieb niemand schlau. Zu widersprüchlich sind ihre Botschaften, beherzigt man die Blumensprache in der Poesie von Lady Mary Wortley Montagu. Die englische Schriftstellerin erlangte im 18. Jahrhundert mit ihr einige Achtungserfolge. Tulpen bekennen: „Ich bin vor lauter Liebe im siebten Himmel“; und klagen an: „Du bist zu wahrhaftigen Gefühlen nicht fähig.“ Über 150 Tulpenarten gibt es in Nordafrika, Europa und Zentralasien. Zahlreiche Hybriden der auch als Frühlingsbote bezeichneten Blume finden sich als Zierpflanzen in öffentlichen Parks oder als Schnitt in Blumenvasen weltweit. Dennoch gab es wohl nie eine kostbarere Tulpe als die rotweiß geflammte Semper Augustus, auf Deutsch: „allzeit erhaben“. Von ihr erzählt die aktuell in den Kinos laufende Literaturverfilmung „Tulpenfieber“ nach dem gleichnamigen Roman von Deborah Moggach aus dem Jahr 1999. Oscar-Preisträger Christoph Waltz spielt in dem Kostümfilm
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den mit Blumenzwiebeln handelnden Kaufmann Cornelis Sandvoort, der seine junge Frau Sophia von einem jungen Maler porträtieren lässt. Der Film nimmt die Zuschauer mit ins 17. Jahrhundert, in dem drei Tulpenzwiebeln tatsächlich so viel wert sein konnten wie ein stattliches Bürgerhaus in einer guten Gegend von Amsterdam. Verständlich wird der spektakuläre Ansturm auf das Liliengewächs in Hollands Goldenem Zeitalter, blickt man auf die Herkunft der Pflanze und den Beginn der Tulpenverehrung. Schließlich ist die aus einer Knolle wachsende Tulipa, wie die Blume botanisch korrekt heißt, in den Niederlanden nicht einmal heimisch. Vielmehr gelangte die schöne Migrantin über die Türkei aus den Steppen und Bergregionen Zen tralasiens nach Europa. Anders als die viel rundlicheren und teilweise mehrfarbigen Züchtungen, die heute bekannt sind, verfügten morgenländische Wildtulpen über schmale Knospen und spitze Kelchblätter. So beschreibt sie die auf Gartenthemen spezialisierte Journalistin Anna Pavord in ihrer 1999 erschienenen Kulturgeschichte „Die Tulpe“. Im Orient verehrte man das schmucke Pflänzchen wesentlich früher. Dort erblühte
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Tulpenkunst: Gemälde von Jacob van Es aus der Zeit um 1620 (Bild links) und S zene aus „Tulpenfieber“ mit Alicia Vikander in der Rolle der Sophia (Bild rechts).
die Liebe zur Tulpe vermutlich auch deshalb, weil deren persischer Name „lalé“ sich aus denselben Buchstaben zusammensetzt wie Allah, das arabische Wort für Gott. In der deutschen Bezeichnung wiederum steckt das türkische Lehnwort „tülbend“, das auf den Turban verweist. Die gewickelte Kopfbedeckung wurde häufig mit Tulpen verziert. Als großer Tulpenliebhaber gilt der Begründer des Mogulreichs, Muhammad Babur, der Anfang des 16. Jahrhunderts in Afghanistan und Indien herrschte. Er ließ in jeden seiner vielen Gärten wilde Tulpen pflanzen. Auf dem Gebiet der heutigen Türkei begann dann auch die Tulpenzucht. Ob auf G ewändern, Tellern, Teppichen oder auf Wandfliesen von Mausoleen und Moscheen: Die wachsende Sortenvielfalt spiegelt sich unter anderem in den ornamentalen Tulpenmotiven der osmanischen Kultur wider. Heute gibt es, auch dank der holländischen Tulpen-
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zucht, rund 4200 Sorten, die sich auf 15 Klassen verteilen. Darunter: einfache, gefüllte, päonien- und l ilienblütige oder gefranste Tulpen sowie die sogenannten TriumphTulpen oder auch solche mit bekannten großen Namen wie die Darwin-Tulpen oder die Rembrandt-Tulpen. Aus Konstantinopel gelangten die ersten Tulpenzwiebeln Mitte des 16. Jahrhunderts über die Handelswege nach Europa, i nsbesondere nach Flandern. D e r w a l i s i s c h e Historiker Mike Dash erzählt in seinem 1999 auf Deutsch erschienenen Buch „Tu l p e n w a h n “ die Geschichte so: „An einem Herbsttag des Jahres 1562 ging ein Schiff mit einer Ladung Stoffe aus Istanbul im Hafen
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Dass die Tulpenzwiebeln 1636 und 1637 zu Spekulationsobjekten wurden, mit denen zunächst viel Geld zu verdienen war, bis die Blase platzte und mit ihr der Traum vom Reichtum, hatte viele Gründe und erscheint aus heutiger Sicht dennoch abstrus. Heftig wird darüber gestritten, ob nur wohlhabende Kaufleute und aufstrebende Handwerker Opfer ihrer Gier nach Tulpen und Geld wurden oder ob tatsächlich weite Teile der Bevölkerung in den Tulpenkatalogen nach lohnenswerten Investitionen suchten. Schriftlich verbürgt ist, dass sich die Künstler Rembrandt van Rijn und Jan van Goyen verspekulierten und viel Geld verloren. Beider Verarmung hat aber wohl eher mit den Folgen des Tulpenfiebers zu tun:
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Aufträge blieben aus, vormals liquide Bürger hatten von heute auf morgen keine Mittel mehr, um sich Werke eines Rembrandt oder eines van Goyen zu kaufen. Es gab aber auch eine ganze Reihe Stilllebenmaler, die mit Tulpen gute Geschäfte machten, beispielsweise Balthasar van der Ast, Jan Davidsz. de Heem oder Jacob Marrel. Wer sich echte Tulpenzwiebeln zum Preis von mehreren Hundert Gulden, was einem heutigen Gegenwert von mehreren Tausend Euro entspricht, nicht leisten konnte, kaufte die begehrten Blumen in Form von Abbildungen. Und im Gegensatz zu den echten Zwiebeln verloren diese Ölgemälde nur kurzzeitig an Wert. Heute zählen die Kunstwerke aus dieser Zeit zu den echten Kostbarkeiten. Die exotische Herkunft und reli giöse Symbolik, ihr Artenreichtum und die Farbenpracht ihrer Kelche: All das hatte die schon im März blühende Tulpe, Botin des Frühlings, zu einer Blume gemacht, die für kurze Zeit begehrter als Gold und Diamanten war. Wie schnell ihr Reiz vergeht, erzählen Gemälde, die nach dem Preisverfall und Börsencrash entstanden waren. Sie zeigen ganz symbolisch welkende Blüten, fallende Tulpenblätter und auch den Befall von Insekten: ein mahnendes Bild der Vergänglichkeit. Letztlich hat die Tulpe den Niederländern dennoch Glück und Wohlstand gebracht. Heute beherrschen die Züchter aus Holland rund 80 Prozent des Weltmarkts. 2017 erntete man erstmals mehr als zwei Milliarden Tulpen und verkaufte sie über die Blumenauktionen in Aalsmeer. Etwa sechs Millionen Tulpen gehen in den weltweiten Export. Deutschland, wo die meisten für den Blumenhandel bestimmten Tulpen im Raum Neuss wachsen, ist der wichtigste Abnehmer, gefolgt von den USA. Auch im niederländischen Tourismus spielt die Tulpe neben den Holzschuhen, Windrädern und dem Käse eine große Rolle. Wer sich vom holländischen Tulpenfieber anstecken lassen will, sollte den zwischen Den Haag und Amsterdam gelegenen Keukenhof-Park bei Lisse besuchen. Das 32 Hektar große Gelände mit seinen Millionen Tulpen in allen Schattierungen hat allerdings nur wenige Wochen im Jahr geöffnet: von Ende März bis Mitte Mai. Genau dann, wenn die Tulpen der Welt ihre ganze Pracht zeigen.
Fotos: picture alliance/Westend61, Landmark Media Press and Picture, Alicia Vikander in the © Weinstein Company new film: Tulip Fever (2017), Exclusively/Shutterstock
von Antwerpen vor Anker. Irgendwo unter den Ballen östlichen Tuchs, das für einen Großhändler der Stadt bestimmt war, lagen Tulpenzwiebeln, vielleicht die ersten, die man in diesem Teil Nordeuropas je gesehen hat.“ Der Legende nach wurden die als Geschenk beigelegten Zwiebeln zunächst in der Pfanne gebraten und gegessen. Weil sie bitter schmeckten, landete der Rest auf dem Misthaufen. Als im darauffolgenden Frühling die Tulpen sprossen und als erste Farbflecken nach einem trüben Winter ihre Blütenblätter öffneten, soll die Begeisterung darüber groß gewesen sein. Einer der Ersten, der sich wissenschaftlich mit der rätselhaften Blume beschäftigte, war der Arzt und Botaniker Charles de l’Écluse, genannt Carolus Clusius. Nachdem der hoch bedeutende Pflanzenkundler durch die halbe Welt gereist war, widmete er sich im holländischen Leiden ausführlich der Erforschung der Tulpen und ihrer beeindruckenden Vielfalt. Seine Schriften dürften maßgeblich zur Verbreitung und Beliebtheit der orientalischen Blumen beigetragen haben. Sie legten damit unwissentlich den Grundstein für die sogenannte Tulpenmanie und den ersten Börsencrash der Geschichte.
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Das Gedicht
Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen. Eduard Mörike (1827, Erstdruck 1828) :: Illustration: Lisa Rock
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Foto: dpa, Kommersant Photo/Kontributor/Getty Images
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Alles andere als farblos Die Schwarz-Weiß-Fotografie ist so populär wie nie. Kein Wunder: Monochrome Bilder besitzen eine ganz besondere Kraft und Ausstrahlung. :: Von Sarah Backhaus
Ursprungssuche: Der Starfotograf Sebastião Salgado sucht die letzten un zerstörten Orte und hält sie im Bild fest.
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Einer der berühmtesten Schwarz-Weiß-Foto grafen ist Sebastião Salgado. Der Brasilianer genießt Weltruhm für seine Porträts von Goldminenarbeitern in Brasilien, Hungernden in Niger und Kriegsflüchtlingen im Kongo. Mit seiner aktuellen Bilderreihe „Genesis“ zeigt Salgado nun eine weitere Facette seines künstlerischen Könnens. Er beschäftigt sich mit der Schönheit der Natur, insbesondere an den letzten unzerstörten Orten der Erde, und sagt: „Ich möchte zeigen, dass es noch eine Welt gibt so rein, wie sie am Tag der Schöpfung war.“ Auf seinen Bildern sieht der Betrachter atemberaubende Eis- und Vulkanlandschaften, Regenwälder und Sanddünen. Orte, die aussehen, als hätte sie nie jemand betreten. Durch die Beschränkung auf Schwarz und Weiß kommen Kontraste gestärkt zum Ausdruck. Die Struktur von Eisflächen, Baumrinden, jedes Sandkorn und jede Welle im Meer sind erkennbar. Die Bilder strahlen absolute Ruhe aus, vollkommenen Frieden. Salgado appelliert damit an die Gesellschaft, die letzten unberührten Teile des Planeten in ihrer Ursprünglichkeit zu bewahren. Künstler wie Salgado inspirieren viele Hobbyfotografen. Guido Krebs, Produktmanager beim Kamerahersteller Canon: „Wer in Schwarz-Weiß fotografieren will, kann sich beste Anregungen bei den Meistern des Faches holen.“ Ein SchwarzWeiß-Bild ist mit einer modernen Kamera zwar schnell gemacht, doch ein besonderes Bild zu schaffen, ist selbst mit einer teuren Ausrüstung nicht einfach. So müssen Fotografen bei monochromen Bildern besonders auf die Bildgestaltung achten. „Dabei sollte sich der Fotograf vor allem auf Formen und Kontraste konzentrieren“, rät Krebs. Fehlt Farbe, ist es umso wichtiger,
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der Fotokünstler Peter Lindbergh bei der Paris Fashion Week Frühling/ Sommer 2017.
Denkstunde: B esucher einer Londoner Aus stellung vor einem Motiv von Nick Brandt aus der Serie „Inherit the Dust“.
das Licht und den Schatten in Szene zu setzen. Nach dem Fotografieren steht die Bildbearbeitung an. Dabei ließen sich gute Schwarz-WeißAufnahmen noch einmal deutlich optimieren, sagt Fototrainer Tim Hübner. „Häufig verstärkt es die Wirkung, werden die Kontraste noch einmal erhöht“, erklärt er. Außerdem lässt sich mit einer Fotobearbeitungssoftware der Unterschied zwischen dem hellsten und dunkelsten Punkt eines Bildes vergrößern – auch das verstärkt die Effekte. Ganz zentral ist jedoch das Motiv. Architektur zum Beispiel eignet sich besonders für SchwarzWeiß-Aufnahmen. Ebenso wirken Porträtbilder in Schwarz und Weiß eindrucksvoll. Das beweisen die Meisterwerke berühmter Monochromkünstler wie Peter Lindbergh. Er ist einer der einflussreichsten Modefotografen der letzten 40 Jahre. Er war der Erste, der den Fokus auf die Charaktere der Models legte. Damit führte er einen zuvor unbekannten Realismus in die Modefotografie ein und bestimmte ihre weitere Entwicklung. Schon in seinen Anfangsjahren hatte Lindbergh seine Vorliebe entwickelt. „Ich mochte SchwarzWeiß, weil es eine Interpretation der Wirklichkeit darstellte, eine verglichen mit Farbe erhabenere
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Wahrheit“, erläutert er. Der Modefotograf lichtete Supermodels wie Kate Moss und Naomi Campbell ab. Auf seinen Schwarz-Weiß-Bildern lenkt weder ein roter Lippenstift noch ein blauer Lidschatten von Gesichtern ab. Stattdessen scheint ihre natürliche Schönheit durch, mitsamt jeder Pore, jedem Augenfältchen und den Gesichtshaaren. Wie viele andere Meister will Lindbergh, dass seine Werke authentisch wirken. Auch die Bilder von Nick Brandt zeigen eine Welt in Schwarz-Weiß. Trotz des monochromen Auftritts fesseln seine Arbeiten auf überraschende Art: Eine Elefantenherde steht vor einer Fabrik, ein Löwe läuft auf einer Mülldeponie, Nashörner stehen unter einer Brücke. „Inherit the Dust“ taufte der Brite die Reihe aus dem Jahr 2016. Brandt fotografierte Tiere in freier Wildbahn und spannte die Bilder auf lebensgroße Papptafeln. Diese platzierte er an Orten, die von Menschen geschunden sind: Industriebrachen, Verkehrsknotenpunkte, Mülldeponien. Dort machte er noch ein Foto in Schwarz-Weiß. So erscheinen die Tiere in einer unerwarteten Szenerie. Das Ergebnis: traurig, dramatisch und trotz Tierattrappen erstaunlich echt. Der Künstler übermittelt meisterhaft seine Kritik an der Zerstörung von Lebensräumen und dort beheimateten Tieren. Brandts Bilder betonen Strukturen, Linien, Formen und Kontraste. Der Künstler verrät: „Mir war von Anfang an klar, dass ich Tierporträts in Schwarz-Weiß fotografieren muss. SchwarzWeiß fokussiert auf die grafischen Linien ohne die Ablenkung durch die Farbe. Das unterstützt die Intensität eines Porträts und erweckt den Eindruck, es seien Bilder aus einer anderen Zeit.“ „Fotografieren in Schwarz-Weiß ist nie wirklich aus der Mode gekommen“, so Michael Ebert, Dozent für Fotojournalismus und Kurator. „Bilder in Schwarz-Weiß wirken emotionaler und anmutiger als in Farbe.“ Ein Künstler könne auf diesem Weg die Bildaussage verstärken und die Aufmerksamkeit aufs Wesentliche fokussieren. Ebert: „Ein Mädchen, das in einem roten Kleid auf einer grünen Wiese steht, würde immer zum Mittelpunkt eines Bildes werden, ganz gleich, in welcher Entfernung ein Fotograf zum Mädchen steht. Schwarz-Weiß erzeugt da eine ganz andere Situation.“ Und so sind Schwarz-Weiß-Bilder zeitlos schön – und etwas sehr Besonderes.
Fotos: Foc Kan/Kontributor/Getty Images, mauritius images/Stephen Chung/Alamy, Marcus Schenck
Autogrammstunde:
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Susanne Maurer, 2015 Mai # 1 2015, Öl/Leinwand 55 × 55 cm, 1500 Euro
Exklusive Leseraktion. Kunst kann sich sowohl monetär als auch emotional rentieren und verbindet im Idealfall eine Sammelleidenschaft mit einer Wertanlage. VENTURA präsentiert exklusiv für Sie ausgewählte Werke zu einem attraktiven Preis. :: Von Ralf Kustermann
Die Kunstwerke von Susanne Maurer angemessen einzuordnen, fällt schwer, stehen sie doch zwischen den Polen moderner Farbabstraktion und neoromantischer Landschaftsmalerei. Sie fordern den Betrachter, spielen und brechen immer wieder mit seinen Seherwartungen und lassen ihn in fantasieerfüllten, prächtigen Farblandschaften parallel zur Natur zurück. Die in Wolfenbüttel geborene Künstlerin sucht und findet in ihren Bildern konzeptionelle, ideale Landschaften. Ihre Mittel wirken einfach und sind doch effizient. Maurer reduziert auf das Wesentliche und vereint dadurch abstrakte und realistische Momente. Sie scheut sich nicht vor der Kraft der Farben, kombiniert diese in Extremen und erzeugt eine überraschende und neue Ästhetik. Auch wenn sich Susanne Maurer auf nordische Landschaften mit charakteristischen
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tiefen Horizonten und ausgedehnten Ebenen fokussiert, ist ihre Kunst nie genau verortet. Ziel ist es vielmehr, Emotionen zu wecken, Assoziationen und Erinnerungen freien Lauf zu gewähren. VENTURA-Leser können beim DSV Kunstkontor des Deutschen Sparkassenverlags das Motiv 2015 Mai # 1 und andere Werke der Künstlerin erwerben. Die Kunstexperten des Deutschen Sparkassenverlags arbeiten mit national und international bekannten Künstlern zusammen und beantworten gerne Ihre Fragen zu Kunstwerken, Künstlern und der VENTURA-Kunstserie.
Susanne Maurer 1972 in Wolfenbüttel geb. 1992–2000 Studium der Malerei in Braunschweig 2002 Stipendium im Künstlerhaus Meinersen 2010 Stipendium der BAT-
Weitere Informationen: www.dsvkunstkontor.de kunstkontor@dsv-gruppe.de Tel. +49 711 782-1566
Campus-Galerie 2010 Kunstpreis Euro päisches Frauenforum Lebt und arbeitet in Berlin
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Das Gespür für Äpfel Thomas Kohl ist alles andere als ein herkömmlicher Obstbauer. Er agiert wie ein Winzer, setzt auf sortenreine Pressung und nennt sich Bergapfelsaft-Affineur. Seine Produkte erhalten Höchstnoten und begleiten Menüs in Gourmetrestaurants. :: Von Christian Haas
Erlesen: Thomas Kohl überprüft die Festigkeit und den Geruch der sehr seltenen gelben Ananasrenette.
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Wein, Speck, Kastanien – dafür ist Südtirol bekannt. Vor allem aber auch für seine Äpfel. Beinahe jeder neunte EU-Apfel stammt aus Italiens nördlichster Provinz. An Anbietern herrscht zwischen Etsch und Eisack wahrlich kein Mangel, auch was das flüssige „Abfallprodukt“ Apfelsaft betrifft. Und dennoch hat es der am Ritten hoch über der Landeshauptstadt Bozen lebende Thomas Kohl geschafft, sich von der Masse abzuheben, indem er die wohl edelsten Apfelsäfte zwischen Berlin und Sizilien kreiert. Das bestätigen nicht nur zahlreiche Gold-, Silber- und Bronze auszeichnungen bei der „Goldenen Birne“, einer
der europaweit bedeutendsten Produktprämierungen, sondern auch die strengen Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, die ihn beim großen Apfelsafttest im Herbst mit Abstand zur Nummer eins wählten – Originalton: „Stoffliche Fülle, die den Mund bis in den hintersten Winkel cremig auskleidet, geht einher mit aromatischer Intensität.“ Es sind quasi „innere Werte“, die Kohls Produkte von der Konkurrenz unterscheiden. Die Bergäpfel gedeihen in einer Höhe von über 1000 Metern, besitzen eine besondere Kombination aus Süße und Säure und landen nicht in einem
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Fotos: Kohl Bergapfelsäfte, Miro Zagnoli, Benjamin Pfitscher, Alex Filz
Einheitsbottich einer Genossenschaft. Sie werden sortenrein gepresst – ohne Filtrierung und Konservierungsstoffe. Heraus kommt purer Elstar, Gravensteiner, Jonagold. Letzterer gilt als Verkaufsschlager bei den sortenreinen Bergapfelsäften. Was Kohl ebenfalls herstellt: Cuvées, Mischungen mit anderen Obstsorten, und besonders exklusive Grands Crus. Klingt alles wie beim Wein. Und wie Wein werden seine Säfte auch mittlerweile in manchen Restaurants behandelt. Etwa im Laurin in Bozen und im mit zwei Hauben ausgezeichneten Restaurant 1908 rund 900 Meter über der Landeshauptstadt – samt Traumanbindung mit der alle vier Minuten nach Oberbozen hinaufschwebenden Seilbahn mit Traumblick zum bekannten Rosengarten und Schlern. Dort treffen wir Thomas Kohl, 47 Jahre jung und mit reichlich Charme gesegnet. Er stammt aus einer Bauernfamilie mit langer landwirtschaftlicher Tradition und richtete den Familienbetrieb gänzlich anders aus. „Ich wollte keine Rinder züchten, sondern lieber Obst anbauen. Also überredete ich meinen Vater, den Betrieb umzustellen“, erzählt er, während der Aperitif, eine geruchsintensive Apfelminze, serviert wird. Das ist das Besondere: Zum Menü gibt es neben der Weinbegleitung auch eine Apfelsaftbegleitung. Die kostet bei drei Gängen 15 Euro, bei fünf Gängen 20 Euro. Kohl: „Viele Leute wollen nicht immer Alkohol trinken, aber eben auch nicht nur Wasser oder Softdrinks. Außerdem spricht der Apfelsaft Kinder und Jugendliche an.“ Der jeweilige Saft, vom Sommelier ebenso fachkundig wie poetisch beschrieben, erscheint im langstieligen Weinglas mit „optimaler Trinktemperatur von acht bis zwölf Grad Celsius“. So auch Saft Nummer zwei, eine rote, geschmacklich an Quitten erinnernde Rubinette mit „schönem, breitem Körper, der Zucker und Säure zugleich zur Geltung bringt“. Der Mann mit dem Gespür für Äpfel versucht sich auch an alten Sorten wie Ananasrenette und Wintercalville. Warum diese in Vergessenheit gerieten? Kohl: „Sie waren nicht schön und groß genug, wurden zu schnell mürbe oder mehlig.“ Dabei lieferte man den gelben, breitschultrigen Wintercalville einst aus Südtirol bis an den Sankt Petersburger Zarenhof. „Jedes
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Exemplar musste einzeln in Seidenpapier eingeschlagen werden, da beim Transport Druckstellen unausweichlich waren“, so Kohl. Fakt: Der exklusive Wintercalville-GrandCru mit handgeschriebener Nummer auf der Flasche schmeckt tatsächlich fantastisch: nach weißem Pfirsich und gelben Pflaumen, ausgewogen, frisch. Weltweit gibt es laut Kohl 7000 Apfelsorten, davon 2000 in Europa. Etwa zwei Dutzend pflanzt er an, hegt und pflegt sie, erntet sie von Hand und füllt sie sortenrein in Flaschen. Oder fügt Holunder, Heidelbeere, Birne oder Marille hinzu. Wie beim Dessertbegleiter, der mit seinem aufregenden Geschmack den Nachtisch umschmeichelt. Zu Recht nennt sich Thomas Kohl BergapfelsaftAffineur – eine rare Berufsbezeichnung. Ebenfalls selten zu finden sind die Kochkünste der seit November im Restaurant 1908 agierenden „jungen Wilden“ mit Stephan Zippl als Chef de Cuisine. Die Köche haben sich auf das Thema Holz spezialisiert – in Speisen! Dazu räuchern sie mit Zirbenholz und fertigen etwa holzbasierte Sude an. Ferner haben Zippl und seine Kollegen vergessene Kräuter in Südtirols Wäldern entdeckt und kochen damit. An der Apfelsaftbegleitung als Alternative zu Wein halten sie fest. Wer im Traditionshaus übernachtet, kann sich auch beim Frühstücksbuffet an den kohlschen Apfelsäften erfreuen – und auf dem Sonnenplateau sehen, wie die inzwischen über 33 000 bis zu drei Meter hohen Apfelbäume wachsen. Zusammen ergeben sie rund 350 000 Liter Saft im Jahr, das sind knapp 11 Liter pro Baum. Nach Wanderungen zu den berühmten Rittner Erdpyramiden oder aufs Rittner Horn sollten Apfelsaftinteressierte nach Unterinn spazieren und Kohls Genussladen am Obsthof Troidner besuchen. Dort können sie auch die seit Ende 2016 erhältlichen Kreationen Bergapfelsaft & Pfirsich und Bergapfelsaft & Preiselbeere verkosten. Zudem weiß die ausgezeichnete Somme lière Ulrike Platter jede Menge über Äpfel und Säfte zu erzählen. Erstehen lassen sich diese natürlich auch vor Ort, ebenso wie weitere handwerklich hergestellte Leckereien regionaler Betriebe. Dazu gehören auch die anderen Südtiroler Klassiker: Wein, Speck und Kastanien.
Angemessen: Die Säfte landen in Wein flaschen und werden auch in Weingläsern verkostet.
Persönlich: Thomas Kohl bei der Ernte seiner in H ochlagen wachsenden Äpfel (Bild oben) und Sommelière Ulrike Platter im Genuss laden in Unterinn.
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In alter Tradition Ăźber alle Meere Klassische Jachten: altmodisch oder Avantgarde? Statt auf moderne KunststoffHightech-Materialien setzen Werften beim Bau von Segeljachten weiterhin auf Holz. Mit Herzblut allen voran: Robbe & Berking Classics aus Flensburg. :: Von Andreas Hohenester
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Anker 434: Der letzte Entwurf des legendären norwegischen Konstrukteurs Johan Anker von 1939 wurde erst 75 Jahre später von Robbe & Berking Classics verwirklicht.
So sehen Sieger aus. Ihre einstige Schönheit und Eleganz lässt sich auch in diesem Zustand noch erahnen. Ohne Mast und Segel liegt sie auf dem Trockenen in einer Halle: Die fast 80 Jahre alte Königin des Bermuda Race namens Baruna wird derzeit auf der Werft Robbe & Berking Classics im Flensburger Stadthafen komplett restauriert. 1938 gewann die Baruna die legendäre Hochseeregatta von Newport im US-Bundesstaat Rhode Island nach Hamilton auf den Bermudas. Das gelang in der Rekordzeit von 3 Tagen, 19 Stunden, 5 Minuten und 42 Sekunden sowie mit 8 Stunden Vorsprung auf den folgenden Teilnehmer. Zehn Jahre später konnte sie diesen Erfolg wiederholen. Das gelang bisher nur vier Jachten in der langen Geschichte des Segelwettbewerbs entlang der amerikanischen Ostküste. Olin Stephens, einer der erfolgreichsten Jachtkonstrukteure der Welt, entwarf den fast 22 Meter langen Zweimaster für schnelles, sicheres und komfortables Reisen. Über Jahrzehnte siegten seine Entwürfe bei fast alle wichtigen Segelwettbewerben, etwa dem America’s Cup. Der jetzige Besitzer der Baruna entstammt einer bekannten amerikanischen Dynastie. Er steckt sehr viel Geld und Zeit in seine Leidenschaft für klassische Jachten. „Der Eigner hat sie uns in einem kaum noch schwimmfähigen Zustand als Decksfracht aus San Diego nach Flensburg bringen lassen“, sagt Werftbesitzer Oliver Berking. „Auf diesem langen Weg gibt es Hunderte anderer Werften, die er damit hätte beauftragen können. Das ehrt uns sehr und macht uns auch etwas stolz“, fügt er mit norddeutschem Understatement hinzu. Der Name Robbe & Berking – Weltmarktführer bei edlem Tafelsilber – erlebt mit diesem Auftrag als Schiffbauer und Restaurator seinen Durchbruch. Die Werft gründete der begeisterte Segler und Liebhaber von Traditionsschiffen im Jahr 2008. „Unser Ziel ist es, nicht nur ein, sondern der europäische Spezialist zu sein, wenn es um aus Holz gefertigte, elegante und klassische Jachten geht“, sagt Berking und unterstreicht damit, dass sein Faible
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für maritime Oldtimer mehr ist als nur ein Hobby. „Das war, ist und bleibt eine kontinuierliche Herausforderung.“ Gebaut und restauriert wird auf der Werft alles, vom kleinen Ruderboot bis zur Motor- oder Segeljacht. Mit Liebe zum Detail entstehen Repliken nach Originalplänen, fast vergessene und nahezu verrottete maritime Schätze erstrahlen wieder in atemberaubender Schönheit. Neubauten erinnern äußerlich an die eleganten und schnellen Express Cruiser und Commuter-Jachten der 1920er- und 1930er-Jahre. Die damaligen Geldmagnaten mit klingenden Namen wie Astor oder Vanderbilt nutzten solche 30 bis maximal 50 Knoten Geschwindigkeit schaffenden Schiffe als optimales Transportmittel von ihren Sommervillen auf Long Island zur Wall Street auf Manhattan. Antrieb und Innenleben entsprechen natürlich heute modernster Technologie. Jede auf der Werft gebaute oder restau rierte Jacht erzählt ihre eigene Geschichte. Angefangen hatte alles mit der Sphinx, die im Jahr 1939 auf der noch heute für Luxusschiffe bedeutenden Werft Abeking & Rasmussen in Lemwerder vom Stapel gelaufen war. Die Bundesmarine setzte sie nach dem Zweiten Weltkrieg 40 Jahre als Ausbildungsjacht unter dem Namen Ostwind ein. Berking und zwei Freunde ersteigerten das Schiff in „wrackähnlicher Konsistenz“ 2005. Sie unterzogen es nahe an den Originalplänen einer grundlegenden Restaurierung, die bis 2008 dauerte. Die Planken im Unterwasserbereich ersetzten sie vollständig, die Eisenspanten tauschten sie gegen solche aus Nirosta aus, Bug- und Heckkorb samt Seereling sowie die komplette Inneneinrichtung ließen sie entfernen. Die Jacht wurde für Regatten der 12mR-Klasse fit gemacht. Beim Robbe & Berking Sterling Cup 2017 belegte die Oldtimerjacht Platz sechs der 12mR-Klasse, die erstmals beim America’s Cup 1958 zum Einsatz gekommen war. „Früher fuhr man nach Newport, um 12er erleben zu können, heute nach Flensburg“, freut sich Berking. Seine ganze Liebe gilt diesen circa 22 Meter langen Schiffen.
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Derartige schnelle und schicke Motorboote nutzten einst Wall-Street-Tycoons
Um dieses bei der Restaurierung der Sphinx gewonnene Know-how weiter nutzen zu können, gründete Berking im Sommer 2008 die Werft Robbe & Berking Classics im Flensburger Hafen.
wie Astor oder Vanderbilt als Transportmittel von ihren Sommerresidenzen auf Long Island nach Manhattan.
Weitere Renommierstücke folgten. Die Anker 434 stammt vom ebenso legendären norwegischen Konstrukteur, Werftbesitzer und brillanten Segler Johan Anker. Er galt bereits zu seiner Zeit als „Meister der Linien“. Die Eleganz seines letzten Entwurfs aus dem Jahr 1939 – ebenfalls ein Boot der 12mR-Klasse – zeigte sich allerdings erst im Jahr 2015. Der Kriegsausbruch und der Tod des Konstrukteurs 1940 ließen den Entwurf im Archiv schlummern. Erst 75 Jahre nach dem ursprünglich geplanten Stapellauf wurde die Designschönheit dann doch noch zu Wasser gelassen. „Ankers ganze Erfahrung und sein ganzes Wissen sind in dieses Boot geflossen. Und er hatte viel Erfahrung und viel Wissen“, weiß Berking. Er ließ die Jacht mit der Designnummer 434 im Auftrag eines skandinavischen Kunden innerhalb von vier Jahren bauen. Die erste Jacht seit 50 Jahren aus Holz nach der Rennformel 12mR, die lange Zeit auch den America’s Cup prägte. Moderne Materialen wie Edelstahl oder neu entwickelte Lacke und Kleber sind die wenigen und nachvollziehbar notwendigen Abweichungen vom Originalplan. Den hatte Berking persönlich aufgestöbert. Nirvana heißt ein weiteres Glanzstück der noch jungen Werfthistorie. Die ebenso wie die Baruna von Olin Stephens gezeichnete und 1939 auf der Werft Abeking & Rasmussen gebaute kleinere Jacht der Rennformel 6mR wurde 1959 in Friedrichshafen am Bodensee durch ein Feuer auf der Werft vernichtet. Jetzt segelt die originalgetreue Replik wieder zahlreiche Regatten.
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Elf Boote sind bisher auf der Werft vom Stapel gelaufen. Dabei ist das nächste Projekt immer das spannendste – trotz aller Herausforderungen, die Werftleiter Sönke Stich kennt. „Es macht immer Spaß, neue Boote zu bauen, doch es ist viel individuelles Handwerk erforderlich. So muss für die Klassiker spezielles Werkzeug selbst hergestellt werden“, sagt er. Ebenso schwierig sei es, das vorgesehene Holz zu beschaffen, etwa Mahagoni oder Teak, das aus ökologisch korrekten Quellen stammen muss. „Dazu muss man gut in der Holzbranche vernetzt sein“, erklärt Stich. Unternehmer Berking spricht gerne über das Segeln, das Meer, seinen Sterling Cup, die Regatta von Klassikern in der Flensburger Förde, oder sein im vergangenen Herbst auf dem Werft gelände im Stadthafen eröffnetes Yachting Heritage Centre. Dort zeigt er Relikte aus der Historie des Segelsports. Neben drei- bis viermal jährlich wechselnden Ausstellungen umfasst es rund 9000 antiquarische Jachtsportbücher, zwei Galerien, ein Museumsrestaurant sowie einen Museumsshop. Berking: „Wir präsentieren damit die größte Jachtsportbibliothek der Welt.“ In einer Hall of Fame stehen Büsten der Helden der Jachtsportgeschichte, darunter auch seine Idole Johan Anker und Henry Rasmussen. Sein glühendes Engagement für klassische Jachten adelte in diesem Jahr das britische Magazin „Classic Boat“ mit dem Titel „Yachtsman of the Year“. Zwischen Flensburg und dem Bodensee gibt es insgesamt noch 250 Werften, die auf die Verarbeitung von Holz setzen. Das recherchierte Bernd Klabunde aus Eckernförde über Jahre akribisch. Seine Internetplattform www.classic-forum.org umfasst rund 3000 internationale Adressen maritimer Hersteller. Auch seine Liebe gilt den alten
Fotos: Robbe & Berking Classics/Nico Krauss
9mR-Commuter:
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und eleganten Traditionsschiffen. Zur Boot Düsseldorf, der weltweit größten Wassersportmesse, die jedes Jahr Ende Januar stattfindet, schafft es der gelernte Diplom-Ingenieur mit einem Faible für solche Schiffe immer, einige Oldtimer zu präsentieren. Im kleinen Fischerdorf Freest gegenüber Peenemünde hat die in Bremen geborene, gelernte Schiffskauffrau Kirsten Dubs eine 1889 gegründete Werft wieder zu neuem Leben erweckt. Sie baut und restauriert dort seit 2007 wieder sogenannte Zeesboote, die seit Jahrhunderten speziell für die flachen, geschützten pommerschen Boddengewässer und das Stettiner Haff genutzt wurden, sowie Fischkutter aus Holz. „Solch ein original gewachsener Betrieb ist schon allein ein Denkmal“, sagt Dubs, die auch interessierte Gäste zum Aktivurlaub auf der Werft begrüßt. Bootseigner haben die Möglichkeit, bei der Res taurierung selbst mit Hand anzulegen. In Zusammenarbeit mit dem Designer und Konstrukteur Carsten Weber aus Noer fertigt Dubs auch moderne kleine Jollenkreuzer aus Holz für Freizeitschiffer. In Kappeln an der Schlei residiert die Yacht& Bootswerft Stapelfeldt, deren junges Team auf die 55-jährige Erfahrung des Inhabers Wilfried Stapelfeldt zurückgreifen kann. Bei Neubau, Innenausbau oder Restauration auch mit modernsten Materialien steht immer das Holz im Mittelpunkt. Ob Decksplanken aus Teak oder anderen wetterbeständigen Hölzern wie Oregon Pine: Die Bearbeitung und Verklebung erfolgen mit neuester Technik und Materialien wie Epoxyharz ohne Pfropfen und Schrauben. Und natürlich stehen immer die individuellen Wünsche und Pläne der Kunden im Mittelpunkt, etwa bei einem 28-FußDaysailer, der ganz nach den Vorstellungen des Eigners gebaut wurde.
Bei Robbe & Berking Classics fiebert man derweil dem Stapellauf der Baruna entgegen, die bis 2018 für Vollbeschäftigung sorgt. Das nächste Traumziel hat Berking schon anvisiert. „Ich will eine J-Class-Jacht bauen. Allein: Es fehlt noch der Kunde“, sagt er. Zwischen den schicken Rennjachten mit 41,54 Meter Länge wurde zwischen 1930 und 1937 vor allem der America’s Cup, das bis heute prestigeträchtigste Segelspektakel, ausgetragen. Die Eigner der Schiffe klingen nach dem Who’s who des Hochadels und der Finanzwelt, etwa der britische König Georg V. mit der Britannia oder Harold S. Vanderbilt mit der Rainbow, siegreich beim 16. America’s Cup 1934. Die Werften Camper & Nicholsons aus Großbritannien und Herreshoff aus den USA waren große Rivalen beim Jachtbau dieser Klasse. Derzeit segeln weltweit gerade einmal noch sechs Boote dieses Typs, drei original erhaltene und drei Repliken. Die Größenordnung von 42 Metern wäre kein Problem, da die Werfthalle in Flensburg 50 Meter lang ist. Werftleiter Stich pflichtet hoffnungsvoll bei: „Wenn wir so groß bauen dürften, wären wir schon stolz.“ Aber die schiere Größe beflügelt den Ehrgeiz nicht allein. Berking: „Wir wollen der Segelwelt zeigen, dass ein Holzboot nicht teurer und kaum pflegeintensiver, dafür aber viel schöner und nachhaltiger ist als ein modernes Plastikboot.“
Geehrt: Oliver Berking, Unternehmer und Liebhaber von Traditionsschiffen, erhielt 2017 den Titel „Yachtsman of the Year“.
Meilensteine: das erste auf der Werft gebaute Boot mit der Baunummer 1, Baujahr 2010 (links). Im Herbst 2016 eröffnete das Robbe & Berking Yachting Heritage Centre mit wechselnden Ausstellungen und der größten Jachtsportbibliothek der Welt sowie einer Hall of Fame (Mitte links). Der neue Besuchermagnet grenzt direkt an die eigene Werft im Flensburger Stadthafen (rechts oben und unten).
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Der Unbeugsame Zum 500. Jahrestag der Reformation dreht sich alles um ihren Initiator. Dennoch bleibt der Mensch Martin Luther für viele ein großes Mysterium. VENTURA erklärt das Phänomen Luther. Und stellt seine geistigen Nachfahren der Jetztzeit vor.
Er brach seinem Vater das Herz. Als der junge, lebensfrohe Jurastudent Martin Luther im Jahr 1505 in ein schweres Sommergewitter geriet und infolge der Druckwelle eines in der Nähe einschlagenden Blitzes zu Boden geschleudert wurde, gelobte er demütig, fortan als Mönch zu leben. Zum Entsetzen von Hans Luther, dessen ganzer Stolz die a visierte Juristenkarriere seines Sohnes war, trat der 21-Jährige ins Augustinerkloster zu Erfurt ein und legte ein Jahr später das Mönchsgelübde ab. Im Gegensatz zu manch anderer Legende um den Kirchenreformator gilt diese Anekdote als verbrieft und verifiziert. Der per Hammerschlag erfolgte Thesenanschlag an der Schlosskirche Wittenberg, der 1517 die Spaltung der Kirche einläutete, ist dagegen widerlegt. In der Tat schrieb Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche in Briefen nieder, die er am 31. Oktober 1517 an seinen Vorgesetzten schickte. Und der Wurf mit dem Tintenfass auf der Wartburg, wonach er angeblich den Teufel vertreiben wollte? Er ist allenfalls eine Allegorie auf Luthers Kampf mit Depressionen während seiner Verbannung.
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Bis heute ranken sich Mythen und Halbwahrheiten um die Symbolfigur Martin Luther, die den Menschen dahinter wenig greifbar machen. „Er war kein Held, wenngleich das, was er in seinen jungen Jahren tat, mutig und kühn war. Und durchaus selbstlos“, sagt Martin Jung, Professor für Historische Theologie an der Universität Osnabrück und anerkannter Luther-Experte, im Versuch einer Annäherung an den Reformator. Und auch den viel zitierten Begriff des Rebellen lässt Jung nicht gelten. „Diese Bezeichnung rührt aus der Luther-Forschung der DDR und ist schlichtweg falsch. Ein Rebell agiert nicht ziel- oder sach gerichtet, verweigert den Dialog und handelt affektiv. All das trifft auf Luther nicht zu“, so der Wissenschaftler. Kein Held also, ebenso wenig ein Rebell. Dass Luther – trotz der Verfehlungen seiner späteren Lebensjahre – dennoch als Vorbild taugt und als Inspirator für Zivilcourage, Freiheit und das Recht auf die Würde des Einzelnen gelten darf, liegt an seiner aufrechten Haltung und tiefen Gewissenhaftigkeit. Diese Einstellung erfährt heute vielleicht in Gestalt von Edward Snowden oder
Fotos: akg-images/Bildarchiv Monheim, Stuttgarter Antiquariat, www.stuttgarter-antiquariat.de
:: Von Liora Jacobsen
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Schatz der Reformation: erste mit Titelholzschnitt illustrierte Ausgabe der drei großen Reformationsschriften von 1520, „An den Christlichen Adel deutscher Nation: von des Christlichen standes besserung“. In ihr entwickelte Martin Luther sein Programm.
Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die sich für weltweite Bildung von Mädchen und Frauen einsetzt und dafür fast getötet wurde, eine Art Reanimation. Sie stehen für aufopferungsvolles Engagement und extreme Medienwirksamkeit. Sie protestieren öffentlich gegen Missstände und mahnen mutig wie konstruktiv zu Veränderungen. Tatsächlich zeigte die Welt um das beginnende 16. Jahrhundert erstaunlich viele Parallelen zur heutigen Zeit. Politische und wirtschaftliche Umbrüche markierten die gerade angebrochene Neuzeit, starke nationalistische Tendenzen bedrohten die Homogenität Europas, das Türkenreich dehnte sich gen Westen aus, Naturkatastrophen, Krankheiten, Flucht und Hungersnöte waren an der Tagesordnung. Auch die zahlreichen technischen Errungenschaften wie die Erfindung von Taschenuhr und Globus sowie die Verbreitung des neuen Buchdruckverfahrens nach Gutenberg: Sie alle sind durchaus vergleichbar mit der fortschreitenden Digitalisierung, Robotik und künstlichen Intelligenz unserer Tage. Die Entdeckungen von Kolumbus und da Gama veränderten das Weltbild, Kopernikus stellte mit seiner Theorie der heliozentrischen Weltsicht die Erde sprichwörtlich auf den Kopf. Kirche und Kaiser regierten als uneingeschränkte Eliten, konkurrierten dabei um Macht und Geld und verloren die Befindlichkeiten und Bedürfnisse der Menschen aus den Augen. Experte Jung: „Luther traf den Nerv seiner Zeit, als er mit dem Ablasshandel das Geldeintreibesystem der Kirche angriff, diente es doch nicht dem vermeintlichen Seelenheil der Gläubigen als vielmehr der persönlichen Bereicherung des Klerus.“ Mit seinen 95 Thesen sprach Luther den Menschen aus der Seele. Geschickt kleidete er sie in rhetorische Fragen, formulierte sie so wortgewaltig und logisch, mitunter von einem geradezu beißenden Spott begleitet. Doch es waren weniger seine Thesen als der Auftritt auf dem Wormser Reichstag 1521, die seinen Mut, seine Konsequenz und sei-
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ne Selbstlosigkeit belegen und ihm bis heute höchsten Res pekt einbringen. Martin Jung: „1517 konnte Luther noch nicht ahnen, welche Folgen seine Kritik am Ablasshandel bewirken würde. Erst um 1520 und spätestens mit dem Wormser Reichstag zeigten sich die wahren Ausmaße.“ Da stand ein einfacher Mensch, Mönch und Theologieprofessor zwar, was laut Jung damals nichts Besonderes darstellte, und berief sich in Anwesenheit des Kaisers, der Fürsten und mächtiger Bischöfe auf die Vernunft, sein Gewissen und die Heilige Schrift – wohl wissend, dass es seinen sicheren Tod bedeuten könnte. Mehr Haltung, Selbstbewusstsein und Chuzpe ging nicht. Das verwirrte die Anwesenden zunächst und veranlasste Kaiser Karl V., erst nach Luthers Abreise die Reichsacht über ihn zu verhängen. Sachsens Kurfürst Friedrich der Weise teilte Luthers Ansichten und ließ ihn auf der Rückreise von Worms zu seinem eigenen Schutz „entführen“ und auf die Wartburg bringen, wo er in nur wenigen Monaten die Bibel übersetzte und damit en passant für die Schöpfung einer neuhochdeutschen Schriftsprache verantwortlich zeichnete. Und auch wenn längst andere wie sein Freund Philipp Melanch thon zu ausführenden Kräften der Reformation avanciert waren, stieß Luther Dinge an, die ihn rückblickend als Visionär erscheinen lassen. „Dazu gehörte vor allem die Umgestaltung des Gottesdienstes, weg vom liturgischen Ritual auf Latein, hin zu einer interaktiven Bildungsveranstaltung in deutscher Sprache. Zum ersten Mal verstanden die Menschen Gottes Botschaft und konnten eigene Rückschlüsse und somit einen Nutzen aus dem Gehörten ziehen – was damals geradezu revolutionär anmutete, weil es der Kirche ihre Kontrollmechanismen und uneingeschränkte Autorität entzog“, erklärt Martin Jung. 1523 forderte Luther Veränderungen, die in Deutschland im späten 19. Jahrhundert Wirklichkeit werden sollten, darunter die Berufs- und Niederlassungsfreiheit für Juden sowie die Ehe zwischen Juden und
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Edward Snowden
Malala Yousafzai
Boyan Slat
Zwischen Kritik und
Nachdem er die Welt
Die Friedensnobel-
Seitdem er beim
Lob: Die Künstlerin
über die US-Abhör-
preisträgerin setzt
Tauchurlaub mehr
thematisiert in ihren
machenschaften
sich für das Recht
Müll als Fische fand,
Werken soziokultu-
informierte, wurde er
auf Bildung ein und
forscht er engagiert
relle Entwicklungen.
Staatsfeind Nr. 1.
wäre fast gestorben.
für saubere Meere.
Christen. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten – und so wird der blindwütige Hass auf die Juden, den Luther in seinen späteren Lebensjahren entwickelte, zur traurigen Hypothek im Leben des heute noch gefeierten Reformators. Bleiben seine „guten Taten“, seine Denkanstöße und Werte wie Freiheit, Gleichheit und Partizipation, die er zu seiner Hoch-Zeit vermittelte. Und die lassen sich durchaus auf die Whistle blower der Jetztzeit projizieren. Wie Luther ist auch ein Edward Snowden von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt – unabhängig davon, welche Konsequenzen es für ihn persönlich hat. Der Amerikaner, der die massenhafte und globale Ausspähung unserer Gesellschaft publik machte, muss keine Todesstrafe, zumindest aber eine lebenslange Haft wegen Hochverrats fürchten. Seine Wartburg ist das Exil in Moskau. Analog zu Luther sendet auch er Impulse aus der „Verbannung“ und wird ebenso wie einst der Reformator zum Spielball von konkurrierenden Mächten, die versuchen, seine bloße Existenz für ihre individuellen politischen Zwecke auszuschlachten. Wie man Unbequemes auf die Agenda bringt, ohne gleich als „Verräter“ stigmatisiert zu werden, zeigt der junge Niederländer Boyan Slat. Besorgt vom zunehmenden Plastikmüll in unseren Meeren, entwickelte der Erfinder und Unternehmer eine schwimmende Konstruktion namens The Ocean Cleanup, die in nur fünf Jahren rund die Hälfte des Mülls im Great Pacific Garbage Patch, einem Strudel von schätzungsweise 100
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Millionen Tonnen Plastikmüll, beseitigen könnte. Eine Vision von geradezu lutherischem Ausmaß, die – so genial sie erscheint – sich beweisen muss. Kritik an Missständen spielerisch zu kontextualisieren und einem möglichst breiten Publikum zu präsentieren, bleibt das Privileg von Künstlern und Literaten. So zählt die deutsche Künstlerin Anne Imhof, deren Werke eine Mischung aus Performance, Installation und Malerei sind, aktuell zu den kritischsten und gefeiertsten Geistern der Kunst. In ihren Arbeiten stellt sie soziokulturelle Fehlentwicklungen wie konsumgesteuerte Fremdbestimmung, Gewalt, Angst und blinde Technikgläubigkeit zur Disposition, was trotz der elegischen Ästhetik ihrer Performances ungemein verstörend und martialisch wirkt – und uns zum Nachdenken zwingt. Imhofs Werke spiegeln den lutherischen Geist des zivilen Ungehorsams und brachten ihr unter anderem 2015 den Preis der Nationalgalerie und jüngst den Goldenen Löwen der Biennale Venedig ein. Snowden, Slat, Imhof, Yousafzai sowie viele Menschen und Organisationen, deren Namen medial nicht thematisiert werden, stehen wie der Reformator für Werte wie Freiheit, Gleichheit und Partizipation ein, wobei jeder von ihnen mit seinen Mitteln kämpft. Ihr Engagement ist in Zeiten von Kriegen, Gewalt und unzähligen Konflikten wichtiger denn je. Damit führen sie Luthers Vermächtnis indirekt, aber nicht minder würdig fort und ermahnen uns alle zu mehr Zivilcou rage, Verantwortung und Demut. Was die Welt vielleicht ein klein wenig besser macht …
Fotos: Inga Kjer/photothek.net, Kyodo News, ZUMA Wire/Zuma Press, REX/Shutterstock, Getty Images/Johner RF/Pgiam/Andr Pflegel/André Krüger/stonena7
Anne Imhof
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Die wunderbare Welt der FARBEN Ob in der Natur, beim Kaffeetrinken oder bei unseren Haustieren: Naturfarben sind vielseitig kombinierbar und laden zum Wohlfühlen ein. :: Von Ulrich Kerner
Sprechen wir von Naturfarben, so denken wir zum einen an eine Palette von Farbtönen, die in der Natur vorkommen – etwa bei Gewürzen, Hölzern oder Erden –, zum anderen an einen Farbton, der sich durch die Eigenschaften von unbehandeltem Material wie Baumwolle oder Papier ergibt. So existiert eine ganze Reihe an Nuancierungen, die zum Spektrum der Naturfarben zählen. Neben Beige- und Brauntönen finden sich viele Töne mit Farbnamen, die sich auf die Materialien der Natur beziehen, so etwa holzfarben, sandfarben, lehmfarben, cremefarben oder erdfarben. Bereits unsere Vorfahren gewannen vor Tausenden von Jahren Farben aus den Erdfarben, beispielsweise im Fall von Ocker aus Gesteinen. Dazu bauten sie Felsen ab und verarbeiteten sie zu feinem Puder. Dieses verwendeten sie zum Malen. Vom Gravettien bis zum Magdalénien ist die Ocker-Höhlenmalerei ein typisches Merkmal der Grabstätten des mittleren Jung paläolithikums in Europa. Heute zählen die Malereien zu den wichtigsten Zeitzeugnissen der Menschheit und zum Weltkulturerbe. Generell gelten Farben aus der Palette der Naturfarben als warm, wohnlich und beruhigend. Sie lösen bei Menschen ein Gefühl der Behaglichkeit aus. Vielleicht ist gerade deshalb der Kaffee in seinen vielen Variationen das Lieblingsgetränk Nummer eins der Deutschen. Laut Kaffeeverband tranken wir 2016 im Schnitt 162 Liter. Farblich passend zum Kaffee gesellt sich der Herbst. Obwohl er nur die drittbeliebteste Jahreszeit ist, stehen er und seine Stimmung für Natur-
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farben par excellence. Besonders intensiv wirkt der Wald in seinen Farbnuancen aus Orange, Rot, Grün, Gelb und Braun, wenn im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen und sich wie von der Natur gemalt am Boden harmonisch sammeln. Auch in der Tierwelt kommen Nuancierungen der Naturfarben häufig vor, oft als Brauntöne, etwa das isabellfarbene Fell. Der Farbname geht auf Prinzessin Isabella Clara Eugenia von Spa nien zurück. Sie gelobte, ihr weißes Hemd so lange zu tragen, bis ihr Gemahl die Stadt Ostende erobert hätte. Das dauerte wohl weit länger als geplant. Heute steht die Bezeichnung für einen gepflegten hellbraunen Ton, wie wir ihn bei isabellfarbenen Pferden oder Hunden sehen. Auch die Modebranche kennt die Geheimnisse und die Ausstrahlung der Naturfarben. Warm, behaglich, sportlich und elegant kleiden sie ihre Träger. Nicht verwunderlich, dass die Branche in ihren wechselnden Kollektionen gerne mit Beige, hellem Braun, Elfenbein, Ocker und Oliv spielt. Häufig zeigt sie sich sehr einfallsreich und schafft Metaphern, die einprägend und klangvoll auf Trends verweisen oder solche schaffen. Beispiele hierfür: Karamell, Sand, Safran, Curry, Honig. So wählte die internationale Modejury 2011 Champagner zur Farbe der Frauen, Cappuccino galt bei den Herren als top.
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Weltkulturerbe: Höhlenmalerei.
Farbmischungen der Natur . Deutschen: Kaffee.
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Harmonie: intensive
Lieblingsgetränk der
Beliebt: isabellfarbene Hunde.
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Ein Bild und seine
Zwei Flaggen und zwei Hymnen, zwei deutsche Länder. Als die Bundeswehrkapelle vor dem Bonner Bundeskanzleramt die Nationalhymne der DDR, „Auferstanden aus Ruinen“, anstimmt, stehen SED-Generalsekretär Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Kohl Seite an Seite und hören angespannt zu. Alles in ihm habe sich gesträubt, das zu tun, erinnerte sich Kohl später an die Zeremonie. Nur in der Hoffnung, Reiseerleichterungen für DDR-Bürger zu erreichen, willigte er ein. Über 2000 Journalisten ließen sich akkreditieren, um an diesem historischen Tag vor Ort dabei zu sein. Jede Geste, jeder Gesichtsausdruck der beiden Staatsoberhäupter ist Gegenstand der Interpretation. Was verraten sie über das aktuelle und zukünftige Verhältnis der beiden Staaten? Sechs Jahre Arbeit steckten im ersten und einzigen Staatsbesuch eines DDR-Oberhaupts in der Bundesrepublik. Bereits Ende 1981 hatte Kanzler Helmut Schmidt bei einem DDR-
7.9.1987 :: Von Antje Berg
Besuch Erich Honecker eingeladen. Immer wieder scheiterte das Vorhaben am Widerstand der Sowjetunion. Nach der Entspannung im K alten Krieg war der Weg frei. DDR-Staatsoberhaupt Honecker wusste um die Symbolkraft der Zeremonie. Vor aller Augen, so schloss er, wäre die DDR politisch endlich als zweiter deutscher
Staat durch die Bundesrepublik anerkannt. Die Bilder des Besuchsauftakts schienen ihm recht zu geben. Doch am Abend sprach Helmut Kohl bei seiner Tischrede – die in beiden Staaten live übertragen wurde – deutliche Worte: „Wenn wir abbauen, was Menschen trennt, tragen wir dem unüberhörbaren Verlangen der Deutschen Rechnung: Sie wollen zueinanderkommen können, weil sie zusammengehören.“ Plötzlich stand Honeckers persönliche Reisefreiheit für alle erkennbar im scharfen Gegensatz zu den Einschränkungen einfacher DDR-Bürger – vielleicht ein entscheidender Wendepunkt auf dem Weg zu Montagsdemonstra tionen, Mauerfall und Einheit. Drei Jahre nach Erich Honeckers Besuch – am 3. Oktober 1990 – versam melt sich erneut die Weltpresse. Es erklingt eine freilich vertrautere Natio nalhymne: Mit dem Deutschlandlied beginnen die Feierlichkeiten der Wiedervereinigung Deutschlands.
Kustermann (Redaktionsleitung), Tel. +49 711 782-1586, Fax +49 711 782-1288, E-Mail: ralf.kustermann@dsv-gruppe.de Art Director: Joachim Leutgen Chefin vom Dienst: Antje Schmitz Layout und Grafik: 7Stars NewMedia, Leinfelden-Echterdingen Autoren und Mitarbeiter: Sarah Backhaus, Christian Haas, Andreas Hohenester, Wolfgang Hörner, Liora Jacobsen, Ulrich Kerner, Julia Lutzeyer, Guido Quelle, Yorca Schmidt-Junker, Birga Teske Druck: MP Media-Print Informationstechnologie GmbH, Paderborn Anzeigen: Margarete Werdermann, Tel. +49 711 782-1199 Artikel-Nr. 330 155 049
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Wilhelm Busch hinterließ der Welt die Geschichte von Max und Moritz. Auch wenn Sie kein berühmter Dichter sind: Sie können etwas Bleibendes für die Nachwelt schaffen. Mit einem Testament oder einer Stiftung zugunsten von UNICEF. Wir informieren Sie gern: UNICEF, Höninger Weg 104, 50969 Köln, Tel. 0221/93650-252, www.unicef.de.
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