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Eva Höltl: „Wir müssen Forschung so erklären, dass sie uns allen dient“
„Wir müssen Forschung so erklären, dass sie uns allen dient“
Mit Eva Höltl sprach Maribel Königer.
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Seit März 2020 ist die Arbeitsmedizinerin Dr. Eva Höltl Vorstandsmitgliedder ERSTE Stiftung. Im Hauptberuf leitet sie seit 15 Jahren das Gesundheitszentrum der Erste Bank Österreich, der österreichischen Tochter der Erste Group, deren Hauptaktionärin die ERSTE Stiftung ist. In dieser Funktion war sie auch für das Pandemiemanagement bei Österreichs größter Bank zuständig. Eva Höltl war 2021 außerdem neben weiteren Personen Sprecherin der Initiative „Österreich impft“ und ist Vizevorsitzende des Fachausschusses für psychosoziale Gesundheit im Obersten Sanitätsrat, dem wichtigsten Beratungsgremium des österreichischen Gesundheitsministers. In der ERSTE Stiftung wirkt sie unter anderem bei der Entwicklung einer digitalen Anwendung zur Erleichterung des Alltags für pflegende Angehörige mit, die von der ERSTE Stiftung-Tochter Two Next in Zusammenarbeit mit Sozialorganisationen 2022 zur Marktreife gebracht werden soll.
Foto: Peter M. Mayr
Maribel Königer: Ich kann mich gut erinnern: Ihr erster offizieller Tag in der ERSTE Stiftung war kurz vor Beginn des ersten coronabedingten Lockdowns. Welchen Eindruck haben Sie nach nun mehr zwei Jahren von der Stiftung?
Eva Höltl: Vorweg möchte ich sagen, dass ich die ERSTE Stiftung und ihre Tätigkeit schon immer mit großem Interesse verfolgt habe. Deshalb bin ich jetzt mit großer Freude dabei. Es stimmt, mein Eintritt in den Vorstand erfolgte mit Beginn dieser viralen Pandemie. Sie war und ist eine medizinische Herausforderung, die uns im Gesundheitszentrum und mir im Besonderen sehr viel Kraft und Zeit abverlangt hat. Anfangs hatte ich deswegen nicht die Zeit, mich so in der Stiftung einzubringen, wie ich es gern getan hätte. Andererseits sind in dieser Pandemie ganz viele Fragen aufgetaucht, die klassische Stiftungsthemen sind. Wie können wir zum Beispiel Personengruppen ansprechen, die wir schon vor der Pandemie schlecht erreichen konnten, etwa junge Menschen oder Menschen, die keinen Zugang zu klassischen Informationskanälen haben? Das war ein Problem beim Contact Tracing. Bei den Quarantäneregelungen hat sich gezeigt, dass auch Mitarbeiter:innen der Erste Bank in zum Teil sehr beengten Verhältnissen leben. Was sollten wir einem Lehrling sagen, der, bevor es die Impfung gab, mit Eltern, Großeltern oder Schwiegereltern zwei Zimmer bewohnt? Ich glaube, dass besonders die soziale Frage eine der größten Herausforderungen der Pandemie war. Es ist nicht möglich, die Pandemie nur medizinisch zu bewältigen. Wir müssen das Soziale ganz stark im Auge behalten.
Hier ist die Brücke zur Arbeit der ERSTE Stiftung …
Genau. Sie zeigt, wie wichtig deren Arbeit ist. Das Team hat schon 2020 fantastische Arbeit im Sozialbereich vollbracht. Es wurde zum Beispiel sofort „Erste Hilfe“ geleistet. NGOs konnten dank rascher Unterstützung ihre Tätigkeit in der Region weiterführen. Auch wenn es für eine Rückschau heute (Anm.: das Gespräch wurde im Februar 2022 geführt) noch zu früh ist, kann man doch sagen, dass es zwar viele Irritationen und Unklarheiten gab, aber vieles auch gut gelungen ist. Die Reaktion der Stiftung auf die Pandemie kam schnell und proaktiv. Die großen Herausforderungen wurden unmittelbar angegangen. Die Situation der Pflege, die vorher schon schlecht war, hat sich zum Beispiel im Zuge der Pandemie massiv verschlechtert. Es gab Phasen, wo sie fast zusammengebrochen wäre und die Zivilgesellschaft extrem gefordert war, unterstützend einzugreifen. Hier hat die Stiftung sehr gute Antworten gefunden.
Darauf kommen wir noch zu sprechen. Noch mal zur Aussage, dass die Pandemie nicht nur medizinisch bewältigt werden kann. Wie dann?
Weshalb ich Arbeitsmedizinerin geworden bin und nicht Hausärztin: Die medizinische, die
In Österreich startet die Impfung gegen das Coronavirus am 27. Dezember 2020 im KaiserFranz-Josef-Spital in Wien. Christoph Wenisch, der Leiter der Infektionsabteilung, freut sich über seine Impfung und den Erfolg der Wissenschaft. Foto: Georges Schneider/APA/picturedesk.com
soziale, die ökologische und die wirtschaftliche Frage sind aufs Engste miteinander verwoben. Wir müssen immer alle Aspekte sehen, zum Beispiel auch den Zusammenhang zwischen dem Entstehen von Pandemien und dem Eingriff des Menschen in die Natur und die Lebensräume von Wildtieren. Wenn wir uns nur auf eine Seite konzentrieren, werden wir keine guten Lösungen für die Menschen zustande bringen. Man kann dann vielleicht eine akute medizinische Bedrohung abwenden. Aber wirklich helfen kann man nur, wenn man versteht, dass sich hinter einer medizinischen Bedrohung immer auch eine soziale Bedrohung verbirgt. Es gibt Menschen, die schlechtere Karten haben, die benachteiligt sind, die nicht so leicht an Informationen kommen. Der Zeitpunkt meines Starts bei der Stiftung mag also vielleicht ein ungünstiger gewesen sein, er war aber im Nachhinein auch ein sehr wichtiger für mich. Mit der Pandemie hat sich plötzlich bewahrheitet, was ich schon immer gespürt habe: dass mich Sozialmedizin noch mehr interessiert als Akutmedizin. So gesehen ist es ein Privileg, dass ich diese beiden Interessenfelder gleichermaßen bestellen kann.
Was ist denn bisher bei der Bewältigung der Pandemie im Rückblick gut und was weniger gut gelaufen?
Die Pandemie hat ein großes Thema zutage gefördert, das leider offen geblieben ist und uns noch lange beschäftigen wird: Health Literacy. Wie kann es uns gelingen, Menschen mit den Möglichkeiten der Medizin in Zeiten vertraut zu machen, in denen Antworten nicht eindeutig sind, die Forschung noch nicht den einen Ausweg kennt, in denen Informationen sich laufend ändern und Angst das vorherrschende Gefühl ist? Wir haben schon wieder vergessen, dass es zu Beginn der Pandemie keine Möglichkeit gab, die Erkrankung zu heilen, keine Impfung, dafür aber schwere Verläufe. Wir hatten in der Bank Mitarbeiter:innen, die jeden Tag vor Ort ihren Job gemacht haben und zum Teil mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist sind. Anfangs wussten wir ja nicht einmal, ob Masken schützen – heute unvorstellbar.
Wie sind Sie vorgegangen?
Zuerst mussten wir organisieren, wie wir zusammenarbeiten, wie wir mit Kund:innen arbeiten, wie wir uns austauschen. Ein überdurchschnittliches Know-how und eine schon vorher weit fortgeschrittene Digitalisierung haben uns enorm geholfen, damit wir in der Stiftung und in der Bank überhaupt weiterarbeiten konnten. Es hat sich aber auch gezeigt, dass es viele Bereiche gibt, die nicht digitalisiert sind, wo Menschen vor Ort arbeiten müssen. Diese Kolleg:innen hatten natürlich Angst, sich anzustecken oder Menschen anzustecken, die ihnen nahestehen. Es gab unzählige Fragen, die Situation war hochkomplex. Deshalb haben wir konsequent und früh begonnen, so zu kommunizieren, wie wir glauben, dass es die meisten gut verstehen. Wir haben von März 2020 bis zum heutigen Tag beinahe im Wochenrhythmus jene Informationen an die Mitarbeiter:innen weitergegeben, die zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbar waren. In der Medizin sind Informationen – wie in den Naturwissenschaften – das zum aktuellen Zeitpunkt beste Wissen, das wir haben. Das haben wir dazugesagt. Als Impfungen verfügbar waren, haben wir allen nicht nur erklärt, dass die Impfung wirksam und sicher ist, sondern auch wie diese Technologien funktionieren, vor allem wie Medikamente ganz grundsätzlich zugelassen werden. Was ist eine Marktzulassung, was eine bedingte Zulassung, was eine Notzulassung?
Warum das?
Das war ein zentraler Erfolgsmoment. Wir hatten von Anfang an die Hypothese, dass das Vertrauen
„Die medizinische, die soziale, die wirtschaftliche und die ökologische Frage sind aufs Engste miteinander verwoben.“
in die Behörden und Institutionen, die die Impfung bewilligen und empfehlen, entscheidend ist. Oder anders gesagt: Misstrauen in diese Institutionen kann sehr gefährlich sein. Es war lange unklar, über welchen Zeitraum der Impfschutz anhält oder wie Impfungen gegen Mutationen wirken. Wir versuchten, die verfügbaren Informationen den Menschen so zu vermitteln, dass klar war, dass dies der Wissensstand von heute ist, dass bestimmte Sachen unbestritten stimmen und dass wir manches einfach noch nicht wissen. Diese sehr ehrliche, transparente Form der Information hat aus meiner Sicht dazu geführt, dass alle in Bank und Stiftung gut über die Impfungen Bescheid wussten. Diese Glaubwürdigkeit sorgte dafür, dass wir im Haus eine außergewöhnlich hohe Maßnahmenadhärenz und relativ rasch sehr hohe Impfquoten hatten. Wir haben uns auch immer bemüht, auf jene Kolleg:innen zuzugehen, die Angst und Sorge hatten. Denn auch die Sorge ist legitim. Wir haben auf Information gesetzt. In der Bank gibt es seit März 2020 eine Hotline, die sieben Tage die Woche von einem Arzt oder einer Ärztin besetzt ist. Das war wichtig, weil die öffentlichen Hotlines überlastet waren und Mitarbeiter:innen dringende Fragen hatten.
Trotzdem empfinden es manche Menschen als Zumutung, die Maßnahmen zur Prävention der Pandemie mitzutragen. Wie sollte man darauf reagieren?
Was wir jetzt sehen, was von manchen als Spaltung der Gesellschaft bezeichnet wird, ist natürlich durch eine müde und mürbe gewordene Bevölkerung erklärbar. Wir hören seit zwei Jahren von nichts anderem mehr als der Pandemie. Und niemand kann so gut wie ich den Wunsch verstehen, dass es jetzt mal genug ist. (Lacht.) Die große Mehrheit ist jedoch sehr dankbar, dass es die Impfung gibt, die uns auf jeden Fall davor schützt, schwer krank zu werden. Aber natürlich ist die entscheidende Frage: Wie kann Kommunikation funktionieren, ohne dass es Gewinner:innen und Verlierer:innen gibt? Ohne dass es zu Radikalisierungen kommt? Ohne dass Fakten nicht mehr wahrgenommen werden können, weil eine so hohe Frustration herrscht? Wie kommunizieren wir so, dass wir nicht plötzlich Kolleg:innen ausgrenzen, weil sie Entscheidungen treffen, die nicht die unseren sind, nur weil wir möchten, dass es endlich vorbei ist? Wir haben aber auch viel dazugelernt. Einiges davon hat uns wahrscheinlich robuster gemacht und wird uns in Zukunft helfen. Wir haben gesehen, dass wir unter widrigen Umständen das Richtige tun und gut kommunizieren können. Und wir haben gesehen, was dort passiert, wo dies nicht gelungen ist.
Was wird die größte Hürde sein, die wir in dieser Zukunft nehmen müssen, für die wir nun besser gerüstet sind?
Innerhalb eines Jahres ist es gelungen, eine völlig neue Impfung gegen ein unbekanntes Virus auf die Beine zu stellen. Das ist für mich als Medizinerin eine unfassbare Leistung der Wissenschaft, trotz der Vorarbeiten, die ich natürlich kenne. Jetzt haben wir eine wirksame Impfung und in einigen Ländern gibt es massive Konflikte, ja Unruhen, weil Menschen nicht glauben können, dass uns der Impfstoff hilft. Es gibt eine tiefe Skepsis, dass der Fortschritt – nicht nur im medizinischen Bereich – uns allen zugutekommt. Ich sehe eine große Herausforderung darin, eine immer schneller voranschreitende und immer komplexere Forschung so zu erklären, dass sie möglichst vielen von uns dient. Die Menschen müssen verstehen, dass Innovation dazu beitragen kann und wird, nicht nur Pandemien, sondern auch andere schwere Krankheiten zu heilen. Wir müssen Vertrauen aufbauen, dass Forschung dazu da ist, unser aller Leben in vielerlei Hinsicht besser und leichter zu machen.
Plakat auf der Demonstration gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie im Wiener Resselpark am 26. Oktober 2021. Foto: Isabelle Ouvrard/SEPA.Media/ picturedesk.com
Wobei es auch kein Widerspruch zum Nutzen von Erfindungen sein sollte, dass Menschen, die etwas entdecken, oder Firmen, die es produzieren, Geld damit verdienen. Wir müssen genau hinschauen, wie das gute Leben, das uns Forschung und Innovation bringen sollen, für alle wirksam wird. Sonst wird die Gruppe derer, die dagegen sind, immer größer, weil sie sich zurückgelassen fühlen. Das ist aus meiner Sicht nicht in allen Bereichen gut gelungen, in Österreich und manchen osteuropäischen Ländern noch weniger als in anderen. Besonders schäbig fand ich auch, dass Menschen mit Bedenken für politische Interessen instrumentalisiert wurden. Für mich als Arbeitsmedizinerin und Vorstandsmitglied der ERSTE Stiftung ist tatsächlich die alles entscheidende Frage, wie wir es in Zukunft besser schaffen, Gruppen, die in einem fast bedrohlichen Ausmaß ablehnend auf Forschung und Fortschritt reagieren, besser zu erreichen.
Wie kann das gelingen?
Da gilt es, von den Besten zu lernen. Das Vertrauen in die Wissenschaft hängt mit dem Vertrauen zusammen, dass deren Erkenntnisse adäquat umgesetzt werden. Und da sind wir bei der Politik, denn dort werden die Entscheidungen getroffen. In den skandinavischen Ländern sieht man: Je größer das Vertrauen in die Politik im Allgemeinen ist, desto größer das Vertrauen, dass die Maßnahmen, die getroffen wurden, die richtigen sind. Besonders schade ist, dass wir in Österreich sehr viele Menschen aus sozioökonomischen Risikogruppen schlecht erreichen. Das liegt zum Teil an fehlenden Sprachkenntnissen, aber auch an Ängsten, die wir zu wenig kennen, um adäquat darauf eingehen zu können. Wir werden ebenso in der Zukunft – hoffentlich nicht in Form von Pandemien – immer wieder Situationen haben, in denen es wichtig ist, dass Menschen gute Informationen bekommen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.
Kritische Haltungen werden aber bleiben und sollen es ja auch, oder?
Natürlich, es geht ja nicht darum, dass alle gleich denken und entscheiden. Ich halte Diversität für wichtig. Jeder Mensch muss die Fragen „Wie möchte ich leben?“ oder „Wie viel Fortschritt möchte ich in mein Leben lassen?“ für sich selbst beantworten. Worauf sich wohl alle einigen können ist, dass es uns besser gehen wird, wenn die Pandemie vorbei ist. Wir sind da derzeit auf einem gar nicht so schlechten Weg. Alles, was jetzt dazu dient, zu überzeugen und nicht weiter zu spalten, ist sinnvoll und wird uns am Ende helfen. Dennoch wäre es fatal, wenn das Vertrauen in Wissenschaft und Forschung völlig schwände. Da ist sicherlich die Politik gefordert, aber das kann auch eine Stiftungsaufgabe sein. Besonders in Zentral- und Osteuropa sehen wir ja schon länger, wie sich die politische Kultur zum Negativen verändert hat, und überlegen, wie man dort die Zivilgesellschaft unterstützen kann. Das ist nicht auf die Pandemie beschränkt. Die Bank bemüht sich um Wohlstand für alle, die Stiftung hat ein besonderes Interesse am funktionierenden Dialog einer demokratischen Öffentlichkeit.
Wie bereits angesprochen ist die Pflege eines der großen gesellschaftlichen Themen und auch ein Arbeitsfeld der Stiftung. Worum geht es denn da genau?
Das ist meine Herzensangelegenheit, auch weil sie so wichtig ist. Kurz zur Erklärung, wie ich dazu gekommen bin. Ich leite seit 15 Jahren das Gesundheitszentrum der Erste Bank und bin oft damit konfrontiert, dass unsere Mitarbeiter:innen durch Krankheit oder wegen erkrankter Angehöriger in eine Situation kommen, in der sie den beruflichen, aber auch privaten Anforderungen nicht mehr gewachsen sind. Das hat auch mit veränderten sozialen Strukturen und erhöhter Mobi-
lität zu tun. Es gibt die Großfamilien nicht mehr, die alles abfedern; es gibt zunehmend alleinerziehende Menschen und viele, ob in der Stadt oder auf dem Land, die versuchen, unterschiedliche Anforderungen unter einen Hut zu kriegen. Erwerbstätige, also die Altersgruppe der 18- bis 65-Jährigen, haben Eltern, die irgendwann einmal in eine Phase der Pflegebedürftigkeit kommen. Manche leben in anderen Bundesländern, ein Elternteil stirbt oder kommt ins Krankenhaus, Demenzerkrankungen nehmen zu. Und dann entgleiten die Dinge relativ rasch. In Österreich, einem Land, in dem neun Millionen Menschen leben, gibt es eine Million pflegende Angehörige! Das ist eine riesige Zahl. Man kann sich ausrechnen, wie viele von insgesamt 8.500 Mitarbeiter:innen bei unserer Bank in Österreich, aber auch anteilig in der Stiftung betroffen sind.
Seit die Pandemie die Schwächen offengelegt hat, wird das Thema Pflege mit der Dringlichkeit besprochen, die es verdient. Warum nicht schon früher?
Leider ist die Pflege nicht erst seit der Pandemie ein schwieriges Thema. Zum einen ist der organisatorisch-bürokratische Teil hochgradig komplex. Zum anderen macht das Thema Angst, weil sich die Belastung für die Pflegenden über eine längere Dauer steigern kann und irgendwann ein Leben zu Ende geht. Das Ausmaß der Betreuung ist im Einzelfall sehr unterschiedlich. Manche bezeichnen sich gar nicht als betreuende Angehörige, wenn sie nach der Arbeit die gebrechliche Großmutter versorgen. Diese unglaublich vielen Menschen bei der Pflege ihrer Angehörigen zu unterstützen, sie überhaupt zu ermöglichen, ist so wichtig. Denn wenn diese Pflege ausschließlich extern gemacht werden müsste, bräche das System rasch zusammen. Man hat schon in der Pandemie gesehen, was passiert, wenn Tageseinrichtungen geschlossen werden müssen und zum Beispiel Demenzkranke den ganzen Tag mit der Familie auf engem Raum im Homeoffice verbringen müssen. Das war sehr schwer. Da wollen wir ansetzen.
Worum geht es bei der Lösung genau?
Wir nutzen unsere Expertise im Bereich der Digitalisierung, um ein Tool, eine App für pflegende Angehörige zu schaffen, die ihnen die nötigen Informationen rasch und verständlich zur Verfügung stellt. Das klingt simpel, aber daran haben sich schon viele die Zähne ausgebissen. Die Frage, welche Informationen die pflegenden Angehörigen wirklich brauchen, ist gar nicht so leicht. Und die Anwendung muss extrem niederschwellig und einfach in der Bedienung sein: Wer mit einem Smartphone umgehen kann, soll das Tool nutzen können. Je niedriger der sozioökonomische Status ist, desto höher die quantitative Pflegeleistung. Wer in gering bezahlten Jobs oder Teilzeit arbeitet, pflegt am meisten. Aus anderen Studien ist bekannt: Je mehr Information der oder die pflegende Angehörige hat, desto sicherer fühlt er oder sie sich und desto mehr ist er oder sie auch bereit zu pflegen. Ein weiterer kritischer Punkt ist der Datenschutz. Bei der Digitalisierung von Sozialprojekten sind zur Klärung der Datenschutzfragen Pionierleistungen zu erbringen. Natürlich sind alle großen Pflegeinstitutionen eingebunden, denn sie müssen das Tool später verwenden und sie haben die Expertise. „Clara“, so der Arbeitstitel der App, soll ihre Arbeit ergänzen und erleichtern. Es ist großartig, dass ich mit der ERSTE Stiftung einen Beitrag leisten kann, dass pflegende Angehörige künftig auf wichtige Fragen klare Antworten von Fachleuten auf ihrem Smartphone erhalten werden: Wie gehe ich das an? Was brauche ich für die Pflege? Was kann ich tun? Was gibt es? Was kostet Pflege? Mit wem kann ich über dieses Thema reden?
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Victor Clopotar ist Kupferschmied in Rumänien. Früher hat er traditionelle Kessel gemacht, mit Unterstützung von co/rizom hat ihn die internationale Designwelt entdeckt.
Porträt von Karin Pollack, Bilder von Pauline Thurn und Taxis und Matei Plesa