DOLOMITEN 53 Routen und Erlebnisse

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HEINZ GRILL – FLORIAN KLUCKNER

DOLOMITEN

53 Routen und Erlebnisse Die Erstbegeher erzählen

EDIZIONI VERSANTE SUD | COLLANA LUOGHI VERTICALI | CLIMBING iCLIMBING APP FREE DOWNLOAD

Erste Auflage Juni 2023

ISBN 9788855471251

Copyright © 2022 VERSANTE SUD – Via Rosso di San Secondo, 1 20134 Milano (I). Tel. +39 02 7490163 www.versantesud.it

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, der elektronischen Speicherung, der Vervielfältigung und der teilweisen oder gänzlichen Bearbeitung.

Umschlag Franz Heiss, Collaborazione, Spiz di Lagunàz. © Heinz Grill

Texte Heinz Grill und Florian Kluckner

Skizzen Melissa Winter

Landkarten Tommaso Bacciocchi. © Mapbox, © Open Street Map

Symbole Tommaso Bacciocchi

Layout Chiara Benedetto

Überarbeitung der Texte Alba Lucia Neder

Druck Press Grafica S.r.l. - Gravellona Toce (VB), Italie

Null Km

Von lokalen Autoren, die das Klettern in ihrer Region leben und vorantreiben Ein Kletterführer „aus

der Region“!

Was heißt das?

Er ist gesünder und bekommt besser, weil er von Locals stammt.

Genauso wie die Bio-Tomaten vom Bauern nebenan?

Richtig! Unverfälscht und hausgemacht.

Lokale Autoren sind von Vorteil für alle Kletterer: – Sie verfügen über die neuesten Informationen.

– Sie konzentrieren sich nicht nur auf die allseits bekannten Orte.

– Sie investieren den Erlös in neue Klettergärten und Sanierungen.

Lokale Autoren sind von Vorteil für die Region:

– Sie veröffentlichen nur das, was auch veröffentlicht werden soll.

– Sie sind bemüht, alle Gegenden und Ortschaften zu fördern.

– Sie sind mit der lokalen Praxis vertraut.

Hinweis

Klettern ist ein potenziell gefährlicher Sport und geschieht immer auf eigene Gefahr. Alle Hinweise in diesem Führer beruhen auf Informationen, die zum Zeitpunkt der Drucklegung aktuell waren. Es wird empfohlen, sich vor der Begehung einer Route über den aktuellen Stand zu informieren.

Null Km

HEINZ GRILL - FLORIAN KLUCKNER

DOLOMITEN

53 Routen und Erlebnisse

Die Erstbegeher erzählen

EDIZIONI VERSANTE SUD
Von lokalen Autoren, die das Klettern in ihrer Region leben und vorantreiben

Über die Autoren

Heinz Grill

Heinz Grill, Jahrgang 1960, ist in Soyen bei Wasserburg in Süddeutschland aufgewachsen und begann bereits in seinem 12. Lebensjahr mit dem Klettern. In seiner Jugendzeit entwickelte er eine damals außergewöhnliche Stilform im seilfreien Klettern. Er durchstieg etwa 400 große und schwierige Alpinrouten des Karwendelgebirges, des Wilden Kaisers, der Reiteralpe und der Dolomiten. Nachdem er von Süddeutschland nach Arco im Trentino umgezogen war, beschäftigte er sich schwerpunktmäßig mit der Erschließung von über 115 neuen Klettertouren. Dabei legte er sehr viel Wert darauf, wie es seiner ganzen Philosophie entspricht, die seelische, empfindungsmäßige Seite des Menschen zu betonen und zu fördern. Im Sarcatal geschah dies vor allem durch die Entwicklung des sogenannten rhythmischen Kletterns, welches den aufnehmenden und weniger ernsten Wänden entgegenkommt. Aber auch in den Dolomiten erschloss

Heinz Grill beginnend 2005 und gerade in den letzten Jahren vermehrt neue Touren mit dem Anliegen, in diesen ernsteren, alpinistischen Regionen der Dolomiten den Wiederholern das Erleben der besonderen Charakteristik einer jeden Tour nahezubringen.

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Florian Kluckner

Florian Kluckner, Jahrgang 1968, ist in Innsbruck geboren. Seit 1990 ist er Berg- und Skiführer sowie Sportklettertrainer. Er kletterte bis zum Schwierigkeitsgrad 8b und verwirklichte auch eine Besteigung des Cerro Torre, Patagonien.

Er begegnete 1994 Heinz Grill und lernte durch ihn neue Möglichkeiten zu einer Vertiefung der Beziehung zum Bergsteigen und Klettern kennen. Seit 2006 eröffnete er ca. 100 Neutouren im Sarcatal, den Dolomiten, in Sizilien und im Piemont. Als Autor veröffentlichte er unter anderem die Broschüre „Die Kunst der empfindsamen Bewegung“ (2014), die Kletterführer „Arco Plaisir“ (2016), „Kunst und Klettern“ (2019), sowie diverse Artikel in Bergsteiger-Magazinen.

Mehr erfahren Sie unter: www.florian-kluckner.com

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Heinz Grill

Ein innovativer Geist in den Dolomiten

Als ich in jungen Jahren in die Welt des Kletterns eintrat, stieß ich bald auf den Namen Heinz Grill. Aufgrund meiner mangelhaften schulischen Leistungen beschloss meine Mutter, mich auf ein Internat in Brixen zu schicken, wo ich als Wiederholer in der Sekundarstufe aufgenommen wurde. Ich war es gewohnt, in den Wäldern meiner Heimat frei umherzustreifen, und fand mich nun in einem großen Klassenzimmer eingesperrt, unter der strengen Aufsicht der Lehrkräfte. Es war in jenem Jahr, dass ich - trotz meines jungen Alters - vollkommen begriff, wie sehr ich an meinem Tal und seinen Bergen hing, wo ich eine Spur von Anarchie hatte auskosten können. Wo ich mich ohne Regeln und Vorschriften bewegen konnte, und gleichzeitig selbst die Verantwortung für mein Tun übernahm. Was diese tristen Schulnachmittage auflockerte, war das aufmerksame Studieren der Dolomitenführer. Kleine grüne Büchlein, herausgegeben vom Rother-Verlag in Deutschland, in denen eine Welt von Routen und deren Geschichte verborgen lag –jene Routen, die ich später einmal klettern wollte. Ich hoffe, dass damals zumindest der Deutschlehrer meinen literarischen Eskapaden etwas abgewinnen konnte.

Gerade war der neue Marmolada-Führer erschienen, in dem Heinz Mariacher die Geheimnisse der „Silberwand“ enthüllte, wo in jenen Jahren das Bergsteigen eine Revolution erlebt hatte. Neben einer Gruppe starker Tiroler Kletterer erschien der Name „H. Grill“, der Urheber mehrerer Solo-Begehungen: sowohl der traditionellen Routen in der Wand als auch jener der neuen Schule. Immer wieder las ich von diesem geheimnisvollen deutschen Bergsteiger, von seinen kühnen Alleingängen.

Eines Tages erlebte ich eine angenehme Überraschung, als er mir zu Hause einen

Besuch abstattete. Heinz Grill und eine seiner Kletterpartnerinnen schauten bei mir vorbei, und ich spürte sofort eine sympathische Verbundenheit. Es sollte jedoch noch einige Jahre dauern, bis wir an einem Seil hängen würden.

In der Wand erwies sich Heinz als intuitiver Kletterer, behände und entschlossen, der sich auch in komplizierten Situationen mühelos zurechtfand. Aber nicht nur diese Fähigkeiten, die er über Jahrzehnte hinweg erworben hatte, sondern auch sein Optimismus und seine offenherzige Großzügigkeit waren ansteckend. Ein sprühender Charakter, der nach dem Schönen und Guten strebte. Und in all den Jahren, Klettertag für Klettertag, war es für mich stets ein großer Ansporn, mit diesem philosophischen, humanistisch geprägten Geist als Seilschaft unterwegs zu sein. Durch ihn lernte ich auch Florian Kluckner und Franz Heiß kennen, seine bevorzugten Gefährten, sowie viele andere Menschen, die immer bereit waren, ihn bei seinen Unternehmungen am Berg zu unterstützen.

Ein Wesensmerkmal von Heinz Grill ist seine totale Verwurzelung mit seinem Werk. Mit Begeisterung und Leidenschaft widmet er sich seinen Aufgaben, sei es bei der Besteigung einer Dolomitenwand, bei seinem Engagement für das Yoga oder in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. In der Vertikalen hat er einen Weg gefunden, sich durch das Erschließen neuer Routen zu verwirklichen. Diese Erstbegehungen erschöpfen sich nicht in sich selbst, sondern gewinnen im Laufe der Zeit an nachhaltiger Bedeutung und hinterlassen eine Spur, die sich schließlich zu einem einzigen Werk zusammenfügt. Heinz Grill lebt Kreativität stets mit großer Bewusstheit. Und ich für meinen Teil kann sagen, dass ich von dieser Bewusstheit profitiert habe, wenn es

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darum ging, eine gute Linie durch die Wand zu finden, die Schwachstellen im Fels zu erkennen und sie dann in geeigneter Weise miteinander zu verbinden, wie eine kostbare Stickerei, oder die Route mit angemessenem Materialeinsatz auszustatten, so dass sie von anderen Seilschaften wiederholt und mit ihnen geteilt werden kann. Nach mehr als zwanzig Jahren gemeinsamen Kletterns hatte mein gleichgesinnter Freund Stefan Comploi nicht mehr so viel Zeit für unsere Klettertouren. Und wieder einmal führte ein guter Stern mich an die Seite von tollen Gefährten wie Grill, Kluckner und Heiß, mit denen ich weiterhin gemeinsam die Senkrechte erkunden kann, mit

dem schönen Ziel, eine Spur hinterlassen zu können. Und dass das Zeitalter der Vernunft nicht zu einem Zeitalter der Resignation wird, wie schon Sartre warnte, dazu hat Heinz’ pädagogisches Handeln zweifellos beigetragen. Ebenso hat es meine Überzeugung gestärkt, dass die Tugend wenig wert ist, wenn sie keine Früchte trägt. Und von ihm habe ich gelernt, dass zwischen Thesen und Antithesen eine Synthese gesucht werden muss. Nur so lässt sich Extremismus vermeiden, der in den Bergen wie auch anderswo gewiss nicht wünschenswert ist.

Auf dem Spiz di Lagunaz nach der Erstbegehung des Masarotto-Pfeilers - 28. August 2011 (von links: I. Rabanser, H. Grill und S. Comploi)
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Ivo Rabanser Grödnertal, im November 2022

Inhaltsverzeichnis

Übersichtskarte ..................... 10 Einleitung 12 Zum Gebrauch des Führers ............ 14 Schwierigkeitsgrade im Vergleich 18 Legende ............................ 20 LANGKOFELGRUPPE 22 01. Grohmannspitze Guglia della libertà 30 02. Langkofel Il periodo del Sisifo 34 03. Langkofel Manuel Moroder 46 SELLAGRUPPE 52 04. Piz Ciavazes Via dell’Inverno 58 05. Piz Ciavazes Attacco diretto „Zeni“ 62 06. Piz Ciavazes La Lavagna 72 07. Piz Ciavazes Guardando la Soldà 78 08. Piz Ciavazes Ciavazes integrale ..... 84 09. Piz Miara Vorgipfel Angolo silenzioso 94 ROSENGARTEN – Zentral 98 10. Guglia Franca Anne Michele ...... 106 11. Punta Emma Parete sudest diretta 110 12. Punta Emma Centrale nord 114 13. Punta Emma Architettura gialla 118 14. Rosengartenspitze Marte 126 ROSENGARTEN - Larsèc 136 15. Pala Patèch 5 pilastri 136 16. Pala di Socorda Due caratteri 140 17. Becco dell’Aquila Via dell’Indipendenza & Il custode 144 18. Torre della Pioggia Ritiro dal mondo 150 19. Pala di Socorda Fessure sud 158 20. Campanile Gardeccia Il mignolo 164 21. Pala di Socorda Via del maleducato 170 22. Pala di Socorda Spigolo sud diretto . 176 MARMOLADA 186 23. Col de Bousc Il mondo imprigionato dal materialismo 192 24. Col de Bousc Via dei vecchi e grigi 196 VALLACCIA 198 25. Cima Undici Via sulla Guglia di Davide Pinamonte 204 26. Zoccol Via dei tre settori 210 27. Zoccol Camino rosso 220 28. Piramide Carlo Delmonego Pilastro bello & Cima Undici uscita . . . . . . . . 224 29. Piramide Matteo Armani Saturno 232 30. Cima Undici Giove 240 31. Cima Undici Urano 248 32. Torre Vallaccia Via della solidarietà 252 PALE DI SAN MARTINO 262 33. Cima di Roda Via dei presidenti 268 34. Pala di San Martino Pilastro di fronte 272
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35. Cima Immink Pilastro rosso ....... 280 36. Cima Immink Nuova via 286 37. Cima Immink Internazionale 292 38. Cima Canali Il corno e l’ago della figlia .......................... 298 PALE DI SAN LUCANO 308 39. Torre di Lagunàz L’uomo migliora il tempo 314 40. Spiz di Lagunàz Pilastro Massarotto 324 41. Spiz di Lagunàz Collaborazione 334 MOIAZZA - Süd 342 42. Scalet delle Masenade Dove dimori & Dove dimori superiore 352 43. Scalet delle Masenade Tetto fessurato 362 44. Scalet delle Masenade Il grande traverso 366 45. Pala del Camp Via dell’orso ....... 372 46. Prima Torre del Camp Tocca il cosmo 378 47. Pala del Camp Via del gufo 384 MOIAZZA - West 394 48. Campanile Maurizio da Pra Via dell’asino 394 49. Cima dei tre La lotta contro il ragno 398 50. Cima dei Mez e Mez La serpe 402 51. Cima Nali La Strega cadut 408 52. Castello delle Nevere Via della punizione 416 BRENTA 422 53. Croz dell’Altissino In memoria di Samuele Scalet 424 Tabellarische Übersicht der Routen 430
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Die Talmulde von Gardeccia mit der Larsèc-Gruppe, Rosengarten
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Rifugio Ai Brentei Rifugio XII Apostoli Rifugio Val d’Ambiez Rifugio Al Cacciatore Croz dell’Altissimo
Rifugio Alimonta Campanile Basso
Cima Tosa
Übersichtskarte 10
Die erste Seillänge der Via Angolo silenzioso am Piz Miara (Route 09)
01-03 04-08 10-22 23-24 25-32 39-41 33-37 42-47 48-52 09 38 Sassolungo  Sassopiatto   Piz Boè  Col di Lana  Monte Civetta  Cinque Torri Gruppo del Catinaccio 11

Einleitung

Als der bekannte Kletterer und Bergsteiger Reinhard Karl sein Buch „Zeit zum Atmen“ herausgab, entwickelte sich aus dem Alpinismus die Sportkletterszene. Reinhard Karl war einer der Erstbegeher, der im Jahre 1977 die Pumprisse im Wilden Kaiser mit einer bislang noch unbekannten Schwierigkeit des siebten Grades beging. Von diesem Zeitpunkt an eroberte das Freiklettern mit sich ständig steigernden Schwierigkeiten die Kletterszene, und man konnte erhebliche Leistungssteigerungen in kürzester Zeit beobachten.

In diesem Buch schrieb Reinhard Karl von einem neuen Blick, den er durch den Ansporn des Freikletterns gewinnen konnte. Nachdem er sich verbot, einen Haken und eine Trittschlinge als Hilfsmittel zu benutzen, entdeckte er sodann die kleinen Leisten, verborgenen Griffformationen und vielen Unebenheiten, die eine Wandpassage bot. Mit dem ersten Versuch des Freikletterns öffnete sich für ihn der Mikrokosmos der Wände. Das Kleine und Kleinste wurde für ihn sichtbar.

In diesem Führer, in dem eine große Anzahl von unseren Dolomitenanstiegen aufgenommen ist, legten wir großen Wert auf die Beziehungsebene: die Beziehung, die der Kletterer zum Berg, zur Route, zu den Felsformen und schließlich zu sich selbst gewinnen und dadurch sein Erleben steigern kann. Welches Erleben bietet eine Route in ihrer spezifischen Linie und Charakteristik für den Wiederholer? Ähnlich wie der Kletterer durch eine konzentrierte Wahrnehmung viele kleine Griffe und Tritte in einer schwierigen Passage entdecken kann, so kann er in gleichem Maße die Form eines Berges, eines Pfeilers oder einer Kante mit neuen Augen wahrnehmen und mit tieferen Empfindungen entschlüsseln. Nicht nur die einzelne Schwierigkeit, die eine Passage im Fels bietet, erschien uns für die Beschreibung wichtig. Welche Gefühle und Eindrücke kann der Kletterer darüber

hinaus in diesen Naturreichen entdecken und wie kann er sie in seine Seele aufnehmen? Nicht nur der Mikrokosmos, sondern der Makrokosmos in seiner großen Gestalt sollte durch die Beschreibungen der einzelnen Routen und Erlebnisberichte näher in die Wahrnehmung rücken. Der Blick soll sich vom Kleinen auf das Große richten: So kann die Weite in das Erleben finden.

Im weiteren Verlauf folgen einige Beschreibungen spezifischer, erlebensnaher Bewegungen, die der Kletterer in besonderem Maße in den Formen und Farben, die eine Wand bietet, entdecken kann. Die Vielfalt von Platten, Rissen, Kaminen, Verschneidungen, kantenartigen Vorsprüngen, kompakten und gegliederten Felsen fördert in jeder Route das menschliche Bewegungserleben zur künstlerischen Fantasie. Jede Route beschreibt in ihrer Linie, die am Berg angelegt wurde, ebenfalls eine Art der Bewegung. Mit der individuellen menschlichen Bewegung auf der Linie, die ebenfalls eine Bewegung ausdrückt, welche aber eine Art große und gleichbleibende Bewegung am Berg ist, entsteht ein Zusammenspiel. Die menschliche Bewegung bemisst sich an der großen angelegten Linie der Route. Welch ein großartiges Verhältnis, wenn die Route mit ihrer Bewegtheit den Menschen mit seiner individuellen Bewegung aufnimmt. Der Kletterer erlebt sich selbst in der Eroberung einer Vertikalität, die sich nicht auf einige Meter begrenzt, sondern die am Berg weit und fast wie unendlich hoch hinaufzieht. Das menschliche Individuum tritt mit seiner geschulten Bewegung am Felsen mit einem größeren Ganzen zusammen. Ähnlich wie Reinhard Karl von einer Entdeckung des Mikrokosmos spricht, kann der Kletterer durch die Entdeckung von größeren und freieren Bewegungsformen einen Teil des Makrokosmos entdecken.

In diesem Führer wurden nur wenige geschichtliche Angaben über die Dolomiten-

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gipfel und ihre Ersteigungen niedergeschrieben. Die Würdigung der vielen Pioniere, die die Wände bisher eroberten, erscheint uns als Autoren selbstverständlich. Die neuen Routen, die dieser Ersteigungsgeschichte hinzugefügt werden, wollen vor allem das sensitive Erleben des Menschen in seinem Verhältnis zum Berg, zu den Formen der

Wände und zu dem luftigen Reich, das mit jeder Route betreten wird, fördern. Mit der Entdeckung des Verhältnisses des Menschen zu einem größeren Ganzen, zum Makrokosmos, findet er seine eigene individuelle Natur.

Moiazza: „Torri del Camp“ und „Campanile dei Zoldani“, im Vordergrund Malga Framònt
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Heinz Grill

Zum Gebrauch des Führers

Aufbau des Kletterführers

Jedes Gebiet beginnt mit der Auflistung der beschriebenen Routen, die mit einer Zeichnung des betreffenden Berges bzw. der Berggruppe hinterlegt sind. Auf einem danach folgenden Übersichtsbild sind die beschriebenen Gipfel und die vorgestellten Touren eingezeichnet. Auf den nächsten Seiten ist jedes Gebiet mit seinen Besonderheiten, tieferen Empfindungen und Eindrücken, die daraus entstehen, charakterisiert. Es folgt die Tourenbeschreibung, bevor man zum Wandbild mit der eingezeichneten Linie kommt. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich das dazugehörige Topo. Die Reihenfolge der Klettertouren orientiert sich nach Schwierigkeit und Anspruch. Sie beginnt mit der leichtesten und führt hin zur schwierigsten und anspruchsvollsten Route. So hat der Benutzer dieses Führers die Möglichkeit, sich langsam zu steigern und sich an das Gebiet heranzutasten. Diese Ordnung berücksichtigt die Länge der Route, den Zustand der Absicherung beziehungsweise die Möglichkeit, weitere Sicherungen anzubrin-

gen und die Komplexität von Zu-und Abstieg. Der Abschluss einer vorgestellten Route kann eine Erzählung sein. Die Ausdrücke „links“ und „rechts“ sind im Sinne der Gehrichtung oder der Kletterrichtung zu verstehen. Im Falle der Abstiegsbeschreibung hingegen bezeichnet sie die Abstiegsrichtung.

Schwierigkeit

Die Touren sind gemäß der in den Dolomiten gängigen UIAA-Skala bewertet. Die Bewertung der Schwierigkeit künstlicher, technischer Kletterei erfolgte nach der fünfstufigen Skala A0 bis A4 (A = artificiel).

Trotz des Versuches, Präzision und Objektivität walten zu lassen, bleibt die Schwierigkeitsbewertung zu einem gewissen Grad immer subjektiv und ist auch so zu betrachten. Dolomiten-Neulinge sollten bedenken, dass die Klettereien oft recht luftig sind. Steilere Dreier- oder. Vierertouren wird man kaum irgendwo sonst in den Alpen finden. Zusammen mit der oft sparsamen bzw. ungewohnten Absicherung mit Normalhaken und Sanduhren kann das durchaus dazu führen,

Rotes Aufgespanntes Stoffquadrat Rotes Quadrat 100x100cm. Kreis in der Mitte Durchmesser ca. 60cm. Weißer Ring 15cm. WIR BRAUCHEN HILFE WIR BRAUCHEN KEINE HILFE No – Nein Yes – Ja INTERNATIONALE BODEN-LUFT-NOTSIGNALE FÜR HUBSCHRAUBER UND FLUGZEUGE 14
Boden-Luft-Notsignale Boden-Luft-Notsignale Rotes Licht oder Leuchtsignal
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Am Gipfel des 2. Torrione dei Cantòi. Häufig gleiten lichte Nebelmassen um die Türme der märchenhaften Gebirgskette

dass die Kletterei als eher schwierig für den angegebenen Grad empfunden wird.

Absicherung

Die Absicherung der vorgestellten Touren kann als „klassisch“ bezeichnet werden. Bei allen Routen (mit Ausnahme der Moiazza, Pale di San Lucano, Realikante) wurde an den Standplätzen ein Ring gebohrt bzw. die Standplätze mit Sanduhren ausgestattet. Alle verwendeten Haken sind in den Touren belassen worden, sodass in der Regel keine Haken mitgeführt werden müssen. Da man nicht weiß, ob seit der Erstbegehung Haken ausgebrochen sind, ist es aber für die längeren Routen vorteilhaft, wie in den Dolomiten üblich, ein kleines Hakensortiment mit sich zu führen. Die meisten Sanduhren sind vorgefädelt, um die Orientierung zu erleichtern.

Bohrhaken als Zwischensicherungen wurden so gut wie nie verwendet.

Felsqualität

Alle Routen wurden sorgfältig geputzt, gefährliche Blöcke und lose Schuppen entfernt. Neben den Touren ist der „Naturzustand“ mit losen Steinen und Gras vorzufinden. In manchen Führen (Punizione) sind trotz dieser Säuberung noch brüchige Passagen geblieben, bei denen aber ein versierter Alpinist nicht sogleich „sein Leben riskiert“. Dies ist in der Tourenbeschreibung angegeben.

Ausgangspunkt

Die Beschreibung der Anfahrt erfolgt ab der am nächsten gelegenen größeren Ortschaft hin zum Ausgangspunkt mit GPS Koordinaten.

Zum Gebrauch des Führers
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Ein Wettersturz sollte nicht Einzug finden. Der Regenbogen umspannt die Sellatürme und den Piz Ciavazes
Tel. +39 3494196455 florian.kluckner@gmail.com www.florian-kluckner.com Die Kunst des Kletterns
Florian Kluckner Bergführer Kurse Individuelle Führungen Gebietsspezialist Arco am Gardasee
mit

Schwierigkeitsgrade im Vergleich

18 UIAA 3 4 5a 5b 5c 6a 6a+ 6b 6b+ IIIIII III+ IVIV IV+ VV V+ VIVI VI+ VIIVII VII+
FRANKREICH
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Zwei Seilschaften im zentralen Teil der Via Pilastro bello (Route 28)

1 H 2 SU Sicherungen in dieser Seillänge

Abseilstelle mit Längenangabe

AS: Abseilstand

Stand an Zacken

Knotenschlinge (KS)

Pfeiler

Klemmblöcke (KB)

Zwischenstand möglich

Kante

Dach

Zwischenhaken (ZH)

Absatz, Schulter

Kamin

Band mit Gras

VII (VI, A0)

Standhaken (H) Rampe

Rinne

Schwierigkeit in freier Kletterei, (obligatorische Schwierigkeit)

A1 = technische Kletterei

Seillänge

fortlaufende Seillängenangabe

Standplatz

Nische /Grotte

Riss Platte

Stand auf Band

Latschen

Überhang

Sanduhr (SU) SU

Verschneidung

Schwierigkeit

Bohrhaken (BH)

Routenverlauf

Kante

Wasserrillen/-streifen

Riss

Variante, Nachbarroute, schwarz gestrichelt, „Steger“

IV+ 30m 30m 40m/V+ 45m/V 50m/V+ 50m/VI+ 40m/V+ 30m/V 25m/V 45m/VI+ 2 1 4 3 6 5 9 45m/VI+ 10 8 7 45m/VI+
Legende Abstieg
Nische KK, fixierter Klemmkeil
max. Schwierigkeitsgrad in der Seillänge
Geröll
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ABSICHERUNG

S1 Normale Absicherung, wie sie in Klettergärten üblich ist. Hakenabstände nie mehr als 3-4 m. Die potenzielle Sturzweite beträgt höchstens ein paar Meter und ein Sturz bleibt i.d.R. ohne Konsequenzen.

S2 Weitere Hakenabstände und obligatorische Passagen zwischen den Sicherungen. Mögliche Sturzweite maximal zehn Meter, ein Sturz bleibt i.d.R. ohne Konsequenzen.

S3 Weite Hakenabstände, fast immer obligatorische Kletterpassagen.

Hakenabstände können auch mehr als 5 m betragen; weite Stürze sind möglich, aber nicht übermäßig gefährlich.

S4 Sehr weite Hakenabstände (über 7 m), obligatorische Passagen. Ein Sturz kann zu Verletzungen führen.

R1 Einfach abzusichern, mit stets soliden, sicheren und zahlreichen Zwischensicherungen. Begrenzte obligatorische Passagen. Die potenzielle Sturzweite beträgt einige Meter und ein Sturz bleibt i.d.R. ohne Folgen.

R2 Mittelmäßig gut abzusichern, mit immer noch soliden und sicheren, aber weiter auseinander liegenden Zwischensicherungen. Obligatorische Passagen zwischen den Sicherungen. Mögliche Sturzweite höchstens ein paar Meter und ein Sturz bleibt i.d.R. ohne Folgen.

R3 Schwierig abzusichern, mit nicht immer guten und weit auseinander liegenden Zwischensicherungen. Lange obligatorische Passagen. Mögliche Sturzweite bis max. 7-8 m; ein Sturz kann zu Verletzungen führen.

R4 Schwierig abzusichern, mit spärlichen oder unzuverlässigen und/oder weit auseinander liegenden Zwischensicherungen, die nur einen kleinen Sturz halten würden. Lange obligatorische Passagen. Mögliche Sturzweite bis zu 15 m; ein Sturz kann ein Herausreißen der Sicherungen zur Folge haben und führt wahrscheinlich zu Verletzungen.

S5 Hakenabstände über 10 m, obligatorische Passagen und Stellen, wo ein Sturz definitiv zu Verletzungen führen kann (Sturz auf Vorsprünge und Bänder oder auf den Boden).

S6 Nur teilweise Bohrhaken vorhanden, fernab der Schlüsselstellen; sehr lange Passagen, auch über 20 m, wo ein Sturz unter Umständen tödliche Folgen haben kann.

GESAMTANSPRUCH

R5 Schlecht abzusichern, mit spärlichen, unzuverlässigen und weit auseinander liegenden Zwischensicherungen, die nur einen kleinen Sturz halten würden. Lange obligatorische Passagen. Weite Stürze und ein Herausreißen der Fixpunkte sind möglich, was zu einem Bodensturz mit lebensgefährlichen Verletzungen führen kann.

R6 Nicht absicherbar, mit Ausnahme kurzer, unbedeutender Abschnitte abseits der Schlüsselpassagen der Seillänge. Ein Sturz kann unter Umständen tödliche Folgen haben.

I Kurze Route, die wenige Stunden in Anspruch nimmt, in der Nähe der Straße und mit bequemem Zustieg, in sonniger Umgebung und mit komfortabler Rückzugsmöglichkeit.

II Mehrseillängenroute an einer über 200 m hohen Wand, einfacher Zustieg, auch wenn er etwas Zeit in Anspruch nehmen kann, bequeme Rückzugsmöglichkeit.

III Mehrseillängenroute von über 300 m, raue Umgebung, eine Begehung nimmt fast den ganzen Tag in Anspruch. Möglicherweise ist ein langer Zustieg notwendig und ein Rückzug kann Zeit kosten.

IV Route fernab vom Talgrund. Eine Begehung nimmt den ganzen Tag in Anspruch. Ein Rückzug ist möglicherweise kompliziert und erfolgt ggf. nicht über die Aufstiegslinie.

V Sehr lange Route im Big-Wall-Stil, die üblicherweise ein Wandbiwak erfordert. Schwieriger Rückzug, raue Umgebung.

VI Big Wall, die mehrere Tage in der Wand erfordert, Hochgebirgsumgebung, Rückzug schwierig.

VII Route kann mit einer „Big Wall“ aus dem Himalaja verglichen werden; große alpinistische Schwierigkeiten werden mit Hilfe einer Expedition bewältigt.

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LANGKOFELGRUPPE

Talort. Wolkenstein (1428 m), oder Canazei (1448 m) im Fassatal.

Parkplatz. Gebührenpflichtiger Parkplatz beim Sellajoch Mountain Resort (2180 m). Weitere Parkmöglichkeiten befinden sich an der Passstraße.

GPS. 46°30`34.1`` N11°45`23.9``E

Zahnkofel 3001 m (Dente del Sassolungo)

Fünffingerspitze 2969 m (Punta delle Cinque Dita)

Langkofel 3181 m (Sassolungo)

Plattkofel 2964 m (Sassopiatto)

Grohmannspitze 3126 m (Punta Grohmann)

Innerkoflerturm 3081 m (Torre Innerkofler)

Langkofelscharte 2685 m (Forcella del Sassolungo)

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Stützpunkt. Verschiedene Berghäuser rund um das Sellajoch. Für die Grohmannspitze die Demetzhütte (2685 m) in der Langkofelscharte. Entweder mit der Gondelbahn oder zu Fuß auf markiertem Weg in 1 1/4 Stunden zu errreichen.

Stützpunkt. Für den Langkofel die Comici Hütte (2153 m), die direkt am Zustiegsweg liegt.

01. Grohmannspitze Guglia della libertà 30

02. Langkofel Il periodo di Sisifo ....... 34

03. Langkofel Manuel Moroder 46

Sellajoch 2244 m (Passo Sella)

Sellatürme 2533 - 2696 m (Torri del Sella)

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Piz Ciavazes 2828 m

PALA DI SOCORDA 2446 m

SPIGOLO SUD DIRETTO

Während die empfehlenswerte Route von Pit Schubert und Klaus Werner leicht links der Südkante verläuft, folgt die „Direkte Südkante“, wie der Name sagt, in luftiger, ausgesetzter Kletterei immer der nahezu senkrecht aufsteigenden Kante. Die Erstbegehung wurde mit Normalhaken gemacht, wobei die Schwierigkeiten im Bereich VII lagen. Während den Wiederholungen und der Reinigung wurden die Schwierigkeiten geringer. Jetzt sind an den Standplätzen Ringe gesetzt, auch die schlechten Haken der Erstbegehung wurden mit Hilfe der Bohrmaschine verbessert, so dass eine sehr rhythmische Route entstanden ist. Der Fels ist durchwegs solide.

Vor Beginn des Gipfelgrates quert die Route nach rechts in die Ostflanke und steigt sodann zum höchsten Punkt der Pala di Socorda hoch. Dort befindet sich ein Wandbuch und die erste Abseilstelle.

Der Gedanke ist die unsichtbare Natur, die Natur der sichtbare Gedanke.

Heinrich Heine (1797 - 1856)

22. Spigolo sud diretto

Heinz Grill, Florian Kluckner, Barbara Holzer, Martin Heiss (01/06/2018).

Schwierigkeit: VI, mit einer Stelle VII-. Höhenunterschied 450 m.

Ausrichtung Süd.

Material: Die Standplätze sind mit einem gebohrten Ring ausgestattet. Die Zwischensicherungen mit Normalhaken und vielen vorgefädelten Sanduhren. Zur Verbesserung der Absicherung ist ein Satz Cams bis Gr. 3 (für den Einstiegsriss) zu empfehlen.

Kletterzeit 6-7 h.

Zeit für den Abstieg 2 h 30 Min.

Zeit für den Zustieg 35 Min.

Der Zu- und Abstieg ist von Gardeccia berechnet. Von Monzon aus ist für den Zustieg mit ca. 1,5 h zu rechnen.

Zustieg: Von der Gardeccia über den Weg Nr. 583 Richtung Osten, Larsèc. Nach ca. 20‘ hinauf bis an den nahen Wandfuß. Der Einstieg befindet sich links vom Geröll, bei einem Pfeiler mit einem gelben Dach.

Abstieg: Die erste Abseilstelle befindet sich östlich 10 m unterhalb des Gipfels.

1. Abseilstelle 27 m

2. Abseilstelle 26 m (oder hierher mit 60 m)

3. Abseilstelle 50 m

4. Abseilstelle links zu Baum mit Schlingen. 50 m über steiles Gras in die große Rinne. Durch Rinne nach unten absteigen I-II bis man 3 kurze Abseilstellen erreicht. Weiter bis auf einen Steig hinab, der nach links (im Sinne des Abstiegs) quert und in die benachbarte Rinne führt. Über diese hinab auf den Zustiegsweg Nr. 583. Über ihn zurück zum Ausgangspunkt.

Zustieg von Monzon für 21. via del Maleducato, 22. Spigolo sud diretto:

Für diese Routen kann der Zustieg von Monzon (1500 m) aus vorteilhaft sein. Man folgt der asphaltierten Straße in die Gardeccia. Nach ca. einer Stunde Gehzeit erblickt man die Wand, folgt weiter der Straße, vorbei an einem Brunnen, bis auf einer Höhe von 1860 m rechts ein Weg durch die Latschen abzweigt. Über ihm auf dem Weg Nr. 583 hinauf und unter die Wand zu den jeweiligen Einstiegen (1960 m).

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Rosengarten > Larsèc
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Während der Erstbegehung in zwei Seilschaften (Martin

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Heiss und Barbara Holzer)

„Schubert original“

„Schubert“

weiße

erster

Gras, anstrengend

22 40m/VII 40m/VII 60m/III 30m/VI+, A0 (VII) 40m/V+ 2 1 3 8 50m/VI+ 10 40m/VI 11 6 VII VII I III VI VI V+ V VI+ VIVI VI V V+ VI+ IV+ VI VII (VI, A0) IV+ IV V I III II VI 25m/VI 4 20m/VI 5 20m/VI 7 15m/VI 9 30m/VII (VI, A0) 12 50m/IV+ 13 40m/V 14 15m/IV 15 40m/I 16 30m/III 17 SPIGOLO SUD DIRETTO 22 Rosengarten > Larsèc > Pala di Socorda Spigolo sud diretto Abseilpiste Kanzel
Platten Kante Kante Kante Kante schöne, rote Seillänge
Pfeiler
schöne
zweiter
Pfeiler
Wand
man beginnt an der Kante des Pfeilers
178
22 179

Die Antwort auf Hässlichkeit verlangt die Entwicklung von Schönheit

Die Südwand der Pala di Socorda wurde bereits von Pit Schubert und Klaus Werner in einer sehr eleganten Linienführung erklettert. Die Route läuft leicht links des mäßig ausgeprägten Kantenvorsprunges. Unmittelbar selbst an der Kante gab es bislang noch keine Anstiegslinie. Der durch einige Bänder unterbrochene Wandabschnitt wirkte jungfräulich und bot sich für eine vielversprechende neue Route an.

Nach einem ersten Versuch im relativ weit rechts gelagerten plattigen ersten Wandabschnitt stieß ich auf einen Haken. Es waren schon andere eifrige Kletterer in diesen Aufstiegswegen rechts der Schubertführe unterwegs. Ich kehrte zurück und probierte es noch einmal ganze 30 m weiter links von diesem ersten Versuch.

Nach Einschätzung der gesamten großzügigen Wandzonen unter der Pala di Socorda war wohl in jedem Falle noch Platz für ein neues Unternehmen gegeben. Ein kompakter Riss am Einstieg führte hinauf zu einer gelben Verschneidung, die sich sehr gut sichern ließ. Die Kletterei war schön und beeindruckend. Unter Überhängen nach links querend erreichte ich den ersten Standplatz. Die Sehnsucht nach schönem Fels ließ meine Finger sehr sensibel und forschend an diesem leicht rundlichen und doch gut griffigen Rosengartenfels entlanggleiten. Am Berg das Schöne zu entwickeln war für unsere Seilschaft Florian, Franz und Barbara wohl der wegweisende Zielpunkt.

Wie viele hässliche Offenbarungen demonstriert das moderne Leben. In besonderem Maße dürfte es wohl eine prototypische Erscheinung der niedrigen menschlichen Natur sein, ja der tierisch verunstalteten menschlichen Tugend, wenn jemand im Leben seine hauptsächliche Aufgabe darin sieht, dass er auf sadistische Weise andere, die

vielleicht einen kleinen fröhlichen Lebenssinn bevorzugen, beleidigen muss. Wer anderen Menschen übel nachredet, sie beleidigt oder sie zerstören möchte, handelt auf hässlichste Weise. Er erzeugt nicht nur ein hässliches Emotionalprodukt, sondern er stilisiert sich selbst zur Würdelosigkeit und Erniedrigung und bald erscheint er mehr tierisch als menschlich.

Die Sehnsucht nach dem Schönen erweckt sich wohl dann umso graziler und kräftiger im Menschen, wenn er öfters mit den Gegenbildern, das heißt mit den Beleidigungen und pervertierten Verhaltensweisen des Menschseins zu tun hat. Die letzten Wochen musste ich härteste Beleidigungen und übelste Verleumdungen ertragen. Einige Personen, zusammen mit einem kirchlichen Weltanschauungsreferenten, boten eine gute Gewichtsklasse, das heißt, um es praktisch und kurz zu sagen, demonstrierten einen etwas überernährten rundlichen und sehr unsportlichen Umfang. Die Personen störten sich nicht nur an meiner Art zu leben, sondern beleidigten sogar alle meine Aktivitäten bis hin zum äußeren Aussehen. Klettern jedenfalls könne ich nicht und alle Routen, die bislang von mir eröffnet wurden, seien nur um der Manipulation willen geschaffen, denn sie stellen einen geheimen missionarischen Teil zur Verführung der Menschheit in eine Sekte dar. Es war klar, wer der Anführer dieser Sekte sei und es scheint für diese sehr rundlichen, wohlgenährten Personen wohl keinen Zweifel zu geben, denn es hätten eben gerade durch diese Klettertouren, die im Süden eröffnet wurden, viele Menschen Schaden erlitten. Zudem sei meine Person so sehr ausgemergelt und dürr, dass sie auf den Fotos, die sich im Internet befinden, ein schlechtestes Beispiel für die Menschheit abgäbe. Man würde die Menschheit zu Anorexia Nervosa führen und es sei wohl unverantwortlich, wenn arme, unbefan-

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gene deutsche Staatsbürger nach dem Süden gelockt würden, um dort die schlimmen Routen mit Sektencharakter zu klettern. Die Vorliebe des DickSeins, die Projektion der Unzufriedenheit, verbunden mit einer großen Anhaftung an das scheinbar so gute und sichere Leben, veranlasste meine Gegner wieder einmal, ihr ausreichendes und wohl gemeintes Urteil darzulegen.

Es gibt wohl verschiedene Arten, wie jemand mit Beleidigungen, Angriffen auf die persönliche Natur und Verunstaltungen des persönlich geprägten Lebenswerkes umgehen lernt. Meine Methodik beispielsweise ist es, das Hässliche von Beleidigungen mit dem Gegenbild der Schönheit zu beantworten. Wenn ein Weltanschauungsreferent, der infolge seiner 120 kg, die er jeden Tag tragen muss, wohl noch nie auf einem Berg angekommen ist und sich dennoch ein Urteil über Bergsteigen erlaubt, sollte man wohl nicht mehr auf diese Argumente eingehen. Eine seiner Freundinnen, die ebenfalls eine beachtliche Gewichtsklasse demonstriert, schreibt sogar, dass ich der größte Versager und der unerträglichste Taugenichts des gesamten Lebens wäre. Die Suche nach dem Schönen im Klettern, dann wenn die Sinne entlang an einem farbenfrohen Felsen gleiten und die Hände fest die Griffe ertasten, spendet ein sofortiges Gefühl des Freiseins und der wachsenden zukünftigen Möglichkeiten. Wollen wir nicht alle, die wir zum Klettern und Bergsteigen gehen, das Schöne in seinen vielschichtigen Variationen entdecken, studieren, es in Fotos festhalten und in unsere Seele mit hineinnehmen? Klettern dürfte wohl ein Weg sein, der immer von der Suche nach Schönheit begleitet ist.

Eine Kante führte hinauf zu einem relativ breiten Grasband. Schade, der rhythmische Fluss des eleganten vertikalen Höhersteigens war unterbrochen. Die Augen jedoch blickten hinauf. Welch schöne, senkrecht-plattige Felsen lagen über dem Haupte! Schnell war das Grasband überwunden und vergessen und schon legten die Hände sich erneut an die Vertikale. Die Griffe formten sich zu kleinen, zackenartigen Gebilden und ein kleiner luftiger Felsvorsprung platzierte sich genau an der entscheidenden Passage. Es dürfte wohl zu den faszinierenden Erlebnissen, die ein Kletterer fin-

den kann, gehören, wenn sich die Passagen nicht verengen und mit unüberwindbaren Hindernissen auftürmen, sondern wenn sie sich Schritt für Schritt im Aufstieg erschließen und sich gewissermaßen die Platten wie ein offenes Gelände darbieten und die Verschneidungen wie fein abgestimmte vertikale Treppen zum Himmel hinaufführen. Die Bewegung im Auf und Nieder an der Wand lässt das Feste und Hinderliche Meter für Meter zurück und entfaltet sich im zunehmenden freien Atem im luftigen Umkreis. Es ist schön zu erleben, wenn eine Wand ihre verborgenen Pforten öffnet. Nach zwei Seillängen sagte ich zu meinen Freunden in den nachsteigenden Seilschaften, dass der unschöne Fels sicher noch kommen werde und die nächste Seillänge ohnehin bereits mehr Gras bereit hielt, als Fels. Vielleicht sagte ich diese Worte aus einer noch in Restrückständen verbliebenen Deprimierung, die mir die Beleidigung der letzten Wochen eingebracht hatte. Ich stieg hinauf, fand einen Riss, in den man Friends legen konnte, entfernte einige kleine Graspölsterchen und wieder kam ein schöner, fester, wie auch interessanter Fels zur Offenbarung. Meter für Meter gebärdete sich der Aufstieg im angenehmen, kletterbaren Gelände.

Ich dachte an meine Gegner, wie sie nahezu Tag und Nacht vor dem Computer sitzen und allerlei weitere Beleidigungen gegen mich losschmettern. Diese Menschen haben noch nicht einmal eine Stunde der Schönheit in einem Berganstieg erlebt. Sie kennen keine Sinnesfreude, sie kennen nicht die Berührung des Lichtes, wie es einmal von den Augen zu einer Leiste hinübergleitet und wie es sich widerspiegelt am hellen Felsen und das Gefühlsleben erfrischt. Dieses schöne Zirkulieren des Lichtes in der Natur, im Zusammenspiel mit den menschlichen Sinnen haben diese Menschen, die andere nur verdammen wollen, niemals kennengelernt und deshalb sind sie tatsächlich in ihrer eigenen Dunkelheit gefangen. Infolge ihrer eigenen Gefangenschaft und mangelnden Erfülltheit müssen sie ihren bösen aufsteigenden Trieben folgen und sie können gar nicht ruhen, ohne das, was bei den anderen erfolgreich und hoffnungsvoll ist, zu beleidigen.

Wir kletterten weiter über eine rötliche Kante hinauf, an der sich ein Riss an der genau bemessenen

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Die Antwort auf Hässlichkeit verlangt die Entwicklung von Schönheit

Stelle öffnete und erreichten über löchrige vertikale Felsen eine Kanzel. Diese bot einen idealen Stand unmittelbar an der Kante. Fördern nicht gerade die negativen Seiten, die Menschen an den Tag legen, die positive Erlebniswelt von denen, die sie beleidigen? Ab jenem Moment, ab dem ich mich dazu entschließe, eine schöne Kreation am Berg zu erzeugen, bemerke ich, wie gerade diejenigen, die so sehr armselig und hoffnungslos zurückbleiben, die Kraft für die Strebsamkeit geben und wie sie gerade durch ihr negatives Tun unbedacht und ungewollt das Ideal der Schönheit fördern.

Die Route verlief weiter an der Kante und es entwickelten sich sehr interessante Klettermomente, obwohl der Fels an manchen Passagen eine Säuberung beanspruchte. Ein Überhang ließ sich mit einem einzigen Haken gut sichern und überwinden. Viele Sanduhren fanden sich auf natürliche Weise. Die Schwierigkeit blieb immer gleichbleibend im fünften und manchmal im sechsten Grad. Ein großer gelber Kantenabschnitt mit einigen fragwürdigen Überhängen gab noch einmal ein Rätsel auf. Als Kletterer, ganz besonders wenn man eine Seilschaft führt, entwickelt man immer intensive Gefühle und Empfindungen für das Gelände und man weiß fast immer im Voraus, wie es werden wird. Der Rhythmus des Aufstieges war bislang ununterbrochen elegant und das Zusammenwirken in den beiden Seilschaften perfekt. Die nachsteigenden Kollegen polierten das Gelände und brachten noch zusätzliche, bessere Sicherungen an. Ich selbst turnte im gelben Fels hinauf, fand eine kleine Sanduhr und es war zur Überraschung wieder einmal sehr schön. Als weitere gelbe Überhänge den letzten Abschnitt dieser Mauer versperrten, bot sich ein kleiner Rechtsquergang an und mithilfe dessen konnte der steilste Kantenabschnitt in angemessenem Verhältnis zur Gesamtschwierigkeit der Route bestens überwunden werden. Die Schönheit eines Aufstieges steigert sich, wenn die Seillängen im Charakter und in der Schwierigkeit zusammenpassen.

Von links kam die Route von Klaus Werner und Pit Schubert herüber. Wir hielten uns direkt an der unmittelbaren Kante. Vielleicht waren hier diese beiden Führen in manchen Abschnitten nicht mehr getrennt. Diese Berührung mit der Schubertführe im obersten Wanddrittel dürfte jedoch keine große Beeinträchtigung für den neuen Aufstieg geben. Das Gelände war übersichtlich und entfaltete sich nach logischen, natürlichen Verlaufsformen. Ein Stand direkt an der Kante ließ uns weiter nach rechts in eine Verschneidung einsteigen, über die wir schließlich die ersten Gipfelbänder an den zerklüfteten, vorspringenden Türmen erreichten, die von Blitzen zerschlagen wirkten. Türmen erreichten. Die Bänder zogen nach rechts hinüber und über diese erreichten wir schließlich den höchsten Turmpunkt. Ein Aufstieg direkt über den Gipfelgrat hätte infolge des nun vorliegenden zerklüfteten Gesteins einige Unannehmlichkeiten eingefordert.

Die Abseilstellen waren bereits von Pit Schubert eingerichtet. Wir bedienten uns dieser und setzten zu den alten Haken noch zweimal einen Ring hinzu. Die Abseilpiste ging in eine Schlucht hinunter, die zu dem Einstieg führt. Landschaftlich bietet die Durchsteigung der Südkante der Pala di Socorda nicht nur ein sehr schönes Klettererlebnis, sie schenkt darüber hinaus ein sehr rundes Unternehmen. Der Zustiegsweg ist kurz, die Kletterei über ganze 400 m sehr erfüllend und der Abstieg, obwohl er sich nicht ganz kurz gebärdet, rundet das Erleben auf idyllische Weise ab. Zudem bietet die südliche Exposition viel Sonne und die Route lässt sich auch sehr gut im Winter oder zu spätherbstlicher Zeit klettern.

Klettern dürfte wohl eine der besten Disziplinen darstellen, so manche Hässlichkeit des Alltages zurückzulassen und die Sinne in eine freudige und schöne Welt mit berührender Anteilnahme zu bewegen. Die Suche nach dem Schönen liegt wohl in jedem Menschenherzen zutiefst begründet.

Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergisst seiner Schranken, so lang` es ihren Zauber erfährt.

Friedrich Schiller (1759-1805) (Briefe über die ästh. Erziehung des Menschen)

182

In der vierten Seillänge beginnt die steile Kletterei

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184
Im Quergang und den grauen Platten der 5. Seillänge. Im Talgrund ist die Gardeccia sichtbar. Dahinter der Baumannkamm (Florian Kluckner)
185

6 SU

2 SU

4 H, 2 KK 20m/VII+ (VI+, A0); 4 H, 1 SU

30m/VI+, A1

H 2 SU

SU

1 H, 2 SU, 1 KK

A1 3 H, 3 SU

A1 2 H 6 SU 15m gehen

H 4 SU

(VI+, A0) 3 H 3 SU

steile Wand

Loch mit Graspolster

VI+ VI+ VII-, A1 VII+ (VI+, A0) V+ VIV+ VV+ VI+,A1 VII-,A1 VI+ VIV+ IV+ II V+ III IV+ VI+ VI+, A1 VII+ (VI+,A0) VI VI+ VI V V+ VI60 m II-III 2 1 3 6 7 8 4 5 10 25m/IV+ 9 11 12 13 14 15 30 VIA GIOVE 30 Vallaccia > Cima Undici Via Giove Riss, A2 mit Stoppern und Friends Nische Riss V+ Riss VIAbstieg Pilastro Zeni Nische Rinne
Band
Fels schöne Platten brüchiges Band
geschlossene Platten
großes
dunkler
steile und
geneigte Platten
1
2
25m/VI+ 1
3
kl. Verschneidung
4
30m/VI-
30m/VI;
25m/VI+
60m/IV+ 1
25m/VII-,
30m/VI+
40m/VI+,
60m/V+ 1
30m/VI1 H 3 SU 25m/VII+
KK 20m/VII-, A1 3 H
SU
H
SU
242
„Maffei/Frizzera“
31 30 243

Via Giove Der Weg des Jupiters

Die Idee eines geschlossenen Durchstieges von den Einstiegsplatten bis hinauf zum Gipfel der Cima Undici inspirierte mich in diesen sommerlichen Tagen des Jahres 2015. Die hellgrauen, teils silbrigen Platten des linken Wandteiles boten ausreichend Gelegenheit, um diese Idee zu realisieren. Die Route sollte den Namen „Giove“, was so viel wie „Jupiter“ heißt, erhalten. Die menschlichen Expressionen sind nicht nur von der Erde geprägt, sondern sie sind gleichzeitig ein Ausdruck eines großen Firmamentes. Die Physiognomie zeigt die Offenbarungen der Sterne. Die Stirn des Menschen repräsentiert beispielsweise den Jupiter. Sie ist im Idealfall bei guter Ausprägung wie ein erhabenes Bild, das dem Menschen Anziehung und eine lichte Ausstrahlung verleiht. Der große Durchstieg durch die Wand in der Vallaccia vom Fuß der Wand bis hinauf zum Kopf schenkt eine Art Erinnerung an Größe und vielleicht fühlt der Bergsteiger sich, als ob er den Berg an seiner entscheidenden Stirnwand erobert. Der Jupiter ist jedenfalls der Planet, der hohe Werte, Freundschaft, edle Selbstwertgefühle und Erhabenheit signalisiert. Er ist gewissermaßen der König der Planeten.

Für mich beginnt jedes Unternehmen am Berg mit einer Idee, die ich schließlich zu einer Vorstellung ausarbeite und zuletzt in die Praxis umsetze. Während die Idee eines neuen Anstieges in der Vallaccia in ersten konkreten Gedanken heranreift, streifen die Augen an den Zonen der silbrigen Platten entlang und erkunden die besten Möglichkeiten einer kletterbaren und naturgegebenen Linie. Gedankenkraft und Sinnesbewegtheit sind wie ein Geschwisterpaar, das sich naturgemäß in gegenseitigen Möglichkeiten ergänzt. Je größer die Ideenkraft eines Menschen ist und je mehr er die Idee zu realen Vorstellungen denken kann, desto mehr entdeckt er ihre praktische Umset-

zung und eine ganze Reihe von zukunftsorientierten Bergperspektiven. Es könnte jemand glauben, dass ein Erstbegeher eine Linie zufällig entdeckt, sie mit dem Fernglas in den verschiedenen Zonen vorweg erkundet und sie rein nach seiner sinnesforschenden Tätigkeit umsetzt. Die Ideenkraft, die jedoch einer jeden Route zugrunde liegt, trägt den Funken der Initiation und lässt erst die Sinne zum rechten erkundungsorientierten Schauen erwachen. Aus diesem Grunde folgen die Sinne dem inneren Potential der Ideenwelt. Der Mensch sieht eigentlich nur so weit die Linien und ihre schönen ästhetischen Kombinationen, wenn er für diese in ausreichendem Maße eine Idee oder, wenn man es anders ausdrückt, einen tiefen Sinn besitzt.

Die Frage, woher eine Idee kommt, wie sie Einzug in den Menschen findet und wie er in der Folge mit dieser eine Realisierung beschreitet, mag für den Bergsteiger nicht uninteressant sein. Vielleicht könnte man sagen, dass Bergsteigen und Klettern durch steile Felswände schon eine sehr verrückte Vision sei, die den einzelnen Menschen nur deshalb in eine Passion treibt, da er mit dem gewöhnlichen Alltagsleben unzufrieden ist und er eine etwas anspruchsvollere, über die Talgründe hinausgehende Nervenspannung sucht. Jedenfalls ist Bergsteigen sehr eng mit der Ideenkraft des Menschen verbunden und wenn diese nicht ausreichend angelegt ist, so würden wohl Berge bis zum heutigen Tage kaum bestiegen werden. Philosophisch gesehen ist die Idee nicht ein Ergebnis eines bestimmten hormonellen Hyperaktivseins oder eines Zu-impulsiv-Werdens des vegetativen Nervensystems. Die Idee ist, wenn sie an den Menschen herantritt, zunächst einmal ganz unabhängig von allen körperlichen Bedingungen. Wie der Philosoph Platon sagte, lebt der Mensch mit seinen Ideen in einem geistigen Zusammenhang, während der irdische Körper ein Abdruck des

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übergeordneten psychischen Potentials ist. Wie eine Art Auferstehung beseelt den Menschen das gedankliche Feuer einer Idee und wenn diese ausreichend gedacht wird, nimmt bald das menschliche Gemüt einen leidenschaftlichen Trieb auf und will in die Realisierung des vorgenommenen möglichen Gedankens eintreten. Ideen sind eine geistige Feuerkraft, eine Wirklichkeit, die wie von oben auf den Menschen zukommt. Wenn er auf die Ideen hört, gewinnt er eine lebendige Bewegtheit in seinem Gemüt und bald drängt es ihn zu einer Realisierung.

Im linken Wandteil der großen Plattenschüsse der Cima Undici verläuft die klassische Route von Graziano Maffei „Feo“ und Mariano Frizzera. Sie trägt den Namen Pilastro Zeni. Wir hatten sie bereits einige Male wiederholt. Ein relativ großer Teil des Aufstieges verläuft in Rissen, die gerade in der Vallaccia sehr große Schwierigkeiten aufweisen, vielfach glatt und unangenehm verengt sind und manchmal einen unsicheren Fels aufweisen. Rechts dieser Tour erschien die Wand noch sehr

jungfräulich und ließ eine allgemein gute Felsbeschaffenheit erkennen. Die charakteristischen Platten mit verschiedenen Löchern erlauben in dieser Zone ein elegantes Klettern. Die Schwierigkeit der Plattenkletterei besteht jedoch in der Kompaktheit der Zonen. Ein Anbringen von sicheren Haken, das Legen von Friends oder Klemmkeilen ist aus diesem Grunde außerordentlich heikel. Eine Erstbegehung bedarf innerhalb der Platten einer sicheren Bewegung von einem Loch zum anderen und dies in der Hoffnung, dass rechtzeitig eine Rissspur zum Anbringen eines Hakens erscheint. Manchmal sind die Löcher sehr rund und offen und kosten den Vorsteiger Schweißtropfen der Angst.

Wir stiegen an einem warmen Vormittag in die Wand ein. Die erste Seillänge ließ sich mit einem einzigen Haken und einigen Sanduhren sehr gut lösen. Lange Sicherungsabstände in den Platten wollten wir vermeiden, denn bereits während des Aufstieges dachten wir an die Wiederholer. Die zweite Seillänge bedurfte etwas Säuberung von

Die Piramide Matteo Armani (links) und die Piramide Carlo Delmonego ragen als zwei freie Pyramiden unterhalb der Cima Undici auf Sobald der Geist auf ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
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42. Dove dimori superiore

Heinz Grill, Stefano Santomaso (08/2021).

Die Route eignet sich zum „Anhängen“ nach den Routen 42. Dove dimori oder 43. Tetto fessurato. Vom Ausstieg der Routen rechts hinauf, und über Steigspuren auf den oberen Weg zum Einstieg (10‘).

Schwierigkeit: VI, eine Stelle oft V und IV. Höhenunterschied 150 m. Ausrichtung Süd.

Material: Alle Standplätze sind mit Sanduhren oder Normalhaken ausgestattet, die Zwischensicherungen mit vielen Schlingen in Sanduhren und Normalhaken. Zur Verbesserung der Absicherung wird die Mitnahme von einigen Cams bis Gr. 2 empfohlen.

Kletterzeit 2 h.

Zeit für den Abstieg 1 h.

Zeit für den Zustieg 1 h 25 Min.

Die Zu- und Abstiegszeit ist von der Malga Framònt berechnet. Die Route eignet sich zum „Anhängen“

Zustieg: Vom Rif. Carestiato auf die Alta Via n°1 (Nr. 554) in westlicher Richtung unter die Wand. Bei einem großen Stein (alte rote Markierungen) auf Steig links hinauf zum Einstieg (45‘).

Von der Malga Framònt auf dem Weg. Nr.552 zur Alta Via n°1 (Nr. 554) und nach rechts, in östlicher Richtung unter die Wand. Bei einem großen Stein (alte rote Markierungen) auf Steig links hinauf zum Einstieg (1,30 h).

Abstieg: Vom Ausstieg steigt man in Richtung einer kleinen Lärche auf, darüber befindet sich ein grasiges Band. Über dieses steigt man ab, dann über Felsen I-II bis zum Einstieg zurück, 30‘ (Steinmänner).

42
Moiazza > Scalet delle Masenade3°
354
Torrione dei Cantoi Dove dimori & Dove dimori superiore
355
Die unteren Seillängen suchen sich über schöne Pfeiler zwischen den Latschen den Weg nach oben (Sandra Schieder)

„Dove dimori superiore“ (42)

„Tetto fessurato“ (43)

„Tetto fessurato“ (43)

42 III V+ IVIV+ III IV+ V IV VV A0 V+ IV IV+ VII 1 3 2 4 5 6 7 8 15 m/II 9 DOVE DIMORI 42 Moiazza > Scalet delle Masenade3° Torrione dei Cantoi Dove dimori & Dove dimori superiore
Torrione dei Cantoi Latschenband schöne Platten oberer Abstieg
Route Pfeiler Abstieg
Stein
roter Markierung oberer Weg
Dächer
Lärche
graue Platte Alta Via n.1 Weg Nr. 549 10 Minuten Kriechband Rinne Abstieg große Schuppe Band Latschen Latschen SU SU SU SU SU SU 2 H SU 40m/V2 SU 40m/V 2 SU 40m/V 6 SU 25m/IV 2 SU 35m gehen 45m/V+ 1 H 2 SU 25m/III 1 SU 25m/V+, A0 4 SU
andere
großer
mit
große, gelbe
Gehen, großes bewachsenes Band
Grasfleck Überhang
„Grande traverso“(44)
356
42 43 357

Stand an Zacken

kleine Lärche

ausgesetzer Quergang

große, gelbe Wand mit Dächern

überhängender Quergang VI

I, am Grat

Schuppe

schöne, graue Platten

Überhang, Stelle

an der Kante

oberer Weg

kleine Lärche

„Tetto fessurato“ (43)

„Dove dimori“ (42)

Abstieg, „Sentiero degli Scalet“

Stellen bis II

42 II IV IV IV III+ IV+ V+ IV+ IV VI 10’ 1 2 3 4 5 6 DOVE DIMORI SUPERIORE 42 Moiazza > Scalet delle Masenade3° Torrione dei Cantoi Dove dimori & Dove dimori superiore
SU SU SU SU SU 40m/IV+ 1 SU 15m/VI; 1 H, 2 SU 20m/V+ 2 SU 25m/VI3 SU 25m/III+ 3 SU 40m/IV
SU
3° Torrione dei Cantoi
2
Abstieg Überhang
Abstieg
358
42 359

Dove dimori

Die Suche nach einer Kletterei in sonniger Leichtigkeit

Schon einige Jahre dachte ich daran, dass wir unbedingt eine leichtere Route in den Dolomiten eröffnen müssten; für mich persönlich, aber auch allgemein für Kletterer, die bei einem sechsten Grad im Vorstieg an ihren Grenzen sind und weniger Erfahrung in den Dolomiten haben. Ich kenne einige Kletterer, oft auch Frauen, die unsere Touren im Sarcatal gern wiederholen, auf die Routen in den Dolomiten aber schweren Herzens verzichten, da sie Respekt vor verschiedenen möglichen Gefahren haben. Zur Bewältigung der Schwierigkeit kommt in den alpinen Touren einiges an Risiko dazu. Wenn man zum Beispiel die Linie verliert, kommt man schnell in brüchiges oder schwierigeres Gelände, aber auch die Höhe der Wände mit Zustieg und Abstieg bilden einen zusätzlichen Anspruch an die Kondition, oder das Wetter, das unbedingt im Gebirge gesondert mitkalkuliert werden muss. Auch auf Rückzüge muss man vorbereitet sein.

Wir standen also endlich vor einer Wand, wie ich sie mir gewünscht hatte: Südlich-sonnig versprach sie ein wirkliches Vergnügen. Bei unseren Erstbegehungen begaben wir uns meist in nicht einfache Verhältnisse, der Ehrgeiz von Heinz, Florian und Franz, den besten Fels zu finden, führte uns oft in schattige, windige, kalte Nordwände. Dieses Mal würde uns das lange geduldige Bibbern erspart bleiben, denn die Wand war nicht hoch, ohne längere steile Wandpassagen - ich musste auch keine Angst haben, dass mir die Kraft ausgehen würde.

Ich hatte großen Respekt vor Heinz oder Florian, die sehr professionell, schnell und trotzdem sorgfältig die Linie anlegten. Ich durfte dann leichten Schrittes die gesäuberten und gesicherten Felsen nachsteigen. Bald kamen wir an einen kleinen Überhang, an dem Heinz einige Zeit an der Absicherung bastelte. Ich war erstaunt, als ich dann im Nachstieg ohne Schwierigkeiten über den Felsauf-

schwung klettern konnte. Florian, der hinter mir als Dritter in der Seilschaft kletterte, widmete sich ausgiebig der Perfektionierung der Absicherung. Ich fand, dass Heinz die Route bereits ausreichend und gut eingerichtet hatte, Florian jedoch fand noch zahlreiche Sanduhren, entfernte weitere brüchigen Felsen und perfektionierte die Route noch in erstaunlichem Maße. Florian war, wie Heinz, auch ein Perfektionist – alles musste bis ins Detail so ideal wie möglich herausgearbeitet werden.

Über einige Seillängen in schönen Platten, die mir große Kletterfreude bereiteten, erreichten wir den tiefen Einschnitt im obersten Drittel der Wand. Dort befand sich ein relativ durchgehendes Dach, das wir bereits in der benachbarten Tour „Il Tetto Fessurato“ mit einem gewagten Schritt in die Lüfte überwunden hatten. Die beiden Männer waren sich nicht ganz einig, ob man nun die Linie direkt über das Dach wagen oder die knifflige Zone in einer recht weiten Schleife umgehen sollte, um die Tour nicht mit einer schwierigen Passage in ihrer kontinuierlich geringen Schwierigkeit zu stören. Letztendlich stieg Heinz in das Dach ein. Ewige Zeit verbrachte er mit dem Setzen des Hakens an der entscheidenden Stelle. Ich wurde unruhig, Florian war neben mir hingegen vollkommen entspannt und ermutigte Heinz fortwährend, den Haken an einen noch besseren Platz zu setzen. Wie konnte man sich nur so lange an einem Haken aufhalten? Endlich war der Haken gesetzt. Ich machte mich schon bereit, die luftige Stelle nachzusteigen, jedoch war Heinz noch immer nicht zufrieden und kam mit der Idee, dass man doch einen Stein als Erhöhung hinlegen könnte, dann wäre die Stelle ohne technische Kletterei möglich. Dies machten wir und tatsächlich konnte man nun mit einem großen Schritt hochsteigen. Als ich dann endlich die spannende Dachstelle klettern durfte, war ich fasziniert, Luftigkeit und dank dem guten Haken ein sicheres Gefühl gleichzeitig zu erleben. Die

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Schlüsselstelle war damit überwunden und die folgenden 3 Seillängen waren sehr schnell von den Männern gefunden und eingerichtet. Ich war sehr zufrieden, sowohl mit der guten Arbeit der beiden Experten an meiner Seite, als auch mit meinem eigenen leichten eleganten Aufstieg. Ich konnte mir gut vorstellen, die kleine Tour auch selbst im Vorstieg zu bewältigen.

Die Dove Dimori endet auf einem schönen Band und dort sitzend, wurde Heinz plötzlich unruhig. Sein Blick streifte die Wände, die oberhalb lagen. „Eine Fortsetzung nach oben wäre hier gut möglich und für eine ideale Tour eigentlich notwendig. So ist die Kletterei ein wenig kurz.“ Mit diesen Worten sprang er auf und war schon über den Weg hinauf um die Ecke verschwunden. Es dauerte nur einige Tage, dann hatte er Stefano Santomaso für sein Vorhaben begeistert und sie stiegen in die Wand des Terzo Torrione di Cantoi ein, um eine Fortsetzung der Via Dove Dimori zu gestalten. Ich wählte dieses Mal die Beobachterposition in der Wiese am Band. Von dort konnte ich die Entstehung der Linie bewundern. Wie in einem Guss, elegant und flüssig, legten die beiden Kletterer die logische, schöne Route bis nach oben hin an. Am meisten zitterte ich mit den beiden, als sie in der fünften Seillänge an eine Stelle kamen, die von unten unbegehbar erschien. Ich hörte bis unten ihre Stimmen in der hitzigen Debatte um die idealste, sicherste und beste Lösung. Ich war froh, dass ich aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Wie sie schlussendlich weiterstiegen, hätte ich mir jedoch nie vorstellen können: Heinz querte in einem ausgesetzten, sehr abenteuerlich anmutenden Quergang nach rechts und überwand die schwierige überhängende Zone überraschend elegant.

Die Entstehung dieser zwei kleinen Touren war so gut und leicht verlaufen, dass ich die Strapazen der letzten Erstbegehungen, wie die der „Via della Punizione“ (übersetzt „die Strafe“) auf den Castello delle Nevère, gut vergessen konnte. Beim Abstieg der Touren an der Masenade wartet sogar ein schönes Wasserloch, wo man sich an heißen Tagen zu allem Luxus noch erfrischen kann.

Der Geist wächst mit der Weite des Augenblicks. Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
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In der letzten Seillänge quert man an Leisten entlang zwischen zwei Dächern exponiert nach links (Stefano Santomaso)

Klassische und moderne Routen in den DOLOMITEN

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