Elbphilharmonie Magazin – Zuflucht / 03/2022

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SUFI FESTIVAL Musik, die Schöpfer und Schöpfung verbindet CECILIA BARTOLI »Für die Kehle wie für die Seele« AFROFUTURISM Tradition und Vision: die Erneuerung des Jazz |32022Euro6,50 4<BUBALT=aagfaa>:V;Y ANTON BRUCKNER DerVisionärzaudernde zuflucht

juliusbaer.com MODERNE KULTUR IN EINZIGARTIGER GESTALT. PRINCIPA L SPONSOR Julius Bär ist Principal Sponsor der Elbphilharmonie Hamburg. MÖCHTEN VERWIRKLICHEN?SIEWELCHEVISION

Sollten Sie selbst wovor auch immer Zuflucht im Konzert saal nehmen wollen, so sind Sie uns stets von Herzen willkommen. Unsere neue Saison bietet dafür wieder vielfältige und reizvolle Anlässe, von denen dieses Heft nur einige hervorhebt – etwa das Hamburg Debüt des Chineke! Orchestra (S. 21), mehrere dem sinfonischen Werk Anton Bruckners gewidmete Abende (S. 24), das neue Projekt der wunderbaren, klugen, wandlungsfähigen Mezzosopranistin Cecilia Bartoli (S. 44) oder die »Wege zu Bach«, die der französische Alte Musik Erneuerer Raphaël Pichon mit seinem Ensemble Pygmalion beschreitet (S. 64).

LHERZLICHWILLKOMMEN!

Der Wunsch nach einer Welt, in der ganz konkret niemand mehr von dem Ort fliehen muss, an dem er oder sie sich gerade befindet, mag utopisch klingen. Doch die Utopie ist auch eine Zuflucht; sie trägt in sich den Keim des Neuen, nie zuvor Gedachten und Getanen. Und ohne das geht nichts voran, in der Kunst nicht, nicht im Leben. Eine inspirierende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Christoph Lieben Seutter Generalintendant Elbphilharmonie und Laeiszhalle

iebe Leserin, lieber Leser, Flüchtende hoffen auf Zuflucht, irgendwo anders, zumindest vorüber gehend. Flucht ist immer konkret und physisch. Doch Zuflucht, Titelthema der vorliegenden Ausgabe des Elbphilharmonie Magazins, kann auch ein geistiges Anderswo bedeuten, das bessere Verhältnisse und eine erfüllendere Selbstwahrnehmung verheißt als die Realität, in der man sich gerade befindet. Existenziell sind beide, Flucht wie Zuflucht, auf ihre Art. Dieses Heft widmet sich der großen schöpferischen Kraft, die die Suche nach Zuflucht im Menschen auszulösen vermag. Sei es die »Zuflucht in die Zukunft«, die eine später Afrofuturismus genannte Bewegung aus den Sechziger , Siebzigerjahren inspiriert hat und die in der schwarzen Kultur (nicht nur) der USA derzeit ein starkes Revival erlebt (S. 4), sei es die »Zuflucht in der Musik« selbst, jene seit Anbeginn der Zeiten ungemein beliebte und heilsame Fort Bewegung aus dem Alltag in die Welt menschengemachter Klänge (S. 30). Die Autorinnen und Autoren spüren diesen und noch weiteren Obertönen der Zuflucht nach und, wie Sie es von unserem Magazin gewohnt sind, sie tun dies gewiss nicht zu flüchtig.

FÖRDERER SPONSORENUND 82 IMPRESSUM 88 50 MASCHEK DA RENNT DER SCHMÄH Die Medienkünstler synchronisieren live einen Stummfilm. VON CHRISTOPHER WURMDOBLER GLOSSE DAS MUSS-MUSS Zuflucht in Redewendungenabgenutzten VON TILL RAETHER 30 ESSAY ZUFLUCHT IN DER MUSIK Über den Eskapismus und sein bevorzugtes Medium VON ANDREAS DORSCHEL 24 ANTON BRUCKNER DER ZAUDERNDE VISIONÄR Krasse innere Gegensätze machen Bruckners Sinfonien so aufregend. VON ALBRECHT SELGE 36 FOTOSTRECKE FACETTENREICH VON JEWGENI ROPPEL 10 RAVI COLTRANE VON GUTEN WUNDERBARMÄCHTENGEBORGEN Familienalbum: Ravi würdigt John und Alice Coltrane. VON TOM R. SCHULZ 62 UMGEHÖRT FLUCHT UND ZUFLUCHT Eine Frage, sieben Antworten VON LAURA ETSPÜLER UND JULIKA VON WERDER MUSIKLEXIKON STICHWORT »ZUFLUCHT« Es gibt nichts, wozu die Musik nichts zu sagen hätte. VON CLEMENS MATUSCHEK 14 64 MUSIKGESCHICHTE WEGE EINER DYNASTIE Der musikalische Aufbruch der Bachs begann lange vor Johann Sebastian. VON VOLKER HAGEDORN 68 ENGAGEMENT ICH BIN EIN FAN VON CLAUDIA SCHILLER 70 MITARBEITER ABTEILUNG SCHICK UND SCHÖN Sie sorgen dafür, dass die Elbphilharmonie immer gut aussieht. VON FRÄNZ KREMER 74 REPORTAGE AM RUDER DES LEBENS Zuflucht, das kann vieles sein. Drei Beispiele aus unserer Stadt VON STEPHAN BARTELS 58 KLASSIK DER WELT BIS ZUM RÜCKEN DES WEIẞEN TIGERS Der koreanische Jongmyojeryeak ist ein uraltes Gesamtkunstwerk. VON STEFAN FRANZEN VIVI VASSILEVA GUTE ENTSCHEIDUNG Schlagzeug ist mehr als nur schnell und laut. VON RENSKE STEEN 16 20 CHINEKE! ORCHESTRA NEUE VORBILDER Das schwarze Orchester will die Klassikwelt verändern. VON SIMON CHLOSTA 28

4 AFROFUTURISM ZUFLUCHT IN DIE ZUKUNFT Eine junge Garde von Jazz Erneuerern findet in schwarzer Geschichte und Kultur den Treibstoff für ihre Vision einer gerechteren Welt. VON JONATHAN FISCHER 62 SUFI FESTIVAL MYSTIK FÜR ALLE Der Sufismus verbindet Schöpfer und Schöpfung – auch mit Hilfe der Musik. VON STEFAN WEIDNER 44 CECILIA BARTOLI »FÜR DIE KEHLE WIE FÜR DIE SEELE« Die Sängerin über das Faszinosum Farinelli und Mozarts musikalische Menschlichkeit VON BJØRN WOLL

ZUFLUCHT In Verbindung mit den Ahnen: Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott)

I rgendwann wurde es Shabaka Hutchings zu viel: »Es langweilt mich«, schimpfte der schwarze Londoner Saxofonist 2019, »dass ich in Interviews inmitten von pseudointellektuellen Überlegungen artikulieren soll, was doch am besten nonverbal durch Kunst ausgedrückt wird.« Mit seiner Twitter Tirade bezog sich Hutchings auf einen enorm hippen, aber auch gerne mal überstrapa zierten Begriff: Afrofuturismus. Er schlug künftigen Interviewern vor, sich »aktiv mit Weltsichten außerhalb des aktuellen kulturellen Zeitgeistes« zu beschäftigen, um die Komplexität von »Afrofuturismus als des ewigen Anderen« zu begreifen. Schließlich sei Afrofuturismus schon immer auch: Jazz. Warum also nicht einfach der sagenhaften Ener gie seiner diversen jungen, multikulturellen Jazz Ensembles nachspüren, die sich Sons of Kemet, Shabaka & The Ancestors oder The Comet Is Coming nennen und zu den treibenden Kräften einer weltweiten afrozentrischen spirituellen Jazz Renaissance gehören? Man spürt etwas Besonderes, wenn man die Musik von Shabaka Hutchings, aber auch die von Angel Bat Dawid, Theo Croker, Ravi Coltrane oder Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott) hört, wenn man die Bücher von Octavia E. Butler liest, sich cineastische Science Fiction Fantasien wie die des Reichs von Wakanda vor Augen führt. Wann gab es zuletzt eine Bewegung, in der junge schwarze Künstler in Film, Literatur und Musik gemeinsam eine Geschichte entwerfen und schwarze Kultur samt ihrer afrikanischen Ursprünge als Treibstoff einer besseren, gerechteren Zukunftsvision nutzen?

KONTERKARIERTE KLISCHEES

Seit knapp zehn Jahren lässt sich die westliche Populärkultur vom Afrofuturismus beflügeln. Der Superhelden Film »Black Panther« setzte 2018 einen Meilenstein. Sein technologisch und gesellschaftlich avanciertes König reich Wakanda konterkariert alle überkommenen Afrikaklischees. Hier sind nicht nur die Superhelden schwarz –auch der Fortschritt ist es. Wenn man bedenkt, dass afrikanische Kultur im westlichen Mainstream noch häufig als »rückständig« geringgeschätzt wird, dann predi gen Popstars wie Missy Elliott, Erykah Badu, Janelle Monáe und Solange Knowles mit afrofuturistisch inspirierten Videos seit einigen Jahren das Gegenteil: Afrikanische Der Afrofuturismus beflügelt eine junge Garde von Jazz-Erneuerern: In schwarzer Geschichte und Kultur finden sie den Treibstoff für ihre Vision einer gerechteren Welt.

Afrofuturism 5

VON JONATHAN FISCHER Gesegnete Musik: Angel Bat Dawid

INZUKUNFTDIE

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»Ich bin in der Zukunft gewesen, und wir haben gewonnen«, steht auf Plakaten der Black Lives Matter Bewegung. Wenn man den afrofuturistischen Geschichtenerzählern glaubt, dann werden die Fakten irgendwann der Fiktion folgen, dann nehmen ihre Literatur, ihre Bildersprache und ihre Musik die Zukunft voraus.

»Sun Ra isst zu Mittag – dort, wo ich auch zum Essen hingehe«, sagte Clinton einmal. Der Pate des (so puren wie psychedelischen) P Funk überführte ab Ende der Sechziger den Experimentiergeist und die theatralen, surrealen Charaktere des Botschafters vom Saturn in das Universum seiner Bands Parliament und Funkadelic. Höhepunkt ihrer Shows war die Landung eines Raum schiffs auf der Bühne. Clinton nannte es die »Mothership Connection«. Angstlösende Funk Rhythmen und Raum schiff Allegorien beschwören da eine mythische Zukunft, die in ein Parallel Universum bereits Einzug gehalten hat. Waren letztlich nicht die auf Sklavenschiffen zusammengepferchten und geketteten Afrikaner die ersten Afrofuturisten? Mussten sie auf der tödlichen Middle Passage zwischen Westafrika und Nordamerika nicht spirituelle Wege des Überlebens ersinnen, eine Zukunft jenseits der Fesseln imaginieren?

Kostüme und traditionelle Bemalungen passen da wunderbar zu Techno und Cyborg Ästhetik. Die Zukunft scheint endlich in der Vergangenheit angekommen zu sein. Und umgekehrt.DerUS amerikanische Kulturkritiker Mark Dery hat den Begriff Afrofuturismus 1993 geprägt. Er erklärte ihn als »Begriffsinhalt, der sich Bilder aus der Technologie aneignet« und eine »prothetisch erweiterte Zukunft im Dienst afroamerikanischer Visionen« entwirft. »Kann eine Gemeinschaft«, fragte Dery, »deren Vergangenheit absicht lich ausgelöscht wurde – und deren Energien in der Folge von der Suche nach lesbaren Spuren ihrer Historie verzehrt wurden –, mögliche Zukunftsszenarien imaginie ren?« Genau das versuchen schwarze Künstler unter dem Schirmbegriff des Afrofuturismus: schwarze Identität zurückzugewinnen; die Normen einer weißen, rassistisch geprägten Geschichtsschreibung in Frage zu stellen; Zukunftsszenarien zu imaginieren, in der schwarze Kultur endlich alle ihr innewohnenden Möglichkeiten entfalten kann.Dazu gehört auch die politische Selbstermächtigung: Die jungen Afrofuturisten reden in Interviews und Album begleittexten ebenso eloquent über die Zukunft des Jazz

wie über die Abschaffung der Gefängnisindustrie, den Abbau eines rassistisch diskriminierenden Polizeiapparats oder die Schaffung gleichberechtigter Bildungschancen.

Von Anfang an schwingen im Afrofuturismus kritische Untertöne mit. Wenn der legendäre Bandleader Sun Ra (1914–1993) behauptete, er käme vom Saturn, wenn er die Kostüme seiner Band altägyptischen Priestergewändern nachempfand und seinen Geburtsnamen Herman Poole Blount als bloßes »Pseudonym« ablehnte, dann war das immer auch ein gesellschaftliches Statement. »Astro Black«, »The Nubians Of Plutonia« oder »Art Forms Of Dimensions Tomorrow« nannte er seine Alben. Was hatte es mit dieser Beschwörung einer extraterrestrischen Heimat auf sich? Einerseits mag das Weltall einen letzten Fluchtort vor den physischen und sozialen Ungerechtigkeiten einer rassistischen Gesellschaft symbolisieren. Andererseits deutet der Blick ins All die Heimatlosigkeit der Sklaven Nachfahren um: Waren sie nicht schon immer Kosmonauten des Unbekannten, Weltenverschmelzer, Pioniere revolutionärer Techniken? Dass sich ihre Geschichte als Startrampe für afrofuturistische Szenarien anbietet, haben viele schwarze Jazzmusiker bereits in den Siebzigerjahren musikalisch und bildlich eingefangen, etwa Herbie Hancock auf den Plattencovern von »Sextant«, »Flood« und »Thrust«: Der Musiker als Raumfahrer am Kontrollbord, oben die Gestirne, unten die Ruinen alter Zivilisationen. Dieser ideelle Raum zwischen afrikanischem Wissen und Zukunftstechnologien hat in der schwarzen Musik von Miles Davis’ »Bitches Brew« bis hin zum Electro Rap von Afrika Bambaataa oder George Clintons P Funk enorme Echoräume gefunden.

Geschichtliches Gedächtnis: Theo Croker

EXTRATERRESTRISCHE HEIMAT

»Die Musik«, sagt die Jazzerin, »überwältigt mich manchmal einfach, um dann wieder aus mir heraus zu strömen. Ich gehe mit dem Sound mit und vertraue darauf, dass was auch immer ich spiele, richtig klingen wird.«Nicht umsonst erinnert ihr 2019 veröffentlichtes Debütalbum »The Oracle« an Sun Ras Magnum Opus »Space Is The Place« (1972): Dawid kombiniert akustische und elektronische Sound Samples, Kompositions

Vom Saturn: Sun Ra (links) und sein Sun Ra Arkestra heute

Afrofuturismus und Afrooptimismus gehörten schon immer zusammen: als Vehikel, eine Welt zu erdenken, in der fortschrittliche Technologien schwarzen Menschen bessere Lebensbedingungen, ja überhaupt ihren Wert jenseits weißer Vorherrschaftsideologien garantieren. Das spiegelt sich auch in der Literatur. Die prominenteste Vertreterin der schwarzen Science Fiction, Octavia E. Butler (1947–2006), schrieb eine Serie von Romanen, in denen die Fragen von Rasse, Geschlecht und Macht verhandelt werden. Oft fungieren dabei multikulturelle Gesellschaften als Gegenspieler von deformierten und grausamen Super-Humans Butler schließt die Zukunft mit der Vergangenheit kurz: etwa wenn in »Wild Seed« zwei unsterbliche Afrika ner dank Sci Fi Technologien die amerikanische Kolonial geschichte des 17. Jahrhunderts revidieren. Ein Verspre chen, in dem das ewige »Andere« nicht zu Ausgrenzung führt, sondern überlebensnotwendiges Wissen bietet. Kein Wunder, dass Butlers Romane in der afrikanischen Diaspora ein derart großes Echo finden. Es gehe darum, »eine alternative Realität zu entwerfen«, schreibt die schwarze Kulturkritikerin Ytasha Womack, »in der man die gelebte Erfahrung und Weisheitssysteme schwarzer Menschen und Kulturen anzapft«.

DIE TOCHTER DAVIDS

Besonders der Aspekt der Heilung scheint immer wieder als Motiv auf. Etwa bei Angel Bat Dawid, einer aus Chicago stammenden Multi Instrumentalistin, die in siebter Generation einer Familie von Predigern ent stammt. Bat Dawid bedeutet auf Hebräisch Tochter Davids und bezieht sich auf den alttestamentlichen, der Musik und Poesie leidenschaftlich zugewandten König.

Die Vision einer gerechteren Zukunft aus dem Geist der Vergangenheit beflügelt auch die Jazzer unter den Afrofuturisten. Wenn Sun Ra auf seiner interstellaren Mission die gesamte Geschichte afroamerikanischer Musik von Ragtime über Swing und Bebop bis zu Free Jazz und Fusion in eklektische Kompositionen mit elektronischen Experimenten, Chants und Perkussionspassagen einfließen ließ, dann nehmen sich seine Jünger dieselbe Freiheit. Hip Hop, Electro, Techno? Alles nur Bausteine eines von höheren Prinzipien regierten Jazz Universums. Deshalb kann etwa der Saxofonist Kamasi Washing ton problemlos mit Hip Hop Stars wie Kendrick Lamar zusammenarbeiten, kann Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott) seine Jazz Trompete mit Trap Beats kombinieren, kann Ravi Coltrane (siehe S. 10) sein Tenorsaxofon in die elektronischen Klanglandschaften des Techno Pioniers Flying Lotus einpassen. Da manifestiert sich auch eine Kontinuität der spirituellen Aura von John und Alice Coltrane an der Schnittstelle von Jazz, Elektro nik, afrikanischen Traditionen und extraterrestrischer Imagination. Denn bei aller akademischen Raffinesse: Die Musik der jungen Afrofuturisten offenbart zuallererst grenzüberschreitende Züge. »Sie haben«, schreibt der englische Jazz Journalist Chris May, »einen Sinn für Drama, Gefahr und auch Heilung, die dem zeitgenössischen Jazz sonst so oft fehlen.«

GRENZÜBERSCHREITUNGEN

AFROOPTIMISMUS

BRÜDER IM GEISTE

In der Musik der jungen Generation von Musikern, die den Begriff Afrofuturismus enthusiastisch umarmen, treffen sich Welten, die gerne in Plattenfächer auseinandersortiert werden. Dass der Rapper Tupac Shakur und Charlie Parker Brüder im Geiste sind, belegen junge Jazzer wie Kamasi Washington, Theo Croker oder auch Chief Xian aTunde Adjuah (Christian Scott). »Was heute als Jazz bezeichnet wird, sind doch nur langweilige Finger übungen, die an unserer Realität vorbeigehen«, schimpft der aus New Orleans stammende Trompeter.

Tradierte Patterns, neue Grooves: Shabaka Hutchings und die Sons of Kemet

Chief Adjuah hat einerseits mit Prince und Marcus Miller zusammengespielt, paradiert andererseits mit lokalen Brassbands durch die Straßen seiner Heimatstadt. »Ich stehe für den Großteil des schwarzen Amerikas, den der weiße Mainstream übergangen hat« – die politische Aussage seiner Musik hält er für mindestens ebenso wichtig wie virtuoses Trompetenspiel.

8 Afrofuturism fragmente und Spoken Word Passagen; sie singt und spielt alle Instrumente selbst; dazu rezitiert sie Gedichte von Yusef Lateef und Margaret Burroughs; und sie segnet ihre Musik: »Ich habe über jedem Song gebetet und meditiert, auf dass er der Welt Frieden und Harmonie bringen möge.« Zum Mischen und Produzieren benutzt die 39 Jähri ge nichts weiter als eine Handy App. Das gibt ihr Freiheit: Sie sammelt Jam Sessions in Südafrika, London oder Chicago, Fundstücke von ihren Reisen, spürt der klanglichen Präsenz vergangener Ereignisse nach, um sie in ihre Musik einzubauen. Eine »Archäologin der Klänge« nennt sie sich. In Chicago hat Dawid den Standort des ehemaligen Pershing Hotels aufgesucht, in dem der Jazzpianist Ahmad Jamal 1958 sein Album »At The Pershing: But Not For Me« aufnahm, um hier spontan zu komponieren. In Südafrika dagegen lässt sie sich von elektronischer Tanz musik namens G Com inspirieren – oder auch von einer lokalen Heilpflanze, deren rituelles Rauchen den Kontakt mit den Ahnen herstellen soll. Mehr als jedem Skript vertraut Dawid der Intuition des Moments. Im Leben wie in der Musik hat sie die Hybris der vermeintlichen Kontrolle aufgegeben, bezieht sie sich auf die Heiler, die vor ihr kamen – und auf die Kraft des spirituellen Jazz. Dabei spielt auch der Hip Hop eine wesentliche Rolle. Nachdem Dawid aufgrund einer Hirntumor Diagnose ihr klassisches Musikstudium am Klavier und an der Klarinette abgebrochen hatte, verdingte sie sich als Hip Hop Produzentin, um ihre Krankenhauskosten zu bezahlen. Zusammen mit dem Chicagoer Rapper DeLundon rappt sie über Eigenkompositionen: »Gospel«, »Power« oder »True Love« heißen sie – und geben bei aller kommerziellen Erfolglosigkeit doch einen Vorgeschmack auf ihre späteren Jazz Expeditionen. Sampling und Soundsplitter prägen bis heute ihre Musik: Auf »Oracle« duelliert sich Dawids Klarinette mit der leiden schaftlichen Perkussion des Südafrikaners Asher Simiso Gamedze. Und egal, ob sie bluesige Call and Response Rufe, Gospelliturgien oder Operngesang nachbildet –ihre radikale Subjektivität führt gesellschaftlichen Spreng stoff mit sich. »What it means to be captive in this dark skin« lautet eine Zeile aus ihrem Song »What Shall I Tell My Children Who Are Black«. Andacht und Aufbruch liegen da nur ein »Amen« auseinander.

Afrofuturism 9

AFROFUTURISM Elbphilharmonie Großer und Kleiner Saal Mi, 17. 8. 2022 | 20 Uhr shabaka Hutchings & sons of Kemet So, 4. 9. 2022 | 20:30 Uhr Angel Bat Dawid & tha Brothahood Mo, 12. 9. 2022 | 20:30 Uhr Chief Xian atunde Adjuah (Christian scott) Sa, 15. 10. 2022 | 20 Uhr ravi Coltrane Quintet Mi, 26. 10. 2022 | 20:30 Uhr theo Croker So, 13. 11. 2022 | 20 Uhr sun ra Arkestra

»Wir sind an einem Punkt angelangt«, sagt Hutchings über das Sons of Kemet Album »Black To The Future«, »wo wir es nötig haben, von schwarzen Menschen und ihren während der Kolonialzeit entwerteten und vergessenen Glaubenssystemen zu lernen.« Sun Ra gilt ihm und seinen Kollegen nach wie vor als Leuchtturm. Heute beflügelt dessen Kosmologie all die jungen Jazz Musiker, die in die Vergangenheit reisen, um eine distinktiv afrikanische Identität für die Zukunft zu entwerfen. Letztlich, sagt Hutchings, stelle er sich in die fantastische Tradition von Sun Ra, dem raumfahren den Herbie Hancock oder George Clintons Mothership, um Poesie und Mythos zurück in die Musik bringen: »Eine imaginierte Zukunft kann wie die Freilegung einer ver schütteten afrikanischen Vergangenheit die Gegenwart beeinflussen: Denn die Zeit verläuft nicht linear.«

Dekolonisierter Jazz: Chief Xian aTunde Adjuah

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Auch sein Trompeter Kollege Theo Croker lehnt den Begriff Jazz für sich ab: »Innovationen – speziell wenn sie von Schwarzen oder anderen Minderheiten stammen –werden uns weggenommen und nicht wirklich respektiert.« Er möchte seine Musik deshalb nicht in Konkurrenz zu klassischen Alben von Frank Sinatra, Miles Davis oder seines Großvaters sehen, sagt der Enkel des legendären Jazztrompeters Doc Cheatham. Vielmehr vereint Croker auf Alben wie »Star People Nation« oder »BLK2LIFE / A  Future Past« eine ganze Bandbreite zeitgenössischer Genres von Hip Hop und Elektronik bis hin zu Afrobeat. Wenn Croker erklärt, er zapfe durch Spiritualität und innere Führung ein umfassenderes geschichtliches Gedächtnis an, dann hat Christian Scott dafür sogar seinen Namen geändert: Den neuen Namen Chief Xian aTunde Adjuah möchte er als Verbindung zu seinen westafrikani schen Ahnen lesen. Mit Alben wie »Ancestral Recall« versucht der New Orleanian, den Jazz zu dekolonisieren, und zeigt, dass afrikanische rhythmische Nuancen nicht weniger wichtig sind als die europäische Harmonielehre. Chief Adjuah selbst kommt aus einer perkussiv geprägten Kultur. Durch seinen Großvater Donald Harrison Sr. ist er mit den Zeremonien der Black Indians, ihren Trommelrhythmen, Chants, aufwendigen Kostümen und Straßentänzen aufgewachsen, und er hat sich von dieser Tradition auch für seine Musik inspirieren lassen. »In der Black Indian Kultur aus New Orleans lernen wir, dass wir die Fähigkeit haben, nicht nur die Vergangenheit, son dern auch die Zukunft zu kanalisieren. Wenn ich spreche, dann spricht nicht nur mein Ururgroßvater, sondern auch mein Ururenkel aus mir.« Afrofuturismus, nur etwas anders buchstabiert.

Die Besetzung mutet für eine Jazzband ungewöhnlich an: Gleich zwei Perkussionisten sind da neben einem Tubisten für den rhythmischen Dialog mit dem Bandleader und Saxofonisten zuständig. »Ich habe viel westafrikanische zeremonielle Trommelmusik gehört«, sagt Hutchings. Einen ähnlichen minimalen, aufbauenden Groove finde er auch in House und Techno. »Ich will die Menschen diesen Vibe spüren, sie in Trance tanzen lassen.« 1984 in London geboren, zog Hutchings als Sechs jähriger nach Barbados, wo er anfing, klassische Klarinette zu studieren. Als er zehn Jahre später zurückkam, brachte er eine Leidenschaft für Hip Hop, afrodiasporische Kultur und die Idee des ständigen Austausches über den sogenannten Black Atlantic mit. Aus dieser universalen Perspektive heraus entwirft er Alben, deren selbstgeschrie bene Begleittexte wie gesellschaftliche Manifeste wirken.

POESIE UND MYTHOS Warum hat Shabaka Hutchings – sein Vorname erinnert an einen nubischen Herrscher aus dem 8. Jahrhundert vor Christus – seine Band nach dem altägyptischen Reich Kemet benannt? »Ich mag es, etwas aus der Vergangenheit zu nehmen, das wir geringschätzen oder stigmatisieren, um es neu zu bewerten, poetisch zu überhöhen.« Viele Songs der Sons of Kemet spielen auf afrikanische Kosmo logien an, und ihre Rhythmen auf tradierte Patterns.

10 rA vi Coltr A ne VON GEBORGENWUNDERBARMÄCHTENGUTEN

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Aufgewachsen in Detroit, hatte Alice als Kind zehn Jahre lang klassischen Klavier und Musikunterricht und in einer Kirche die Orgel gespielt, ehe sie sich für Jazz und das Harfenspiel zu interessieren begann. Als eine der wenigen professionellen Jazzmusikerinnen in den Sechzi gern gilt sie heute vielen als Pionierin, erst recht auf der Harfe, die derzeit als Soloinstrument in der improvisierten und experimentellen Musik in wundersamer Vielfalt und Qualität von einer ganzen Reihe toller Interpretinnen wieder auf die Bühnen der Welt gebracht wird.

J ohn und Alice Coltrane waren ein kreatives, fruchtbares Paar. Die knappe ihnen bemessene Zeit haben sie bestmöglich genutzt. Ihre vielleicht stärkste Verbin dung aber war wohl ohnehin von Anfang an überzeitlicher Natur. »Er war ein feiner Mensch, voller Charisma und Präsenz. Er mochte die Meditation sehr, eigentlich lag darauf sein Hauptaugenmerk«, erzählte Alice Coltrane Jahre später der Pianistin Marian McPartland für deren legendäre Interviewserie »Piano Jazz« im National Public Radio der USA. Das Familienglück im eigenen Haus in Long Island, umgeben von viel Natur, und ein gewisser Wohlstand mit einem Jaguar E Type in der Garage waren das eine. Das andere waren ihre tägliche spirituelle Praxis, das gemeinsame Musizieren und die tiefe, seelisch meta physische Verbindung zueinander. »Cosmic Music« ist deshalb abseits des Offensichtlichen ein schöner Titel für Ravis Hommage an die Eltern. Es gibt ja ein Album gleichen Namens, das einzige, auf dem die beiden in musikalischer Partnerschaft im Tonstudio zu erleben sind, wenn auch gemeinsam nur auf zwei Ravi Coltrane, Sohn von John und Alice Coltrane, bringt den spirituellen Jazz seiner berühmten Eltern behutsam in die Gegenwart.

VON TOM R. SCHULZ

S oll bloß keiner denken, dass es hier in ein Museum der Klänge ginge oder gar ins Mausoleum für ein allzu kurzlebiges Traumpaar des Jazz! »A Contemporary Exploration Into the Music of John and Alice Coltrane« lautet deshalb etwas sperrig der Untertitel des Konzertprogramms »Cosmic Music«, das Ravi Coltrane bei seinem Antrittsbesuch in der Elbphil harmonie aufführen wird. Mit dem Hinweis, dass es sich um eine »zeitgenössische Erforschung« der Musik seiner Eltern handelt, möchte er wohl den Erwartungen mancher Lordsiegelbewahrer des Jazz entgegenwirken, die da womöglich hoffen, dass, wenn ein Coltrane im Jahr 2022 spielt, es auch wie Coltrane aus dem Jahr 1959, 1964 oder 1967 klingen wird. Die Vorstellung ist ja nicht völlig abwegig. Besser als in den späten Fünfziger und Sechzigerjahren war der Jazz in den Augen und Ohren vieler kundiger Liebhaber nie zuvor und nie danach. Und Ravi Coltrane ist ein Musiker, der parallel zu seiner eigenen Entwicklung seit den frühen Neunzigern das Andenken an das künstleri sche Schaffen seines Vaters ebenso gern feiert, wie er die Mutter immer wieder ins Rampenlicht zurückzuholen versucht. Seinen megaberühmten Nachnamen empfindet er offenkundig viel mehr als Segen denn als Fluch. Andere Künstlerkinder überstarker Künstlereltern leiden ihr Leben lang unter einer Art Generationenlähmung; egal, wie sehr sie sich anstrengen, egal, wie schnell und ausdauernd sie gegen ihre Prägung anrennen: dem Schatten der Alten entkommen sie nie. Ravi Coltrane sieht in diesem Schatten das Licht. Der mittlere der drei Söhne von John und Alice Coltrane, 1965 geboren, hat sogar die Instrumente seines Vaters für sich gewählt, Tenor und Sopransaxofon. Auf der Bühne ähnelt er ihm im Habitus, mit seinem berührbaren Ernst im Gesichtsausdruck, den man von vielen Coltrane Fotos kennt; und in seinem Saxofonspiel klingen jede Menge Farben und Nuancen jenes Sounds an, mit dem sein Vater nachfolgende Generationen so stark geprägt hat wie kein anderer seines Fachs: majestätisch, stark, spirituell sendungsbewusst, enorm ausdauernd, in der steten Suche nach Neuem, nach Höherem, nach Transzendenz und Universalität manchmal enervierend intensiv. Nun war Ravi Coltrane noch keine zwei Jahre alt, als der Vater starb. Vielleicht lebt John Coltranes Spirit gerade deswegen so unangefochten in Ravi fort, weil es keine aktive Formung seiner Musikalität durch den Vater gab, gegen die er eines Tages hätte rebellieren müssen, um sich selbst zu finden.Ebenso hingebungsvoll und gründlich wie das Werk seines Vaters hat Ravi Coltrane das kompositorische und improvisatorische Schaffen von Alice Coltrane studiert, die Pianistin, Organistin und Harfenistin war und ihren Mann um 40 Jahre überlebte. Ihr Ruhm und Nachruhm reichen nicht im Entferntesten an den John Coltranes heran; dennoch ist sie in der Geschichte der improvisier ten und der religiös motivierten Musik eine wichtige Figur, und das nicht nur, weil sie nach dem Auseinander brechen des alles überstrahlenden John Coltrane Quartets mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones 1965 die Rolle der Pianistin in Coltranes Gruppe einnahm.

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Stücken. Aber als Reverenz vor der musikalisch spirituellen Vision seiner Eltern ist der Titel goldrichtig. Er verweist auf John und Alice Coltranes All umfassendes Verständnis von Musik als einer Sprache der Liebe, quer durch die Zeitalter, die Kulturen und die Galaxien – einer Liebe zum Höchsten, wohlverstanden: A Love Supreme. Für die Konzerte in Quintettbesetzung greift Ravi Coltrane auch auf frühere Stücke des Vaters zurück, als Alice noch nicht in seinem Leben war, etwa aus der Zeit des »Giant Steps« Albums (1959). Musik von Coltranes letzter Platte »Expression« (1967) verbindet er etwa mit »Jagadishwar«, das Alice Coltrane 15 Jahre nach Johns Tod im Ashram des von ihr gegründeten »Vedantic Center« in Kalifornien komponierte. Dort lebte sie jahrelang zurück gezogen von der Welt im Dunstkreis des Gurus Sai Baba und schenkte der Welt Mantragesänge und meditative Chants; einige davon hat Ravi jüngst in den Originalauf nahmen neu herausgebracht (»Kirtan: Turiya Sings«). Es ist ein gewaltiger Spagat, der Ravi Coltrane mit »Cosmic Music« mühelos gelingt: zwischen der sehr bedächtigen Devotional Music seiner Mutter und dem berühmt berüchtigtem »Sheets of Sound« Spiel des Vaters, in dem der technisch und harmonisch extrem avancierte Saxofonist rasant aufeinandergestapelte, gebrochene Akkorde von sehr tief bis sehr hoch mit flirrenden Melodien mischte und in einem unablässigen musikalischen Bewusstseinsstrom zu reinem Klang verwandelte. In »Jagadishwar« nimmt einen zuerst Ravi Coltranes feines, respektvolles Spiel gefangen, das sich von schlichtem Gesang zu mächtiger Inbrunst aufbäumt, sodass es beinahe klingt, als interpretiere John Coltrane diesen Chant seiner Frau. Die Begleiter tun das Ihre, um dem weichen Gestus dieses Bittgesangs ohne Worte gerecht zu werden. Da sind die schwebenden Klänge des US amerikanischen Gitarristen David Gilmore, der auf seiner halbakustischen Gibson immer wieder an subtile Fusion Jazz Stilisten vom Schlage eines Bill Connors oder John Abercrombie erinnert. Da sind die zart spacigen Klänge vom E Piano des israelischen Top Talents Gadi Lahavi, der warme, präzise Bass des Altmeisters Lonnie Plaxico und die hingebungsvolle Kolorierung mit Filzschlägeln auf Becken und Fellen des jungen Trommlers Elé Howell aus San Francisco. Ravi Coltranes Quintett gelingt tatsächlich so etwas wie die Wiedergabe eines fiktiven, den Sternen abgelauschten musikalischen Gesprächs zwischen John und Alice Coltrane. Bei manchen Konzerten ist mit Brandee Younger sogar eine Harfenistin dabei, mit der Ravi schon seit Jahren zusammenspielt. Sie erweitert das Klangbild nochmal deutlich zugunsten Alice Coltranes.

Alice Coltrane (1937–2007) zwischen Ravi und einem Foto von John (1926–1967)

D ie Zeitgenossenschaft, die Ravi Coltrane in besagtem Untertitel zum Programm anstrebt, tritt der Musik seiner Eltern nie mit plumpen Modernismen auf die Füße. Die Band liefert wundervoll lebendigen, fließenden No Bullshit Jazz, in dem bei aller wechselseitigen energetischen Verschränkung immer die Freiheit des Andersspielenden mit Respekt und Unterstützung beantwortet wird. An guten Abenden dürfte es Ravi Coltrane und seinen Begleitern gelingen, auch das Publikum mitzuneh men in jene höheren Sphären, in denen die Musik wahrhaft kosmisch wird. John und Alice Coltrane werden indes jedem dieser Konzerte von ganz weit oben lauschen, mit Wohlgefallen – und vielleicht mit einem Rest von ganz irdischem Stolz auf ihren Sohn.

COSMIC MUSIC Sa, 15. 10. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal ravi Coltrane Quintet »Cosmic music: A Contemporary exploration into the music of John and Alice Coltrane« John und Alice Coltrane verstanden Musik als Sprache der Liebe, quer durch die Zeitalter, die Kulturen und die Galaxien.

AFROFUTURISMSONSOFKEMET17.08.2022ANGELBATDAWID04.09.2022CHIEFXIANATUNDEADJUAH12.09.2022(CHRISTIANSCOTT)RAVICOLTRANE15.10.2022THEOCROKER26.10.2022SUNRAARKESTRA13.11.2022 ELPHI.ME/AFROFUTURISM GROSSERELBPHILHARMONIE&KLEINER SAAL

»ZUFLUCHT«STICHWORT: Es gibt nichts, wozu die Musik nichts zu sagen hätte. HAMMER

VALENTIN SYLVESTROV: PRAYER FOR UKRAINE

Diesmal … VON CLEMENS MATUSCHEK ILLUSTRATIONEN LARS

JOHANN SEBASTIAN BACH: DIE KUNST DER FUGE

»Flucht« heißt auf Lateinisch »fuga«. In die Musik ging dieses Wort ein als Bezeichnung für ein mehrstimmi ges Stück, in dem die einzelnen Partien voreinander davonlaufen, einander jagen, sprich: versetzt einsetzen mit je derselben Melodie, die also so gebaut sein muss, dass sie als Begleitung ihrer selbst funktioniert. Die Urform der Fuge ist der Kanon, der fortwährend im Kreis geht; ihre höchste Vollendung schuf Johann Sebastian Bach 1750 mit seiner »Kunst der Fuge«, 24 vierstimmi gen Fugen, die das Grundthema auf alle nur denkbaren Weisen durchspielen, einschließlich horizontaler und ver tikaler Spiegelungen. Mit dieser abstrakten Komposition von mathematischer Schönheit entzog sich Bach seinem stressigen Alltag als Kirchenmusiker. Und dass er darüber starb, just als er seinen eigenen Namen mit den Tönen B A C H in die Musik integrierte, verleiht überdies dem Werk seinen Nimbus.

ARNOLD SCHÖNBERG: EIN ÜBERLEBENDER AUS WARSCHAU Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 und dem Entzug seiner Berliner Professur emigrierte Arnold Schönberg in die USA. In Los Angeles traf der Erfinder der Zwölftonmusik auf etliche andere prominente Intellektuelle, die hier glücklich Zuflucht gefunden hatten, darunter der Schriftsteller Thomas Mann und der Filmregisseur Billy Wilder. Seine persönlichen Erlebnisse und die Berichte über die grauenhaften Ereignisse in der Heimat verarbeitete er in einer ganzen Reihe von Kompo sitionen; die berühmteste davon thematisiert den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Trotz ihrer relativen Kürze erreicht sie durch radikal expressionistische Stilmittel eine fast schon körperlich schmerzhafte Intensität – die wohl ausdrucksstärkste musikalische Auseinandersetzung mit dem Holocaust überhaupt.

»Der berühmteste lebende Komponist der Ukraine ist nun ein Flüchtling«, titelte im März 2022 die »New York Times«. Die Rede war vom 84 jährigen Valentin Sylvestrov, der vor dem Krieg in seiner Heimat nach Berlin floh. Seine Musik wurde schon zuvor überall gespielt und ist seither erst recht in aller Munde. Für seine Bewunderer eine späte Genugtuung, denn mit der sowjetisch/russi schen (Kultur )Politik haderte Sylvestrov sein ganzes Leben lang – egal, ob er sich mit Zwölftonmusik beschäf tigte oder mit der spirituellen Klangwelt orthodoxer Kirchen musik. Sein »Gebet für die Ukraine«, basierend auf einem alten ukrainischen Hymnus, schrieb er anlässlich der blutig niedergeschlagenen Proteste 2014 auf dem Kiewer Maidan Platz, die er hautnah miterlebte. Nichts im Vergleich zu Putins Invasion: »Was jetzt passiert, ist ein tausendfach vergrößerter Maidan.«

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BOB DYLAN: SHELTER FROM THE STORM

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Eine ganz eigene Bedeutung hat der Begriff Zuflucht im Buddhismus. Dort bezeichnet er das Bekenntnis zu den »Drei Juwelen«: dem Religionsstifter Buddha, seiner Lehre (Dharma) und der Gemeinschaft der Gläubigen (Sangha). Zuflucht zu nehmen, bezeichnet sowohl den initialen Akt der Aufnahme, vergleichbar der christlichen Taufe, als auch eine tägliche Gebetsformel, eine Art Credo. Ein besonderes Faible für solche Traditionen quer durch alle Kulturen und Religionen der Welt hegt der chinesische Komponist Tan Dun, vielen bekannt durch die Filmmusik zu »Tiger & Dragon«. Er schuf sowohl eine MatthäusPassion in Anlehnung an J. S. Bach als auch die »Buddha Passion« NordMogaoManumalereienStaalten buddhistischenals 1.500inspiriert(2018),vonmehrJahretuen,Wand­undskriptenin den­Grotten imwestenChinas.

1948 als Säugling im Waisenhaus von Montreal abgegeben, mit drei Jahren von Pflegeeltern adoptiert, später wegen »mangelnder Reife« vom katholischen Priesterseminar verwiesen, offen homosexuell, Selbstfindungstrips nach Asien: Es ist die Biografie eines Outsiders, gipfelnd in einem tragischen Tod mit 35 Jahren, ermordet von einem Prostituierten in Paris. Zuflucht fand Claude Vivier einzig in der Musik, angeeignet unter den Fittichen des Klang Gurus Karlheinz Stockhausen. Doch ein Außenseiter blieb er auch in der Avantgarde Szene – was ein sichtlich beeindruckter György Ligeti ausdrücklich als Qualitätsausweis betrachtete. Viviers Werke sind einerseits stark autobiografisch geprägt: »Lonely Child« beschrieb er als »langen Gesang der Einsamkeit«. Andererseits bestechen sie durch ihren Blick ins Überzeitliche, »Momente der Offenbarung«, wie Vivier selbst sagte, und entfalten eine geradezu hypnotische Strahl und Sogkraft. m DIE PLAYLIST ZUM LEXIKON FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE / MEDIATHEK MAJID DERAKHSHANI Berufsverbot, weil er gemeinsam mit Sängerinnen aufge treten ist? Es klingt absurd, aber genau das ist Majid Derakhshani passiert. Denn im Iran, wo er geboren wurde, ist es Frauen seit der islamischen Revolution 1979 verboten, in der Öffentlichkeit zu singen. Dabei ist Derakhshani nicht irgendwer: Er ist einer der bedeutendsten Künstler des Landes, ein anerkannter Virtuose der Langhalslaute Tar, ein Träger der gut 1.000 jährigen klassi schen persischen Musik, die ausschließlich mündlich von Lehrer zu Schüler weitergegeben wird. Aber er besaß eben auch die Kühnheit, das rein weiblich besetzte Ensemble Mahbanoo ins Leben zu rufen. Und so fand der damals 61 Jährige 2018 notgedrungen eine neue Heimat in Hamburg Bergedorf. Ohnehin gibt es hier eine lebendige persische Community – und neue Inspirationen, die tradi tionelle Musik mit europäischen Einflüssen zu mischen.

CLAUDE VIVIER: LONELY CHILD

TAN DUN: BUDDHA PASSION

»Es war eine Zeit von Mühsal und Blut … sie warfen das Los über meine Kleider … da stand sie mit silbernen Armreifen und Blumen im Haar und nahm meine Dornenkrone. ›Komm herein‹, sprach sie, ›Ich gebe Dir Zuflucht vor dem Sturm‹.« Wer spricht hier? Jesus Chris tus, der sich nach Woodstock verlaufen hat? Ein moderner Tramp, der sich in die Gestalt des Gottessohnes hinein fantasiert? Wie in so vielen seiner Songs, deren poetische Texte er mit wenigen Akkorden unterlegt dahinnuschelt, lässt Bob Dylan die Antwort offen. Das Magazin »Rolling Stone« führt »Shelter from the Storm« (1975) jedenfalls auf Platz 66 seiner Liste der 100 besten Dylan Songs, der »Guardian« auf Platz 34 von »80 Dylan Songs, die jeder kennen sollte«. Und das Fazit ist klar: Ja, man kann versuchen, sich in Kunst oder Religion zu flüchten. Aber die wichtigste Zuflucht ist und bleibt doch die Liebe.

ENTSCHEIDUNGGUTE

Bei Grubinger war das anders. Seine immer größer und umfangreicher werdenden Percussion Shows verlangten zunehmend eine Fitness von ihm, die er nicht mehr einfach so aus dem Hut zaubern konnte. Und er machte sie auch zum Thema: Wie schnell kann man mit zwei, mit drei, mit vier Schlägeln auf dem Vibrafon spielen?

Das alles wusste Martin Grubinger, als er sich entschied, Perkussionist zu werden. Und Vivi Vassileva? Die wusste erst einmal nur, dass es nicht Geige sein sollte. Als sie acht Jahre alt war, traf sie bei einem Familienurlaub am Schwarzen Meer auf Menschen, die am Strand Handtrommel spielten. Die Faszination war so groß, dass sie schon bald Abend für Abend mittendrin saß und Vivi Vassileva setzte früh ihren eigenen Kopf durch. Jetzt zeigt sie, dass Schlagzeug mehr als nur schnell und laut sein kann.

VON RENSKE STEEN

Und auch die frühe Ankündigung des Karriereendes: Mit 40 soll Schluss sein – das ist im Sommer 2023. Ein solches (sportliches) Pensum kann niemand über einen langen Zeitraum hinweg bewältigen. Profisportler gehen schließ lich auch früher in Rente als wir Normalos.

Diese Verquickung von Musikalität mit Virtuosen tum und Sportlichkeit passt ja auch wunderbar zur großen Familie der Perkussionsinstrumente. Es geht um Rhyth mus, um Ausdauer, um Kraft. Schmelzende Melodien oder rasante Läufe kann man auf vielen Schlaginstrumen ten gar nicht spielen, im Gegenteil: Nicht wenige davon sind in der Klangerzeugung sogar so simpel aufgebaut, dass jeder und jede meint: Na, das kann ich auch! Oder wie war das noch mal mit dem Triangel? Martin Grubinger hat gezeigt, dass es mit ein bisschen Draufhauen keinesfalls getan ist. Dass es ganz schön viel Fingerspitzengefühl bedarf, um mit einem riesigen Schlägel auf der Großen Trommel zu spielen. Und Kraft, klar. Aber eben auch Musikalität. Mit dieser Pionierarbeit hat er viel Erfolg beim Publikum, musste aber auch hohe Preise zahlen: unzählige Stunden Kraft training im Fitnessraum zum Beispiel, krasse Logistik und Akustikprobleme, zwei oder mehr durchgeschwitzte Konzertoutfits jeden Abend, abschätzige Kritiken in den Feuilletons wegen angeblicher Publikumsanbiederung.

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Martin Grubinger ist schneller. Wie viele unterschiedliche Instrumente kann ein Interpret in einem Stück bedienen? Martin Grubinger nimmt noch eines mehr – und hat am Ende mehr Wegstrecke hinter sich gebracht als so mancher Fußballspieler während eines Spiels.

W ie entscheidet man sich eigentlich für ein Instrument? Warum nimmt man ausgerech net Klavierunterricht, lernt Akkordeon, Trompete, Gitarre? Oft ist es schlicht Zufall: Irgendwo steht noch ein altes Pianino herum, schon der Onkel hat Cello gespielt, die örtliche Blaskapelle braucht dringend jemanden fürs Kornett, die Musikschullehrerin empfiehlt die Geige, weil das Kind ein gutes Gehör habe. Dabei ist das eine so wichtige, lebensbestimmende Wahl! Mit ihr entscheidet sich, ob aus einem kleinen Talent ein großer Künstler wird, ob die Mensch Instru ment Paarung zumindest auch nach Jahren noch Spaß macht, oder ob der Frust schon bald so wächst, dass man lieber wieder auf dem Sportplatz bolzen geht. Und trotzdem: In den allermeisten Fällen ist diese wichtige Entscheidung fremdbestimmt. Nicht so bei Vivi Vassileva. Sie setzte früh ihren eigenen Kopf durch. Als sie 1994 im nordfränkischen Hof auf die Welt kommt, ist um sie herum schon alles voller Musik. Ihr Vater, der wie die Mutter aus Bulgarien stammt, spielt Geige bei den Hofer Symphonikern, ihre drei älteren Geschwister ebenfalls. Natürlich bekommt auch Vivi von ihrem Vater Geigenunterricht. Und sie stellt sich nicht schlecht an, es funktioniert. Aber der Funke springt am Ende doch nicht über. Bei Martin Grubinger war das nie das Problem. Auch er wurde in eine Welt voller Musik hineingeboren, 1983 in Salzburg, sein Vater war Schlagzeuglehrer am Mozarteum. Ähnliche Voraussetzungen also wie bei Vassileva, mit einem entscheidenden Unterschied: Hier stimmte das Instrument. Grubinger ist von Beginn an voll dabei, das Schlagwerk ist zu hundert Prozent sein Ding, und dank des Erfahrungsschatzes in der Familie wusste er auch, worauf er sich einlässt – und womit er in diesem Bereich so richtig für Furore sorgen konnte. Wie er das machte? Er brachte den Sport ins Spiel, verlieh ihm im musikalischen Kontext einen Glanz und eine Wichtigkeit, die in dieser Form neu waren. Natürlich konnten auch zuvor schon dickliche Geiger extrem schnell ihre Finger bewegen und offensichtlich unsportliche Tastenlöwen die vertracktesten Etüden bewältigen – aber mit Sport im eigentlichen Sinn hatte solche Virtuosität nichts zu tun.

allen etwas vortrommelte. Für sie war die Sache nun klar: Sie wollte Schlagzeugerin werden. Ihre Eltern dagegen waren nicht überzeugt von dieser Wahl und ließen ihre Tochter lange betteln, bis sie schließlich doch nachgaben. Denn Vassileva blieb hartnäckig und bestand auf ihrem Wunsch. So bekam sie schließlich Unterricht bei Claudio Estay, einem Schlagwerker aus Chile, der heute im Bayerischen Staatsorchester spielt. Er brachte seiner Schülerin zuerst die riesige Welt der südamerikanischen Schlagzeugmusik nahe. Ein großes Glück, sagt Vassileva heute. So habe sie früh erkannt, dass wirklich jede Kultur der Welt ihre ganz eigene Schlagzeugtradition und auch einzigartige Instrumente habe. Für sie ist das bis heute das beste Argument für ihre Wahl. »Beim Schlagzeug wird’s nie langweilig, weil man an allen Instrumenten fit sein muss. Wenn man Marimba geübt hat, hat man noch lange nicht kleine Trommel geübt. Und die Handtrommeln haben auch wieder eine andere Technik. Wir Schlagzeuger spielen jeden Tag um die fünf, sechs komplett verschiedene Techniken und Instrumente.«Undnicht nur das, auch bei der Werkauswahl sieht sie Schlagzeuger vor ganz andere Herausforderungen gestellt als andere Instrumentalisten: »Jedes Jahr werden 200, 300 neue Werke für Perkussionsinstrumente geschrieben. So stammen die meisten Werke aus meinem Repertoire tatsächlich von heute lebenden Komponisten und sind in enger Absprache mit Schlagzeugern entstanden. Wir sind Pioniere. Wir denken anders, wir erforschen Klangmöglichkeiten, wir kombinieren.«

Zuletzt war Vassileva Meisterschülerin von Martin Grubinger am Salzburger Mozarteum. Die Pfade, die er einst mit Körpereinsatz, Kraft und Schweiß in den Klassikdschungel geschlagen hat, sind für sie jetzt der große Spielplatz, den sie mit Begeisterung, viel Energie und vor allem mit neuen Ideen für sich entdeckt. Nicht zuletzt will sie dabei auch den leiseren, melodischen Klängen mehr Raum geben: »Ich will zeigen, dass Schlag werk nicht nur schnell und laut sein kann, sondern dass man auf der Marimba oder dem Vibrafon genauso gut warme, melodiöse und auch romantische Musik machen kann wie zum Beispiel auf einer Geige.« Zusammen mit dem Gitarristen Lucas Campara Diniz spielt sie etwa Piazzolla und Bach, Scarlatti und Debussy. Natürlich nicht auf afrikanischen und orientalischen Trommeln wie Djembe, Darbuka oder Davul, sondern auf einem Marimbafon oder Vibrafon. Wie weich und empfindsam diese großen Instrumente klingen können, hat auch schon Martin Grubinger in seinen Programmen gezeigt. Aber was bei ihm meist die Zugabe ist, das rückt Vassileva in den Fokus. Sie kommt eben aus einem Geigenhaushalt, in dem große Melodiebögen und der romantische Werkkatalog zum guten Ton gehören. Wenn ihr Vater ihr schon nicht das Geigenspiel nahebringen konnte, dann vermittelte er ihr doch ein sehr gutes Gefühl für den richtigen Klang. Diesen richtigen Klang findet Vassileva sogar auf verbeulten PET Flaschen. Im vergangenen Jahr brachte sie das »Recycling Concerto« von Gregor A. Mayrhofer zur Uraufführung. Stundenlang saßen der Komponist und die Schlagwerkerin vorher zusammen und überlegten, welcher Müll wohl den besten Klang haben könnte: Korken, Joghurtbecherdeckel, Kaffeekapseln? Die politische Botschaft hinter dem Werk ist offensichtlich, es themati siert die in den Himmel wachsenden Müllberge unserer Zivilisation.Solche außermusikalischen Themen in ihre künstle rische Arbeit zu integrieren und sich nicht vor den daraus resultierenden Diskussionen zu scheuen, ist Vivi Vassileva ein wichtiges Anliegen. Nicht nur das – es ist in ihren Augen auch notwendig, um klassische Musik lebendig, im Kontakt mit dem aktuellen Geschehen zu halten. Hoffentlich kann sie auch damit ein Vorbild sein für viele kleine Mädchen (und natürlich auch Jungs), die bei der Wahl ihres Instruments genügend Zeit haben, nachsichtige Eltern – und einen eigenen Kopf. WILDE RHYTHMEN Mo, 10. 10. 2022 | 19:30 Uhr Elbphilharmonie Kleiner Saal vivi vassileva (schlagwerk) lucas Campara Diniz (Gitarre) Werke von J. s Bach, iannis Xenakis, Gregor A. mayrhofer, Astor Piazzolla u. a. SCHLAGZEUGKONZERT Sa, 5. 11. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Polish national radio symphony orchestra, titus engel vivi vassileva (schlagwerk) friedrich Cerha: Konzert für schlagzeug und orchester sowie Werke von lutosławski und Zemlinsky

Melodie im Fokus: im Duo mit Lucas Campara Diniz Müllberge im Visier: am Instrumentarium des »Recycling Concerto«

Promise BY KIM Für romantische Versprechen, die ohne Worte auskommen. Hamburg: Jungfernstieg 8, T 040.33 44 88 24 · Mönckebergstraße 19, T 040.33 44 88 22 und An den besten Adressen Deutschlands und in New York, Paris, London, Wien, Madrid – WEMPE.COM

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Das Chineke! Orchestra will die Klassikwelt verändern –optisch und klanglich.

Für Nwanoku war das irgendwie normal, bis 2014 eine Untersuchung des britischen Kulturministeriums sie mit der Frage nach dem Warum konfrontierte. Kurze Zeit später lud sie der Kulturminister zu einem Auftritt eines Orchesters aus dem Kongo ein. »Als ich nach dem Konzert nach Hause ging, wurde mir klar, dass es im 21. Jahrhundert auch in Europa auf einer Bühne, auf der Beethoven oder Berlioz gespielt werden, mehr als nur ein schwarzes Gesicht geben muss.«

U m zu erkennen, dass die Klassik eine vornehm lich weiße Angelegenheit ist, reicht ein Blick auf die Bühne und in ein beliebiges Orchester. Oder ein Blick ins Publikum. Oder ein Blick in die Programme. Da spielen weiße Menschen Werke von weißen Komponisten (meist sind es ja Männer) für eine weiße Zuhörerschaft. Zu etwa 98 Prozent ist das so, wie eine Studie der League of American Orchestras aus dem Jahr 2014 ergeben hat – selbst in den USA, wo der Anteil der schwarzen Bevölkerung bei rund 13 Prozent liegt (im Gegensatz zu weniger als 1,5 Prozent in Deutschland). Dabei ist mangelnde Internationalität in der Klassik eigentlich nicht das Problem. Im Gegenteil: In einem durchschnittlichen europäischen Sinfonieorchester spielen Menschen aus rund zwanzig Nationen miteinander, wie zum Beispiel das NDR Elbphilharmonie Orchester im vergangenen Jahr mit einem schönen, vielsprachigen Video zum Tag der Muttersprache demonstrierte. Aber es sind eben vor allem Menschen aus Europa, dem weißen Bevölkerungsteil der USA und viele Asiaten, die dort zusam men Musik Soweitmachen.derrecht eindeutige Befund. Weniger einig ist man sich hingegen bei der Frage nach den Gründen und was man dagegen unternehmen könnte. Schnell, oft vorschnell, ist dann von Rassismus die Rede. In der Wochenzeitung »Die Zeit« etwa kritisierte im vergangenen Jahr eine Autorin unter der Überschrift »Die Kolonisie rung unserer Ohren« den klassischen Kanon. Andere wiederum sehen gar keinen Handlungsbedarf. Und dann gibt es diejenigen, die einfach die Initiative ergreifen. So wie Chi chi Nwanoku. Die Musikerin wurde 1956 in London als Tochter einer Irin und eines Nigeria ners geboren und entdeckte als Kind eher durch Zufall das Klavierspiel für sich, ehe sie ein Lehrer zum Kontra bass brachte. Zwar strebte sie zunächst eine Karriere als Leichtathletin an, doch eine Knieverletzung setzte diesem Wunsch ein jähes Ende. Und so rückte der Kontrabass wieder in den Fokus. Nwanoku studierte ihr Instrument an der Royal Academy of Music und gehörte 1986 zu den Gründungsmitgliedern des auf Barockmusik spezia»Schwarze Musiker sollen die Bühne betreten können und wissen, dass sie dazugehören.«

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lisierten Orchestra of the Age of Enlightenment. Mehr als 30 Jahre lang spielte sie in dem Orchester – und war dabei stets die einzige Schwarze im Ensemble.

VON SIMON CHLOSTA

Um auf diesen Missstand zu reagieren, kam Nwanoku die Idee, eine Stiftung für ein ethnisch vielfälti ges Orchester zu gründen und so das Vorurteil, schwarze Musiker würden nur Jazz oder Hip Hop machen, ein für alle Mal auszuräumen. Es war die Geburtsstunde des Chineke! Orchestra. Der Name leitet sich aus der nigeria nischen Igbo Sprache ab und bedeutet so viel wie »Gott, der Schöpfer der Welt und des Guten«. Schon im Jahr darauf gab das Orchester seinen Einstand im Southbank Centre in London. Sir Simon Rattle pries das Projekt als eine »zutiefst notwendige Idee, die die klassische Musik im Vereinigten Königreich für Generationen vertiefen und bereichern könnte«. 2017 folgte das Debüt bei den prestigeträchtigen BBC Proms in der Royal Albert Hall; seither ist das Chineke! aus dem britischen Musikleben nicht mehr wegzudenken. Und auch international steigt die Auf merksamkeit. So wird das Orchester in diesem Jahr das Finale des renommierten Lucerne Festival gestalten. Und schon zuvor wird es sein Debüt in der Elbphilharmonie geben. Ohne Frage ein großer Erfolg für ein so junges Orchester. Doch wie nachhaltig ist er? Und was muss sich noch verändern, damit sich mehr schwarze Menschen vom Klassikbetrieb angesprochen fühlen? Auch wenn ihr Wörter wie Rassismus oder Kolonia lismus nicht über die Lippen kommen, mit Kritik an den bestehenden Verhältnissen hält Chi chi Nwanoku nicht hinter dem Berg. »Der Grund, warum das Chineke! Orchestra gegründet werden musste, war ein eklatanter Mangel an Vielfalt in der klassischen Musikbranche. Klassische Musik wird, vor allen anderen Genres, als eine Sache für Eliten, für Hochgebildete angesehen. Und klar, ein Instrument zu spielen, zu erlernen, ist teuer.

Gabriela lena frank: leyendas – An Andean Walkabout (Auszüge) samuel Barber: Knoxville – summer of 1915 als rassistisch oder kolonialistisch bezeichnen. Doch er hat erlebt, dass man Schwarzen wie ihm gar nicht zutraue, ein Instrument zu spielen. In einer Fernsehdokumentation erzählte er einmal, dass es ihm früher vor allem an Vorbildern gefehlt hat: »Aufzuwachsen und niemals einen anderen schwarzen klassischen Musiker auf oder hinter der Bühne zu sehen, war eine Herausforderung. Wenn du etwas tust und nie einen anderen siehst, der aussieht wie du selbst, ist das kompliziert. Einer der schönsten Momente für mich ist, wenn ein Kind, vielleicht sogar ein schwarzes, nach dem Konzert zu mir kommt und sagt, wie sehr es von meinem Spiel inspiriert ist, und sich bestärkt fühlt, nun selbst Cello zu lernen. Es ist sehr wichtig für Kinder, jemanden zu haben, zu dem sie aufschauen können.«Doch nicht nur optisch bringt das Chineke! Orchestra eine Veränderung auf die Bühnen der Klassikwelt, sondern auch klanglich. Denn wie vielleicht kein zweites Orchester setzt es auf ein vielfältiges und ethnisch ausge wogenes Programm. So bietet sich neben all den Beetho vens und Tschaikowskys, die das Orchester natürlich auch im Repertoire hat, immer wieder die Gelegenheit zu Neuentdeckungen. Etwa Fela Sowande (1905–1987), der als Vater der modernen nigerianischen Kunstmusik gilt. Oder William L. Dawson (1899–1990), dessen bedeutendstes Werk, die »Negro Folk Symphony« (inzwischen von den Erben in »African American Folk Symphony« um benannt), nun in der Elbphilharmonie erklingt. Auch andere Orchester arbeiten mittlerweile daran, das Repertoire der klassischen Musik vielfältiger zu machen, gerade in den USA. Das Philadelphia Orchestra etwa wird bei seinem kommenden Gastspiel in Hamburg auch Musik von Florence B. Price (1887–1953) spielen, die als erste afroamerikanische Komponistin in den USA bekannt wurde. Oder von Valerie Coleman, die von der »Washington Post« 2019 unter die Top 35 der zeitgenössi schen Komponistinnen gewählt wurde. Alles Namen, die besonders im europäischen Klassikbetrieb kaum bekannt sind – die man sich aber unbedingt merken sollte.

Einer, der das ähnlich sieht, ist Sheku KannehMason. Der britische Cellist, der durch seinen Auftritt auf der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle berühmt wurde, hat schon viele Male mit dem Chineke! Orchestra gespielt und ist auch beim Gastspiel in der Elbphilharmonie als Solist dabei. Wie Nwanoku würde auch Kanneh Mason die klassische Musik nicht per se CHINEKE! Fr, 26. 8. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Chineke! orchestra, Kevin John edusei sheku Kanneh-mason (Cello)

»Den Wandel vorantreiben und die Vielfalt in der klassischen Musik feiern«, so lautet das Motto und zugleich das Ziel des Chineke! Orchestra und seiner Jugendforma tion. Und tatsächlich haben inzwischen einige Junior Orchestermitglieder den Sprung an Musikhochschulen geschafft oder wichtige Wettbewerbe gewonnen. Auch auf das Publikum ist der Funke mittlerweile übergesprungen.

Die erste schwarze Komponistin der USA: Florence B. Price

William levi Dawson: African-American folk symphony

Brian nabors: Pulse für orchester Dmitri schostakowitsch: Cellokonzert nr. 2

»Wer da spielt und was da gespielt wird, all das sorgt für ein diverses Publikum – und zwar auf Anhieb. Weil diese Leute sich bisher nicht willkommen gefühlt haben«, fasst Nwanoku ihre Beobachtungen zusammen.

Du musst das Instrument besitzen, den Einzelunterricht bezahlen. Und zwar eine ganze Zeit lang.« Das Problem setze ihrer Meinung nach daher auch viel früher an, bei der frühkindlichen Förderung, und es habe vor allem eine soziale Dimension. Deswegen hat die Stiftung neben dem großen Orchester auch das Chineke! Junior Orchestra ins Leben gerufen, in dem junge Musiker im Alter von 11 bis 22 Jahren erste Orchestererfahrung sammeln und mit finanzieller Unterstützung sowie einem umfassenden Mentoring Programm auf das Musikstudium vorbereitet werden. Die Zusammensetzung des Orchesters ähnelt dabei dem großen Schwesterensemble: »Mein Ziel ist es, einen Raum zu schaffen, in dem schwar ze und ethnisch vielfältige Musiker die Bühne betreten können und wissen, dass sie dazugehören, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes«, sagt Nwanoku. »Wenn auch nur ein einziges schwarzes oder ethnisch gemischtes Kind das Gefühl hat, dass seine Hautfarbe seinen musika lischen Ambitionen im Wege steht, dann hoffe ich, es zu inspirieren, ihm eine Plattform zu geben und ihm zu zeigen, dass Musik, egal welcher Art, für alle Menschen da ist.«

THE PHILADELPHIA ORCHESTRA Di, 30.8.2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal the Philadelphia orchestra, Yannick nézet-séguin Angel Blue (sopran) valerie Coleman: this is not a small voice florence B. Price: sinfonie nr. 1

unter sap.de

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SAP ist Principal Sponsor der Elbphilharmonie Hamburg. Wir sind stolz, eines der technologisch fortschrittlichsten Konzerthäuser Europas zu unterstützen und mit einem digitalen Besuchererlebnis zu begleiten. Mehr zu SAP

Hier spielt die Musik.

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VISIONÄRZAUDERNDEDER

Ganz eigenartig, im besten Sinne: Anton Bruckner in seinem Arbeitszimmer in St. Florian (um 1890)

Anton Bruckner (1824–1896) hat seine eigene Saga als monumentalgenialer Depp vom Dorf. Schon seine Zeitgenossen meißelten daran. Das berühmte Attribut »halb Genie, halb Trottel« ist sogar in der Variante »halb Gott, halb Trottel« überliefert. Wie der genaue Wortlaut auch gewesen sein mag: Anders als meist behauptet, stammt es wohl nicht von Gustav Mahler, sondern vom Dirigenten Hans von Bülow (so ermittelt durch den Musikwissenschaftler Hans Joachim Hinrichsen). Aber das Bild des unbedarften Giganten, der als Heiliger Wurzelsepp durchs urban akademische Wien tapste und dabei seine Mitmenschen zugleich überforderte und befremdschämte, bedarf deutlicher Korrekturen.

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Weder Trottel noch Gott. Und doch sind es die krassen inneren Gegensätze, aus denen das Bruckner-Ganzeunerhörteentsteht.

D ass Musik die Kunstform des 19. Jahrhunderts ist, zeigt sich auch in den hartnäckigen, in Erzähl marmor gemeißelten Legenden über Schicksale und Charaktere vieler Komponisten. Ähnlich Ver rücktes gibt es kaum über bedeutende Schriftsteller oder bildende Künstler dieser Zeit. Nicht erst der taubtragische Titan und Bittergram Beethoven wäre da zu nennen, sondern bereits das verkannte, verarmte Genie Wolfgang Amadeus. Klischees, die so platt mit der Realität wenig zu tun haben. Einen Höhe oder auch Tiefpunkt er reichten diese immarmorierten Musikersagen mit Richard Wagner, der fleißig daran mithämmerte (oder häkelte, um des »Meisters« Faible für leichtere Gewebe zu bedenken).

VON ALBRECHT SELGE

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2. »WAGNERIANER« UND SEIN GEGENTEIL Eher zu den (um Simpsons Formulierung aufzugreifen) unbewussten Hervorholungen von Bruckners Originalität gehört wohl auch der Einfluss Richard Wagners. Der häufige Hinweis auf Bruckners Nähe zu Wagner kann den arglosen Konzertgänger ja schwer irritieren: »Was soll das?«, wird dann sein Ohr verwundert fragen, »das klingt doch nicht im Geringsten nach Wagner?« Oder höchstens in gewissen Details, möglicherweise leicht Tristan Atmo sphärisches an einzelnen Stellen im Adagio der Dritten, oder die typische Klangfarbe der »Wagnertuben« ab der Siebten. Aber was sind schon Momente und Farben bei diesem Komponisten? Was das ominöse Bruckner Ganze »Nur ruhig – Bruckner – Gute Nacht!!!«: Schattenbild zum Treffen mit Richard Wagner in Bayreuth (1873) ›

So hat Regina Back darauf hingewiesen, dass Bruckner keineswegs so weltfremd war wie oft behauptet, sondern dass das Handeln des oberösterreichischen Dorflehrer sohns vor allem geprägt war vom »eisernen Willen, sich weiterzuentwickeln«.

In den Jahrzehnten davor stehen Kirchenmusik, Chormusik und akribische Kontrapunktstudien im Mittelpunkt, letztere bei dem 1788 geborenen Simon Sechter, der selbst jeden Tag eine Fuge schrieb und zugleich seinem Schüler eigenständiges Komponieren jahrelang verbot. Von dem britischen Komponisten Robert Simpson, der im 20. Jahrhundert Bruckner stilistisch nacheiferte, stammt die reizvolle psychologische Spekula tion, dass der Knöterich Sechter »unbewusst Bruckners Originalität hervorholte, indem er sie unterdrückte, bis es nicht mehr länger ging«. Dieses Bild der KreativitätsAnstauung passt wunderbar zu der nachdrücklichen, wahrlich psychophysischen Erfahrung von Aufschichtun gen und Eruptionen, die man als Brucknerhörer macht. Zumindest im Konzertsaal, im Echt Raum; denn den braucht Bruckners Musik unbedingt. Simpsons Erklärung aus Künstlersicht ist eine originelle Alternative zu der unterdrückten Sexualität oder den katholischen Kathedral neurosen, die von anderen Laienpsychologen zwecks Brucknerdeutung angeboten werden.

Dennoch stießen – und stoßen noch heute – dem Hörer Bruckners Sinfonien als etwas ganz Eigenartiges auf. Schaut und hört man genauer hin, so sind letztlich einige krasse Gegensätze der Grund dafür. Gegensätze allerdings, aus denen ein unverkennbares Ganzes entsteht. Das Bruckner Ganze.

1. SINFONISCHER SPÄTSTARTER Eine Auffälligkeit, die erstaunlich unterbeachtet scheint, ist die Kluft zwischen der Radikalität von Bruckners Sinfonieklang und der Tatsache, dass der Komponist sich erst so spät auf dieses Gebiet begab. Das geschah ja nicht aus jahrzehntelangem ehrfürchtigem Zurückschrecken vor dem erhabenen Genre nach Beethoven (wie es bei Brahms der Fall war, der »immer so einen Riesen hinter sich marschieren« hörte und sich trotzdem in seinem Arbeitszimmer eine Beethovenbüste quasi in den Nacken platzier te). Bruckner, der aus der Kirchenmusik kam, wirkt eher wie ein plötzlicher, aber umso heftigerer Quereinsteiger. Die ungeheure Vision seines speziellen Klangs scheint wie aus dem Nichts aufzutauchen. Jedenfalls wendet sich Bruckner relativ spät, mit über 40, dem Genre Sinfonie zu.

Ein Singknabe und Schulgehilfe, der es bis zum Linzer Domorganisten schaffte, aber unermüd lich weiter voranstrebte. Und das eben durchaus zielge richtet, auch wenn er auf dem gesellschaftlichen Parkett öfter mal ausrutschte und sich von seinen Kollegen durch entschlossenes Desinteresse an Literatur, Theater oder gesellschaftlichen Debatten unterschied. Er war gewiss weniger weltläufig als andere, doch darum noch längst kein kultur und betriebsferner Zausel. Und letztlich wurde er ja Professor und Honoratior, wie es sein Ziel war. Buchhalterische Religiosität aber, seltsame Zwangsneurosen sowie ein komplexbeladenes Verhältnis zu Frauen und dem eigenen sexuellen Begehren sind für einen Mann des 19. Jahrhunderts kein striktes Sonderlings Merkmal. Dass jemand etwa wie Bruckner seine täglichen Gebete akri bisch im Tagebuch protokollierte, war durchaus üblich. Vor allem aber war Bruckner nicht hoffnungslos »verkannt«. Als improvisierender Orgelvirtuose genoss er europaweit den höchsten Ruf, seine Messen fanden Zuspruch; und die legendären Misserfolge einiger Aufführungen seiner Sinfonien setzen ja voraus, dass diese Werke aufgeführt wurden. Dass das Publikum etwa 1877 bei der Uraufführung der 3. Sinfonie, die Bruckner zeit seines Lebens besonders wichtig war, in Scharen den Saal verließ, dürfte auch der Überlänge des vorhergehenden Programms an einem eiskalten Tag Mitte Dezember geschuldet gewesen sein. Überdies musste Bruckner, der viel Erfahrung mit Chören, aber wenig mit Orchestern hatte, das Konzert selbst leiten, weil der vorgesehene Dirigent gestorben war. Wer weiß, ob das neue Werk unter geringeren Zumutungen fürs Publikum sich diesem nicht doch erschlossen hätte?

Das Monumentale und das Kleinliche – ein seltsamer Widerspruch, der sich in einigen Charakterzügen Bruck ners ebenso findet wie in den Abläufen seiner Sinfonien. Dort gibt es manchmal uferlos Ausladendes neben bestürzend kurz Angebundenem. Passt das nicht auch zum leidigen Thema der unterschiedlichen Werkfassun gen? Vor denen steht – bisweilen fassungslos – der Neu Brucknerianer, und oft genug auch der geübte Bruckner freund. Die 5. bis 7. Sinfonie sowie die unvollendete Neunte liegen nur in einer einzigen Fassung vor, die Großer Einzelgänger: auf einem Gemälde von Ferry Bératon (1890)

3. VISION UND »FASSUNGEN«

Wahrscheinlich war das ferne Phänomen Wagner einfach ein weiteres Hilfsmittel, welches das unterdrückte Eigene freizulegen half. Es scheint produktiver, den Einzelgänger Bruckner mit anderen großen Sinfonikern seiner Zeit zu vergleichen. Sogar mit Brahms, dem von Hanslick & Co stilisierten Antipoden: Beide sind formbewusst bis zur Besessenheit, beiden eignet ein Konservatismus, der sich allerdings je ganz verschieden auswirkt. Und ebenso mit Gustav Mahler, wenn man etwa darauf achtet, wie bei beiden traditionell niedere Genres wie der obligatorische Ländler in weihe vollste Zusammenhänge gebracht werden. Ist es denn nicht mahlerverwandt, wenn Bruckner im Finale seiner Dritten einen beschwingten Tanz in den Streichern und einen getragenen Bläserchoral einfach übereinander legt?

Denn seine Verehrung für Wagner hatte Bruckner ja öffentlich bekannt, auch in Bayreuth persönlich, auf katzbuckelnde Weise, die selbst dem gegenüber Kriecherei doch recht schmerzfreien Wagner peinlich gewesen zu sein scheint. Bruckner selbst überlieferte folgenden skurrilen Dialog:»O Meister ich bete Sie an!!!« »Nur ruhig – Bruckner – gute Nacht!!!« Wagner war für Bruckner wohl eher eine Art Projek tionsobjekt. Er studierte den »Tristan«, aber als Klavier auszug, das heißt ohne Orchesterfarben und ohne Text.

Dass ausgerechnet dieser Komponist zu Lebzeiten in die Fraktionsgemetzel zwischen Wagnerianern und Anti­Wagnerianern geriet, wirkt wie ein biografischer Unfall. Man zweifelt sogar am musikalischen Sachverstand des Kritikers Eduard Hanslick, dass er sich bei Bruckners Sinfonik nicht mit dem ehrenwerten Bekenntnis begnügte, sie einfach nicht zu verstehen, sondern sie in Wagners musikalische Nähe rückte. Nur aus äußerlichen Gründen?

Auch passt Bruckners existenzielle Entscheidung fürs Genre Sinfonie überhaupt nicht zum wagnerschen Parteiprogramm der Verbindung von Wort und Ton, zum ominösen Gesamtkunstwerk. Andere »Neudeutsche« wie Liszt schufen Sinfonische Dichtungen, also literarisch orientierte Programmmusik; Bruckner aber war dickköpfig »absolut«. Die gelegentlichen inhaltlichen oder gar roman tisierenden Erläuterungen, wie er sie etwa zur 4. Sinfonie abgab, scheinen nutzlos bis abwegig, wahrscheinlich nur zum Zweck der Schmackhaftmachung ans Publikum abge geben. Man sollte das am besten ignorieren und stattdessen einfach zuhören, denn: »Verbale Illustrationen ver hindern geradezu das Verständnis von Bruckners Sinfonik.« (Bernhard Rzehulka) Auch Wagners Kunst des Übergangs ist das Gegen teil von Bruckners harten Schnitten. Der Dirigent Lorin Maazel sprach von der »Eigenart Bruckners, einen Abschnitt mit einer Art Punkt zu beenden und nach kurzem Innehalten zum nächsten Abschnitt zu schreiten, schein bar ohne den Versuch einer Überleitung«. Und dann kommt Maazel auf einen spannenden Gedanken: »Die Pause selbst ist die Überleitung, nicht im kompositorischen, sondern im metaphysischen Sinne.« Dass im Konzert saal gewisse Momente der Stille sowieso die atemberau bendsten sind, ist eine Grunderfahrung, die man als Hörer bei Bruckner besonders intensiv macht.

Die harmonische Freiheit beeinflusste ihn natürlich (genauso freilich wie »rückwärtsgewandte« Kirchenharmonik), aber wie Egon Voss schrieb: »Bruckner war nicht darauf angewiesen, Wagner nachzuahmen, auch wenn außer Frage steht, dass er ihn nötig hatte, um sich selbst zu finden.«

26 A nton B ru CK ner angeht, den Brucknersound, spielen Klangfarben und Mischungen ja gerade eine untergeordnete Rolle. Ganz anders, als es bei Wagners Zauber ist, und überhaupt im Gegensatz zur Faszination des 19. Jahrhunderts für erlesene, immer raffiniertere Mischklänge. Bruckner war hingegen, wie Fritz Oeser schrieb, ein Komponist der »Grundfarben« (die natürlich auch mächtig aufgetragen werden können, vor allem im Blech).

A nton B ru CK ner 27

THE CLEVELAND ORCHESTRA, FRANZ WELSER-MÖST Mi, 31. 8. 2022| 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Bruckner: sinfonie nr. 9 Berg: Drei stücke aus der »lyrischen suite« TONHALLE-ORCHESTER, PAAVO JÄRVI Elbphilharmonie Großer Saal Do, 10. 11. 2022 | 20 uhr: Bruckner: sinfonie nr. 6; messiaen: l’ascension fr, 11. 11. 2022 | 20 uhr: Bruckner: sinfonie nr. 8; Pärt: Cantus in memoriam Benjamin Britten sa, 12. 11. 2022 | 20 uhr: Bruckner: sinfonie nr. 3; Pärt: fratres; mozart: Klavierkonzert K 488 (mit fazıl say)

SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE DRESDEN, CHRISTIAN THIELEMANN Mi, 23. 11. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Bruckner: sinfonie nr. 5

ALBRECHT SELGE lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschienen seine Romane »Beethovn« und »Luyánta –Das Jahr in der Unselben Welt« (beide Rowohlt). anderen jeweils in unterschiedlichen. Eigene Zweifel des Komponisten führten ebenso dazu wie gutgemeinte Ratschläge von anderen; der Visionär war hochgradig verunsicherbar. Und dabei doch unbeirrbar. Ein Paradox. Liest man sich in die Problematik der Versionen und ihrer Beweggründe, ihrer Vorzüge und Nachteile ein, könnte man den Mut verlieren, sich einfach nur in den Konzertsaal zu setzen und zuzuhören. Das wäre ein Fehler: nicht nur, weil ein Konzert ja kein musikhistorisches Seminar ist, sondern weil man sich als Konzertgänger vertrauensvoll darauf verlassen darf, dass der Dirigent eine verantwortbare Fassung vorführt. Ihm geht es nämlich ähnlich wie dem Hörer, wie Maazel hervorhob: Er muss sich zwar mit dem Thema beschäftigen, aber irgendwann einfachEtwasentscheiden.andereskommt hinzu. Peter Gülke (der nicht nur Gelehrter, sondern als Dirigent ebenfalls Praktiker ist) beschrieb sehr schön, wie der Bruckner Liebhaber manchmal »beim vagen Erinnern unversehens zwischen ähnlichen Passagen verschiedener Sinfonien hin und hergleitet«. In der Tat kann man bei Bruckner den einzelnen Sinfonien nicht im selben Maß derart prägnante individuelle Eigenschaften zusprechen wie etwa den Sinfonien von Beethoven oder Brahms: Da ist jede ein völlig eigener Charakter. Hier aber dominiert der Brucknersound, oder wie Gülke es ausdrückt: Hinter Bruckners Sinfonien stehe »insgesamt so etwas wie eine sie alle idealiter summierende ›Hauptmusik‹«. Was übrigens wenig zu tun hat mit der gehässigen Bemerkung seiner Verächter, Bruckner hätte immer wieder dieselbe Sinfonie komponiert! Nüchtern betrachtet, kann man den eigenartigen Brucknersound ganz gut aufschlüsseln. Egon Voss hat es so übersichtlich wie penibel getan: allgegenwärtige »Langsamkeit« durch große Notenwerte mit weiten Sprüngen, überhaupt Weiträumigkeit, Blöcke, Wellen durch Steigerung und Abbruch, die charakteristischen Start Tremoli und Duolen/Triolen, Farbkargheit und Emanzi pation des Blechs etc. pp. Und doch hört man immer, dass das Bruckner Ganze eben mehr ist als die Summe dieser Teile. So wie seine Musik zwar fast zwanghaft periodisch aufgebaut ist, aber gerade nicht besonders »regelmäßig« wirkt. Im Gegenteil, so feinsortiert die Formteile sein mögen, entsteht oft der Gesamteindruck der Unübersichtlichkeit. Und wenn es eine grundlegende Eigen schaft von Bruckners Musik geben sollte, so mag es die Verbindung des Feierlichen mit manchmal fast brutaler KörperlichkeitNatürlichsein.haben bestimmte Fassungen identifizierbare Vor oder Nachteile. Und doch muss man festhalten, dass eben alle diese Fassungen möglich sind. Vielleicht sind sie so etwas wie immer neue Annäherungen an eine Vision. Verunsicherungen und Zaudern gehören halt beim Anlaufen dazu. Und während Brahms seine Spuren verwischte, gleicht Bruckners Schaffen einer offenen Werkstatt, die doch gerade darum nur umso geheimnisvoller wirkt. Tatsächlich denke ich manchmal: Dass eine meiner Lieblingssinfonien, die Fünfte, nur in einer Fassung vorliegt – soll man sich darüber wirklich freuen, oder sollte man es nicht eher bedauern?

Letztlich doch Honoratior: nach der Verleihung des Franz-Joseph-Ordens (1886) m BRUCKNERS VIERTE MIT DEM NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER UND ALAN GILBERT FINDEN SIE ALS STREAM UNTER: ELPHI.ME/BRUCKNER4

28 Glosse DAS MUSS-MUSS Wenn es im Gespräch unangenehm wird, suchen nicht zuletzt Norddeutsche Zuflucht in abgenutzten Redewendungen VON TILL RAETHER ILLUSTRATION NADINE REDLICH

Natürlich wurden auch plattdeutsche Phrasen gedroschen, aber keine häufiger als das universal einsetz bare »Wat mutt, dat mutt«. Mit dieser Wendung kommen tierte die Verwandtschaft Verlöbnisse, Kindsgeburten, den Ruf zum Abendessen, das Vorhaben, im Pönitzer See zu baden, Gartenarbeit, Schnaps, alles. Wie hohl mir das als Jugendlichem schien – Zuflucht zu suchen in den immer gleichen Floskeln. Wie feige das war, wie bequem. Statt die Dinge differenziert zu betrach ten. Und wohin ich auch kam, Menschen im Alter über mir schienen sich rhetorisch nur noch in diesen Regionen aufzuhalten, im Abgedroschenen, Nichtssagenden. Warum reden, wenn man nichts zu sagen hat, dachte ich, und schwieg.

TILL RAETHER , 1969 in Koblenz geboren, arbeitet als freier Journalist und Autor in Hamburg, u. a. für das »SZ -Magazin« und die »Brigitte«Gruppe. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalisten schule in München und studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans. Seine Kriminalromane um Kommissar Adam Danowski (erschienen bei Rowohlt) spielen in Hamburg.

Glosse 29

S chon als Kind fiel mir auf, dass meine norddeut sche Verwandtschaft sich in Redewendungen flüchtete, sobald eine Gesprächspause entstand oder die Dinge kompliziert wurden. Beides passierte oft. In Norddeutschland bestehen Gespräche zu einem sehr großen Teil aus Pausen. Und das soziale Gefüge auf dem Land ist ausgesprochen unübersichtlich und schicksalhaft, weil alle irgendwie miteinander verbun den sind, verwandt, verfeindet oder beides. Wenn also jemand im Landkreis ein neues Leiden, missratene Kinder, Schulden, SPD gewählt oder sich auf der Bundesstraße »um einen Baum gewickelt« hatte, sagte mein Großvater nachdenklich: »Das Leben ist eins der schwersten.« Nachdenklich daran war nur sein Tonfall, der Inhalt schien mir banal und redundant. Sobald der Nieselregen sich in einen »Landregen« verwandelte oder es sich »einregnete«, dauerte es nicht lange, und ein beliebi ges Familienmitglied verkündete: »Oma Toni hat immer gesagt, wie gut, dass die Häuser hohl sind.« Anfangs gefiel mir der leicht surreale Humor dieser Wendung, denn ich stellte mir unhohle Häuser vor, deren Bewohner achselzuckend im Regen standen, aber nach dem zwölften Mal verlor selbst diese Wendung für mich ihren Zauber, vom zweihundertsten Mal ganz zu schweigen.

Jede Region hat ihr »Wat mutt, dat mutt«. Im Laufe der Jahre lernte ich das kölnische »Et hätt noch immer jot jejange« kennen und mochte es wegen seines unverbrüchlichen Optimismus, und aus psychologischer Sicht faszinierte mich die luftdichte Selbstgewissheits Hermetik des münchnerischen »Mia san mia«. Meine Frau und ich sind in Berlin aufgewachsen, dort sagt man »Hörnse uff«, um Zustimmung oder eine Gegenmeinung auszudrücken, und »Wat soll sein«, wenn sich etwas nicht ändern oder leicht ändern lässt. Beide Formulierungen passen immer, und nun stelle ich fest, dass wir sie, seit wir nicht mehr sehr jung sind, immer häufiger benutzen. Und weil wir seit über zwanzig Jahren in Hamburg wohnen, verwenden wir hin und wieder auch ein gezielt eingesetztes »Wat mutt, dat mutt«. Bei schlechtem Wetter sage ich, Uroma Toni hätte immer gesagt, wie gut, dass die Häuser usw. Ich habe mich sogar dabei ertappt, wie ich den Kindern in trösten der Absicht mitteilte, das Leben sei eins der schwersten.

A nfangs geschah das eher parodistisch, mit dieser einfachen Ironie, für die man irgendwann im Leben keine Zeit mehr hat. Aber die Floskeln sind wie Schuhe, die man einlaufen muss, bis sie irgendwann so bequem sind, dass man sie gar nicht mehr ausziehen will. Sie werden ein Teil von einem. Und indem man sie verwen det, wird man Teil all der Generationen von Ratlosen, Trostsuchenden, die sie auch immer schon gesagt haben. Das ist schrecklich schön, aber nicht banal und redundant.

Man muss die einfachsten Wendungen über Jahre lernen wie eine Fremdsprache, bis man ihnen durch Kontext, Betonung und Gesichtsausdruck unendlich viele Nuancen abringen kann. Allein was »Wat mutt, dat mutt« alles bedeuten kann: dass etwas unausweichlich ist, aber eben auch, dass ganz viele Dinge nicht unausweichlich sind. Alles, was muss, muss; aber was nicht muss, muss eben auch nicht. Oder, wie meine Schwiegermutter immer sagt: Kein Mensch muss müssen.

30 e ss AY ZUFLUCHT IN Kann man durch Töne der Welt entkommen? Über den Eskapismus und sein bevorzugtes Medium VON ANDREAS DORSCHEL MUSIKDER

Krankheitserreger waren zuletzt prominente Gründe dieser Art, vor denen man sich entweder freiwillig oder genötigt zurückzog. Freilich nicht so ganz, denn die Arbeit kam prompt nach Hause: Home Office.

ründe, sich ihr entziehen zu wollen, liefert die Welt öfters zur Genüge, auch in jüngster Zeit.

G

AU ẞ ER SICH UND IN SICH

Edler präsentierte sich der Geist eines Rückzugs vor der Welt einst in dem Satz: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Er paraphrasiert einen Vers aus »The People, Yes«, einem 1936 veröffentlichten Gedichtband des amerikanischen Dichters Carl Sandburg: »Sometime they’ll give a war and nobody will come.« Sieben Jahre später, im Sommer 1943, machte die Bombardierung Hamburgs der Zivilbevölkerung der Stadt klar, dass man gar nicht hinzugehen brauchte: Der Krieg kam nach Hause. Und selbst wen 2022 nicht die Bomben treffen, erreichen die Nachrichten des Grauens aus der Ukraine –es sei denn, man stellt sie, da man sie nicht mehr erträgt, aus und etwas anderes an: schöne Musik zum Beispiel.

e ss AY 31 ›

Der Welt zu entfliehen, versuchen Menschen auf vieler lei Weisen. Die Medien, die sie dazu gebrauchen, müssen stets in irgendeinem Sinne aus dem Stoff der Welt sein und führen doch aus ihr heraus – versprechen solches zumindest. Drogen zählen zu diesen Medien, sodann Träume, die nächtlichen ebenso wie Tagträume, Fantasien und eben auch Musik. Dass Musik zum Medium von Welt flucht werden kann, rührt von einem zweifachen Kontrast zum gewöhnlichen Dasein her. Anders als die physische Realität, an der Menschen sich fortwährend stoßen, scheint Musik aus ungreifbarem Stoff gemacht, aus Klang. Und anders als die soziale Welt, die aus Worten geknüpft wird, welche immer auch Fesseln sind, da sie als Versprechen, Zusagen und Befehle binden, liegt die Musik vor und jenseits der Sprache: Sie erreicht schon das Neugeborene, und noch der Erwachsene freut sich an ihr wie ein Kind, da sie ihn zu nichts verpflichten kann und verpflichten will. So scheint es. Doch der Charakter der Weltflucht gehört nicht in die Seinslehre der Musik. Er gehört ihrer Geschichte an. Viele musikalische Praktiken, Arbeitslieder etwa, auf dem Feld, in der Werkstatt oder im Haus gesungen, sind ganz und gar verwoben in das, was wir ›die Welt‹ nennen. Auch kunstreiche Musik kann in die Welt verwoben sein, in die Welt von Hof und Kirche etwa, wie die kompositorische und improvisatorische Praxis

Die Töne, meint er, machten »unabhängig von der Welt«. Insofern Musik ihn von den alltäglichen Nöten erlöst, erträumt Berglinger, diesen Zustand, also die Verflüchtigung der Realität, auf Dauer zu stellen. Sein

Die Idee endlich, Musik bilde eine abgesonderte Welt für sich, stellt historisch eine durchaus voraussetzungs reiche Angelegenheit dar – vor der literarischen Frühro mantik Deutschlands um 1800 lässt sie sich kaum belegen. Seitdem hat sie freilich anhaltend gewirkt, jedenfalls tief ins 20. Jahrhundert hinein. Die großen Musikerfiguren der deutschen Literatur sind Eskapisten, von Wilhelm Heinrich Wackenroders Kapellmeister Berglinger bis zu Thomas Manns Tonsetzer Adrian Leverkühn.

Johann Sebastian Bachs. Dessen Sohn Carl Philipp Emanuel, dem er 1772 in Hamburg begegnete, sagte der englische Musikhistoriker Charles Burney hingegen nach, er sei improvisierend aus der Realität herausgetreten; das war ideengeschichtlich ein Novum: »Während dieser Zeit geriet er (C. Ph. E. Bach, Anm.) dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung, dass er nicht nur spielte, sondern die Miene eines außer sich Entzückten bekam. Seine Augen stunden unbeweglich, seine Unterlippe senkte sich nieder und seine Seele schien sich um ihren Gefährten nicht weiter zu bekümmern.«

SCHWÄRMEREI UND SELBSTSUCHT

»Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst«, heißt es in Goethes »Wahlverwandt schaften« (1809). Die erste Hälfte dieser paradoxen Reflexion leuchtet ein, insofern Künstler eine zweite Welt aus Worten, aus Farben und Formen oder aus Tönen neben die gewöhnliche Wirklichkeit setzen. Die Worte des Dichters indes sind Worte aus dieser ersten Welt und handeln von menschlichen Verhältnissen; in den Formen und Farben erscheinen Personen und Sachen; und die Produktion der Töne geht auf organische und mechani sche Körper zurück, führt Spieler oder Sänger zusammen und bringt sie vor ein Publikum.

32 e ss AY

Als Goethe seine doppelte Einsicht über Kunst und Welt niederschrieb, hatte sich deren erste Hälfte bereits verselbstständigt, und zwar in Gestalt eben jenes Kapell meisters Joseph Berglinger aus Wackenroders »Herzenser gießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« (1797) sowie der »Phantasien über die Kunst« (1799). Berglinger möchte ausweichen, flüchten. »Was tu’ ich auf der Welt?«, fragt er, da er derselben kraft der Musik vielmehr abhanden zu kommen sucht. Jede Flucht ist Reaktion; so auch diese. Das alltägliche Dasein sieht Berglinger vom »gemeinen Zweck und Nutzen« bestimmt. Poesieloses »Gewühl« und »rastloses Wirken der Menschen gegenein ander« machten in der bürgerlichen Gesellschaft das Zusammenleben aus. Berglinger setzt der Umstand zu, dass »die erfindungsreichen Heerstraßen des Elends dicht um mich herum, Tausende mit tausend verschiedenen Qualen in Krankheit, in Kummer und Not, zerpeinigen«. Was lässt sich diesem Umstand entgegensetzen? Berglinger folgert nicht, die Menschen hätten dann wohl allen Grund, sich gegen die Not zu wehren. Vielmehr imagi niert Wackenroders »Tonkünstler« die Musik als eine Sphäre, in der angekommen er aller Not entflohen wäre. »Wohl dem, der, wann der irdische Boden untreu unter seinen Füßen wankt, mit heitern Sinnen auf luftige Töne sich retten kann«, ruft der weltflüchtige Musiker aus.

»ganzes Leben«, meint er euphorisch, möge »eine Musik sein«. Menschen kommen freilich nicht umhin, die elementaren Bedürfnisse ihres Lebens zu befriedigen und sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen; insofern bleibt das Leben als reine Musik der vielleicht nicht einmal besonders fromme Wunsch zarter Seelen. Jedem Höhenflug in die erhabenen Sphären der Musik folgt ein jäher Absturz in die Niederungen des Alltags. Einerseits wird jener ja nur als erhaben empfunden, da dieser als nieder erlebt wird. Andererseits sichern die Niederungen das schiere Überleben, nicht die luftigen Höhen. Je höher

Ich bin der Welt abhanden gekommen, mit der ich sonst viele Zeit verdorben, sie hat so lange nichts von mir vernommen, sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!

aber sein Aufschwung führt, desto härter schlägt der Enthusiast auf dem Boden der Realität auf. Gemäß der Logik der Droge pflegt der Kater proportional zu deren Dosis zu sein. Erst die unsanfte Ankunft im Elend aber macht Berglinger darauf aufmerksam, dass nicht nur er leidet, sondern auch andere: die Geschwister, der Vater. Die jeweils zuvor genossene wunderbare Sensibilität

STERBEN UND LEBEN Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat der musikalische Eskapismus solche Selbstkritik hinter sich gelassen, die einstigen Entzweiungen vergessen und sich in glückliches Bewusstsein verwandelt. Was soll man über die stille Einfalt sagen, mit der uns »Musik zur Meditation« oder »Sounds for a New Age« einzulullen suchen? Sie vollziehen akustische Weltflucht der unbedarften Art, als Übertönen des disharmonischen Lärms der Welt durch harmonische Musik. Indem Hörer sich in sie einstimmen, entziehen sie sich der Pflicht, auf die Welt und ihre Signale zu reagieren. Hinhörend im Einklang, hören sie von vielem weg. Dazu tragen sie am zweckmäßigsten Kopfhörer, denn diese schalten die Welt aus. Solchen tönenden Sedativa, Palliativa und Narkotika Rechnung zu tragen, wäre eher Sache der Physiologie als der Philosophie. Das sogenannte Abschalten vermag ohne weiteres Grade zu erreichen, die auch jedem möglichen theoretischen Impuls vorab die Energie rauben. Nichts entwaffnet machtvoller als Banalität.

Ich kann auch gar nichts sagen dagegen, denn wirklich bin ich gestorben der Welt. Ich bin gestorben dem Weltgetümmel und ruh’ in einem stillen Gebiet! Ich leb’ allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied.

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musikalischen Genusses schließt Hartherzigkeit nicht aus, sondern kann sie passgenau ergänzen. Diese Einsicht zieht die Tonkunst, welche über allen »Zweifel« erheben soll, selbst in Zweifel. Die unschuldig genug anmutenden und doch so verführerischen »luftigen Töne« hüllen als Konterbande all jene »eigensüchtigen« und »sich selber genügenden Gedanken« ein, »die in der tätigen Welt unfruchtbar und unwirksam bleiben«. Da die Flucht in die Musik zugleich eine Flucht ins Ich ist, bedient sie jede mögliche Egozentrik. Berglinger erkennt im musikalischen Eskapisten – und damit in sich selbst –nicht länger den Teilhaber göttlicher Offenbarungen, den die Töne »in das Land des Glaubens« trugen, sondern einen »lüsternen Einsiedler«. So wäre es folgerichtig, der Musik abzusagen. Das aber vermag Berglinger nicht, nämlich: nicht mehr. Es gibt kein Zurück. So heimisch wurde Wackenroders Kapellmeister in der schönen Scheinwelt der Töne, dass er das Leben nicht länger aushielte, ohne in sie zu fliehen. Berglinger ist der Musik verfallen.

In der süchtigen Weltflucht, deren musikalischer Gestalt Wackenroder das literarische Denkmal setzte, manifes tiert sich, wie Hegel es in der »Phänomenologie des Geistes« (1807) nennt, »unglückliches, in sich entzweites Bewusstsein«. Die romantische Gründungsurkunde eines Eskapismus im Medium der Töne enthält bereits dessen Kritik.

In dieser Verlegenheit tritt freilich die Musik selber ein, insofern sie den in ihr teils latenten, teils manifesten Eskapismus selbst zum Thema machen kann. Philosophi sches Nachdenken erlauben und fordern weniger die reichlich vorhandenen weltflüchtigen Musiken als – denn das ist etwas anderes – die seltenen Musiken über Welt flucht, komponierte Reflexionen des Abhandenkommens.

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen, ob sie mich für gestorben hält.

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Das der Welt Abhandenkommen quittiert die Welt mit Beifall. Sie war Zeugin einer öffentlich vollzogenen Emigration aus der Öffentlichkeit. (Bürgerliche Öffent lichkeiten goutieren den Auszug aus ihnen, da sie mit sich selbst nie im Reinen sind.) Jedes dieser Elemente lag in der künstlerischen Absicht des Komponisten. In »Ich bin der Welt abhanden gekommen« inszeniert sich ein Ja zur Welt als Nein. Doch in diesem Ja als Nein liegt keine Unwahrhaftigkeit Mahlers, sondern die Wahrheit dieses Liedes.

Der Künstler entkommt ihr in sein Werk.

Dass der Tod ins wahre Leben führe und dass, wer der Welt starb, zu himmlischem Leben neu geboren sei, war seit den spätantiken Kirchenvätern christliche Lehre.

Die »Demonstratio evangelica« des Eusebius von Caesarea (um 260–340) proklamiert den Tod der Sterblichkeit als Leben: »Diejenigen, welche sich dieser Lebensweise zugewandt haben, scheinen dem Leben der Sterblichen gestorben zu sein, und tragen nur noch den Leib über die Erde, da sie ihre Seele durch ihre Gesinnung bereits in den Himmel überführt haben.« Wer schon im Himmel lebt, darf, ja muss der Erde abgestorben sein. Eusebius gründet den Gedanken im Dualismus von Leib und Seele. Diese Denkfigur war Rückert wohlbekannt. Doch er durchkreuzt sie in seinem Gedicht, indem er zwei Sphären einführt, die sich gegen den Dualismus von Leib und Seele sperren: die Liebe und das Lied. Welches Lied wäre je gesungen worden ohne Leib? Die religiöse Denkfigur, der wahre Christ sei der Welt abgestorben, nimmt Rückert auf und kehrt sie um – so wie Mahler, der, obschon die letzte Strophe eben noch vom Himmel sprach, die aufsteigenden melodischen Gesten des Vorspiels im Nachspiel absteigen lässt. Denn dieser Himmel ist qualifiziert durch das Personalpronomen der ersten Person: Es ist mein Himmel. Der Weltverlust geschieht selber noch in der Welt: »Ich bin der Welt abhanden gekommen« ist ein »Lied von der Erde«. Wir fallen nicht heraus aus der Welt. Der Künstler entkommt ihr in sein Werk, ins »Lied«. Wie auch Mahler wusste, sind das »Lieben« und das »Lied« zutiefst verwickelt in die »Welt«. Und so verbindet sich das der Welt Abhandenkommen mit einem der Welt Zugehörigsein. Schließlich ist auch »Ich bin der Welt abhanden gekommen« nicht bloß eine Partitur; zum Leben erweckt die toten Schriftzeichen erst eine Auffüh rung. Wenn nun die einsame Gestalt, der etwa ein Mezzo sopran seine betörende Stimme leiht, der Welt hingeschie den und so abhanden gekommen ist, stehen, neben dieser Gestalt, noch zwei Kollektive einander gegenüber, deren eines sie trägt und deren anderes ihrem Ausdruck erst Sinn gibt: das Orchester und das Publikum. Solches findet statt in einem bürgerlichen Konzertsaal, einem ganz und gar weltlichen Ort.

Wir fallen nicht heraus aus der Welt.

Der Welt abhanden kommen, sagt dieses Gedicht Friedrich Rückerts aus den 1820er Jahren, das Gustav Mahler 1901 in Musik setzte, heißt: für die Welt »gestorben« sein. Beim ersten Erscheinen dieses Wortes, »gestorben«, ziert Mahler dessen betonte Silbe durch ein Melisma (»Nicht eilen«) von neun Tönen aus – anhebend vom g”, dem höchsten bis dahin erreichten Ton. Doch nicht erst in der Musik wird es herausgehoben, sondern bereits in der Sprache Rückerts.

Ohne sich irgend um die poetische Maxime zu kümmern, Wortwiederholung sei zu meiden, bringt der Dichter das »gestorben« vier Mal an, im vierten, sechsten, achten und neunten Vers. Der elfte und zwölfte Vers aber deutet diesen Tod als das wahre Leben: »Ich leb’ allein in meinem Himmel, / in meinem Lieben, in meinem Lied.«

Fotos aus der Serie »Stranger Things« von Max Slobodda

EMOTION UND OBJEKT

Man kann sinnlosen Streitereien entkommen, indem man sich vernünftiger Arbeit zuwendet – für gewöhnlich nennen wir das nicht eskapistisch. Eskapistisch würden wir es nennen, wiche jemand vernünftiger Arbeit dadurch aus, dass er in Fantasien schwelgt. Beides könnte ja wirklich Flucht sein: Flucht vor Streitereien, Flucht vor der Arbeit. Doch in der Rede von Eskapismus liegt ein Vorwurf: Jemand entzieht sich den Realien, mit denen er sich auseinandersetzen sollte. Und diese Charakterisierung ist nur im zweiten Fall erfüllt, nicht im ersten. Nun sind Töne, ANDREAS DORSCHEL leitet das Forschungsprojekt »The Epistemic Power of Music« sowie das Institut für Musikästhetik der Kunstuniversität Graz. Er war Visiting Professor in Stanford (2006) und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin (2020/21). Zuletzt erschienen von ihm »Wortwechsel. Zehn philosophische Dialoge« (Meiner 2021) sowie »Mit Entsetzen Scherz. Die Zeit des Tragikomischen« (Meiner 2022). obschon physikalisch messbar, recht flüchtige Realien –stets ließen sich ihnen handfestere Realien gegenüberstellen, die ernsthaft Anspruch erheben könnten, es sei dringlicher, sich mit ihnen zu befassen: der Fußboden muss geschrubbt, die Hungernden gesättigt und das Klima der Erde gerettet werden. Literatur und Bilder können von solchen Dingen wenigstens handeln und handeln von ihnen, wenn sie »sozial engagiert« sind. An Musik, der instrumentalen jedenfalls, gleiten derartige Inhalte hingegen ab. Das hat ihr den Ruf eingetragen, sie sei eskapis tisch, nicht hie und da, sondern grundsätzlich. Musik inkorporiert keine Dinge. Dieser Zug hält sie auf Abstand zu dem, was man die Wirklichkeit nennt. Nicht einmal in der verwandelten Form, in der Dinge in Bildern und literarischen Texten vorkommen, erscheinen sie in Musik. Gleichwohl glauben die meisten Menschen, etwas, das sie als wirklich erfahren, komme in der Musik vor, nämlich Empfindungen, Gefühle und Leidenschaften. Wäre dem so, dann taugte Musik, scheint es, nicht zum Medium der Flucht vor dem Wirklichen, da sie uns auf die Stelle wiese, an der es uns – wie wir sagen – »berührt«. Allerdings sind das greifbar Wirkliche an Empfindungen, Gefühlen und Leidenschaften ja ihre Ursachen und Objekte. Ein Tritt verursacht jemandem Schmerz. Die Pleite seiner Firma macht jemanden traurig. Man freut sich über den Pokalsieg seiner Fußballmannschaft.

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Wer etwas tut, tut anderes nicht. Deshalb kann jegliche Beschäftigung eines Menschen als Flucht gedeutet werden – als Flucht vor anderen Dingen, denen er eben auch nachgehen könnte. Und damit geriete dieses Thema in den Griff kompletter Willkür. Ist eine solche Konsequenz unausweichlich?

Die Musik indes präsentiert nicht Tritte, Firmenpleiten oder Pokalsiege. Wenn Musik Schmerz, Trauer oder Freude ausdrücken kann, dann, indem sie deren Ursachen und Objekte, die ja oft banal genug sind, entwirklicht. Die Musik erlaubt uns, diesen in ihrer Ärmlich keit zu entfliehen. Erst diese Art der Flucht – in die Emotion ohne ihre Ursache – ist reizvoll. Ein Raum, aus dem alle Emotionen ausgekehrt wären, würde niemanden etwas angehen und darum niemanden anziehen. Die musikalische Entrealisierung der Emotionen hingegen, das Abziehen der Ursachen und Objekte, erlaubt es jedem, seinen Schmerz, seine Trauer oder seine Freude gesteigert wiederzuerleben: gesteigert nicht in ihrer Intensität, son dern in ihrer Dignität. Erst hier werden sie, zum Beispiel, tragisch oder romantisch. Aus der ästhetischen Identifikation des Hörers gehen die Emotionen erhabener, würdiger, eindrucksvoller hervor als sie in den Niederungen des Alltags je waren. Das muss Hörern schmeicheln.

Konsequente Flucht aus der Welt verneinte die Welt. Doch die Musik hat ja im Repertoire ihrer Mittel nicht einmal ein Gegenstück zum Nein der Wortsprache. Was dissoniert, negiert darum nicht. Jeder Ton sagt: Ich bin da – jeder Ton sagt Ja. Musikalische Fluchten sind demnach kein Nein zur Wirklichkeit, sondern ein Jein.

Die Fluchtpunkte verschieben sich, die Motive geraten in Bewegung, beginnen zu tanzen und sich in immer neuen Gestalten zusammenzufügen: Wer die Welt durch ein Kaleidoskop betrachtet, kann nicht nur »schöne Formen sehen«, wie es der griechische Name dieses optischen Geräts verspricht, sondern auch in den Sog einer vielfältig aufgefächerten Sinnesreise geraten. ROPPEL

FOTOS JEWGENI

FACETTEN REICH

Vielbeschäftigte Sängerin, Intendantin in Salzburg und Monte-Carlo – hat Ihr Tag mehr als 24 Stunden? Cecilia Bartoli: Es gibt tatsächlich Tage in meinem Leben, die ziemlich voll sind. Aber ich betrachte meine Tätigkeiten nicht als Arbeit, sondern als Erfüllung meiner Leidenschaft. Im Übrigen achte ich seit vielen Jahren in anderen Bereichen auf Entschleunigung, zum Beispiel beim Reisen. Ich fahre meist mit der Bahn und selten nach Übersee, wohin ich dann das Schiff bevorzuge.

VON BJØRN WOLL »FÜR DIE KEHLE WIE FÜR DIE SEELE« ›

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Nun ist es 35 Jahre her, dass Cecilia Bartoli ihr Operndebüt gab, als Rosina in Rossinis »Barbier von Sevilla« in ihrer Heimatstadt Rom, wo sie 1966 als Tochter zweier Opernsänger geboren wurde. Vermutlich hat damals niemand geahnt, dass dieser Wirbelwind von einer Sängerin die Welt der Klassik nachhaltig verändern sollte. Rossini ist sie seitdem treu geblieben; dank ihrer phänomenalen Koloraturgeläufigkeit führte sie die von Sängerinnen wie Marilyn Horne und Teresa Berganza angestoßene Rossini Renaissance mit Nachdruck fort. Und obwohl man sich schon ziemlich darüber wundern kann, dass Bartoli bisher noch nie an der Wiener Staatsoper zu hören war: Wenn sie diesen Sommer ihr spätes Debüt im Haus am Ring gibt, dann wird das natürlich mit Rossini sein, als Fiorilla in »Il turco in Italia«.Ebenso legendär wie die schier unbegrenzten Möglichkeiten ihrer Zweieinhalb Oktaven Stimme ist das spielfreudige Temperament der Mezzosopranistin – ge paart mit einem exquisiten komödiantischen Talent, das ihr den Beinamen »La Gioia« einbrachte. Auch viele ihrer Aufnahmen sind längst ikonisch. Bahnbrechend etwa »The Vivaldi Album« von 1999, mit dem Bartoli den als Opernkomponisten bis dahin nahezu unbekannten Vivaldi schlagartig ins helle Rampenlicht rückte – und damit bis heute Generationen junger Sängerinnen beeinflusst, darunter etwa Julia Lezhneva, die das Album einmal als eine der prägendsten Erfahrungen auf dem Weg zu ihrer eigenen Sängerkarriere bezeichnete. Seit diesem Vivaldi Paukenschlag folgten in schöner Regelmäßigkeit weitere thematisch stringent gefasste Projekte der Musikforscherin Bartoli, unter anderem zu den italienischen Werken von Gluck oder denen der Neapolitanischen Schule. Überraschend war aber nicht nur der Inhalt dieser Aufnahmen, sondern auch das Marketing drum herum, mit dem die Vermarktung klassischer Musik in neue Dimensionen vorstieß. Mal räkelte sich die Sängerin auf dem Cover wie einst Anita Ekberg im Fontana di Trevi (»Opera prohibita«), mal schockierte sie mit Glatze (»Mission«); für ihr aktuelles Farinelli Album ließ sie sich – ein bisschen wie Conchita Wurst – mit Bart ablichten; und für ihre Hommage an die historische Kollegin Maria Malibran tourte Bartoli monatelange mit einem Bus durch Europa, der zu einem mobilen Museum für diese erste Diva der Operngeschichte ausgebaut war.

Cecilia Bartoli im Gespräch über das Faszinosum Farinelli, Mozarts musikalische Menschlichkeit und den Spaßfaktor von virtuoser Zirkus-Artisterie

Was ist Ihr Antrieb für diese Leidenschaft? Als Künstlerin haben mich immer schon meine Neugier de und Begeisterung gesteuert. So sind auch meine CD Projekte entstanden: Wenn mich ein Komponist oder eine Sängerin faszinierten, wollte ich mehr über sie und ihr Umfeld erfahren: Wie haben sie gelebt? Wie war ihr Repertoire beschaffen? Was kann ich aus ihrer Handschrift lesen? Aus diesen Projekten erwuchs eigentlich auch die Intendanz bei den Salzburger Pfingstfestspielen. Hier konnte ich noch größere Zusammenhänge zeigen, über mein eigenes Repertoire hinausgehen, andere Epochen und Sparten abbilden.

In den letzten Jahren hat sich die Sängerin zusätzlich noch einen Namen als versierte und erfolgreiche Musik managerin gemacht. Bei den Salzburger Pfingstfestspielen zum Beispiel, deren Intendantin sie seit 2012 ist. Ähn lich wie auf ihren Konzeptalben setzt sie auch hier kluge dramaturgische Schwerpunkte. Anscheinend ist das singende Energiebündel damit aber immer noch nicht ausgelastet, denn im Januar 2023 tritt sie in Monte Carlo eine neue Stelle an, als Intendantin des dortigen Opern hauses.

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Wie wichtig sind Aufnahmen heute noch für Sänger? Die Plattenindustrie hat sich total verändert. Dabei sind Aufnahmen für die Verbreitung eines neuen Repertoires essenziell. Für uns Musiker sind sie als Schule so wichtig, weil man lernt, sich selber genau zuzuhören und sich bis zur Perfektion zu verbessern. Für junge Leute gibt Spielfreudig, vielseitig, klug: Bartoli in Händels »Ariodante« und Rossinis »La Cenerentola« (Salzburger Pfingstfestspiele 2014, 2017)

Nur wenn wir uns aufeinander abstimmen, wenn wir als Team gemeinsam Höchstleistungen erbringen, ergibt sich das künstlerische Ereignis, welches das Publikum mitreißt und berührt. Anders hat unsere Arbeit keinen Sinn.

Die Werke von Gioachino Rossini begleiten Sie seit Ihrem Debüt 1987 eigentlich ständig. Werden Sie seiner Musik nie überdrüssig? Rossini ist einer meiner treuesten Freunde und eine Art väterlicher Mentor! Seine Welt ist so vielfältig, von der burschikosen Farce über die elegante Komödie zur er schütternden Tragödie. Seine Rollen sind unglaublich breit angelegt: Rosina oder Cenerentola zum Beispiel sind jung und unerfahren und lassen sich von den Männern leiten. Desdemona vertraut zu viel, ist unterwürfig, leistet aber auch selbstbewusst Widerstand. Fiorilla in »Il turco in Italia« ist verheiratet und tanzt ihrem Gatten auf der Nase herum, während Isabella in »L’italiana in Algeri« sich mehrere Liebhaber hält und die halbe Stadt herumkom mandiert. Mit einer gewissen Lebenserfahrung, und wenn man sich bereits stimmlich wie musikalisch einige Zeit entwickelt hat, gelingen einem solche Rollen besser. Ist da nicht auch viel virtuose Zirkus-Artisterie? Klar: Rossini macht musikalisch auch deshalb Spaß, weil seine Musik virtuos ist. Man muss immer versuchen, dieses zirzensische Element perfekt darzubieten, es zugleich aber auch mit immer wieder neuem Sinn, anderen Farben und unterschiedlichem Ausdruck zu erfüllen, damit die Musik eben nicht in reiner Mechanik erstarrt. Technisch gesehen ist Rossinis Musik – genau wie die seines Lieblingskomponisten Mozart – Balsam für die Stimme: Wenn man genau arbeitet, pflegt man sie mit dieser Art von Musik. Mit Ihrem Einsatz für Rossini und ebenso mit Ihren Konzeptalben zu Vivaldi, Gluck oder der sogenannten Neapolitanischen Schule wurden Sie zum Türöffner nicht nur für diese Komponisten, sondern auch für viele junge Sängerinnen und Sänger, die Ihnen nacheiferten, vor allem Countertenöre. War Ihnen das bewusst? Zu Beginn meiner Karriere hatte ich das Riesenglück, dass ich etwa mit einem Dirigenten wie Claudio Abbado arbeiten und einen neuen Zugang zu Rossini entdecken durfte. Oder dass ich von Harnoncourt in die Welt Haydns eingeführt wurde. Solche Persönlichkeiten haben eine bedeutende Erneuerung des Opernrepertoires ausgelöst, und ich war als junge Sängerin Teil davon. Später wurde ich aufgrund meiner eigenen Entdeckungs reisen selber zur »Avantgarde«, deren Projekte ganz neue Repertoirebereiche im Barock und in der Klassik zugänglich machten. Es freut mich tatsächlich außerordent lich und macht mich auch ein bisschen stolz, wenn ich sehe, dass heute sogar renommierte Opernhäuser, welche sich traditionell auf die großen Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fokussierten, Vivaldi Opern, italienische Opern von Gluck oder wenig bekannte Opern von Rossini ganz regulär im Spielplan präsentieren. Damit einher geht tatsächlich das Heranwachsen einer hervorragend ausgebildeten Generation von jungen Sängerinnen und Sängern, die einen neuen Stimmtypus und eine andere Art des Singens verkörpern, welche es überhaupt erst möglich macht, diese Werke angemessen zu produzieren.

Ich wurde doch als Bühnentier geboren! Daher möchte ich weiterhin singen, in Produktionen in Salzburg und Monte Carlo, gelegentlich auch mit meinem Orchester Les Musiciens du Prince Monaco auf Tournee in geliebten Städten wie Hamburg. Meine administrativen Positionen sehe ich dabei als Erweiterung meiner musikalischen Tätigkeit, als Möglichkeit, breiter und umfassender zu denken. Wenn ich selber auf der Bühne stehe, hat die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen – den Orchestermusikern, Dirigenten, Regisseuren, den Kos tüm und Bühnenbildnern – so oder so absolute Priorität.

Bereiten Sie mit den Leitungspositionen heimlich Ihren Rückzug von der Bühne vor? Muss das Publikum etwa befürchten, Sie bald nicht mehr als Sängerin erleben zu können?

Natürlich denke ich auch hier in thematischen Linien, die sich aber im Gegensatz zu Salzburg langsamer und über einen viel längeren Zeitraum entwickeln werden.

Werden Sie diese erfolgreiche Konzeptarbeit auch in Monte-Carlo anwenden? Was kann das Publikum von der Opern-Intendantin Cecilia Bartoli erwarten? Momentan arbeite ich noch an meiner ersten Spielzeit, die Mitte September vorgestellt wird. In einem Opernhaus, welches über eine ganze Saison plant, strukturiert man klarerweise anders als bei einem konzentrierten Festival.

LA CLEMENZA DI TITO Sa, 3. 12. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal les musiciens du Prince – monaco, Gianluca Capuano John osborn (tenor), Cecilia Bartoli (mezzosopran), fatma said (sopran), mélissa Petit (sopran), lea Desandre (mezzosopran), Peter Kálmán (Bass) W. A. mozart: la clemenza di tito Konzertante Aufführung in italienischer sprache FARINELLI Di, 6. 6. 2023 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal les musiciens du Prince – monaco, Gianluca Capuano Cecilia Bartoli (mezzosopran) »farinelli and His time«

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es kaum mehr Chancen für ein ernsthaft produziertes Studioalbum. Daher habe ich ein Label gegründet, »Mentored by Bartoli«, wo ich tollen Kollegen und Kolleginnen wie Javier Camarena oder Varduhi Abrahamyan zu einem Debütalbum verhelfe. Wie viele andere verfolgen ja auch diese beiden eine weltweite, glänzende Bühnenkarriere, verfügen aber noch nicht über ein international sichtbares Solo Album. Dabei bin ich dann gerne Ge burtshelfer.

Das Programm Ihres aktuellen Konzeptalbums, das dem Phänomen Farinelli gewidmet ist, bringen Sie nun auch auf die Bühne der Elbphilharmonie. Warum fasziniert uns dieser berühmteste aller Kastraten bis heute so sehr? Farinelli war tatsächlich einer der größten Sänger seiner Zeit und vor allem ein herausragender Künstler. Seine Stimme können wir zwar nicht mehr hören, aber wir können aus den Noten sehr viel über sein Wesen erfahren: Wie lang sein Atem war, wie virtuos seine Koloraturen, wie riesig sein Stimmumfang, wie unterschiedlich seine Rollen, wie intensiv und differenziert sein künstlerischer Ausdruck. Neben der Musik, die für ihn geschrieben wurde, fasziniert mich der Mensch Carlo Broschi. Sein Leben verlief ja anders als das der meisten Kastraten, er lebte in Italien, England und Spanien, wo er allerhöchste Würden erlangte. Er muss sehr klug gewesen sein und gleichzeitig menschlich und bescheiden. Auch mit Mozarts letzter Oper »La clemenza di Tito« werden Sie an der Elbphilharmonie gastieren. Welche Rolle spielt er in Ihrem Leben als Sängerin? Auch Mozarts Musik gehört für mich zum Allergrößten überhaupt! Jedes Mal entdeckt man etwas Neues, jedes Mal wird man von ihr aufs Tiefste berührt. Text und Inhalt sind fantastisch und decken sich so genau mit der Musik – ein Gesamtkunstwerk also. Für die Stimme ist Mozarts Musik – ähnlich wie die von Rossini – gesund: Sie fordert Genauigkeit und Disziplin. Und sie erleichtert einem das Herz und versetzt in gute Laune – selbst wenn sie traurig ist. Mozart wirkt kathartisch wie kaum ein anderer. Zu Mozart kehrt man zwangsläufig immer wieder zurück, für die Kehle wie für die Seele. Unter den späten Opern Mozarts wird »La clemenza« am wenigsten gespielt. Haben Sie eine Erklärung dafür? Ich denke, es liegt am Sujet, nicht an der Musik. Im Kontext der Da Ponte Trilogie (»Figaro«, »Don Giovanni«, »Così fan tutte«, Anm.) und der »Zauberflöte«, die alle ganz anderen, neuen theaterästhetischen und sozialpolitischen Regeln unterliegen, steht »La clemenza« in der Tradition der barocken Opera seria und erscheint wie ein Relikt aus alter Zeit. Dabei ist doch genau die Tatsache spannend, dass die Tonsprache der »Clemenza« dieselbe ist wie zum Beispiel in »Don Giovanni«. Und dass die Figuren genauso echt, aufrichtig, herzenswarm und menschlich sind wie etwa eine Fiordiligi. Nur formal und stilistisch – mit einem dem hohen Stil Metastasios verpflichteten Text – unter scheidet sich die »Clemenza« von Mozarts anderen Opern aus jener Zeit, während die Figuren an sich mit den stilisierten Charakteren aus der Barockzeit keine Gemein samkeiten mehr haben.

In Hamburg erleben wir Sie in der Hosenrolle des Sesto … … und der ist ein schönes Beispiel, wie Mozart einen Charakter mit tief empfundener Musik zu einem wahren, vielschichtigen Menschen mit Stärken und Schwächen macht. Seine Arien sind wunderbar, ich habe sie seit Jahrzehnten in meinem Repertoire. Das wahre Geschenk in einer Mozart Oper sind aber die Ensembles, und daher ist es schön, dass wir in Hamburg die ganze Oper aufführen.

Das tun Sie gemeinsam mit Les Musiciens du PrinceMonaco, ein Ensemble, dessen Gründung Sie mit initiiert haben. Warum gründen so viele Sänger der Alten Musik ihre »eigenen« Ensembles, so wie Philippe Jaroussky oder Nathalie Stutzmann? Ermutigt zu diesem Schritt wurde ich 2016 von Prinz Albert II. und seiner Schwester Caroline, der Prinzessin von Hannover. Dabei handelt es sich bei den Musiciens du Prince Monaco um ein regelrechtes »Hof« Orchester, das auf historischen Instrumenten spielt. Mit dem Hoforchester setzen wir eine Tradition aus dem 18. und 19. Jahrhundert fort, die einst in ganz Europa verbreitet war. Aus repräsentativen Gründen hielten sich Fürsten und Könige hervorragende Orchester. Den Musikern selber dienten diese Ensembles als wichtiger Experimen tierraum, in dem sie neue Projekte ausprobieren konnten, während höchste künstlerische Ansprüche erfüllt wer den mussten. In dieser Tradition versammelt Les Musiciens du Prince Monaco unter der Leitung von Gianluca Capuano die besten Musikerinnen und Musiker, mit denen ich im Lauf der Jahre zusammengearbeitet habe. Durch den so gewachsenen Teamgeist können wir Ansprüche realisieren, die mit einer »normalen« Gruppe unter »normalen« Umständen nicht möglich wären.

VON VOLKER HAGEDORN COLLAGE LARS HAMMER

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MEHR ALS BLO ẞ »VORLÄUFER« Bach wusste, was er dieser Dynastie von Musikern verdankte, die ein Jahrhundert vor ihm in Thüringen ihren Anfang genommen hatte. Und er wusste auch, was wir erst in den vergangenen zwanzig Jahren begriffen haben:

m 1. Dezember 2001 landet in Frankfurt am Main eine Frachtmaschine der Lufthansa, die in Kiew gestartet ist. 40 Holzkisten hat sie an Bord, in jeder davon acht Kartons, in jedem Karton ein Schatz. Gut 200.000 historische Notenseiten werden aus der Ukraine nach Deutschland gebracht, darunter rund 200 brüchige, vergilbte Blätter mit zwanzig Stücken für Sänger und Instrumente, deren Rätsel die Forscher beschäftigen wie kaum eine andere Sammlung: Das legendäre »Altbachische Archiv« birgt wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung der berühmtesten Musiker familie aller Zeiten. Die besten Werke seiner Vorfahren bewahrte Johann Sebastian Bach in dieser Handbibliothek aus Manuskripten auf, die sein Sohn Carl Philipp Emanuel übernahm und pflegte. So, wie man sie später auch in der Ukraine pflegte. In Kiew war die Sammlung gewissermaßen vor den Deutschen und vor Stalin in Sicherheit gebracht worden. Zuallererst freilich, im August 1943, wurde der Bestand der Berliner Singakademie in ein Schloss in Schlesien evakuiert, außerhalb der Reichweite britischer Bomber. Dort fanden ihn Anfang Mai 1945 Offiziere der 2. Ukrainischen Front der Roten Armee, und die, um es kurz zu sagen, lotsten die Noten diskret an Moskau vorbei, wohin sonst alle Beutegüter überstellt wurden. In Kiew wurden sie dem Konservatorium übergeben, und dort begann die Musikbibliothekarin Liubow Fainshtein mit einer vorbildlichen Inventarisierung. Fachleute bestaunten später den guten Zustand der Papiere. Wie die Kunde von diesem Schatz im Lauf der Jahrzehnte die Musikwissen schaftler erreichte, wie in einem historisch einmaligen Zeitfenster die Rückreise des »ABA « nach Berlin möglich wurde – das ist ein Thriller für sich. Auch wenn die Blätter bereits in Form alter Schwarz weißfotos zugänglich und einige Werke daraus schon 1935 gedruckt worden waren, konnte man erst jetzt, direkt vorm Original, förmlich dabei zusehen, wie der späte JSB mit zittriger Schrift in einer der alten Partituren Bläser stimmen für eine Neuaufführung in Leipzig ergänzte.

Oder das Titelblatt bewundern, das er Jahre zuvor für ein Werk desselben Vorfahren neu anfertigte, jenes Johann Christoph Bach, der in dem vom Thomaskantor verfassten Stammbaum »Ursprung der musicalisch bachischen Familie« die Nummer 13 trug, mit dem Hinweis »War ein profonder Componist« (zu sehen auf dem mittleren der kleinen Porträts links).

Lange vor Johann Sebastian begann der musikalische Aufbruch der Bachs. Und lange nach ihm führte eine Odyssee ihre Manuskripte bis in die Ukraine.

WEGE EINER DYNASTIE

A

Zu den Überlebenden zählte sein deutlich älterer Bruder Johann Christoph (Nr. 22, 1671 geboren), bei dem er als Vollwaise in Ohrdruf in die musikalische Lehre ging. Die hatte freilich längst begonnen, im Haushalt des Stadtpfeifers Ambrosius und in der Schule mit Musikunterricht von einem Stellenwert, neben dem der Schulalltag im frühen 21. Jahrhundert barbarisch anmutet. Notenlesen lernten die Kinder von Anfang an, gesungen wurde mehrstimmig; am Ohrdrufer Lyzeum galten fünf von dreißig Unterrichtsstunden (ganzen Stunden!) der Musik.Mitder Orgel hatte sich Sebastian schon bei Johann Christoph (13) in Eisenach vertraut machen können, nun lernte er sie bei seinem gleichnamigen Bruder (22) besser kennen, der seinerseits Lehrjahre bei Johann Pachelbel in Erfurt absolviert hatte und höchst interessiert an aller Musik seiner Zeit war. Er sammelte Repertoire von internationalem Zuschnitt. Druckfrische Triosonaten des Venezianers Tommaso Albinoni waren ebenso dabei wie Dietrich Buxtehudes Choralfantasie für Orgel »Nun freut euch, lieben Christen g’mein«. Von der Tabulaturnotation fertigte der dreizehnjährige JSB eine Kopie an, die exzeptionelle Kompetenz verrät. Es war eine Sensation, als diese Blätter 2006 gefunden wurden. Sie hatten den Brand der Weimarer Anna Amalia Bibliothek überstanden, weil sie, falsch einsortiert, im Keller lagen. Als Fünfzehnjährigen finden wir Bach dann schon an der Michaelisschule in Lüneburg. Er erfüllt die Bedingun gen für Stipendiaten, die »sonst nichts zu leben, aber gute Stimmen zum Diskant« haben müssen, und gerät, so der Biograf Christoph Wolff, »in eine akademische und musikalische Umgebung von höchstem Ansehen«. Die Chorbibliothek gilt neben der an der Leipziger Thomas kirche als beste in Deutschland, Heinrich Schütz ist mit 30 Werken vertreten, Claudio Monteverdi und weitere Italiener des frühen 17. Jahrhunderts fehlen nicht. In Lüneburg arbeitet auch Georg Böhm, Organist und Komponist, der virtuoseste Tastenspieler, den Bach bis dahin erlebte. Er erschließt dem Hochbegabten neue Welten und die Bekanntschaft mit Johann Adam Reinken, dem legendären Organisten in Hamburg. Immer wieder reist Bach dorthin, und bei Reinken trifft er wohl auch erstmals auf den bewunderten Buxtehude. Es folgen noch einige Ortswechsel. Arnstadt, Mühlhausen, Weimar, Köthen, Leipzig … und selbst dort noch mit 45 Jahren ein Traum vom Aufbruch, ins ferne Danzig! NICHT ZU SESSHAFT, NICHT ZU GEMÜTLICH

Auch Sebastians Großvatergeneration begab sich auf viele lange, teils rätselhafte Wege. Johann, 1604 geboren, verschlägt es nach seiner Suhler Lehrzeit als Stadtpfeifer offenbar in ein Söldnerheer, ehe er zum Gründer vater der Erfurter »Stadtbache« wird und die ergreifende Motette »Unser Leben ist ein Schatten« schreibt. Der 1613 geborene Christoph, später Vater von Ambrosius und Johann Christoph (noch einer, aber diesmal Nr. 12), gerät bis ins sächsische Prettin, vermutlich an den Hof einer dänischen Prinzessin und Intellektuellen. Heinrich, der Jüngste, 1615 in Wechmar zur Welt gekommen, wandert als Knabe meilenweit, um Orgeln zu hören – und das zu einer Zeit, als Thüringen längst Durchmarschgebiet zahlreicher Kriegstruppen geworden ist.

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Leute wie dieser Johann Christoph und sein jüngerer Bruder Johann Michael waren nicht irgendwelche »Vorläufer«. Sie waren Komponisten ersten Ranges. Er hatte sie selbst gekannt, ihre Musik gehört und gelesen; sein Vater Ambrosius (auf dem linken kleinen Porträt) hatte als Geiger vieles davon selbst gespielt.

Als älterer Mann, Organist an der Oberkirche in Arnstadt, reist Heinrich seinen begabten ältesten Söhnen, Im dichten Klang jener fernen Zeit erreichen uns unmittelbar die ErfahrungenexistenziellenderBachs aus dem 17. Jahrhundert.

Die tiefe Expressivität Johann Christophs, die leuchtende Balance Johann Michaels tragen in sich auch existenzielle Erfahrungen einer früheren Generation, und ohne diese Musik wäre Bach ein anderer geworden. Im dichten Klang jener fernen Zeit erreichen uns unmittelbar die Leidenserfahrungen und die Glaubensgewissheit einer Familie, der im 17. Jahrhundert nichts erspart blieb –von einem dreißig Jahre währenden, immer brutaler werdenden Krieg bis hin zu den Pestepidemien, deren letzter 1682/83 allein elf Mitglieder der Erfurter Bachfamilien zum Opfer fielen. Der Tod war auch durch die Kinder sterblichkeit stets präsent. Den Eltern, die Johann Sebastian als Neunjähriger kurz nacheinander verlor, waren vier von acht Kindern gestorben.

Das Reisen und Aufbrechen liegt diesem Clan durchaus im Blut, bis hin zu den ausgewanderten Andislebenern, die sich 1887 in Minnesota als stolze »Bach Band« fotogra fieren lassen: der Farmer Reinhold Bach am Kontrabass mit sieben Söhnen, die Trompete, Klarinette, Flöte, Geige und Trommel spielen.

Es beginnt ja schon um 1590 damit, dass Veit Bach, ein Bäckermeister aus dem damals ungarischen, heute slowakischen Pressburg, hundert Meilen weit nach Norden reist, um sich im thüringischen Wechmar anzusiedeln und dort an Wurzeln der Familie anzuknüpfen. Die Musiker der Bachfamilien sind viel unterwegs – wobei Strecken, die für uns ein Hüpfer mit Auto oder Bahn sind, im 17. Jahrhundert mehr Zeit in Anspruch nehmen. Es sind nicht fünfzig Autominuten von Wechmar nach Suhl, es ist schnellstenfalls ein fünfstündiger Ritt. Es ist eine grundlegend andere Wahrnehmung von Zeit und Raum, aus der uns die Musik dieser Epoche erreicht, nicht nur eine grundlegend andere gesellschaftliche Situation. Wir sollten uns all diese Bachs nicht zu sesshaft und Thüringen nicht zu gemütlich vorstellen.

Johann Christoph (13) und Johann Michael, so oft nach, dass sein fürstlicher Arbeitgeber unwillig wird. Spätestens mit ihm beginnt die Selbstentdeckung einer Familie als Komponistenkollektiv über Generationen hinweg. Johann Christoph Bachs Motette »Lieber Herr Gott, wecke uns auf« von 1672 hat Heinrich so beeindruckt, dass er das Werk des Sohnes in Schönschrift kopierte. Es ist eben jene Partitur, die JSB in Leipzig mit Bläsern verstärkte und zum Staunen der Zeitgenossen aufführte – so, wie es auch dessen Sohn Carl Philipp Emanuel in Hamburg tat, lange bevor diese Noten mit vielen anderen ihre Odyssee in die Ukraine antraten.

m MEHR ZUM THEMA ALTE MUSIK FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE/MEDIATHEK

Interpreten einer Dynastie: Raphaël Pichons Ensemble Pygmalion

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VOLKER HAGEDORN ist Autor von »Bachs Welt. Die Familien geschichte eines Genies« (Rowohlt 2016). Zuletzt erschien von ihm »Flammen. Eine europäische Musikerzählung 1900–1918« (Rowohlt 2022). Er schreibt regelmäßig für das »Elbphilharmonie Magazin«.

WEGE ZU BACH Do, 8. 12. 2022, Fr, 10. 2. 2023, Mo, 10. 4. 2023 Elbphilharmonie und Laeiszhalle ensemble Pygmalion, raphaël Pichon Dreiteilige Konzertreihe mit Werken von Johann Christoph, Johann michael, Johann und Johann sebastian Bach sowie Johann Pachelbel, Claudio monteverdi, Heinrich schütz, Dietrich Buxtehude u. a.

EIN BILD DURCH DIE ZEIT Wir müssen nur eine kleine Reise machen, um Generationen von Bachs an einem Ort versammelt zu finden. Natürlich die Fahrt zu einem der Konzerte, die die »Wege zu Bach« für uns nachzeichnen. Vielleicht aber auch einen Ausflug nach Erfurt, wo wir in den 350er Bus steigen. Er braucht 45 Minuten bis nach Arnstadt. Im Norden des Städtchens steigen wir aus und gehen vorbei an der Kirche am Markt, in der JSB mit 18 Jahren Organist wurde, hundert Schritte weiter Richtung Süden zur Oberkirche. In diesem gotischen Rechteckbau diente ein halbes Jahrhundert lang Heinrich Bach als Organist, ein ruhender Pol des Clans auch in unruhigen Zeiten. Als er hier am 12. Juli 1692 aufgebahrt wurde, konnte der Superintendent von einem »Freudentag« sprechen, denn Heinrich hatte mit 77 Jahren ein Alter erreicht wie zu jener Zeit nur einer von hundert Menschen. Zu dieser »sehr volckreichen Leichbestattung« dürften sechzig Bachs aus allen Himmels richtungen gekommen sein, sicher auch der siebenjährige Sebastian, der spätestens jetzt Musik von Heinrichs ältesten Söhnen erleben konnte. Nun ist es still in dieser Kirche, aber da ist noch etwas. Ein Bild. Es hing schon im Altarraum, als Heinrich

1641 sein Amt antrat, und es hängt dort noch immer, so, als seien die Farben gerade erst getrocknet. Zu Füßen des Gekreuzigten sehen wir dessen Mutter, hingesunken in den Schoß einer Frau. Maria schläft unter dem Kreuz ihres Sohnes, entspannt sind ihre Glieder, vielleicht schon in der Gewissheit, dass nun den Menschen der Himmel aufgeschlossen ist. Fließende Linien verbinden die Körper, deren Wärme man spürt; alle Gesichter sind von einer Ausdrucksstärke, die keinen unberührt lässt (zu sehen auf der Collage rechts oben). Seit 1594 hat das Bild in der Oberkirche seinen Platz, und Generationen von Bachs nahmen seinen Anblick in sich auf. Vielleicht wussten sie nicht, dass es ein Schüler Michelangelos war, Frans Floris, der es um 1550 gemalt hatte. Für uns ist es eine einzigartige Möglichkeit, zu sehen, was sie sahen. Die Heilsgewissheit, der Trost, das Leben, die Schönheit darin können uns, wie in ihrer Musik, sehr nahe kommen.

Lasst sie drüber reden: Die Wiener Medienkünstler Maschek synchronisieren live bewegte Bilder neu: Nachrichten, Shows – und jetzt auch einen Stummfilm. VON CHRISTOPHER WURMDOBLER DA RENNT DER SCHMÄH

Es geht darum, am Status der Mächtigen zu rütteln, mit Fallhöhen zu spielen, Erhabenes der Lächerlichkeit preiszugeben.

Die szenischen Mittel für den großen Spaß sind bescheiden: Üblicherweise braucht es nur eine Video wand fürs Publikum sowie zwei Stühle, Mikrofone und Monitore für die beiden Herren mittlerweile mittleren Alters. Dass das Ganze dennoch ein Erlebnis ist, hat wohl auch damit zu tun, dass zwar vieles vereinbart und geprobt ist, sich aber doch jeder Abend anders gestaltet. Feine Klinge, depperter Witz: Bei Maschek rennt der Schmäh, wie man in Wien sagt; eine Formulierung, die sich nur schwer ins Deutsche übertragen lässt – irgendwo zwischen extrem charmant und komplett unverschämt. Dabei ist es fürs Publikum ratsam, nicht nur das im Blick zu haben, was auf der Leinwand passiert, sondern auch die Mascheks selbst. Die reden nämlich nicht nur, sie spielen auch –wohl vor allem, um den Figuren ihres Repertoires einen persönlichen Charakter zu verpassen. Jedenfalls ist das alles oft ganz großes Theater. Maschek redet drüber« hieß das Konzept anfangs. Seinerzeit, in den sehr hippen, projektionsfreudigen SpätNeunzigern, als Vintage chic war und Trödler Hochkonjunktur hatten, haben die damals noch drei Maschek Herren auf dem Flohmarkt irgendwelche alten Dias und Super 8 Filme gekauft, die dann unter hohem NerdFaktor in privatem Rahmen gesichtet wurden. Man dachte sich neue Stories zu den alten Bildern aus, erfundene Familiengeschichten zu vergilbten Privataufnahmen fremder Menschen. So begann das Drüberreden als Improvisationssport daheim am Küchentisch. Bis heute machen Maschek intelligente Medienkunst, politisch feines bis einfach nur komisches Kabarett mit Fernsehbildern, Theater mit verstellten Stimmen, Brachial Blödelei mit Tief gang. Wer je das Vergnügen hatte, mit Hörmanseder und Stachel durch Wien zu spazieren, der weiß: Der Witz macht bei den beiden selten Pause. »Des schaff i noch, des schaff i noch«, gibt Stachel an der Ampel wartend sein Voiceover einer Frau, die bei Rot über die Straße hetzt. Hörmanseder, der auch für das Visuelle der lustigen Mediengruppe zuständig ist, schießt derweil Handyfotos ›

E in Tusch. Wenn Peter Hörmanseder und Robert Stachel keine Schlusspointe einfällt, spielt die Kapelle einfach ein charakteristisches Taddah! Publikum, Regie und die Moderatoren der Late Night Show »Willkommen Österreich« wissen dann Bescheid, dass der Auftritt zu Ende ist. Hörmanseder und Stachel werden als »die Kollegen von Maschek« abmode riert. Seit Jahren bestreiten die beiden eine Rubrik der beliebten Dienstagabend Show im ORF : Sie synchronisieren TV Bilder – in der Regel Material aus Nachrichten oder Unterhaltung – live neu und erzählen dabei im Voiceover ihre aberwitzigen Geschichten. Dass es bei Maschek keine Schlusspointe gibt, kommt übrigens recht häufig vor. Überhaupt gibt es nur selten Pointen; zumindest sind die Nummern nicht auf Schenkelklopfer hin geschrieben oder, besser gesagt, improvisiert. Das Publikum nimmt die satirisch klugen Neuvertonungen dennoch verlässlich johlend auf. Die Leute lachen sich schief, wenn Angela Merkel auf dem EU Parkett andere Staatsgrößen mütterlich zurechtweist, ein US Präsident steirischen Dialekt spricht oder der Papst erst quer durch die Welt jettet, um dann ausgerechnet in Österreich eine Mehrzweckhalle zu eröffnen, begleitet von einem Kinderchor: »Segne für uns alle / diese Mehrzweckhalle.«Die»Maschekseite«, von der das Wiener Duo seinen Namen hat, ist ein ur wienerischer, leider nicht mehr sehr geläufiger Begriff für die Rückseite, für den Hinter ausgang und, ja, auch für den Allerwertesten. Der Name ist also Programm: Immer geht es darum, am Status der Mächtigen zu rütteln, scheinbar Unwichtiges in den Vordergrund zu rücken, anarchistisch mit Fallhöhen zu spielen oder Erhabenes der Lächerlichkeit preiszugeben. All das irgendwo zwischen großer Erzählkunst und Bubenhumor – womit weniger Gags auf Pennäler Niveau gemeint sind als vielmehr die kindlich kindische Spielfreude und Energie, die sich die Mascheks seit ihrer Gründung 1998 erhalten haben.

skurriler Situationen. In Österreich gibt es inzwischen die Redensart, etwas sei »fast wie bei Maschek«, etwa wenn es in der Innenpolitik richtig absurd zu werden droht (was in dem kleinen Land schnell der Fall ist). Als der ORF einmal bei der Live Übertragung einer der zahlreichen Regierungs Angelobungen die Untertitel einer Telenovela eingeblendet hatte, die überraschend gut zu den Bildern passten, dachten viele an einen Maschek Scherz. Es war ein technischer Fehler, der aber sehr gut den typischen Maschek Humor beschreibt, mit Mitteln des Absurden erhabene Momente zu torpedieren. Obwohl Maschek mit ihrer Entdeckung des Drüberredens nicht mehr die einzigen sind, bleiben sie dabei unerreicht. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass sie nicht einfach Promi Stimmen imitieren, sondern alten Bekann ten aus Funk und Fernsehen neue Stimmen und Dialekte geben – was dann oft schon der ganze Schmäh ist. Sportreporter brüllen bei Maschek grundsätzlich, Moderatorinnen klingen in der Regel sehr sonor, und dieser Wiener Rechtspopulist, der mit dem Ibiza Skandal, stammelt eigentlich nur unverständliches Zeug. Wer die österreichi sche Politik im Fernsehen vorrangig via Maschek verfolgt, wundert sich womöglich, wenn der Bundeskanzler oder der Präsident dann einmal in echt zu hören sind.

B ei aller Lust, Neues auszuprobieren, sind Maschek immer ihrem Stil und ihrem Gewissen treu geblieben. Politisch hellwach und unkäuflich – sie zeigten schon immer Haltung in allem, was sie auf der Bühne und im Fernsehen tun. Abgesehen davon, dass Hörmanseder und Stachel schneller, technisch wie inhaltlich versierter und überhaupt routinierter geworden sind, hat sich womöglich in all den Maschek Jahren nur verändert, dass das Duo trotz aller Deppertness auch woke geworden ist. Manche Gags von früher gehen oder funktionieren im heutigen Zeit geist einfach gar nicht mehr. Dafür muss nun jeder Witz durch eine Art interner Correctness und Qualitätskontrolle –was dem Humor zum Glück nicht abträglich ist.

Vielleicht ist das ja der eigentliche Maschek Schmäh: irre lustig, keine Pointe. Tusch.

Können auch mal schweigen: Robert Stachel (vorne) und Peter Hörmanseder mit der Musicbanda Franui FRÄULEIN ELSE Do, 11. 8. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal mmaschekusicbanda franui »fräulein else«: stummfilm nach Arthur schnitzler (regie: Paul Czinner, D 1929) mit live-synchronisation und neuer musik

Wenn etwas richtig absurd zu werden droht, sagt man in Österreich inzwischen, das sei ja »fast wie bei Maschek«.

Bis heute treten Maschek regelmäßig in ihrem Stammhaus, dem kleinen Wiener Rabenhof Theater, auf; sie sind aber längst auch in großen Sälen und auf internationalen Bühnen zu Gast, wurden für ihr politisches Kasperltheater (»Puppenkiste«) ebenso gefeiert wie für ihr der ehemaligen deutschen Bundeskanzlerin gewidmetes Abschiedsprogramm (»Maschek macht Merkel«). Nach Hamburg kommen sie nun mit einem ganz neuen Projekt: Gemeinsam mit der Musicbanda Franui synchronisieren sie live einen Stummfilm, die Arthur Schnitzler Verfilmung »Fräulein Else« aus dem Jahr 1929.

Wenn es wirklich überhaupt nichts mehr zu lachen gibt, erlauben sich Maschek heute auch, einfach einmal ein paar Minuten lang zu schweigen. So wie in einer beeindruckenden Sequenz beim Filmvertonungs Abend »Fräulein Else«, der mitunter brüllkomisch ausfällt, bisweilen aber eben auch überraschend ernsthaft.

Glosse 55 zuhause.––Melittaüberall www.melitta-group.comGruppe.MelittaderUnternehmenseinesMarkeRegistrierte® woda, ist.GenussKaffee

Korea ist das beste Beispiel dafür: Rund um die Welt bekannt und erfolgreich ist seit einigen Jahren der K Pop.

Mit seinen knallbunten Musikclips, den gecasteten Girl Groups und Boy Bands ist er ein Abziehbild der auf dem

BIS RÜCKEN D

VON STEFAN FRANZEN

E in dumpfer Stoß in einen grünen Holzkasten. Schalmeien und Streichlauten vereinigen sich zu einer expressiven Melodie mit langen Liegetönen. Ein majestätischer Männergesang liegt darunter, die Töne werden gezogen, münden manchmal in ein kehliges Jodeln, abrupt enden die Phrasen. In mannshohen Gerüsten hängen gestimmte Steine und Glocken, die eine eigene perkussive Ebene einbringen. Und zu all dem bewegen sich auf einem weitläufigen Platz Dutzende von Tänzern synchron in gemessener, erhabener Choreo grafie. Das Ende signalisiert das Schrappen über den Rücken eines Schlaginstruments in Form eines weißen Tigers. Musik aus einer Fantasiewelt, aus einem surrealistischen Film? So tönt der Jongmyojeryeak, eine höfische Zeremonie, die ein koreanischer Herrscher im 15. Jahrhundert persönlich erschuf. Der koreanische Jongmyojeryeak ist ein uraltes Gesamtkunstwerk aus Gesang, Musik und Tanz. Hier steht, worauf man dabei achten sollte –und wie man ihn ausspricht.

ZUM

Gibt es für uns Europäer des frühen 21. Jahrhunderts überhaupt noch weiße Flecken auf der musikalischen Landkarte? Ist durch die Globalisierung nicht längst auch jede Klangkultur erschlossen und vertraut? Die Frage ist rhetorisch. Wir mögen Wirtschaftsbeziehungen in jede Ecke der Welt unterhalten, und doch bleiben viele außer europäische Musiktraditionen für westliche Ohren verschlossen wie Bücher mit sieben Siegeln. Es ist eben nicht mehr als ein schönes Märchen, das alte Märchen von der Musik als universeller Sprache, die man durch die ganze Welt verstehe, ganz gleich, welche Klänge da von woher auch immer auf wen auch immer einströmen.

Turbulenzen die traditionelle Musik, die unter dem Sammelbegriff Gugak gefasst wird, bis heute gepflegt wird und sogar eine neue Blüte erlebt, ist das Verdienst des 1951 gegründeten National Gugak Centers (NGC ) in Seoul. Es ist der staatliche Nachfolger der Musikakademie des kaiserlichen Hofes (Jangyakwon), die während der Joseon Dynastie vom 15. Jahrhundert an bestanden hatte. Seine Arbeit reicht von den unterschiedlichsten Schattierungen der Volksmusik über Tanztheater und Orchesterliteratur bis EN TIGERS

Am koreanischen Hof war die Musik zur Ahnenverehrung zunächst eng angelehnt an die des kaiserlichen Chinas; auch die Instrumente hierfür wurden aus dem Reich der Mitte importiert. Das änderte sich mit dem Beginn der Joseon Dynastie: Ihr zweiter Herrscher, Sejong der Große (1418–1450), war ein Erneuerer auf vielen Gebieten. Er führte das koreanische Alphabet ein, und er komponierte Lieder, die sich aus traditionellen Melodien Koreas ebenso speisten wie aus chinesischen Quellen. Aus dieser Synthese entstanden eine völlig neue Art von Musik und eine hochstehende sino koreanische Dichtung. Akjang heißen die Lieder dieses neuen Repertoires; in ihrer Lyrik (Akjang Gasa) lobpreisen sie die zivilen Tugenden und die militärische Führungsstärke vergange ner Herrscher. Elf Lieder sind für jede dieser beiden ›

ganzen Planeten vorherrschenden Pop Sprache mit ihren vom globalisierten R & B und Hip Hop dominierten Sounds. Die allermeisten K Pop Hits tönen wie die hiesigen Charts Lieblinge auch, nur eben mit koreani schen Texten. Doch wie sieht es mit der alten Musik Koreas aus, mit den Traditionen der verschiedenen Regionen oder der am Kaiserhof vor vielen Jahrhunderten entstandenen zeremoniellen Musik? Ein fremdartiges, rituell und symbolisch aufgeladenes Musiksystem offen bart sich da, an das wir uns mit unseren Hörgewohnheiten nur vorsichtig herantasten können. Wie viele Länder des Fernen Ostens hat sich die Republik Südkorea in den letzten Jahrzehnten mit rasen der Geschwindigkeit von einer traditionell geprägten Gesellschaft hin zu einer hypermodernen Industrienation entwickelt. Bevor Korea diesen Schritt vollzog, waren seit 1910 eine Kolonisierung durch Japan, die Besetzung durch die Siegermächte mit der bis heute ungelösten Teilung sowie ein äußerst brutaler dreijähriger Krieg über das Land

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hin zur traditionellen höfischen Musik. Dabei ist es dem NGC ein Anliegen, alle Genres zu erneuern und kreativ weiterzuentwickeln – und gleichzeitig die traditionelle Musik Koreas im Ausland bekannt zu machen.

Die sicherlich komplexeste Form im koreanischen Gugak Kosmos stellt die höfische Zeremonie Jongmyo jeryeak (sprich: Tschungmio tscherjak) dar; 2008 wurde sie von der Unesco auf die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Eine Be schreibung dieser Zeremonie, wie das eingangs geschah, kann ohne Hintergrundwissen eigentlich nur in Unverständnis, bestenfalls in Staunen enden. Bringen wir also ein wenig Licht ins Dunkel.

Dasshinweggegangen.trotzalldieserpolitischen

Der Ablauf des Jongmyojerye ist geprägt von einer stren gen Symbolik, die im Zeichen der ausgleichenden Kräfte Yin und Yang und der Balance der fünf Elemente steht. Das zeigt sich schon bei der Aufstellung der Sänger, Instrumentalisten und Tänzer. Jedes Stück beginnt mit dem Rhythmus der Holzbox Chuk, die auf der Ostseite aufgestellt ist, und endet mit dem Schnarren über das Tiger Instrument Eo im Westen. Nicht nur Sonnenauf und untergang werden damit symbolisiert, es ist das Umfassen der Schöpfung als Ganzes. Und dazwischen fächert sich ein reicher instrumentaler Kosmos auf.

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Diese uralte und unglaublich ausdifferenzierte Form der Ahnenverehrung hat ihren Weg in unsere Gegenwart gefunden. 1988, im Kontext der Olympischen Sommer spiele in Seoul, öffnete das Gugak Center die Darbietung des Jongmyojeryeak erstmals für die Öffentlichkeit. Heute wird er alljährlich am ersten Sonntag im Mai im Innenhof der Institution unter großem Interesse aufgeführt. Was einst den Kern einer höfischen Kunst ausmachte, erfüllt heute für die koreanische Gesellschaft die Funktion des Zusammenhalts und bietet die Möglichkeit zur Besinnung auf Herkunft und traditionelle Werte in der sich rasend veränderten Welt des 21. Jahrhunderts. Im Rahmen des 50. Jahrestags des Koreanisch Deutschen Kulturabkommens wird der Jongmyojeryeak nun auch jenseits der Grenzen Koreas gezeigt – eine sehr seltene Chance, in eine weit entfernte Kultur und ihre Vorstellungen einzutauchen.

Die Steine werden mit einem Hammer aus Horn geschla gen, und die Stimmungen der Steine bilden die Grundlage für die Skalen im Jongmyojeryeak. Ähnlich im Aufbau, aber mit sechzehn Glocken behängt, ist das Pyeon-jong.

JONGMYOJERYEAK Sa, 17. 9. 2022 | 20 Uhr Elbphilharmonie Großer Saal Hofmusikorchester des national Gugak Center seoul Auch europäische Hörer können in diesem Ritual Schönheit und meditative Kraft entdecken.

Die traditionelle koreanische Musik kennt etwa 60 verschiedene Instrumente; sechzehn davon kommen im höfischen Orchester während des Jongmyojeryeak zum Einsatz. Das älteste Instrument, das bereits auf Darstellungen mit dem Herrscher Sejong zu sehen ist, ist ein Lithofon namens Pyeon-gyeong, ein Perkussionsinstrument mit sechzehn gewinkelten Steinen, die in einem mit Tierköpfen verzierten Gestell aufgehängt sind.

Die Streichinstrumente haben verschiedene Funktionen: Während das Haegum, eine zweisaitige Streichfiedel, sich an der Melodie beteiligt, liefert das Ajaeng, eine große, gestrichene Wölbbrett Zither, das Bassfundament. Zwei weitere Zithern zählen zum Ensemble: Das zwölfsaitige Gayageum ist Koreas bekanntestes und repräsentatives Instrument, es wird mit der rechten Hand gezupft, während die Saiten mit der linken gedrückt werden. Das sechssaitige Geomungo hingegen wird mit einem Stock geschlagen. Dann die Blasinstrumente: Das Doppelrohr blatt Instrument Dangpiri ist mit seinem durchdringen den, näselnden Klang für die Melodie verantwortlich, und die Bambusflöte Daegeum unterlegt sie mit einer feineren Klangfarbe. Unter den vielen Schlaginstrumenten schließlich sei das Janggu erwähnt, eine Trommel in Sanduhr Form, die an beiden Seiten mit unterschiedlich dickem Leder bespannt ist, um verschiedene Tonhöhen beim Schlag mit dem Stock zu erzeugen. Bleibt noch die Choreografie, das dritte Element des Jongmyojeryeak: Als Tanz ist der Ilmu nach unserem Verständnis kaum zu bezeichnen. 64 Akteure bewegen sich in acht waagrechten und senkrechten Reihen und verlassen während der Bewegungen kaum ihre Position. Wie die Lieder ist auch dieser Bewegungsablauf in eine zivile (Munmu) und militärische (Mumu) Abteilung gegliedert: Während die Insignien beim Munmu eine Bambusflöte und ein Objekt aus Fasanenfedern sind, halten die Tänzer beim Mumu ein hölzernes Schwert und einen hölzernen Speer. Das Zusammenwirken von Gesang, Instrumental musik und Choreografie erzeugt einen würdevollen, erhabenen Eindruck, in dem auch europäische Hörer, wenn sie sich denn darauf einlassen, Schönheit und meditative Kraft entdecken können.

Kategorien vorgesehen, Botaepyeong und Jeongdaeeop genannt. Die Lieder werden aber nicht einfach konzertant vorgetragen, sie sind vielmehr eingebettet in ein Gesamt kunstwerk aus drei Elementen: Vokalmusik, Instrumental musik und Tanz – eben den Jongmyojeryeak. Er ist gleich sam der Soundtrack für den Jongmyojerye, eine Zeremonie, die jahrhundertelang fünf Mal jährlich am kaiserlichen Schrein (Jongmyo) abgehalten wurde, um die royalen Ahnen zu ehren. Seine Bedeutung erschöpft sich aber nicht im Höfischen: Mit dem Vollzug dieser Zeremonie sollte, ganz im Geiste von Konfuzius, jegliche Verbindung von älteren und verstorbenen mit jüngeren, lebenden Familienangehörigen gepflegt werden. Diese Beziehungen mussten intakt sein, damit der Staat auf einer gefestigten und gesunden Basis stand.

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Schon seit 20 Jahren lebt die ukrainische Pianistin Marina Wasiliewa in Hamburg. Seit Krieg herrscht, haben sie zahlreiche Hilferufe von alten Freunden und entfernten Bekannten aus der Heimat erreicht. Mit geflüchteten Musikern aus Kiew, Charkiw und Butscha gründete sie kurzerhand die Konzertbrigade Ukraine – ein professionelles Ensemble, das sich stilistisch frei zwischen ukrainischem Volkslied, Improvisation, Jazz und Funk bewegt. Mit dabei sind die Sängerin Tetiana Beliuga und ihre Tochter Arina. »In den ersten Wochen war mir überhaupt nicht nach Singen zumute«, erzählt Tetiana, die ihr Zuhause in Irpin verlassen musste. »Wir hatten Probleme mit den Dokumenten, mussten eine Bleibe finden. Heute bin ich unglaublich froh, mit so talentierten Musikern auftreten zu können. Ich möchte unsere Kultur der ganzen Welt zeigen.«

»Jetzt aber beschäftige ich mich wieder umso mehr mit dem Akkordeon. Ich liebe den Klang dieses Instruments, es erinnert mich an meine Kindheit. Die Unterstützung, die ich hier selbst in den dunkelsten Momenten bekomme, lässt mich hoffen, dass alles gut wird.«

Auch ihre achtjährige Tochter Arina singt oft in der Konzertbrigade mit; sogar eine gleichaltrige Freundin hat sie hier schon gefunden. »In der Ukraine bin ich oft mit anderen Kindern aufgetreten«, erinnert sie sich. »Das Singen tut gut, es beruhigt mich.«

FLUCHTTETIANAUNDARINABELIUGA:

»For The Air That We Breathe« hieß das Projekt, das Mitglieder des Ham burg Balletts gemeinsam mit geflüchteten Kollegen aus der Ukraine im April auf die Kampnagel Bühne brachten – unter ihnen Olena Karandieiewa, Solistin des Kiewer National balletts. »Der Tanz ist alles, was wir haben«, sagt die junge Tänzerin, die dem Publikum im Pas de deux mit dem Hamburger Florian Pohl den Atem raubte. »Auch wenn wir uns hier sicher fühlen, denken wir die ganze Zeit an alle, die in der Ukraine geblieben und in Gefahr sind.« Ein Gefühl, das auch die ukrainischen Mitglieder der Hamburger Kompanie teilen. Einige von ihnen haben sich Ende März dafür eingesetzt, Olena und drei weitere Solisten nach Hamburg zu holen. Zusätzlich zu ihrem Probenalltag verbrachten sie lange gemeinsame Abende im Ballettzentrum, kreierten neue Stücke. »Es geht um das, was in der Ukraine passiert«, sagt Olena. Das, was sich nicht in Worte fassen lässt, verarbeiten sie gemein sam in der Kunst, in Bewegungen und Berührungen.

MILENA DAHEIMERINNERUNGENWOIZECHOWSKA:AN »Manchmal überkommt mich das Gefühl, gar nicht weg zu sein. Die Proben räume hier erinnern mich an den Odessa«,res KonservatoriumsKeller unse­insagtMilena Woizechowska. Sie studierte in der Ukraine Orgel, Klavier und Akkordeon und wurde nach ihrer Flucht gemeinsam mit einigen anderen ukrainischen Kommilitonen an der Hambur ger Hochschule für Musik und Theater aufgenommen. »In den letzten Jahren gab es für mich nur Klavier und Orgel«, sagt sie.

MUSIKALISCHE STREITKRÄFTE

Auch viele Musikerinnen und Musiker sind aus der Ukraine geflohen. Wie geht es ihnen jetzt?

60 u m G e H ört

OLENA BERÜHRUNGENBEWEGUNGEN,KARANDIEIEWA:

UND

VON LAURA ETSPÜLER UND JULIKA VON WERDER

ZUFLUCHTDARINARURA:MUSIKFÜRDIEZUKUNFT

»Ich habe nie geahnt, wie mächtig und groß die Unterstützung durch Musik in meinem Leben sein könnte«, erzählt Darina Rura, die im Jugendsinfonieorchester der Ukraine Fagott spielte –bis dieses Ensemble wegen des Krieges nach Slowenien evakuiert wurde. Darina erwischte einen der letzten Züge, die aus Tschernobyl abfuhren, bevor russische Truppen den Bahnhof belagerten. In Laibach wurden die Jugendlichen herzlich empfangen: Gemeinsam mit dem Slowenischen Nationalen Jugendorchester initiierten sie das Projekt »Music for Future«. Die beiden Orchester proben zusammen, geben Konzerte in ganz Europa, spielen gemeinsam gegen die Traumata des Krieges an. »Mein ganzes Leben hat sich schlagartig verändert«, sagt Darina. »Ich weiß nicht, was als nächstes passieren wird. Im Moment bin ich einfach froh, hier zu sein, unter all diesen interessanten und kreativen Menschen. Aber es zerreißt mir das Herz, wenn ich in den Nachrichten von den Explosionen in der Ukraine erfahre, wo meine Familie und Freunde sind.«

OLGA FREUNDEGRESCHNAJA:INDERFREMDE

Bei der Konzertbrigade Ukraine steht regelmäßig auch Olga Greschnaja am Mikrofon. Wie eine Einheimische sei sie von ihren aufgenommenBandkolleginnenworden,erzählt die Opernsängerin. »Das sind nicht irgendwelche Leute für mich, das sind Freunde. Wir alle haben viel Leid durchgemacht. Die Musik, besonders die ukrainische, ist jetzt enorm wichtig für uns. Wir sind weit weg von der Heimat, aber im Herzen sind wir bei unserem Volk.« Olgas Eltern und ihr Sohn sind ebenfalls mit nach Hamburg gekommen. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht. Aber Aufgeben ist keine Option. Ich muss singen, ich muss arbeiten, um für meine Familie zu sorgen. Ich bin unendlich dankbar für die Hilfe, die wir bekommen. Und ich würde gern in der Oper singen – vielleicht wird mein Traum ja wahr!«

SLAWA AWRAMENKO: ARBEIT GEGEN TRAUER

»Ich bin froh, nach all der Ungewissheit wieder kreativ sein zu können«, erzählt die ukrainische Choreografin Slawa Awramenko, die in Hamburg untergekommen ist. Sie fand bald Kontakt zu lokalen Kulturschaffenden und wurde in ein Projekt der Kultur und Bildungsinitiative Tonali eingebunden. Mit jungen Tänzern aus Hamburg und der Ukraine studierte sie zuletzt Choreografien für eine Benefizaufführung ein. »Die Kinder sind gern zur Probe gekommen«, sagt Slawa, »und mir half die Arbeit gegen die Trauer.« Auch für den jungen Pianisten und Komponisten Serafim Iwanow war Tonali die erste Anlaufstelle in Hamburg. Mit dem Team hat er einen Film über seinen neuen Alltag in Deutschland gedreht; die Szenen begleitete er anschließend am Klavier. Serafim ist dankbar für diese Gelegenheit. »Hier habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden.« SONJA TSCHERNEI: AN DER KÜNSTLERISCHEN FRONT Auch die Fagottistin Sonja Tschernei spielt in dem slowenisch ukrainischen Projekt »Music for the Future«, das die nationalen Jugendorchester beider Länder nach Kriegsbeginn gemeinsam ins Leben gerufen haben. »Für mich ist dieses Projekt wie eine künstlerische Front: Wir jungen ukrainischen Musiker tun alles, damit die Welt uns und unser Land hört. Wir wollen den Menschen die Schönheit der ukrainischen Kultur nahebringen.« Wie ihre Kolleginnen lebt Sonja derzeit in Laibach. Doch die Tragödie in ihrer Heimat lässt sie nicht los. »Seit Krieg herrscht, musiziere ich ganz anders: Meine Seele ist voller Schmerz und Kummer.« In Sloweni en ist sie sicher, doch Sonja wünscht sich nichts mehr, als wieder in ihre Heimat zurückzukehren. »Ich will meine Familie und Freunde umarmen. Und ich will in einer freien und unab hängigen Ukraine Musik machen.«

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nicht einfach Zuflucht in Trance. Vielmehr verbindet er Schöpfer und Schöpfung –auch mit Hilfe der Musik. VON STEFAN WEIDNER FÜRMYSTIKALLE

Mevlevi-Derwische gelten zu Recht als das Inbild des Sufismus, auch wenn ihr Ritual eher untypisch ist. Sufismus

Die ist

Unter den vielen Facetten des Islams ist der Sufismus eine der geheimnisvollsten und mäch tigsten. Er fasziniert Menschen in aller Welt, auch solche, die sich gar nicht zum Islam beken nen, wie den Autor dieser Zeilen. Oft wird der Sufismus als islamische Mystik bezeichnet. Aber das greift zu kurz, zumal im Vergleich mit der christlichen Mystik. Im Christentum ist die Mystik ein marginales, vornehmlich von Einzelnen getragenes Phänomen geblieben. Der Sufismus dagegen spricht die Gläubigen in ihrer Breite an. Er ist seit dem Mittelalter in großen, transnationalen Schulrichtungen organisiert. Diese jeweils auf eine charismatische Gründergestalt zurückgehenden Schulen haben das Islamverständnis der Mehrheit der Muslime über weite Strecken der Geschichte hinweg geprägt und prägen es bis heute. Im Kult um die Heiligengräber, die wir, mit Ausnahme der arabischen Halbinsel, überall in der muslimi schen Hemisphäre finden, wird der Sufismus auch für Außenstehende begreifbar. Diese »Heiligen« waren zunächst lokal, bald auch übernational berühmte sufische Dichter, Prediger und Asketen, deren Gräber man besucht, um ihren Beistand zu erflehen. Oft wurden um diese Gräber herum Moscheen, religiöse Lehreinrichtungen und Stiftungen errichtet; viele von ihnen bestehen bis heute und sind eine Attraktion für Pilger und Touristen. Der regelmäßige, rituelle und zuweilen von magi schen Praktiken begleitete Besuch der Gräber und Schreine stellt so etwas wie die gleichsam katholisch volkstümliche Seite des Islams dar. Der Salafismus und andere puritanische Strömungen im Islam hingegen erinnern eher an einen strengen Protestantismus. Sie verbieten den Gräber kult und andere »abergläubische« Praktiken des Sufismus, verdammen sie als Vielgötterei und bekämpfen sie – zum Teil auch gewaltsam. Oft suchen Selbstmordattentäter die Schreine heim, besonders in Pakistan. Der Popularität des Sufismus hat das bis heute keinen Abbruch getan. Den Sufismus umstandslos mit Mystik gleichzusetzen, ist aber auch deswegen problematisch, weil es die irrationale, esoterische Seite über Gebühr betont. Die hochkulturelle, spekulative, theologische Seite gehört eben so zum Sufismus wie die volkstümliche mit ihrem Gräber kult. Diese scheinbar widersprüchlichen Ausprägungen sind durch Kunst, Poesie und Musik eng miteinander verklammert.

Das gilt natürlich nicht nur für die Architektur, sondern auch für die Poesie und erst recht für die Musik. Religiöse Musik gibt es im Islam überhaupt nur im Rahmen des Sufismus, jenseits davon ist sie verpönt. Musik, Poesie, Heiligenverehrung, Philosophie und sogar Tanz gehen in Gestalt der sogenannten Tanzenden Derwische des Mevlevi Ordens aus der anatolischen Stadt Konya eine beispielhafte Verbindung ein, ja verschmelzen miteinander.

BETÖRENDE KLANGLICHKEIT

Der gemeinsame Nenner aller sufischen Bestrebungen, sei es des naiven Wunderglaubens oder der abstrakten philosophischen Spekulation, ist die Begründung und Beschwörung einer Kommunikation, eines lebendigen Zusammenhangs zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, Diesseits und Jenseits, Individuum und Kosmos. Das schwer zu fassende Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird in der sufischen Kunst, Musik und Literatur jeweils neu gedeutet, inszeniert und in der Rezeption dieser Künste erfahren und erlebt. Der weit überwiegende Teil der muslimischen Kunst ist vom Sufismus geprägt und ohne ihn kaum verständlich.

Das berühmteste Bauwerk in dieser Tradition ist der Tadsch Mahal, das Grabmal für Mumtaz Mahal, die Ehefrau des Mogulherrschers Schah Dschahan, die 1632 starb (Tadsch Mahal heißt übersetzt »Mahals Krone«). Zugleich ist er eine Allegorie des Paradiesgartens. Das Gebäude aus weißem Marmor scheint zu schweben –in der Morgensonne besonders, wenn aus dem direkt dahinter gelegenen Yamuna Fluss der Dunst aufsteigt. So verwandelt sich das Grabmal in ein Sinnbild für Schönheit, Leichtigkeit und Vergeistigung. Das Jenseits wird im Diesseits erfahrbar – genau so, wie es die sufische Ästhetik anstrebt. Während das Erhabene in der christ lich geprägten Hemisphäre nicht selten als ehrfurchtgebietend und übermächtig begriffen wird und die Betrach ter beeindrucken, einschüchtern und überwältigen will, sie aber auch auf Distanz hält, erscheint es im Sufismus einladend und, statt bloß erhaben, erhebend.

ERHEBEND STATT ERHABEN

s ufi f estiv A l 63

Zu Recht gelten sie bei uns als das Inbild des sufischen Islams, auch wenn ihr aufwendiges, vom Drehtanz ›

Der Sufismus will die Menschen nicht auf Abstand halten, ihnen Ehrfurcht einflößen, sondern sie mitnehmen, ihnen Zugänge zum Göttlichen und Heiligen eröffnen.

Sie haben die arabischen Philosophen nachhaltig beein flusst, ebenso aber auch die Dichter und Denker des Sufis mus. Möglicherweise stammt das Wort Sufi sogar vom griechischen Wort für Weisheit ab, sophía. Die Sufis wären dann die muslimischen Nachfahren der griechischen Sophisten und Philosophen (Philosoph heißt auf Arabisch, dem Griechischen nachempfunden, failasúf). Mit dieser etymologischen Deutung konkurriert eine andere, die das Wort Sufi auf den arabischen Ausdruck für Wolle (suf) zurückführt. Die Erklärung dafür ist, dass viele Sufis sich in einen groben Wollmantel kleideten.

Bei den tanzenden Derwischen des Mevlevi Ordens ist dieses einfache Ritual zu einer komplexen Performance ausgestaltet worden, immer mit dem Ziel, auf symbolische Weise die Gläubigen mit Gott in Verbindung zu setzen, die vermeintliche Trennung von Schöpfer und Schöpfung aufzuheben – das Ideal aller Sufis, auch wenn die meisten dabei auf das aufwendige Ritual der Mevlevi Derwische verzichten. »Höre auf die Geschichte der Rohrflöte, wie sie sich über die Trennung beklagt«, beginnt Rumis berühmte epische Dichtung »Masnavi«. Die dabei gespielte Rohrflöte, die ja erst aus dem Schilf herausgeschnitten werden musste, steht symbolisch für die Vereinzelung des Menschen, seine Trennung vom Schöpfer. Aber‚ so Rumi weiter: »Jeder, der weit von seinem Ursprung entfernt ist, sehnt sich danach, wieder mit ihm vereint zu sein.« Der Ursprung ist natürlich Gott, beziehungsweise das als Gott vorgestellte All Eine, das kosmische Ganze – auch dies eine Vorstellung, die alle Sufis von Indien bis Marokko teilen.

In der sich steigernden Ekstase soll diese Trennung aufgehoben, die Verbindung zum Kosmos oder All Einen wiederhergestellt werden. Die Drehungen der Derwische symbolisieren diese kosmische Verbindung, denn sie sind der Drehung der Gestirne um einen Mittelpunkt nach empfunden, so wie die Planeten um die Sonne kreisen.

DIE METAPHYSIK DER LIEBE

Was nach sufischer Lehre den Mittelpunkt (Gott) mit den ihn umkreisenden, von ihm angezogenen Einzelnen (den Planeten) verbindet, ist jedoch nichts anderes als die Liebe, die als die alles bewegende Kraft des Kosmos gedeutet wird. So erklärt es sich, dass die Dichter des Sufismus allesamt große Liebesdichter sind. Die Liebe zu einem anderen Menschen ist für sie immer auch und letztlich nur die auf ein irdisches Maß heruntergebrochene Version der Liebe Gottes zu den Menschen und der Liebe der Men schen zu Gott. Das eine wird durch das andere symboli siert, weshalb Fragen wie etwa die, ob der berühmte mittelalterliche persische Dichter Hafis nun die Liebe zu Gott oder zu einem konkreten Menschen besingt, an der Sache vorbeigehen: Der sufische Dichter besingt stets beides, und zwar das eine im und mit Hilfe des anderen.

64 s ufi f estiv A l begleitetes Ritual innerhalb der sufischen Musik eher untypisch ist. In der Regel lauschen die Anhänger des Sufismus der Musik, ohne zu tanzen. Der Orden der tanzenden Derwische geht auf den sufischen Dichter und Gelehrten Djalal ad Din Rumi zurück. 1207 im heutigen Afghanistan geboren, zog er in den Wirren des Mongolensturms nach Westen und starb 1273 in Konya. Seine Anhänger nannten ihn Mevlana, was im Arabischen und Türkischen »Unser Meister« bedeutet (daher der Name Mevlevi). Er schrieb allerdings auf Persisch, nicht auf Türkisch; Persisch war vom Osmanischen Reich bis nach Indien bis ins 19. Jahrhundert hinein die Verkehrssprache in der islamischen Welt. Rumis Gedichte fanden eine entsprechend weite Verbreitung, und es ist nicht übertrieben, ihn einen der größten mystischen Schriftsteller aller Zeiten zu nennen. Seine in viele Sprachen übersetzten Gedichte haben ihn weltweit bekannt gemacht, gerade auch im Westen. Seine Lyrik ist ebenso eingängig wie philosophisch, ebenso liedhaft wie durchtränkt von tiefer Bedeutung. Selbst wenn viele Übersetzungen auf die betörende Klanglichkeit der Originale, auf Reim und Metrum verzichten, bleibt die Kraft ihrer Aussage spürbar. Im Original und in poetischen Übersetzungen wie der folgenden von Johann Christoph Bürgel, bezaubern seine Texte erst recht: Der Frühling kommt, der Frühling kommt, Frühling der duftgeschwellte kommt Der Reigen kommt, der Reigen kommt, der Reigen ohne Reue kommt Jetzt muss wer spricht verstummen, und der Stumme wird zum Sprecher jetzt Zähl nicht die Laute mehr: Das Wort, des Laute keiner zählte, kommt! Auf Rumi (und wir ahnen bei diesen Versen, warum) geht auch die Tradition der tanzenden Derwische zurück, eine der vielen Gruppen aus dem Sufismus, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten professionalisiert und die Konzertsäle der Welt erobert haben. Der Ursprung ihres Sema Rituals, das den meisten Richtungen des Sufismus gemeinsam ist (»Sema« heißt »hören«) liegt in der rituellen Zusammenkunft der Gläubigen. Dabei wird, oft unter Begleitung von Musik, gemeinsam Gott angerufen und es werden religiöse Gedichte rezitiert, zumeist unter rhythmi schen Bewegungen, etwa dem Auf und Abwiegen des Kopfes oder des ganzen Oberkörpers.

Der Ursprung der sufischen Lehre, die die irdische Liebe als kosmische Kraft, ja als göttlichen Ursprung der Schöpfung begreift, ist in der Spätantike zu suchen und geht letztlich auf Platon zurück, der die Metaphysik der Liebe in vielen seiner Dialoge thematisiert hat. Die spätantiken Neuplatoniker, angefangen mit Plotin im dritten Jahrhundert, haben diese Vorstellung dann in einen Zusammenhang mit ihrer Lehre vom »Einen« gebracht, aus dem die Welt gleichsam ausgeflossen (»emaniert«) sein soll. Im Zuge der Ausbreitung des Islams sind viele neuplatonische Schriften ins Arabische übersetzt worden.

DIE KLAGE DER ROHRFLÖTE

Um zu verstehen, wie und warum das absolute Eine, das die muslimischen Philosophen als anderen Namen für Gott verstanden, mit der profanen, irdischen Erscheinungswelt zusammenhängt, haben schon die Neuplatoniker einen Vergleich mit der Liebe gezogen: Es ist das Begeh ren des höchsten Einen (also Gottes), geliebt und erkannt zu werden, das die Welt hervorbringt – ganz so, wie auch Menschen gesehen und geliebt werden wollen und ihre eigenen Schöpfungen lieben. In diesem Sinn lautet ein unter Sufis weit verbreiteter Spruch, den Allah über sich selbst gesagt haben soll: »Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden. Deswegen schuf ich die Welt.« Mit diesem Verweis auf Gottes Wunsch, von den Geschöpfen erkannt und geliebt zu werden, lösten die Sufis eines der Hauptprobleme der islamischen Theologie: Wie können die Gläubigen ein Verhältnis zu einem Gott entwickeln, der als absolut transzendent und unvergleich lich gilt? Ihre Antwort lautet: mithilfe derselben kosmischen Kraft, die die Welt als Ausfluss aus dem Einen hervorgebracht hat – der Liebe, so wie es die neuplatonischen Philosophen gelehrt hatten.

Wenn wir wissen wollen, wie sich diese im östlichen Mittelmeerraum entstandene, dann von den Muslimen für ihre Zwecke neu interpretierte Lehre von der kosmischen Liebe in Gegenden verbreiten konnte, die so weit von Mekka entfernt sind wie Marokko und Andalusien, Bosnien und Tansania, Java und Xingjiang, dann müssen wir uns von dem Klischee verabschieden, der Islam sei vor allem durch gewaltsame Eroberungszüge verbreitet worden. Auch diese gab es; dass sich der Islam anschließend in den eroberten Gebieten halten konnte, hat jedoch viel mit der Anziehungskraft des Sufismus zu tun. Muslimische Kaufleute, die oft selbst einem sufischen Orden angehörten, sowie sufische Wanderprediger, Dichter und Sänger verbreiteten die Lehren von der göttlichen Liebe und des sufischen Islams bis in die entlegensten Winkel Afrikas und Asiens. Die überregionalen, ja globalen Netzwerke, die so geschaffen wurden, kamen dem Austausch von Waren ebenso zugute wie dem von Ideen, religiösen Praktiken und künstlerischen Ausdrucksformen.DiesenNetzwerken, nicht dem »Schwert«, ver dankt es der Islam, dass er vor dem Kolonialzeitalter und der damit einhergehenden christlichen Mission die am weitesten verbreitete Religion der bekannten Welt war. So erklärt sich ferner, warum wir überall entlang der sogenannten Seidenstraße Poesie und Musik antreffen, die von der Spiritualität des sufischen Islams beeinflusst sind. Das gilt auch und gerade mit Bezug auf solche Musik, die wir heute der hinduistischen Tradition zuord nen würden. Hinduismus und Islam haben sich seit dem Mittelalter und der mehr als ein halbes Jahrtausend lang währenden muslimischen Herrschaft in Nordindien wechselseitig beeinflusst – so sehr, dass man heute oft nicht mehr weiß, ob ein Heiliger, ein Fakir, ein Asket nun Muslim oder Hindu, Sufi oder Yogi gewesen ist, so dass er heute von Anhängern beider Religionen verehrt wird.

ÜBER DIE GRENZE

So wie die Mevlevi Derwische traditionellerweise nicht auf einer abgegrenzten Bühne vor den Zuschauern ihren wirbelnden Tanz aufführen, sondern inmitten der im Kreis um sie herum kauernden Gläubigen, so ist die Musik der Sufis in der Lebenspraxis vor Ort überall durch Intimität, Unmittelbarkeit und Spontaneität geprägt. Alle Anwesen den haben unmittelbar daran teil, ja gehören dazu, und Der Sufismus will die Menschen nicht auf Abstand halten, sondern mitnehmen: Mehdi Qamoum

IN ALLE WINKEL DER WELT

zuweilen gibt es weder Anfang noch Ende.So erlebte ich es im Februar 2019 in Pakistan, in dem Moscheen Kom plex um den Schrein des Sufi Heiligen und berühmten Sindhi Dichters Shah Abdul Latif (1689–1752) in der Nähe von Hyderabad. Auch Shah Abdul Latif ist tief von Rumi beeinflusst. In einem seiner Verse heißt es über ihn: Die ganze Schöpfung ist auf der Suche nach Gott, nach seiner Schönheit, nach dem, woher sie stammt. Das ist es, was Rumi geglaubt hat: Zieh dir den Schleier vom Herzen, und du wirst Gott darin sehen. Es dunkelte bereits und wir wollten gehen, da führte man uns in einen großen, offenen Saal neben der Moschee. Umgeben von Pilgern musizierte dort ein Ensemble ohne Unterlass sufische Lieder. Es waren Vertonungen der Gedichte von Shah Abdul Latif. Mit ihrem spektakulären Drehtanz bilden die Mevlevi Derwische eine Ausnahme unter den Sufis. An diesem Pilgerort nun erlebten wir die Sufi Musik so, wie sie meistens dargeboten wird, unauf wendig, eher meditativ als mitreißend, und natürlich nicht für Touristen oder ein Konzertpublikum gedacht, sondern für die einfachen Gläubigen. Die Ehre, am Schrein des Schahs spielen zu dürfen, wird von einer Generation zur nächsten vererbt. Auch die Väter und Urgroßväter dieser Musiker hatten bereits hier gespielt. Rundherum saßen und lagen Frauen und Männer jeden Alters umstandslos beieinander, lauschten wie wir der Musik oder ließen sich von den Klängen in den Schlaf wiegen. Sie waren teils von weither hierher gepilgert; für ein ordentliches Gasthaus fehlte vielen das Geld. Dennoch legten alle eine Kleinigkeit in die Schale, die die Musiker

SUFI FESTIVAL Elbphilharmonie Großer und Kleiner Saal Fr, 25. 11. 2022 | 18 Uhr Anim ensemble (ensemble safar) Fr, 25. 11. 2022 | 20 Uhr mevlevi-Derwische »istanbul sema Grubu« Sa, 26. 11. 2022 | 15 Uhr naghma-e israfil Sa, 26. 11. 2022 | 19 Uhr mehdi Qamoum So, 27. 11. 2022 | 15 Uhr Alireza Ghorbani So, 27. 11. 2022 | 20 Uhr saami Brothers Qawwal Party Alle infos finden sie www.elbphilharmonie.deunter:

Die sufische Musik überwindet die Vorurteile und Grenzen der gesellschaftlichen Schichten und Konventionen ebenso leicht wie jene andere, größere Grenze, die zu überwinden ihre Mission ist: Die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung. Dank ihrer im wahrsten Sinne des Wortes unüberhörbaren Spiritualität findet sie selbst unter jenen begeisterte Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich als durch und durch modern, westlich und säkulari siert betrachten.

Sufische Musik überwindet die gesellschaftlichen Vorurteile und Grenzen: Alireza Ghorbani m MEHR ZU MUSIKKULTUREN AUS ALLER WELT FINDEN SIE UNTER: ELPHI.ME/WORLD

STEFAN WEIDNER ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt erschien von ihm die Literaturgeschichte: »1001 Buch. Die Literaturen des Orients« (Edition Converso 2022). Die hier erwähnten Verse sind nach diesem Buch zitiert. herumgehen ließen. Wir Ausländer konnten etwas großzügiger sein. Sonst schien uns nichts von den anderen zu unterscheiden; wie selbstverständlich waren wir in diesem stimmungsvollen Nachtkonzert willkommen, fühlten uns aufgenommen und aufgehoben.

statt.September18.bisAugust11.vomfindetRuhrtriennaleDie www.ruhrtriennale.deunterProgrammkomplettedasundTicketsMusiktheater / Eröffnungspremiere ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN G. GRISEY / C. VIVIER / I. XENAKIS / G. SCELSI / ELISABETH STÖPPLER / PETER RUNDEL / KLANGFORUM WIEN / CHORWERK RUHR ab 11. JahrhunderthalleAugust Bochum Konzert SCHWERKRAFT UND GNADE L. BOULANGER / F. POULENC / I. STRAWINSKY / CHORWERK RUHR / BOCHUMER SYMPHONIKER / FLORIAN HELGATH 26., 27., 28. MaschinenhalleAugustZweckel, Gladbeck Musiktheater / Szenische Uraufführung HAUS SARAH NEMTSOV / HEINRICH HORWITZ / ROSA WERNECKE ab 31. TurbinenhalleAugust an der Jahrhunderthalle Bochum Konzert VERGESSENE OPFER G. USTWOLSKAJA / F.LISZT / O. MESSIAEN / L. NONO / DUISBURGER PHILHARMONIKER / ELENA SCHWARZ 11. + 13. JahrhunderthalleSeptemberBochum Bild-KunstVG/LeinkaufMischaFoto: Gesellschafter und öffentliche Förderer Gefördert durch die Gefördert von

68 en GAG ement

Der Abiturient Jakob Troje (17) weiß genau, warum er im Elbphilharmonie Publikumsorchester am Kontrabass mitspielt.

en GAG ement 69 ICH BIN EIN FAN

Ich habe die Elbphilharmonie von Anfang an sehr gemocht. Die Architektur fasziniert mich, das geschwun gene Dach, die Fenster. Mich interessieren auch die Fakten, auch Kurioses wie zum Beispiel das Gewicht einer Fensterscheibe. In dem Gebäude ist nichts dem Zufall überlassen, alles ist genau geplant: Die Blickachsen, die verspiegelten Streben in den Fenstern, in denen die Elbe und der Himmel widerscheinen, die kleinen Balkone in den Foyers – all das finde ich sehr schön. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ins Haus komme, auch die Plaza besuche ich immer wieder. Kurz nach der Eröffnung war ich mit meiner Klasse das erste Mal zu einem Konzert im Großen Saal. Als ich dann zur Anspielprobe erstmals selbst auf der Bühne des Großen Saals saß, war das ein sehr besonderer Moment. Nicht vergessen werde ich auch unser Benefizkonzert für die Ukraine am 11. April. Der Chor zur Welt hat mit uns die ukrainische Nationalhymne gespielt, ein ergreifender Moment. Alle im Saal sind aufgestanden, und es spielte keine Rolle, wer Orchestermitglied, wer Besucher ist, wir waren einfach eine große Gemeinschaft.

W ie die Elbphilharmonie hat auch das Publi kumsorchester im vergangenen Januar seinen fünften Geburtstag gefeiert. Ich spiele fast seit Beginn in diesem Orchester, mit zwölf Jahren bin ich eingetreten. Meine Kontrabass Leh rerin hatte mir damals den Tipp gegeben. Sie fragte mich, wo ich unbedingt einmal spielen möchte – und ich wusste sofort: in der Elbphilharmonie! Ich bin dann einfach mal zu einer Probe gegangen und traf auf lauter nette Men schen und ein Orchesterspiel, das ich in dieser Qualität noch nicht kannte, auch nicht in meinem Schulorchester. In einem groß besetzten Orchester mit 90 Musike rinnen und Musikern mitzuspielen, hat mich sofort begeistert. Es macht einen Riesenunterschied, ob sechs oder nur zwei Kontrabässe in der Gruppe sind, das ist ein ganz anderes Klangerlebnis. Auch die Stückauswahl ist im Publikumsorchester kreativer und komplexer als in anderen Laienorchestern; im Schulorchester – in dem ich nach wie vor spiele – werden die Stücke auch mal vereinfacht. Hier aber spielen die meisten Mitglieder ihr Instrument bereits seit vielen Jahren, manchmal Jahrzehn ten, dadurch ist das Niveau sehr hoch, was die Freude am  gemeinsamen Musizieren fördert. Natürlich ist es für mich auch immer wieder beein druckend, wie ein professioneller Künstler zum Musikmachen in die Elbphilharmonie zu kommen. Die Kaistudios, in denen wir wöchentlich proben, sind sehr schöne Räume. Die Krönung aber sind unsere Konzerte im Großen Saal: Zweimal im Jahr, jeweils im Sommer und Winter, nehmen wir dort auf der Bühne Platz und spielen vor 2.100 Zuhörern – unglaublich! Es war ein tolles Gefühl, als ich ins Orchester aufgenommen wurde. Am Anfang musste ich erst einmal reinkommen, vielleicht wurde ich als 12 Jähriger auch nicht von allen sofort ernst genommen, das hat sich aber schnell geändert. Nur wenige von uns sind unter 20, das Gros ist älter, aber es sind alle Altersgruppen vertreten. Ich bin hier mit Menschen zusammen, die dasselbe Ziel haben: Musik machen mit Ernsthaftigkeit und Spaß. Wenn ich mir die Fotos in den Programmheften der letzten fünf Jahre anschaue, kann ich erkennen, wie ich mich verändert habe, nicht nur optisch. Ich bin insgesamt deutlich sicherer geworden. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich es, ein Instrument spielen zu dürfen. Die Orchesterzugehörigkeit bringt mich einer Musikkultur näher, das habe ich mit 12 oder 13 Jahren so noch nicht sehenDiekönnen.meisten von uns bleiben im Publikumsorchester, es gibt nur wenige Abgänge. Dennoch nehmen wir regelmäßig neue Mitglieder auf. Wenn man so oft miteinander spielt, hat man nicht nur eine musikalische, sondern auch eine kommunikative Verbindung. Je besser die ist, umso besser spielt man miteinander. Trotz der regelmäßigen Proben nimmt mich das Musizieren nicht komplett ein. Ich habe auf jeden Fall auch Zeit für andere Hobbys, zum Beispiel spiele ich Fußball und gehe laufen. Einmal habe ich an einem Konzert tag morgens als Torwart an einem Fußballspiel teilgenommen. Ich wurde gefragt, ob ich keine Angst hätte, mir die Finger zu verletzen. Ich hatte aber noch nie das Bedürfnis, meine Freizeit dem Musikspielen zu opfern, das würde ich auch gar nicht aushalten. Ich brauche immer einen gewissen Ausgleich, so höre ich auf dem Weg zur Probe auch keine Klassik, sondern Rap.

AUFGEZEICHNET VON CLAUDIA SCHILLER FOTO CHARLOTTE SCHREIBER

i INFOS ZUM MITMACHEN BEIM PUBLIKUMSORCHESTER FINDEN SIE UNTER: ELPHI.ME/PUBLIKUMSORCHESTER

»Unbehandeltes Holz!« Giannaki macht eine Pause und lächelt. »Mehr brauche ich dazu nicht zu sagen.« Für die Pflege der 16.000 Quadratmeter Holzfußboden sind drei Mitarbeiter zuständig, die Giannaki liebevoll »die Seif Jungs« nennt. Einmal pro Woche tragen sie händisch mit Wischmopps eine Mischung aus Wasser und spezieller Holzseife auf, um den Boden zu reinigen und mit genügend Feuchtigkeit zu versorgen. »Nicht zu nass, nicht zu trocken, immer mit der Maserung seifen«, erklärt Giannaki. »Wir haben viel gelernt. Und heute kann ich sagen, dass ich den Boden liebe. Er verzeiht sehr viel.«

ALLA GIANNAKI: »FAST NICHTS HIER IST STANDARD« Sie ist eine Frau, die anpackt. Ihr ganzes Leben hat Alla Giannaki viel gearbeitet. Lange Tage, kurze Nächte, kein Problem. Doch das Angebot, das sie 2016 von ihrem Arbeitgeber, der Firma Piepenbrock, bekam, übertraf alles, was sie bis dahin gemacht hatte: Ob sie nicht Lust habe, die Objektleitung der Elbphilharmonie zu übernehmen, sprich, die Hauptverantwortung für die Reini gung des neuen Konzerthauses zu tragen? »Ich stand vor dem Gebäude, schaute daran hoch und fragte mich: Willst du das wirklich?«, erinnert sie sich. Sechs Jahre später streicht sie im 13. Stock über die Polster einer Sitzgruppe – und bereut ihre Entscheidung von damals keine Sekunde. Seit 20 Jahren ist sie in der Gebäudereinigung tätig, seit 2007 bei Piepenbrock angestellt. In der Elbphilharmonie koordiniert sie heute ein Team von 37 Reinigungskräften, ist zuständig für die Dienstpläne, die Einarbeitung neuer Leute, die Kontrolle. Zu der täglichen Grundreinigung kommt, je nach Veranstaltungen am Vortag, die Reinigung der Konzertsäle hinzu. Insgesamt müssen Giannaki und ihr Team 448 Räu me sauber halten. Gesamtfläche: über 20.000 Quadratmeter. Dienstbeginn: täglich um 5 Uhr. Die größte Herausforderung seien aber nicht die Dimensionen des Hauses, sondern die besonderen Materialien. »Fast nichts ist hier Standard«, sagt Giannaki.

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SCHICKABTEILUNGUND SCHÖN

»Ob Edelputz an den Wänden, Terrazzo Böden in den WCs oder Marmortische im Foyer: Alle diese Materialien sind auf Wunsch der Architekten unversiegelt, aber deswegen auch empfindlich.« Und erst der Fußboden. Ein Konzerthaus von Weltrang will sich auch nach außen entsprechend präsentieren.

VON FRÄNZ KREMER FOTOS GESCHE JÄGER

Diese Mitarbeiterinnen sorgen dafür, dass die Elbphilharmonie gut aussieht.

ANNE KATHRIN WUDTKE: »DARAUF BIN ICH STOLZ«

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Die Elbphilharmonie habe Alla Giannaki viel zu verdanken, dessen ist sich Anne Kathrin Wudtke sicher: »Ohne sie würde das Haus nicht so aussehen, wie es heute aussieht. Das muss man mal so deutlich sagen.« Wudtke ist hauptverantwortlich für das Quality Management im Team der Elbphilharmonie, jene Abteilung, die die Reinigung beauftragt. »Aber speziell mit Frau Giannaki hat es sich nie nach Auftraggeber und Dienstleister angefühlt«, sagt sie, »wir haben das Haus zusammen kennengelernt, und es ist bis heute eine Partnerschaft. Darauf bin ich stolz.« Als Wudtke im November 2016 anfing, war sie alleine für das Quality Management zuständig, heute umfasst ihr Team noch zwei weitere Leute: »Wir nennen uns ja gerne die Abteilung Schick und Schön.« Quality Management bedeutet für Wudtke, »dass die optische Erscheinung und der Service des Hauses stimmen und die Gäste sich wohlfühlen. Da spielen Reinigung und Floristik eine Rolle, darum kümmert sich jetzt mein Kollege Jörn Fischer, aber auch das Vorderhauspersonal, die Gastronomie und der Sanitätsdienst, für die Nadine Peix zuständig ist.« Zusammen sind die drei viel im Haus unterwegs, schauen auf Details, die für Wudtke »in der Summe dazu beitragen, dass die Gäste hier ein besonderes, hochwerti ges Konzerterlebnis haben«: Von der freundlichen Begrüßung des schick gekleideten Vorderhauspersonals über den passenden Pausensnack und die frischen Blumen auf den Foyertischen bis zu den sauberen Toiletten nach der Pause. »Das muss alles passen, wir sind die Kontrolleure«, lacht Wudtke.

Neben dem Quality Management ist sie auch mit Sicher heitsthemen im Haus befasst. »Das war schon immer meine geheime Leidenschaft«, erzählt sie. Bevor sie bei der Elbphilharmonie anfing, hat sie verschiedene Jobs in der Veranstaltungsbranche gemacht und unter anderem auch im Sicherheitsdienst gearbeitet. In der Elbphilharmonie bleibt ihr zu diesem Thema vor allem der G20 Gipfel 2017 in Erinnerung, bei dem sie als Ansprechpartnerin für alle Sicherheitsabläufe im Haus fungierte. »Das war für mich eine unfassbare Erfahrung. Von der Evakuierungs übung mit der Bundeswehr bis zur kompletten Haus durchsuchung vorab: Das sind Dinge, die ich nicht mehr vergesse.«Wudtke ist nach all den Jahren mit dem Haus verwachsen. Wenn man mit ihr durchs Foyer geht, bleibt ihr Blick immer wieder an Details hängen. Ein Tisch am falschen Ort, ein Kratzer an der Wand: »Das kann man irgendwann nicht mehr abstellen!« Ein so besonderes Haus wie die Elbphilharmonie brauche besondere Hingabe, davon ist sie überzeugt. »Es gab zum Beispiel mal die Überlegung, ob wir in den Foyers auf Kunstblumen wechseln. Wäre natürlich praktischer. Aber wird das dem Haus gerecht?« ›

ALEX SCHMIDT: »DAS GEHÖRT EINFACH DAZU« Das würde es natürlich nicht, meint auch die Floristin Alex Schmidt. »Frische Blumen in einem Raum sind belebend. Sie geben diesen natürlichen Spirit«, sagt sie in ihrem Atelier in St. Georg. »Wenn man in einem Hotel an den Empfang kommt, steht da auch was. Das gehört bei so großen Häusern einfach irgendwie dazu.« Gerade stellt sie in ihrer Werkstatt zwei Arrangements zusammen, die später einen Empfang in der Elbphilharmonie schmücken werden.Seit 2017 ist Schmidt regelmäßig im Einsatz, wenn für Feierlichkeiten oder Sponsoren Events besondere Arrangements in der Elbphilharmonie gewünscht werden. Doch auch für die »Basis Versorgung« des Hauses ist sie zuständig: Insgesamt 120 kleine Vasen mit jeweils einer frischen Blume stehen auf den Tischen in den Foyers, am Empfang und in der Musiker Cafeteria. Alle zwei Wochen kommt Schmidt mit neuen Blumen vorbei und hilft, die zuvor eingesammelten Vasen neu zu befüllen.

»Natürlich müssen es Blumen sein, die zwei Wochen halten.« Ihre Favoriten: Die Kalanchoe mit dem schönen Namen »Flammendes Käthchen«, die Nelke »Solomio« und die kugelrunde gelbe Craspedia.

»Bei der Auswahl der Blumen habe ich ziemlich freie Hand und schaue, was gerade verfügbar ist«, sagt sie.

Die Elbphilharmonie ist für Schmidt kein Kunde wie jeder andere: Sie ist studierte Architektin, kannte auch vor der Elbphilharmonie schon die Projekte von Herzog & de Meuron. »An dem Job als Architektin fehlte mir das Manuelle, so kam ich zur Floristik. Als ich dann anfing, regelmäßig Blumen in die Elbphilharmonie zu bringen, schloss sich für mich ein Kreis.«

»Frische Blumen in einem Raum geben diesen Spirit.«natürlichen

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Während Schmidt die letzten Handgriffe an ihren Arran gements vornimmt, trägt in der Laeiszhalle Alesya Dachs einen großen schwarzen Kleidersack zurück in ihr Lager. Was hier im Keller des neobarocken Gebäudes an langen Stangen hängt und in Regalen bis unter die Decke gestapelt liegt, spielt, ebenso wie Schmidts Blumen, eine wichtige Rolle im Erscheinungsbild der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle: Es sind Blazer, Ringelshirts, Sneakers, Hosen und Gürtel, Jacken und Blusen – verschiedenste Artikel, mit denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Dienstleisters eventteam eingekleidet werden, wenn sie als Vorderhauspersonal für die Elbphilharmonie arbeiten wollen.»Es sind feine Sachen, hochwertige italienische Stoffe, nichts Synthetisches«, erklärt Dachs. »Wer neu beim Vorderhauspersonal anfängt, kommt erst zu mir und erhält ein komplettes, passgenaues Outfit. Um das muss man sich dann selber kümmern, so lange man für uns arbeitet.« Der Bedarf an Personal in der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle ist groß, ob am Eingang, an den Bars, den Garderoben, den Türen der verschiedenen Säle, im Plaza Shop oder im Besucherzentrum: An einem besonders vollen Tag können allein in der Elbphilharmonie schon mal 200 Leute im Einsatz sein. Über 800 aktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in der eventteam Kartei für beide Häuser gelistet, entsprechend viele komplette Outfits im Umlauf: »Die einen fangen neu an, andere hören auf und bringen die Sachen zurück, manch mal geht was kaputt« – in Dachs’ Kleiderkammer herrscht immerAuchBetrieb.andere Mitarbeiter der Elbphilharmonie, die öffentlich sichtbar sind, versorgt sie mit Kleidung, etwa das Technik Team. »Alles soll für das Publikum gut aussehen. Und speziell die Outfits des Vorderhauspersonals werden viel gelobt«, sagt Dachs. »Es ist aber auch wichtig, dass die Leute sich selbst wohlfühlen und das auch aus strahlen. Ich habe schon viele Hundert hier eingekleidet – bisher habe ich noch nicht eine Beschwerde bekommen.« Dachs nimmt einen Gürtel zur Hand: »Die Oberfläche der Schnalle ist, ebenso wie die Knöpfe der Westen, aus Klavierlack, passend zum Haus.« In der Mitte ist, kaum sichtbar, ein feines silbernes Elbphilharmonie Logo eingearbeitet. In der Abteilung Schick und Schön zählt eben auch das Detail.

ALESYA DACHS: »ES SIND FEINE SACHEN«

m WEITERE GESCHICHTEN AUS DEM TEAM DER ELBPHILHARMONIE FINDEN SIE UNTER: WWW.ELBPHILHARMONIE.DE/MEDIATHEK

»Speziell die Outfits des werdenVorderhauspersonalsvielgelobt.«

DAS SCHNUPPERN AN DER ZUFLUCHT Erstmal gibt es einen Kaffee. Das ist durchaus nötig um neun Uhr an diesem Morgen, denn Lars Ihlenfeld ist schon seit ein paar Stunden auf den Beinen. Zwischen vier und fünf steht er meistens auf, »machen nicht viele hier«, sagt er. Aber Ihlenfeld, 50, will nun mal Meditation in seinen Tag integrieren, und wenn man wie er voll berufstätig ist und Kinder hat, »sollte man jede Chance dafür nutzen«. Er nimmt einen Schluck vom Cappuccino, den er sich gerade hinter dem Tresen des Cafés im Buddhisti schen Zentrum gemacht hat. Guckt raus auf die Thaden straße. Hamburger Grau am Himmel, bunte Gebetsfahnen zwischen den Häusern. Er wohnt hier mit seiner Frau und der Tochter von 15 Jahren, zwei weitere Kinder sind schon erwachsen. 25 Jahre hatte der Hamburger in Berlin gelebt, 2020 dann sind die drei in eine der Wohnungen im Buddhistischen Zentrum eingezogen, drei Zimmer, 70 Quadratmeter, Bad, keine Küche – das ist schon mal eine der Besonderheiten: Gekocht wird in gemeinschaftlichem Rahmen. 30 Men schen leben hier, 15 weitere in den Familienwohnungen auf der anderen Straßenseite. Die Küche, gelegen zwischen dem Wohntrakt und dem Café, ist groß: Sechs Kühl schränke mit beschrifteten Fächern, mehrere Kochfelder und Spülbecken, Schubladen mit Namensschildern, eine Aufgabenliste an der Wand. »Das ist wie in einer WG«, sagt Ihlenfeld, »mit all den Vorzügen – und den Herausforderungen.« Wie in einer WG geht es auch hier um Begegnung und Austausch, »das geht nun mal am besten beim Essen«, sagt er.

Das Gemeinschaftsleben nach dem Vorbild des tibetischen Buddhismus hat der dänische Lama Ole Nydahl mit seiner Frau Hannah Ende der 1970er in der Stadt bekannt gemacht, »das war eine an die europäische Lebensart angepasste Form der tibetischen Variante«, sagt Ihlenfeld. Soll heißen: kein Mönchstum, die Buddhis ten hier haben normale Jobs und Familie, die Anleitungen zu den Meditationen werden auf Deutsch vermittelt. Damals passte das Buddhistische Zentrum noch in zwei Altbauwohnungen an der Verbindungsbahn. 1997 haben Hamburger Buddhisten das Grundstück Ecke Thaden straße und Bernstorffstraße gekauft, sechs Jahre später wurde das Zentrum fertiggestellt. Geplant hat es der Hamburger Architekt Ronald Knaack, und der steht jetzt im Innenhof und erklärt, dass er lange über buddhistische Prinzipien beim Bauen im Westen nachgedacht habe. »Das habe ich dann aber irgendwann beiseite gelassen«, sagt er. Und sich statt Zuflucht?

Das kann eine Philosophie sein. Eine helfende Hand. Oder ein Ort, an dem die eigene Geschichte Wurzeln geschlagen hat.

VON STEPHAN BARTELS FOTOS MELINA MÖRSDORF

AM RUDER DES

Drei Beispiele aus unserer Stadt

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LEBENS

r e P ort AG e 75 »Ich habe gelernt«, sagt Lars Ihlenfeld, »dass man Glück und Zuflucht auch und besonders in sich selbst findet.«

dessen ganz pragmatisch überlegt, was ein buddhistisches Zentrum in Hamburg brauchen könnte. Nicht das Bunte wie bei buddhistischen Gebäuden in Asien, »bunt und wild ist es draußen genug«. Dieser Bau ist hell und zurück haltend, man könnte sagen: beruhigend. Im schönen Innenhof zum Beispiel sind Altona und St. Pauli gleich ganz weit weg. Es gibt das Café unten im tibetisch angehauchten Turm, auch so ein Raum der Begegnung für Bewohner und Neugierige von draußen, »sonntags ist da offener Brunch, da kann man mal an der Zuflucht schnuppern«, sagt Lars Ihlenfeld. Zuflucht, so nennen es die Buddhisten, wenn man sein Leben an Buddha orientiert. Das Herz der Anlage ist die Meditationshalle, ein Raum für 250 Leute zur inneren Einkehr, für Vorträge, für die Öffnung nach außen –abends kann hier jeder die Sache mit der Meditation mal ausprobieren. Eigentlich, sagt Ronald Knaack, wollten sie damals nur einen Ort für Meditation schaffen, Gäste zimmer inklusive. »Zufällig ist es eine der größten Wohn gemeinschaften Hamburgs geworden.« Lars Ihlenfeld lebt gern im Zentrum, übernimmt Pflichten für die Gemeinschaft, macht doch jeder hier, ob es nun Kloputzen ist oder Bürodienst. Er hat Anfang der Neunziger begonnen, sich für Meditation zu interessieren, da war er noch Lehramtsstudent. Religion war eines der Fächer, da ist er dem Buddhismus zum ersten Mal begegnet. Er hatte Fragen ans Leben, zum Beispiel, »dass

Er geht rüber ins Familienhaus. Da steht Natalia Linares in der Gemeinschaftsküche, die sie gemeinsam mit Freunden gestaltet hat – das war ihre Aufgabe für die Gemeinschaft. Sie ist 35 und Architektin und mischt gerade einen Bananenbrotteig zusammen, neben ihr auf der Arbeitsfläche liegt Victoria in einem Wipper, ihre Tochter, drei Monate alt. Linares lebt mit ihrem Mann hier, einem Schleswig Holsteiner, den sie in einem buddhistischen Zentrum im Allgäu kennengelernt hat.

Er ist dann doch nicht Lehrer geworden. Sondern Anwalt in Berlin, mit eigener Kanzlei, Spezialgebiet: Recht in der Kindertagesbetreuung. »Und jetzt leite ich eine Kita in Harburg«, sagt er und lacht. In der Hauptstadt hat er mit seiner Familie erst in einem Einfamilienhaus gelebt, später dann Wand an Wand mit einem buddhistischen Zentrum in Weißensee. Und jetzt haben sie Zuflucht gefunden in dieser Gemeinschaft. »Wir haben uns in einer Spirale auf die Sache zu bewegt«, sagt Ihlenfeld.

Wie fast jeder Mensch in Venezuela ist Natalia in den Katholizismus hineingeboren worden. Aber sie stellte irgendwann fest, dass sie in der Kirche nichts fühlte. Sie ging für ihren Masterstudiengang nach Rom, jobbte nebenher in einem Restaurant an der Grenze zum Vatikanstaat. Viele katholische Würdenträger aßen dort und machten ihre Geschäfte. »Keiner von denen sah glücklich aus«, sagt Linares. Aber es gab diesen Bekannten von ihr, ausgeglichen, in sich ruhend, immer gelassen und freund lich. Wie er das machen würde, hat sie ihn gefragt. »Da hat er mir vom Buddhismus und vom Meditieren erzählt.«

Es hat etwas gedauert, bis sie, die mit jeder Art von organisierter Spiritualität nichts mehr zu tun haben wollte, Zuflucht in den Sangha genommen hat, die buddhistische Gemeinschaft. »Aber was ich dort erfahren habe, hat für mich Sinn ergeben«, sagt sie, »das war wie ein Ring an meinem Finger.« Apropos: Sie lebt jetzt hier, weil ihr Mann es tut. Sie hat Deutschland ausprobiert, erst den Sommerkurs im Allgäuer Zentrum, dann Leipzig, dann Hamburg. Hier ist Linares im Winter vor dreieinhalb Jahren angekommen, der nächste Kulturschock. »Aber jetzt fühlt es sich wie mein Zuhause an«, sagt sie. Sie weiß, dass sie irgendwann wieder weggehen wird, und das ist okay. Aber sie weiß auch, dass sie den Sangha nie verlassen wird: »Ich will nicht mehr anders leben«, sagt sie, »ich habe mich entschieden, die Verantwortung für meine Gedanken und mein Leben selbst zu übernehmen. Das geht im Buddhismus am besten.« Sieht auch Lars Ihlenfeld so. »Buddha hat ja gesagt: Ich lehre, weil ihr Glück erleben und Leid vermeiden wollt«, sagt er, »und ich habe gelernt: Glück und Zuflucht findet man auch und besonders in sich selbst.«

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ein gerechter Gott den Menschen so unterschiedliche Startbedingungen mit auf den Weg geben soll – das ist doch ein etwas seltsamer Gedanke«. Der Buddhismus hatte da für ihn »die überzeugendsten Antworten«. Er mag das Undogmatische, das Eigenverantwortliche. »Buddha hat am Ende seines Lebens gesagt: Glaubt mir nicht einfach, überprüft mich, überprüft euch«, sagt Lars.

Da stand vor ein paar Jahren diese Frau in der Tür. Geflüchtet aus dem mittleren Osten, verfolgt vom eigenen Mann, ein kleines Kind musste sie zurücklassen. Und jetzt bat sie, eine Sprachmittlerin an ihrer Seite, um Hilfe bei Jutta Landwehr und Brigitte Hübner und den anderen Frauen in der Biff Harburg – sie wollte alles daran setzen, ihr Kind zu sich zu holen. »Das sind diese Schicksale, bei denen du dreimal durchatmen musst«, sagt Landwehr. Aber wer um Hilfe bittet, der soll sie hier auch bekommen. Biff: Beratung und Information für Frauen. Das klingt erstmal irgendwie nüchtern, und tatsächlich wissen sie nie, welche Geschichte sie erwartet, wenn es unten klingelt in diesem Fachwerkhaus von 1710, Neue Straße 59. Ob eine Frau mit Migrationshintergrund Hilfe beim Umgang mit Behörden braucht. Ob jemand einfach kein Geld hat, um eine Familie zu ernähren. Ob jemand psychische Hilfe benötigt und nicht weiß, wie sie sie bekommt. Ob jemand von ihrem Mann verprügelt wird und sich endlich traut, davon zu erzählen. Denn darum geht es hier: Vertrauen. »Wir haben Schweigepflicht, es wird anonymisiert, niemand muss Angst haben, dass das außerhalb unserer Mauern landet«, sagt Jutta Landwehr.

Die Angst, die nehmen sie in der Biff. Sie sind eine Erstanlaufstelle. Ein Satz, den sie oft hören von den Frauen: Das, was ich jetzt sage, habe ich noch niemandem erzählt. »Diesen Schritt zu machen, ist so schwer«, sagt Landwehr, »aber wir geben dem Raum. Wir glauben den Frauen, wir hören ihnen zu. Machen Krisenintervention. Und irgendwann beginnen wir damit, ihnen Wege anzu bieten, wie sie sich aus ihrer Situation befreien können.«

› DIE KRAFT DER FRAUEN

Das heißt für Jutta Landwehr und ihre Kolleginnen: zu vermitteln – in Therapien, zu anderen Beratungsstellen, an Anwältinnen, in Frauenhäuser. Und überhaupt,

»Wir Schweigepflicht«,haben sagt Jutta »niemandLandwehr,mussAngsthaben,dassetwasaußerhalbunsererMauernlandet.«

Heute nicht, sagt Klaus Schade. Ist zu viel Wind auf der Elbe, wird auch knapp mit der Tide jetzt, und das bedeutet: Die Ruxgang bleibt heute an Land und wird nicht den Kutter besteigen, nächste Woche wird dann wieder gerudert. Vielleicht. Und was soll man sagen: Die acht Frauen, mit wenigen Ausnahmen in ihren Achtzigern, nehmen die Ansage des Kutterführers mit hanseatischer Gelassenheit hin. Kein Wunder: Es ist ja auch sehr gut aushaltbar hier im Außenbereich des Pontons, dem schwimmenden Vereinshaus ihres Clubs, hier ist die Brise angenehm, die Sonne wärmt von Westsüdwest. Und überhaupt: Greta Westphalen hatte ja gerade Geburtstag, also erstmal eine Runde Sekt für alle! Okay. Ruxgang? Kutter? Club? Lauter weißhaarige Frauen? Hier besteht Klärungsbedarf, und das fängt schon bei den Vokabeln an. Beim Kutter zum Beispiel handelt es sich um einen sogenannten Jugendwanderkutter, und hier, beim Blankeneser Segel Club von 1898, gelegen unterhalb von Baurs Park, lernen seit über hundert Jahren Jugendliche das gemeinsame Segeln auf diesen Booten. Die Gang, das sind die acht nun wirklich nicht mehr

Kooperation, diese typisch weibliche Superkraft, wird von den Frauen der Biff besonders oft eingesetzt. Harburg ist eine Gegend mit einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, fast die Hälfte der Frauen, die hier aufschlagen, sind in einer Kultur aufgewachsen, in der … sagen wir mal: es nicht selbstverständlich ist, sich bei Problemen Hilfe von außen zu holen. »Wir suchen den Kontakt zu den Sozialraum Managerinnen, bilden Arbeits kreise – wir wollen die Schwelle, über die Frauen den Weg zu uns finden, möglichst niedrig halten.« Viel passiert von Mund zu Mund: Die helfen dir, denen kannst du Esvertrauen.gibtzwei Juristinnen für die rechtlichen Fragen, die oft kompliziert genug sind. Landwehr aber setzt an anderer Stelle an. Sie ist ausgebildete Diplompädagogin und hat sich noch einen Haufen Zusatzausbildungen draufgeschafft. Traumatherapie zum Beispiel. Ego State Thera pie. »Gesprächspsychotherapeutische Beratungsausbil dung«, sagt sie. Ihre Kollegin Hübner ist Psychologin, und das bedeutet: In Harburg finden auch und vor allem Frauen Zuflucht, deren Seele leidet. Die Biff ist vor über 40 Jahren aus der feministischen Bewegung entstanden, »das war zuerst ein Gesprächs kreis«, sagt Landwehr. Irgendwann wurde die Behörde ins Boot geholt und das Ganze professionalisiert, und jetzt hat die Biff drei Standorte: das Harburger Büro, ein eigener e. V. in Eimsbüttel, der nach dem Biff Konzept arbeitet, und der Trägerverein, der in Winterhude sitzt. Und dort, einmal über die Straße rüber, wohnte einst Jutta Land wehr, so ist sie überhaupt zur Biff gekommen. Sie hatte Mitte der Neunziger ihr erstes Kind bekommen und sechs Jahre später das zweite. »Man könnte sagen: Ich war ziemlich raus aus dem Job«, sagt sie. Aber die Frauen drüben in der Biff, die fand sie toll. An einem schönen Tag saßen die mal draußen vor ihrem Büro, auf dem Hof am Goldbekhaus. Jutta kam an ihnen vorbei und blieb stehen. »Ich habe nur gesagt: Irgendwann werde ich bei euch arbeiten. Und dann bin ich weitergegangen«, sagt sie und grinst. Ein paar Jahre später kam sie zurück, den jüngsten Sohn auf dem Arm, und fragte nach einem Praktikumsplatz. Bekam ihn. Wurde Honorarkraft. Und 2012 angestellt, als in Harburg eine Stelle frei wurde. Sie fing damals gemeinsam mit Brigitte Hübner an, die mit 40 ihr Leben einmal komplett umgedreht hat – Abitur nachgemacht, Studium drange hängt, Psychologin geworden. Landwehr ist 54, Hübner 18 Jahre älter, sie sind ein gutes Team, mehr als ein ganzes Jahrzehnt lang schon. Vor der Tür in diesem uralten Gebäude hängt ein Zettel in einem Kasten. »Sprechstunde für geflüchtete Frauen« steht drauf, auf Deutsch, Arabisch, dem afghani schen Dari und Tigrinya, »das wird in Äthiopien und Eritrea gesprochen«, sagt Landwehr. Seit 2015 hat die Biff ein Zusatzprogramm für Geflüchtete. Die Geschichten, die sie seitdem hören, sind oft ähnlich und immer berüh rend. Handeln von Verlust, von Missbrauch, vom Nirgend wohin Gehören. »Und was die hier in den Unterkünften erleben, das Eingepfercht Sein, das Nichtverstehen der Sprache und des Systems, die häufige Drohung, abgescho ben zu werden – das triggert die Ohnmacht vieler Frauen«, sagt Landwehr. Anfangs haben sie in der Biff versucht, den Frauen in Gruppen ihre Situation klarzumachen. Bis sie irgendwann feststellten: Das funktioniert nicht, »wer bitte sind wir, denen ihre Welt zu erklären?« Also haben sie wieder mal zugehört, in Einzelgesprächen. Und gelernt.

Jutta Landwehr sagt, dass jede einzelne der Frauen, deren Geschichte sie hört, ihr ans Herz wächst, anders kann sie nicht. Aber sie weiß eben auch: Die sind in der Biff gut aufgehoben. Und bei sich. Denn auch das ist etwas, das sie täglich aufs Neue lernt: Frauen sind stark. »Und sehr oft viel stärker, als sie selbst glauben«, sagt Landwehr. »Dass wir dabei helfen dürfen, dass sie das erkennen – das macht mich sehr glücklich.«

EIN ANKER IN DER GESCHICHTE

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leuten, alle seine Brüder waren wie er Elb und Hafenlotsen. Vor 17 Jahren ist er in Rente gegangen, seit zehn Jahren passt er darauf auf, dass seine Ruxgang den richtigen Weg auf dem Wasser findet. Und vor allem: im richtigen Rhythmus. Muss ja alles schön synchron sein, »sonst fährt man kreuz und quer herum«, sagt er. Aber nicht mit denen hier. »Kann schon sein, dass es ein bisschen weniger geworden ist mit der Kraft, aber tech nisch sind die alle immer noch perfekt«, sagt Schade, »anders ausgedrückt: volle Punktzahl in der B Note.«

»Kann schon sein, dass es ein bisschen weniger geworden ist mit der Kraft«, sagt Klaus Schade, »aber technisch sind die alle immer noch perfekt.«

jugendlichen Damen, von denen es später mehr zu erzählen geben wird. Und Ruxen? Ist nichts anderes als Rudern. Vier Frauen backbord im Kutter, vier auf der Steuerbordseite, und dann geht es raus auf die Elbe, immer donnerstags. Theoretisch jedenfalls, wie man heute sieht. Klaus Schade überblickt die muntere Runde vor sich. »Gab schon Jahre, da sind wir nicht öfter als vier , fünfmal auf den Fluss gekommen«, sagt er. Klaus Schade ist der Kutterführer dieser Gruppe, braucht ja irgendwie immer einen, der den Hut auf hat. Er eignet sich auch bestens dafür. 82 ist der Klaus, er kommt in siebter Generation aus einer Familie von See­

Aber Moment mal: Wieso wird auf einem Segelboot überhaupt gerudert? Das, sagt der Kutterführer, hängt mit den besonderen Situationen zusammen, die man auf so einem Kutter erleben kann, besonders auf der Elbe. Wenn der Wind mal falsch steht. Wenn die Segel nicht zur Verfügung stehen. Wenn man schnell mal einem der großen Pötte auf der Elbe ausweichen muss. »Das Ruxen«, sagt Klaus Schade, »gehört zur Segelausbildung dazu. Und das muss nun mal auch geübt werden.«

Auf eine interessante Art sind diese Frauen viel jünger als die Daten in ihren Ausweisen. Drahtig, leben dig, agil, unprätentiös, die meisten in Jeans und Pulli, durch und durch Bewohnerinnen des Dorfs Blankenese, das es früher mal war und heute immer noch ein bisschen ist. Dieser Club ist auch eine Art Zuflucht in die eigene Vergangenheit. Oder vielleicht ein Anker in der Geschichte dieser Frauen, des Dorfes um sie herum, des Clubs, in dem sie sich jeden Donnerstag treffen, mindestens.

Jetzt geht’s dann doch noch mal runter auf den Schlengel. Wenigstens für ein Foto wollen die acht auf den Kutter, naja: sieben von ihnen. Ute Schierbeck bleibt lieber draußen, das Knie will nicht so. Hilke Gudewer starrt sie von Bord aus ungläubig an. »Das ist doch nicht dein Ernst«, ruft sie Ute zu, ihrer besten Freundin seit der Grundschule, »jetzt stell dich doch nicht so bescheuert an!« Da holt Ute einmal tief Luft, zeigt mit dem Finger auf Hilke und brüllt: »Halt du bloß deine Schnauze, du … süße kleine Maus!« Zärtlicher ist noch nie jemand beleidigt worden. Und vielleicht muss man viel mehr auch gar nicht wissen über die Ruxgang von Klaus und Hilke und all den anderen.

Die meisten der Frauen hier sind schon ihr ganzes Leben mit dem Club und dem Fluss verbandelt. Hannelore Droop zum Beispiel, deren Mutter 1919 dabei war, als Grete Tetzen dafür gesorgt hat, dass Mädchen überhaupt auf den Kutter dürfen. Oder Hilke Gudewer, die 1953 mit der Kuttersegelei angefangen hat, da war sie gerade mal ein Backfisch. Oder Maren Ganssauge, die jetzt zwei Schwarzweiß Fotos aus der Handtasche zieht. Die sind 1957 im »Hamburger Abendblatt« erschienen, in der vielleicht ersten Geschichte, die über die rudernden Mädchen geschrieben worden ist. Maren sitzt auf dem Bild vorn, Hilke hinten, in den Gesichtern Konzentration und Spaß.Irgendwann war Schluss mit dem Kuttersegeln, ist ja explizit für junge Leute gedacht. Aber sie haben sich weiterhin getroffen, und es war 1983, als Hilke Gudewer so bei sich dachte, dass die Kutter des Clubs oft genug ungenutzt im kleinen Hafen des Vereins am Schlengel herumlagen. Und sie kurzerhand die Ruxgang gründete, mit ihren Freundinnen von früher. Inge Hülsen war die erste Kutterführerin, die heute 92 ist und im Pflegeheim lebt und neulich für 75 Jahre Mitgliedschaft im BSC geehrt wurde, samt goldener Ehrennadel mit Stein. Vier Gruppen gibt es heute insgesamt, alle mit Leuten im Rentenalter bestückt. Und jetzt hat irgendjemand Pommes beim Vereinswirt bestellt, die kreisen um den Tisch herum, gemeinsam mit den Anekdoten und Erinnerun gen. Wie alle damals für Schwenn geschwärmt haben, den Vater von Dörte Klein. Und, Gottogott, für Sönke Breckwoldt, den Bruder von Maren, der ihr Kutterführer war und so eine fantastische Ausstrahlung hatte und segeln konnte wie der Teufel persönlich.

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r e P ort AG e 81 IM INTERVIEW Hierzulande zählt die deutsch-griechische Pianistin Danae Dörken zu den wichtigsten Pianistinnen ihrer Generation. UNSTERBLICH

Schwede Martin Fröst ist ein herausragender Klarinettist und zudem äußerst experimentierfreudig DIE ZEHN BESTEN

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Über den Stand der Gleichberechtigung

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bei Orchestern GRENZENLOS Die lettische Geigerin Baiba Skride liebt es, sich einer Sache ganz intensiv zu widmen. DIE ZEHN BESTEN Eine Auswahl von herausragenden TonschöpferinnenderGegenwart.

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i m P ressum Die nächste Ausgabe des Elbphilharmonie Magazins erscheint Mitte Dezember 2022.

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„Ich träume davon, mit meiner Musik Menschen zu berühren und zusammenzubringen.“

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