Vorschau: LUX360°

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LUX360°

In Zusammenarbeit mit Green City Energy AG

Rund um Energie III Umwelt III Wirtschaft III Nachhaltigkeit APRIL 2016

BEHERRSCHEN UND BEWAHREN III Das Spiel mit den Elementen Feuer und Wasser, Luft und Erde geht weiter.

Der MÜLL heißt jetzt WERTSTOFF Seite 6 Richtig GELD anlegen Seite 14 WER PRÜFT die Label Seite 20 EINE BEILAGE IN DER SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG


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VERKEHRSPLANUNG

DAS ROTGRÜN-

PROBLEM Ob in Städten oder auf den Autobahnen, wer in Nordrhein-Westfalen mit dem Auto unterwegs ist, kennt das Gefühl, mehr zu stehen als zu fahren. Das kostet nicht nur Zeit, sondern verschwendet auch Energie und erhöht den CO2-Ausstoß. Experten überlegen daher, wie sich der Verkehrsfluss verbessern lässt – und setzen dabei auf S C H LA U E A MP E L N, Tricks auf der Autobahn sowie das vernetzte Auto. VON ANDRÉ BOSSE (TEXT) UND FREDERIC RÄTSCH (ILLUSTRATION)

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in Selbstversuch in Köln: zur Mittagszeit vom Zentrum aus mit dem Auto zu einem Biobauernhof am Rande der Stadt. Das Navi, ein älteres Modell, gibt als Fahrzeit 15 Minuten an. Die Strecke beträgt zehn Kilometer, das müsste zu schaffen sein. Doch kaum läuft der Wagen, steht er schon wieder. Die ersten drei Ampeln heraus aus dem Wohngebiet stehen auf Rot, jeweils fast eine Minute lang – und das, obwohl schon nach wenigen Sekunden keine anderen Autos mehr die Grünphase des Querverkehrs nutzen. Also: anhalten, bei laufendem Motor warten, wieder anfahren. Auf der großen Ausfallstraße staut sich dann der Verkehr, eine Ampel reiht sich an die nächste. An einer großen 1/2016 LUX 360° 11


ENGAGIERT

GUTE NACHRICHTEN EVIDENT stellt ihnen M E N S C H E N vor, die mit ihrem Engagement für die Umwelt etwas erreicht haben – auf ganz unterschiedlichen Wegen. Von Katrin Lange

III S A U B E R E M O B I L I TÄT Über 8.000 Kinder haben seit 2005 am Projekt Mobi-Race, das wir im Auftrag der Münchner Verkehrsgesellschaft durchführen, teilgenommen. Hierzu haben wir an die 110 Klassen der 4. und 5. Jahrgangsstufe besucht, um die Schüler fit in klimafreundlicher Mobilität zu machen – und zwar in Theorie und Praxis. Das Mobi-Race bringt immer frischen Wind in den Stundenplan. Nachdem wir gemeinsam üben, wie man sich korrekt im öffentlichen Nahverkehr verhält, Fahrpläne liest und Routen plant, wird das neu erworbene Wissen in die Tat umgesetzt: bei einer spannenden Rallye durch ganz München – natürlich mit Bus, Tram und Bahn. Während der Rallye müssen Gruppen von vier bis sechs Kindern gemeinsam ihren Weg durch die Stadt finden und an vorgegebenen Stationen Rätselfragen lösen. Damit schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen baut Mobi-Race Hemmschwellen ab und verhilft den Kindern zu mehr Selbstständigkeit. Das Alter der teilnehmenden Schüler ist bewusst gewählt: Beim Übertritt in eine weiterführende Schule werden

VANESSA MANTINI, Bereichsleiterin Umweltbildung bei Green City, der größten Umweltschutzorganisation in München

auch die Wege länger. Was zu Fuß oder mit dem Rad nicht mehr zu bewältigen ist, kann durch ein gutes ÖPNV-Netz aufgefangen werden. Dies erkennen auch die Schulen: Waren es 2005 drei, beteiligen sich nun jährlich rund 15 Schulen am Projekt. Für die Eltern ist Mobi-Race ebenfalls ein Gewinn, wird doch der Nachwuchs unabhängiger vom „Eltern-Taxi“. Für Green City steht natürlich der Klimaschutz im Vordergrund. Wer frühzeitig lernt, umweltschonend unterwegs zu sein, für den wird auch in späteren Jahren die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel selbstverständlich bleiben. Durch Mobi-Race lernen die Kinder, alltägliche Entscheidungen, die unser Klima beeinflussen, sinnvoll abzuwägen – und haben viel Spaß dabei.

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III FA I R E T E X T I L I E N Bei Dibella haben wir seit ungefähr drei Jahren nachhaltig produzierte Waren im Sortiment. Damals haben wir unseren ersten Nachhaltigkeitsbericht verfasst und unsere Lieferketten analysiert. Dabei mussten wir feststellen, dass es dort immenses Verbesserungspotenzial gibt. Die Baumwollproduktion verRALF HELLMANN, Geschäftsführer des Textilunternehmens Dibella und Gründer von MaxTex, einer Vereinigung von Unternehmen, die für mehr Nachhaltigkeit in der Textilindustrie sorgen will

braucht weltweit so viel Wasser wie alle Privathaushalte zusammen, außerdem gehen18 Prozent aller eingesetzten Pestizide auf ihr Konto. Die Arbeitsbedingungen von Baumwollfarmern und Textilarbeitern sind oft katastrophal, die Löhne ebenfalls. Deshalb haben wir uns entschieden, Waren, die nach den Prinzipien von Fairtrade produziert werden, ins Sortiment zu nehmen. Nur leider ist es für uns als „Einzelkämpfer“ nicht leicht gewesen, genügend Kunden dafür zu begeistern, da diese Ware zwar sozial und ökologisch wertiger, aber auch teurer ist als konventionell produzierte. In der Textilbranche geht es meistens über die Preise, und die sind seit Jahren rückläufig. Es gibt nur wenige, die für ihr gutes Gewissen auch einen höheren Preis zahlen wollen. Jene Kunden, die sich für nachhaltige Produkte entscheiden, wünschen sich in der Regel ein komplettes Sortiment. Da lag die Idee nahe, sich mit Partnern zusammenzuschließen. Im Team können wir die höheren Preise und den höheren Wert der Ware kommunizieren. Das Interesse an dem gerade erst gegründeten Verein ist groß, wir sind in Diskussion mit mehreren Unternehmen, die sich uns anschließen wollen. Vielleicht gelingt es uns, über MaxTex die Nachfrage nach nachhaltigen Textilien zu erhöhen.


TO-DO-LISTE

III V E R B O T E N E S H O L Z Wir von der EIA wollen globale Umweltprobleme bekämpfen und systematische Lösungen finden, die langfristig funktionieren. Als ehemalige Greenpeacer sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass nichts mächtiger ist als unwiderlegbare Beweise für Umweltverbrechen, um politisch etwas zu bewegen. Deshalb haben wir die EIA gegründet und sind „Umweltdetektive“ geworden. Unsere Themen sind illegaler Handel mit bedrohten Tierarten, Handel mit gefährlichen Chemikalien und der Handel mit Raubholz. Wenn ich selbst „im Feld“ bin, geht es meist um Holzhandel. Mir war der Wald immer sehr wichtig, vielleicht ist das etwas typisch Deutsches, diese Liebe zum Wald. Aber die Wälder sind besonders gefährdet. Sie sind weit weg vom Einfluss der Regierungen, und dort ist es am leichtesten, illegal zu agieren und sich einfach zu nehmen, was man will. Wälder zu erhalten, ist eine der größten globalen Herausforderungen. Bisher konnte illegal geschlagenes Holz ohne großes Risiko weiterverkauft werden. Solange diese Handelskette nicht durchbrochen wird, kann die Vernichtung der Wälder in Südamerika, Südostasien oder Afrika nicht gestoppt werden, weil die Konsumenten in den reichen Ländern den Kriminellen das Geld in die Taschen schieben. Jetzt haben wir erreicht, dass es in den USA, in Europa und Australien Gesetze gibt, die dem Handel mit illegalem Holz die finanzielle Grundlage entziehen. Die EIA hat nicht nur die Beweise gesammelt, sondern hatte auch die Ehre, hier in den USA eine Koalition aus allen großen Umweltverbänden zu führen. Gemeinsam sind wir zu dem Entschluss gekommen,

Fotos: Julilane Gregor, Dibella, EIA

ALEXANDER VON BISMARCK, Chef der Washingtoner Umweltschutzorganisation Environmental Investigation Agency (EIA)

dass auch der Handel mit Raubholz verboten werden muss. Wir haben es geschafft, die Holzindustrie auf unsere Seite zu bekommen, und schließlich an der Formulierung des Gesetzes mitgearbeitet. Ohne Widerstand blieb das nicht. Die erste Firma, die mit dem neuen Gesetz in Konflikt geriet, war der amerikanische Gitarrenbauer Gibson. Um das zu beweisen, war ich selbst in Madagaskar unterwegs. Der Chef von Gibson hat aber beste Verbindungen zu den Republikanern, die das Beispiel Gibson ein paar Wochen lang als Beleg dafür in den Medien breitgetreten haben, dass die Obama-Regierung beim Umweltschutz zu weit geht. Beinahe hätten wir das Gesetz wieder verloren. All das mag nicht so spektakulär erscheinen wie der Einsatz vor Ort in den Wäldern. Dort sind Hunderte Menschen gestorben, auch Freunde von uns. Aber nun gibt es wenigstens eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen. Als Umweltaktivist hat man vielleicht nur einmal im Leben die Möglichkeit, ein globales Problem langfristig zu lösen. Wir können in den nächsten Jahren die Regeln des internationalen Holzhandels verändern. Die reichen Industrienationen müssen den Weg zeigen, dann werden vielleicht auch Länder wie China folgen.

Es gibt viel zu tun N I T R AT B E L A S T U N G In landwirtschaftlich geprägten Regionen Deutschlands macht die Überdüngung der Felder mit Gärresten oder Gülle dem Grundwasser zu schaffen. Vielerorts sind die Belastungen mit Nitrat viel höher als erlaubt. Dies kann bei Verbrauchern unter anderem zu Krebserkrankungen führen. Wie lange können wir unser Trinkwasser noch bedenkenlos trinken? Werden manche Städte und Gemeinden bald per Tanklaster mit Trinkwasser versorgt? Wir brauchen daher dringend eine neue, schärfere Düngemittelverordnung mit vorgegebenen Höchstmengen und einem Düngeverbot in Zeiten, in denen Pflanzen keinen Dünger benötigen. A LU V E R PA C K U N G E N Nach neuen Erkenntnissen ita­lienischer Wissenschaftler steht Aluminium – wie bereits in den 1970erund 1980er-Jahren – erneut unter Verdacht, für das Sterben der Nervenzellen bei der Alzheimer-Erkrankung mitverantwortlich zu sein. Außerdem könnten Antitranspirante mit Aluminium das Risiko für Brustkrebs erhöhen. Daher sollten alle Aluverpackungen daraufhin überprüft werden, ob man nicht auch ein anderes Material dafür verwenden könnte. Auch Kosmetikprodukte, die Aluminiumsalze enthalten, müssen auf den Prüfstand. PLASTIKMÜLL Unsere Meere versinken im Kunststoffmüll. Dieser kostet jährlich Zehntausende Tiere das L ­ eben. So findet man im Magen von Seevögeln immer häufiger Kunststoffteile. Laut dem deutschen Umwelt­bundesamt befinden sich zwischen 100 und 150 Millionen Tonnen Müll in den Ozeanen – 60 Prozent davon aus Plastik. Wie lässt sich das Müllproblem eindämmen? Fischer könnten für das Einsammeln von Meeresmüll belohnt werden. Oder man beauftragt Unternehmen mit der Bergung der Müllteppiche. Besser wäre es allerdings, Plastikabfälle weitgehend zu vermeiden. ELEKTROAUTOS Spezielle Parkplätze und die Erlaubnis, Busspuren zu benutzen, reichen nicht aus, um das von der Bundesregierung für 2020 postulierte Ziel „1.000.000 Elektroautos in Deutschland“ zu erreichen. Wir brauchen stärkere Anreize, vor allem finanzielle. Norwegen hat es vorgemacht. Dort wurde der Kauf von E-Autos unter anderem durch

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QUERDENKER

AUS DER CHEFETAGE

Von oben sieht man besser. Heinz Häberle hatte als Leiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt bei München in den 1980er-Jahren einen guten Blick von oben auf den Planeten Erde und seinen zusehends schlechten Zustand. Also scharte der Professor ihm bekannte Wissenschaftler, Unternehmer und Geschäftsleute um sich und gründete die Umwelt-Akademie. Vor 25 Jahren war sie ein Pionierprojekt, heute ist die Umwelt-Akademie eine Münchner Institution, E INE P LATTFORM F Ü R I NFORM AT I ON U ND DIS K USS I ON, E IN T H INK TA NK U ND EI NE ÖKOLOB BY, die auf kommunaler Ebene politisch Einfluss nimmt. Nach wie vor wird der Verein von prominenten Persönlichkeiten getragen – davon jeder ein Experte auf seinem Gebiet. Ein Porträt in vier Teilen. VON ELISA HOLZ (TEXT) UND ALESSANDRA SCHELLNEGGER (FOTOS)

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DER BUSINESS-ETHIKER PETER GRASSMANN FORDERT, DIE WIRTSCHAFT ENDLICH AN DIE KANDARE ZU NEHMEN

eter Grassmann setzt sich und bestellt eine Tasse Tee: „Aber bitte irgendeine Sorte ohne Koffein.“ Um den Schlaf des Topmanagers a. D. ist es seit der Finanzkrise nicht gut bestellt. Zu schaffen macht ihm auch der Klimawandel und die Unfähig- und Unwilligkeit, diesen zu stoppen. „Ich schäme mich jeden Tag“, sagt er. „Wirtschaft, Industrie und Finanzwesen versündigen sich an den kommenden Generationen und am Wohlergehen des gesamten Planeten.“ Das Wirtschaftssystem, so sein Befund, ist aus den Fugen geraten. Dr. Peter Grassmann weiß, wovon er spricht. Schließlich war er lange Jahre als Generaldirektor und Vorstandsmitglied bei Siemens und Vorstandsvorsitzender des Optikkonzerns Carl Zeiss ein herausragender Repräsentant dieses Systems. Seit seiner Pensionierung vor 13 Jahren wirbt er nun für ein anderes, ein besseres, ein „ökosoziales“ Wirtschaftssystem. „Marktwirtschaft braucht ein starkes Regelwerk, sie darf nicht zu frei sein“, sagt Grassmann. Er fordert einen starken Staat, der Wirtschaft, Indus­trie und Finanzwesen einen Ethik-Kodex verordnet, ein verbindliches Regelwerk, das unter Mitsprache externer Institutionen wie Nicht­regierungsorganisationen erstellt und zwingend eingehalten werden muss. „Freiwilligkeit funktioniert nicht, sie lässt der Gier zu viel Raum“, sagt Grassmann. Der 74-jährige Ingenieur und Physiker ist nicht erst im Ruhestand vom „Saulus zum Paulus“ geworden, wie er sagt. Aber trotz aller Macht als Topmanager habe auch er nicht den nötigen Freiraum gehabt, um die Spiel­regeln zu ändern. „Da wäre die Karriere schnell vorbei gewesen“, sagt Grassmann. Heute beurteilt die Gesellschaft das Geschäftsgebaren ihrer Wirtschaftseliten kritischer. In den Unternehmen hingegen bemerkt Grassmann kein Umdenken. Deshalb sei es gerade im Moment so wichtig, das Thema Regulierung der Wirtschaft nicht wieder im Getriebe des globalen Wettbewerbs verschwinden zu lassen. Grassmann hat zwei Bücher zu dem Themenkomplex geschrieben, er hält Vorträge, organisiert Gesprächsrunden – und er nutzt sein Netzwerk, um im Rahmen der Umwelt-Akademie Finanzwirtschaft und Industrie endlich in die Pflicht zu nehmen. Er will auch diejenigen Kreise erreichen, die „nicht eh schon katholisch sind“. Aber Lobby1/2016 LUX 360° 21


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DER MUTBÜRGER HELMUT PASCHLAU KÄMPFT FÜR DIE ENERGIEWENDE

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as eigentliche Metier von Dr. Helmut Paschlau ist nicht die Ver-, sondern die Entsorgung. Fünf Jahre hat er in München das Amt für Abfallwirtschaft geleitet, danach wurde er Vorstand der Berliner Stadtreinigungsbetriebe und damit „oberster Müllmensch“ von Europas größtem kommunalem Entsorgungsunternehmen. Inzwischen findet er die Abfallwirtschaft in Deutschland nur noch „wenig prickelnd“. Dafür kämpft er mit Leidenschaft für die Energieversorgung aus erneuerbaren Energien.

III DIE ENTSCHEIDENDE FRAGE: „WIE GEHEN WIR MITEINANDER UM?“ „Mutbürger für die Energiewende“ heißt die Veranstaltungsreihe, die Paschlau für die Umwelt-Akademie organisiert. Es geht um Argumente, um Dialog und den gesamtgesellschaftlichen Kontext, in den man das generationenübergreifende Mammutprojekt Energiewende denken muss. „Mich interessieren nicht die Nabenhöhen von Windrädern, sondern zivilgesellschaftliche Zusammenhänge“, sagt Paschlau. Deshalb lädt er zum Beispiel einen Philosophieprofessor ein, der über den Zusammenhang von Glück und Energiewende spricht, oder auch einen Hirnforscher, der erklärt, warum wir nicht tun, was wir tun sollten. Ein Dilemma, das bereits seine erste Veranstaltung für die UmweltAkademie offenbarte. Geladen hatte Paschlau einen Geothermieunternehmer und den Investor eines Windrads plus die Bürgerinitiativen, die sich gegründet hatten, um diese Projekte zu verhindern. „Wie gehen wir miteinander um?“, das war für den Wirtschaftsingenieur die entscheidende Frage. Die Antwort lieferte das abermalige Aufeinandertreffen der Diskutanten nach einem Jahr: Das Wind22

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rad-Projekt war abgeblasen und die Geothermieanlage hatte zwischenzeitlich die x-te Instanz vor dem Verwaltungsgericht erreicht. „So schaffen wir die Energiewende nicht“, Paschlau wird bei dem Thema leicht ungehalten. Was also tun? Helmut Paschlau setzt auf Mutbürger. Auf Bürger, die etwas erreichen und nicht nur Projekte verhindern wollen. „Mutbürger wird man durch Information,

durch aktive Beteiligung von Bürgern und Verbänden. Das schafft Akzeptanz“, ist Paschlau überzeugt. Die Umwelt-Akademie als lokal agierende und unabhängige Organisation ist für ihn dabei eine ideale Plattform. „Die Energiewende muss dezentral organisiert und deshalb auch dezentral angeschoben werden“, sagt Paschlau. München als Stadt eines seit jeher „aufmüpfigen Bürgertums“ sei eine gute


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DER ÖKOPIONIER GEORG SCHWEISFURTH STEHT FÜR EINE ÖKOLOGISCH NACHHALTIGE ERNÄHRUNGSKULTUR

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er Mensch ist kein Tier, oder doch? „Wie ein Elefant ist die Menschheit durchs Gebüsch gebrochen und hat einen riesigen Flurschaden hinterlassen“, sagt Georg Schweisfurth, gelernter Metzger, studierter Ökonom, Ökounternehmer und Autor. Dass der Elefant sein Tempo wohl verlangsamt und den Rüssel ein wenig nachdenklich hin- und herwiegt, ist auch Menschen wie ihm zu verdanken. Die Beschäftigung mit gesunder Ernährung, ökologischem Landbau und artgerechter Tierhaltung gehört zur Familiengeschichte der Schweisfurths. 1984 vollführte Vater Karl Ludwig die Kehrtwende, verkaufte seine große Fleisch- und Wurstfabrik und gründete bei München die Herrmannsdorfer Landwerkstätten, wo Lebensmittel strikt nach den Grundsätzen von ökologischem Landbau produziert und Tiere artgerecht gehalten werden. Ein kleines, feines Unternehmen. Sein Sohn Georg indes

Siegel gibt es mittlerweile für Lebensmittel. Diesen Siegel-wald haben Experten im Auftrag der UmweltAkademie gründlich durchleuchtet – eine von vielen Aktionen, die Schweisfurth organisiert hat. Der Ökopionier nimmt sein Engagement als Ernährungsexperte dieser Institution sehr ernst. „Da geht es nicht um Pöstchen“, sagt er, der unter ande-

rem in der eigenen Familienstiftung und im Aufsichtsrat von Greenpeace sitzt. Schweisfurth will aufklären und für einen verantwortungsbewussten und respektvollen Umgang mit natürlichen Ressourcen werben. Nur was wir kennen, können wir schätzen. Wir sind noch am Anfang. „Es ist eine sanfte, aber permanente Revolution“, so seine Ein-

III „WIR SIND IN DER VERANTWORTUNG.“ wollte „Bio für alle“. So lautete zumindest der Slogan der Biosupermarktkette Basic, die er 1997 gründete. Damals habe das die Gemüter erregt. Dabei habe er nur deutlich machen wollen, dass ökologisch erzeugte Lebensmittel alle etwas angehen: „Wir sind in der Verantwortung.“ Schließlich hat unsere Ernährung nicht nur Auswirkungen auf die eigene Gesundheit, sondern auch auf das Wohlergehen des gesamten Planeten. Dass Bio-lebensmittel inzwischen so einen hohen Stellenwert beim Verbraucher haben, ist für Schweisfurth eine „Wahnsinnsleistung“. Längst beinhaltet der Begriff Bio viel mehr als das Anbausystem, das dieser eigentlich bezeichnet. Bio ist ein Versprechen, das von vielen nur zu gern gegeben wird. 2.500 1/2016 LUX 360° 23


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DARF ICH DIESEN Wer sich auf die Suche nach ökologisch korrekten Lebensmitteln oder Produkten begibt, gerät in einen LAB ELDSCH U NGEL. Verlässliche Aussagen zu finden ist schwer. VON FRANK KEIL

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FISCH ESSEN?

Fotos: Fotolia

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ch mag Räucherlachs. Ich mag diesen leicht tranigen und, um es ehrlich zu sagen, auch fettigen Geschmack. Und zugleich habe ich, wie wohl viele Verbraucher, die Bilder von Lachsen im Kopf, die zu Hunderten irgendwo in einem Aquabecken dicht gedrängt über- und untereinander schwimmen, wo ich es doch lieber hätte, dass mein Lachs so gefangen wird, wie vom Bären in der Tiersendung auf einem der Dritten Programme nach der Tagesschau: einzeln und mit Würde. Also trägt die Packung, aus der ich meinen Lachs hole, zwei Aufdrucke. Der erste ist von der Zeitschrift Öko-Test, die meinen Lachs mit „Sehr gut“ bewertet hat. Erteilt im Dezember 2009, was schon etwas länger her ist. Aber die Ausgabe ist noch online lesbar, auch wenn das Testergebnis nicht allzu viel über ökologische und soziale Standards berichtet. Außerdem findet sich das Label von Naturland, von dem ich gehört habe, dass es ein besonders strenges Bio-Label sein soll, das auch soziale Kriterien berücksichtige, etwa das Recht der Beschäftigten, Gewerkschaften beizutreten oder auch zu gründen. Mich interessiert lachsbezogen besonders, wie viel Fischfutter meinem Naturland-Lachs zugeführt wurde, wird doch in den Welt1/2016 LUX 360° 29


THEMA

meeren immer mehr Fisch nicht für den direkten Verzehr gefangen, sondern um als Fischfutter für die boomende Aquazucht zu dienen. Nun lese ich bei den Angaben zur Zufütterung bei der NaturlandAquakultur: „Ziel ist (…), den Anteil an Fischmehl/-öl in der Ration auf ein Mindestmaß zu senken.“ Mindestmaß – aha! Es wird nicht das letzte Mal sein, dass ich auf eine Definition stoße, die streng genommen keine ist. Keine für den Alltag praktikable jedenfalls. ICH RUFE BEI EINER – sagen wir mal – Institution an, die mit Zertifizierungen zu tun hat. Denn was mir dort in den nächsten Minuten gesagt wird, dürfe ich auf keinen Fall namentlich zitieren: „Diese ganzen Label, das ist doch eine einzige Verbraucherverarsche!“ Da könne doch kein Mensch den Überblick behalten, was ja auch so gewollt sei. Man erfinde täglich Label, allein um den Verbraucher endgültig zu verwirren! Bis der sage: 'Ach, ist doch egal!' Die Stimme am Telefon ist sehr, sehr aufgebracht. Und in der Tat: Bis zu tausend Label stehen uns Verbrauchern mittlerweile gegenüber. Für einzelne Produkte wie meinen geräucherten Lachs in Scheiben über Dämmstoffe für den Hausbau bis hin zu ganzen Schiffen. Tendenz steigend. Vorbei die Zeiten, wo allein ein blauer Engel einen unter seine Flügel nahm und sagte: 'Alles ist gut, wenn du nur darauf achtest, ob ich da bin.' 1978 war das, als der damalige Innenminister Werner Maihofer ihn auf die Erde schickte. „Wir gehen beim Blauen Engel langsam auf den 40. Geburtstag zu und es hat in der Vergangenheit kaum Verstöße gegeben“, sagt Hans-Hermann Eggers vom Bundesumweltamt in Dessau. Alles eingespielt, alles gut. „Man ist natürlich nie dagegen gefeit, dass es in Ausnahmefällen eine gewisse kriminelle Energie geben kann, entsprechende Verstöße muss man dann prüfen und natürlich sanktionieren – etwa das Label entziehen.“ GIBT ES HEUTE ähnlich starke Label, die er seitens seiner Behörde empfehlen kann? Ja: das EU-Bio-Siegel und das Fairtrade-Siegel. Er nennt noch das FSC-Siegel für Holz und Holzprodukte, und auch das Konkurrenzlabel PEFC kommt gut weg. Hat er genügend Personal, um alle nötigen Kontrollen durchführen zu lassen? Er lacht auf und 30

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III TANZ MIT DEM TEUFEL: WENN TIERSCHÜTZER ETWAS BEWIRKEN WOLLEN, MÜSSEN SIE MIT DER FLEISCHINDUSTRIE ZUSAMMENARBEITEN. gibt die typische Behördenantwort: „Wissen Sie, man hat nie genug Personal!“ Aber ja doch – sie sind nicht schlecht ausgestattet, das passt schon. Und er verweist zum Schluss – und seine sonore Stimme wird plötzlich fast jugendlich heiter – auf etwas ganz Neues: Es gäbe da eine Internetseite, im Aufbau begriffen und in Auftrag gegeben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die einem wie mir Durchblick durch den Labeldschungel verspreche. Womit wir bei einem neuen Trend sind: Label für Label sozusagen. Dem Zeitalter angemessen, Internetplattformen, die uns das Einschätzen von Label abnehmen: ein, zwei Klicks, und wir wüssten Bescheid, ob wir dem Siegel vertrauen könnten, auf das wir blicken, ohne zeitraubende Eigenrecherche also. Den Anfang machte der Nachhaltigkeitskorb des Rates für Nachhaltigkeit (www.nachhaltigkeitsrat.de). Dem folgte die Verbraucherinitiative Berlin mit www.label-online.de. Und nun die nächste Seite, deren Name schon die tiefe Sehnsucht nach der Übersichtlichkeit der guten alten Zeit verrät: www.siegelklarheit.de. Wichtig auch hier: Man zertifiziert nicht selbst, sondern bewertet die gegebenen Angaben der Labelgeber, schätzt ihre Plausibilität ein, ihren Anspruch, ihre Logik – und vergleicht diese mit den eigenen Ansprüchen.

UND MEIN LACHS? „Wir sehen alle Gütesiegel für Fischprodukte derzeit kritisch und können keines uneingeschränkt empfehlen. Alle haben ihre Schwachpunkte“, sagt Sandra Schötting, bei Greenpeace zuständig für den Bereich Fischerei. Meinem Aqualachs hätten pro Kilo maximal 1,5 Kilogramm Fisch zugefüttert werden dürfen – und zwar aus nachhaltiger Wildfischerei. Der größere Rest des Futters (man geht von einer Zufuttermenge von vier Kilo für ein Kilo Lachs aus) müsste pflanzlich sein – aus ökologischer Landwirtschaft. Diesen Standard, den sich Greenpeace gesetzt hat und für den es genaue Zahlen nennt, erfülle keines der Label. Wo ich gerade bei Greenpeace bin, klopfe ich bei Sandra Hieke an, um mich nach dem FSC-Siegel für Holzprodukte und Holzbewirtschaftung zu erkundigen, das nach der Umweltkonferenz von Rio 1993 unter der Beteiligung von Greenpeace gegründet wurde. KEINE BLANKE HISTORIE, sondern eine Zäsur. Denn damals fand ein Paradigmenwechsel statt, der bis heute wirkt: Die Umweltverbände setzten sich mit der Industrie an einen Tisch – und der Kompromiss in seiner schillernden Gestalt ersetzt seitdem immer mehr den resoluten Protest. Mit der Folge, dass heute etwa der WWF einzelne EDEKAProdukte mit seinem Panda-Label adelt oder der NABU das firmeneigene Pro Planet-Siegel von REWE unterstützt. Und Greenpeace ist

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DOCH ALLZU KLÄREND sind viele Angaben nicht, geht man ins Detail, was einem auch hier nicht erspart bleibt: „Die adidas Gruppe hat im Jahr 2013 zu 23 Prozent nachhaltigere Baumwolle eingekauft“, ist etwa zu lesen. Ist das jetzt viel oder wenig? War das schon mal mehr oder weniger? Und überhaupt: „nachhaltigere ...“ – wieder so ein Begriff, den man nur staunend anschauen kann. Nicht ausgeschlossen, dass als Nächstes „Jetzt noch nachhaltiger!“ um die Ecke kommt. Dabei bleibt es nicht. Denn man muss schon in die Feinheiten der Bewertungen an sich eintauchen, um zu einer Bewertung zu kommen. So bedeutet die Kategorie „Keine Bewertung“ nicht unbedingt, dass die Bewertung noch nicht erfolgt ist, aber demnächst erfolgen wird. Sondern auch: „Der Siegelgeber hat der Datenerhebung nicht zugestimmt und legt keinen Wert darauf, dass das Siegel auf dem Portal erscheint. Oder die Daten sind erhoben worden und haben unsere Bewertungsmethodik durchlaufen, aber der Siegelgeber stimmt dem Ergebnis nicht zu“, mailt mir Alexandra Czarnecki, Sprecherin der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die das Projekt Siegelklarheit im Auftrag der Bundesregierung umsetzt. Es bleibt also spannend. 1/2016 LUX 360° 31


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III BEI DER VERGABE VON GÜTESIEGELN KÖNNTEN SEHR PROFANE GRÜNDE EINE ROLLE SPIELEN. DENN FÜR SIE GIBT ES GELD. WIE VIEL? DAS BLEIBT GEHEIM.

„Kontrolle ist auch uns ganz sicher nicht möglich“, räumt Sandra Hieke ein. „Aber wir haben ein großes Netzwerk, sei es aus Ehrenamtlichen, aus Förderern, aus Leuten aus den Regionen, aus unseren Büros vor Ort in Russland, Brasilien oder im Kongobecken.“ Das ist auch notwendig, denn es mangelt nicht an kritischen Punkten. Etwa bei der Bewirtschaftung intakter Urwälder, die beim FSC-Siegel keinesfalls per se ausgeschlossen ist. „Da kontakten uns dann unsere Leute und fragen: ‚Was hier passiert, kann das eigentlich sein?’ Und dann gehen wir diesen Hinweisen nach.“ Immerhin: Auf der letzten FSC-Jahreskonferenz wurde beschlossen, sich des Problems der Urwälder anzunehmen und für diese neue Standards zu implementieren. ZWEITES PROBLEMFELD: Produkte aus dem sogenannten FSCMix, die also zum Teil aus nicht-zertifiziertem Holz bestehen, ohne dass dieser Anteil genauer definiert ist. Label-Definition: „Aus verantwortungsvollen Quellen.“ Damals – Stichwort: Kompromiss – für eine Übergangszeit vorgesehen, um die großen Möbelkonzerne, aber auch die Papierhersteller von Anfang an mit ins Boot zu holen. Nur – die Übergangszeit gilt bis heute! Und niemand von den FSC-Mitgliedern mag sichtbar an ihr rütteln. Sandra Hieke sagt: „Ein Zertifikat ist das Ergebnis eines ständigen Aushandlungsprozesses. Wenn wir mit der Holzwirtschaft an einem Tisch sitzen, ist das, was wir fordern, für die oft das Maximum, für uns aber ist es das Minimum. Die Frage ist immer: Wie weit kann man gehen, ohne seine Seele zu verkaufen.“ Weshalb es übrigens längst eine Internetseite gibt, die das FSC-Siegel kritisch begleitet: www.fsc-watch.com. Welche besonderen Formen das Zertifizieren von Lebensmitteln annehmen kann, zeigt das Label des Tierschutzbundes, das schon in seinem Titel Unschärfe anbietet: „Für mehr Tierschutz“. Es gibt es in zwei Kategorien: „Premium“ und „Einstiegsstufe“, also etwas weniger als mehr Tierschutz. Vergeben wird es an Geflügelhöfe, die den Wiesenhof-Konzern mit Fleisch beliefern. Wobei bisher ganze 27 Wiesenhof-Hofzulieferer vom Tierschutzbund zertifiziert wurden. Trotzdem: Warum erteilt der Tierschutzbund, der es als sein erklärtes Ziel ansieht, uns Bürger vom Vegetarismus zu überzeugen, ein solches Siegel an ein Unternehmen wie Wiesenhof? „Salopp gesagt, ist es für uns ein Tanz mit dem Teufel, denn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben: Die Unternehmen der Fleischindustrie verdienen ihr Geld mit Schlachtkörpern, das ist für einen Tierschützer hart“, sagt Marius Tünte vom Tierschutzbund. „Aber wenn wir etwas bewirken wollen, dann müssen wir mit ihnen zusammenarbeiten.“ Er sagt: „Wir haben von Anfang an die Gefahr gesehen und sehen sie auch weiterhin, dass ein Label missbraucht werden kann. Doch die Höfe, denen wir unser Siegel erteilen, sind von uns zertifiziert, es finden regelmäßige, auch unangemeldete Kontrollen statt. Ich war selber schon auf so einem Hof, das ist für Tierschützer kein Paradies, aber es ist besser als das, was vorher da war.“ Es könnte auch einen sehr profanen Grund für dieses Siegel geben: Der Tierschutzbund erhält, wie andere Labelgeber auch, für die Vergabe seines Labels Geld. Wie hoch die Summe pro Jahr ausfällt, möchte man nicht mitteilen: „Wir kommentieren beziehungsweise kommunizieren die Lizenzgebühren nicht, da sie Gegenstand der Lizenzverträge sind, die wir nicht veröffentlichen“, sagt Tünte. Was die Frage aufwirft, wie vertrauenswürdig ein Label sein kann, wenn schon dessen Ausgangsbedingungen geheim bleiben.

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DAS GEFÜHL, durch einen Labeldschungel zu wandern, wird nicht weniger, wenn man versucht, hinter die Kulissen zu schauen. Längst ist um die Label herum eine Dienstleitungsbranche entstanden, die diese zertifizieren und die erteilte Zertifizierung anschließend regelmäßig kontrollieren. Beauftragt werden privatwirtschaftliche Institute wie das Fresenius Institut. Große Labelgeber wiederum haben eigene Zertifizierungsgesellschaften gegründet, etwa das Fairtraide-Label die FLO-CERT, eine unabhängige, aber 100-prozentige Tochtergesellschaft. Die GFA Consulting Group GmbH wiederum nimmt Zertifizierungen sowohl für das FSC-Label wie auch für das konkurrierende PEFC-Label vor. Mit dabei sind auch die Technischen Überwachungsvereine, die mal eingetragene Vereine sind, oft aber auch Aktiengesellschaften. Dazu kommen externe Experten und Beiräte – denen zuweilen ein Beiratsberater zur Seite gestellt wird. Jede Zertifizierung läuft anders ab. Wie auch immer – entscheidend dürfte sein, wie umfassend oder wie eng die Kontrollunternehmen ihren Auftrag verstehen. Der TÜV Rheinland etwa kam im Frühjahr letzten Jahres in die Schlagzeilen. Im Auftrag des BSCI-Labels, das Mindestanforderungen bei Löhnen und Arbeitszeiten garantiert, hatte er die später eingestürzte Textilfabrik Rana-Plaza in Dhaka in Bangladesch kontrolliert – und es schlicht nicht als seine Aufgabe angesehen, einen Blick auf den baulichen Zustand der Fabrik zu werfen, für die nicht mal eine Baugenehmigung vorlag. Die Frage ist, ob ein Zertifizierungs- oder ein Kontrollunternehmen tatsächlich unabhängig (das Lieblingswort der Labelbranche) arbeiten und eigene Prüfkriterien entwickeln kann, wenn Geld mit ihm Spiel ist, wenn Kontrolle eine Dienstleistung ist, die Marktmechanismen unterliegt. Dabei waren speziell die Umweltverbände mit der Idee angetreten, den Schutz der Umwelt (und der Produkte, die sie uns liefert) eben nicht länger dem Markt zu überlassen – und dafür mit ihrem Namen einzustehen.

DAS MAG ZUNÄCHST pauschal und fundamental klingen, doch die Wirklichkeit gibt Hartmann immer wieder recht: wie erst dieser Tage, als die amerikanische Tulane University den Einfluss zertifizierter Kakaoprodukte auf den Grad der Kinderarbeit in einigen westafrikanischen Ländern untersuchte. Lautet doch das Versprechen an uns alle: Wenn wir zertifizierte Schokolade aus dieser Region kauften, tragen wir dazu bei, dass die Kinderarbeit auf den Kakaoplantagen langfristig zurückgeht – und wer will das nicht. Doch das Gegenteil ist offenbar der Fall: Der gesteigerte Bedarf an zertifiziertem und also gelabeltem Kakao hat dafür gesorgt, dass dort heute mehr Kinder auf den Kakaoplantagen arbeiten – unter, wie man sich vorstellen kann, oft katastrophalen Bedingungen. Ein Vorgang, der den verschiedenen Organisationen, die für zertifizierte Kakaoprodukte eintreten, offenbar komplett entgangen ist. Und so stehen wir Verbraucher am Ende tatsächlich klüger dar: Wir möchten einfach nur wissen, ob wir eine Packung Räucherlachs, ein Regalbrett aus Fichte oder ein neues Handy guten Gewissens kaufen, können und müssen feststellen, dass wir, nehmen wir es ernst, eintauchen in die komplexe Materie von Wirtschaft und Politik. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass wir auf unsere Fragen nicht so schnell einfache Antworten bekommen.

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DIE MÜNCHNER JOURNALISTIN Kathrin Hartmann, die in ihrem neuen Buch „Aus kontrolliertem Raubbau“ die Versprechen der Green Economy und ihrer Labelpolitik untersucht, findet denn auch mehr als deutliche Worte für den Labelboom: „Label sind ein marktradikales Element. Sie stützen ein System, das auf Wachstum ausgerichtet ist, auf wachsenden Konsum. Als würde es das Wachstum brauchen, um die Schäden zu beseitigen, die das Wachstum erzeugt.“ Hartmann hat besonders die Nachhaltigkeitssiegel im Blick: „Sie werden meist für Problemrohstoffe vergeben wie Soja und Palmöl, aber auch Kaffee, Kakao oder auch Fleisch, für die beispielsweise der Regenwald gerodet wird. Es sind Persilscheine, um zu bestätigen, dass das, was eigentlich schlecht ist, auch in gut geht.“ Und am Ende laufe es immer wieder auf die „Es-ist-eben-besser-als-nichts-Formel“ hinaus. Sie schlägt einen weiten, weltwirtschaftspolitischen Bogen, wenn sie konstatiert: „Es geht um nichts anderes als Rohstoffsicherung.“ So, wie auch die Adressaten der Label ihren eigenen Interessen verpflichtet blieben: „Zielgruppe ist die konsumfreudige, kaufkräftige Mittelschicht. Die will Lösungen haben. Und sie empfindet Kritik, insbesondere generelle Kritik an unserem Wirtschaftssystem, zunehmend als Zumutung.“ 1/2016 LUX 360° 33


WÄRMERÜCKGEWINNUNG

MEHR ALS

HEISSE LUFT

Menschen, Maschinen und Motoren erzeugen laufend große Mengen an Abwärme. Oft verschwindet diese Energie ungenutzt im Nirwana – obwohl es längst Technologien und Konzepte gibt, mit denen sich die WÄRM E ZU RÜ CKGE WI NNEN lässt. VON RALPH DIERMANN

I

m Stockholmer Hauptbahnhof geht es zu wie in einem Bienenstock. Bis zu 250.000 Menschen passieren täglich die Hallen und Gänge. Ein starkes Lüftungssystem verhindert, dass es dort unangenehm warm und stickig wird. Die Abwärme wird jedoch nicht einfach mit der verbrauchten Luft nach draußen geführt. Sie wird recycelt: Unterirdische Wasserrohre nehmen die Wärme auf und leiten sie in das Heizungssystem eines benachbarten Bürohochhauses. 250.000 Bahnhofsbesucher – das sind 250.000 Heizkörper, die konstant eine Temperatur von 37 Grad liefern. Zusammen schaffen sie es selbst an bitterkalten Tagen, den Heizwärmebedarf des Bürogebäudes zu mindestens 15 Prozent zu decken. Abwärme ist eine Energiequelle, die niemals versiegt. Sie entsteht immer dann, wenn Lebewesen mit ihrem Stoffwechsel Energie aus der Nahrung verwerten. Ähnlich verhält es sich mit technischen Geräten: Jeder Motor,

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jede Maschine und jede Anlage erzeugt beim Betrieb als unvermeidliches Nebenprodukt stets auch Wärme. Meist entweicht sie über die Abluft oder das Abwasser in die Umwelt – ein erheblicher Energieverlust. Dabei haben Unternehmen und Forschungsinstitute längst Technologien entwickelt, um diese Energie wieder einzufangen. Etwa automatische Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung: Sie sorgen dafür, dass die Abwärme der Menschen und der Elektrogeräte sowie die Heizungswärme beim Lüften im Haus bleiben. Herzstück der Anlagen ist ein Wärmetauscher, der die Wärme aus der Abluft auf die zugeführte Frischluft überträgt. Bis zu 75 Prozent der Energie lassen sich auf diese Weise recyceln. EIN ANDERES WÄRMELECK lässt sich allerdings nicht ganz so einfach schließen: das Abwasserrohr. Wenn heißes Wasser aus Dusche, Geschirrspüler oder Kochtopf in der Kanalisation verschwindet, geht viel Wärme verloren. Damit wird das Abwassernetz jedoch zu einem attraktiven Energiereservoir für Wärmepumpen. Immerhin ist die brackige Brühe auch im tiefsten Winter noch acht bis zwölf Grad warm. Die Stadtwerke im niederösterreichischen Amstetten haben deshalb in der örtlichen Kanalisation Wärmetauscher instal-


WÄRMERÜCKGEWINNUNG

liert, die dem Abwasser Wärme entziehen. Über einen Wasserkreislauf wird die Energie zu einer Wärmepumpe transportiert, die Büros und Betriebsgebäude der Stadtwerke heizt. „Der besondere Charme dieses Konzepts liegt darin, dass die Temperatur des Abwassers höher ist als die des Grundwassers, das ja viele Wärmepumpen als Wärmequelle nutzen“, sagt Prof. Thomas Ertl von der Universität für Bodenkultur in Wien, die an diesem Projekt beteiligt war. Zudem übersteigt der Durchfluss in den Abwasserkanälen den von Grundwasser um ein Vielfaches. „Damit steht mehr Wärmeenergie zur Verfügung“, so Ertl. DEN NACHBARN EINHEIZEN. Besonders groß ist das Potenzial der Abwärmenutzung in der Industrie und im Gewerbe. Dort wird sehr viel Wärme benötigt – zum Heizen, vor allem aber als Prozesswärme, beispielsweise zur Dampferzeugung, für Galvanisieroder Reinigungsprozesse oder das Trocknen und Trennen von Stoffen. So groß der Bedarf ist, so groß ist auch das Angebot an Wärme, die für ein Recycling zur Verfügung steht. Denn je nach Prozess und Technologie verpuffen bis zu 70 Prozent der eingesetzten Energie ungenutzt. Das kostet die Unternehmen viel Geld: Der Energie-Informationsdienst BINE beziffert den rechnerischen Wert der anfallenden Abwärme auf etwa 25 Milliarden Euro pro Jahr. Kein Wunder, dass immer mehr Unternehmen in die Wärmerückgewinnung investieren. „Große Unternehmen sind bei der Verwertung von Abwärme als Heiz- oder Prozesswärme oft schon recht weit“, hat Dr. Martin Pehnt vom Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu) beobachtet. „Mittelständler, kleine Unternehmen und Gewerbebetriebe dagegen haben hier meist noch großen Nachholbedarf.“ Erhebliches Potenzial sieht Pehnt auch beim Einsatz der überschüssigen Wärme außerhalb der Werkstore.

In vielen Unternehmen fällt so viel Abwärme an, dass der eigene Bedarf schnell gedeckt ist. Statt den großen Rest ungenutzt in die Umwelt zu leiten, könnten ihn Betriebe über ein Wärmenetz an andere Verbraucher abgeben. Das tut zum Beispiel Deutschlands größte Kraftstoffraffinerie, die Mineraloelraffinerie Oberrhein in Karlsruhe: Das Unternehmen speist jährlich etwa 300.000 Megawattstunden Abwärme in das lokale Fernwärmenetz ein. Das reicht aus, um 25.000 Haushalte mit Heizenergie zu versorgen. WÄRME AUS DER KÄLTE. Viel Wärme entsteht auch dort, wo Kälte erzeugt wird – in Klimaanlagen und Kältemaschinen. Sie entziehen der zu kühlenden Umgebung Wärme, die dann häufig ins Freie abgegeben wird. Dieser Energieverlust lässt sich allerdings oft kaum vermeiden. Denn viele der Anlagen laufen vor allem im Sommer, etwa um Büroräume zu klimatisieren. „Wenn es aber draußen ohnehin warm ist, wird es schwierig, die Abwärme der Kältemaschinen zu verwerten“, erklärt Thomas Tech von der Ingenieurgesellschaft Gertec in Essen. Anders sieht es dagegen mit Anlagen aus, die auch im Winter für Kälte sorgen. „In Rechenzentren oder Kühllagern, etwa für Lebensmittel, fällt ganzjährig Abwärme an, die sich für das Beheizen angrenzender Büround Verwaltungstrakte nutzen lässt“, sagt Tech. Serverräume zum Beispiel müssen rund um die Uhr auf mindestens 24 Grad herunter-

gekühlt werden, um eine Überhitzung der Computer zu verhindern – immerhin geben deren Prozessoren pro Quadratzentimeter so viel Wärme ab wie eine 100-Watt-Glühbirne. Leistungsstarke Kältemaschinen stellen sicher, dass die Temperatur im Raum nicht über die kritische Marke steigt. Die entzogene Wärme wird dann oft über Kühltürme nach draußen geleitet. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel Nestlé. Der Lebensmittelkonzern nutzt die Abwärme aus seinem Rechenzentrum in Frankfurt am Main, um die Büros von 1.200 Mitarbeitern zu beheizen. Auf diese Weise deckt Nestlé 40 Prozent des Wärmebedarfs des Verwaltungsgebäudes. Nach Angaben des Konzerns macht sich der Mehraufwand für die Installation dieses Systems durch eingesparte Heizkosten innerhalb von weniger als zwei Jahren bezahlt. Auch die Kühlregale und Tiefkühltruhen von Supermärkten erzeugen viel Wärme, die sich im Winterhalbjahr als Heizenergie verwerten lässt. „In großen Supermärkten ist so viel Kühlleistung installiert, dass die Betreiber mit deren Abwärme mindestens die Grundtemperierung des Marktes vornehmen können“, erklärt Tech. So hat beispielsweise die Supermarktkette Bio Company die Kühlung, Heizung, Klimatisierung und Lüftung ihrer Filialen in einem Kreislauf zusammengefasst. Der Biohändler kann damit ganz auf eine konventionelle Heizung verzichten. Zugleich sinken die Energiekosten der Märkte um durchschnittlich 40 Prozent.

III DIE ABWÄRME EINER RAFFINERIE VERSORGT ÜBER DAS FERNWÄRMENETZ 25.000 HAUSHALTE MIT HEIZENERGIE.

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