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3. Einbruchstelle für EU-Recht
satz benannt27 sowie in Art. 2 Abs. 2 EU-Klimagesetz eigens festgeschrieben wird. Die Mitgliedstaaten sollen zur Erreichung des Ziels der Klimaneutralität gemeinsam handeln und dabei die Bedeutung der Förderung von Fairness und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten berücksichtigen. Damit ist angelegt, dass die stärkeren Schultern mehr tragen als die schwachen und daher vermehrte Anstrengungen unternehmen sowie anspruchsvollere Ergebnisse erreichen (s. o. Frenz, Klimaschutz in der EU, Einf. A Rn. 41; ders., Art. 2 EU-Klimagesetz Rn. 8 ff.). Damit ist noch nicht einmal das neue deutsche Reduktionsziel von 65 % bis 2030 gegenüber den Werten von 1990 notwendig bestandskräftig, sondern wegen des Bezugs des EU-Klimapakets mit seinen Reduktionszielen von 40 % bis 2030 auf das Jahr 2005 (o. Rn. 18 a. E.) und nicht 1990 möglicherweise anzupassen, wie es § 4 Abs. 5 für die sektoralen Jahresemissionsmengen vorsieht. Bislang zählt aber die Reduktionsverpflichtung von 55 % bis 2030 gegenüber 1990 im EU-Klimagesetz, an welche das KSG bereits angepasst wurde. Es wird sich erweisen, ob im Prozess der Realisierung des Klimapakets „Fit for 55“ auf Deutschland höhere Lasten zukommen. Es bedarf fortlaufender Anpassung an EU-Anforderungen, in deren Licht daher auch das KSG zu interpretieren ist.
3. Einbruchstelle für EU-Recht
Die vorgenannten europäischen Zielvorgaben bilden den übergeordneten Rahmen. Das europäische Recht ist dem nationalen Recht gegenüber vorrangig und muss daher eingehalten sowie auch in der Interpretation der nationalen Zielvorschrift gewahrt werden. § 1 als zentrale Zweckvorschrift bildet damit auch eine Steuerungsstelle, um den Vorrang des Unionsrechts zu wahren, wenn nämlich ihrer Funktion gemäß durch sie die nationalen Vorschriften ausgelegt werden. Das europäische Recht kann einerseits über die spezifischen nationalen Umsetzungsvorschriften zur Geltung kommen. Bei Widersprüchen findet das europäische Recht interpretativ oder über seinen Anwendungsvorrang letztlich seine Durchsetzung. Das kann aber auch mittelbar dadurch erfolgen, dass es über die Auslegung der nationalen Vorschrift vor dem Hintergrund des Gesetzeszweckes herangezogen wird und damit die spezifische nationale Vorschrift indirekt über die Prägung der Gesetzeszweckvorschrift unionsrechtskonform gehandhabt wird. Das gilt zumal für § 1, werden doch die europäischen Zielvorgaben und ihre Einhaltung in § 1 Satz 1 eigens genannt. Zwar stehen sie gleichgeordnet neben den nationalen Klimaschutzzielen und ihrer Erfüllung. Dies ändert aber nichts an ihrem Vorrang, außer die nationalen Klimaschutzziele bilden ein Opting-Out und sind damit strenger und anspruchsvoller als die europäischen Zielvorgaben, sodass sie auf der Basis von Art. 193 AEUV zur Geltung kommen können. 20
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27 EuGH, Urt. v. 15. 07. 2021 C.848/19 P, ECLI:EU:C:2021:598, Rn. 37 ff. – Deutschland/Polen.
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25 Indes dient das KSG dazu, die europäischen Zielvorgaben überhaupt zu erfüllen. Zudem wurde gerade dargelegt (o. Rn. 18 ff.), dass es auch unionsrechtlich erforderlich sein kann, dass die nationalen Klimaschutzziele anspruchsvoller sind als die der anderen EU-Staaten, um in gemeinsamer solidarischer Verwirklichung der EU-Klimaschutzziele bis 2050 die CO2-Treibhausgasneutralität zu erreichen. Daher bilden die anspruchsvolleren deutschen Zielsetzungen kein Opting-Out, sondern sie sind eingebettet in die zwischen den Mitgliedstaaten solidarische, lastenteilende Verwirklichung des EU-Klimaschutzes, bei welcher Deutschland höhere Zielsetzungen als andere Mitgliedstaaten schultern muss; diese sind damit den EU-Klimazielen inhärent (s. o. Rn. 19). Damit gehen auch die nationalen Klimaschutzziele weitestgehend in den übergeordneten europäischen Klimaschutzzielen auf, welche eine Verwirklichung in den Mitgliedstaaten nach deren Leistungsfähigkeit voraussetzen. Sie konkretisieren höchstens und spezifizieren sie für einzelne Bereiche, soweit dies nicht schon durch EU-Vorgaben erfolgt. Im Zuge der weiteren Entwicklung des Klimaschutzes wie auch der europäischen Klimaziele werden sie fortlaufend angepasst. § 3 sieht eigens die Festlegung nationaler Klimaschutzziele vor, und zwar höherer als bisher, um europäische oder internationale Klimaschutzziele zu erfüllen (§ 3 Abs. 4). § 3 Abs. 1 sieht bis zum Zieljahr 2030 eine Minderungsquote von mindestens 65 % im Vergleich zum Jahr 1990 vor. Mittlerweile ist –entsprechend den Maßgaben des BVerfG-Klimabeschlusses – auch der Zeitraum ab 2030 mit Zielsetzungen ausgestattet, nämlich durch die CO2-Reduktion bis 2040 um mindestens 88 % nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 sowie die Anlage 3 mit den notwendigen Eckpunkten zur Ausfüllung der Verordnungsermächtigung nach § 4 Abs. 6. Auch insoweit wird sich weisen, inwieweit eine Anpassung an (ambitioniertere) EU-Ziele notwendig ist (s. bereits o. Rn. 21).
III. Weltweiter Bezug
Generell dient § 1 dem an erster Stelle genannten Schutz vor den Auswirkungen des weltweiten Klimawandels. Dieser nimmt bedrohliche Ausmaße an (ausführlich o. Leuchner, Aktueller Klimazustand und zukünftige Klimaentwicklung – Einflussfaktoren, Folgen und Herausforderungen, Einf. D Rn. 1 ff.). Damit geht es nicht nur um die sich in Deutschland zeigenden Auswirkungen sowie zugleich um die Bekämpfung der Ursachen des weltweiten Klimawandels, welche in Deutschland hervorgerufen werden. Schließlich haben die deutschen negativen Einwirkungen auf das Klima möglicherweise weltweite Konsequenzen. Auch von daher ist Deutschland gezwungen, Maßnahmen im Hinblick auf den weltweiten Klimawandel zu ergreifen und muss zum weltweiten Klimaschutz beitragen.28 Dies wurde mittlerweile vom BVerfG als feste verfassungsrechtliche Verpflichtung aus dem Klimaschutzgebot nach der Umweltstaatszielbestimmung des Art. 20a GG abgeleitet (ausführlich u.
28 S. bereits die Vorauflage § 1 KSG Rn. 13.
Rn. 47 ff.).29 Das korrespondiert mit dem globalen Bezug von Art. 191 Abs. 1 4. Spiegelstrich AEUV, durch den die Europäische Union zum weltweiten Klimaschutz verpflichtet ist. Das betrifft insbesondere die Rolle bei internationalen Klimaschutzverhandlungen und Konferenzen. Nicht umsonst wird in § 1 Satz 3 das Übereinkommen von Paris in Bezug genommen, zu dessen Zustandekommen maßgeblich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten beigetragen haben. Gleichwohl geht die Ausrichtung des KSG nicht dahin, dass Deutschland durch seine Maßnahmen und Vorstellungen der Welt seinen Stempel aufdrücken müsste und so weltweit prägende Bedeutung erlangen könnte. Vorgegeben ist vielmehr, dass Deutschland sich mit seinen Vorstellungen und Maßnahmen einbringt, dadurch eine Vorbildfunktion wahrnimmt30 sowie andere Staaten zu verstärkten Anstrengungen und Kompromissen bei internationalen Konferenzen bewegt. Deutschland soll ein konstruktiver Mitspieler für den internationalen Klimaschutz sein.
2. Konsequenzen auf der Basis grundrechtlicher Schutzpflichten
a) Zusammenhang mit § 1 Satz 1
Eine solche Rolle ist tiefergehend zur Gewährleistung eines wirksamen Gesundheits- und Eigentumsschutzes (Art. 2 Abs. 2 und Art. 14 GG) geboten. Die Bedrohung durch den Klimawandel ist so stark, dass sie, wie die aktuellen Unwetterereignisse vor allem in Gestalt der Hochwasserkatastrophe vom Juli 2021 zeigten, auch Rückwirkungen auf die grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter namentlich in Gestalt von Leben und Gesundheit sowie Eigentum (Art. 2 Abs. 2, Art. 14 GG) haben kann. Ausgangspunkt ist der unmittelbare weltweite Klimawandel. Der Schutz der grundgesetzlich gewährleisteten Rechtsgüter gebietet es daher, den weltweiten Klimawandel zu bekämpfen. Das gilt bereits für die gegenwärtigen Generationen. Daher ist die Lösung von Klimaschutzpflichten als Grundrechtsvoraussetzungsschutz vorzuziehen (Frenz, Klimaschutz und Grundrechte, Einf. E Rn. 2 ff.). Insoweit ist ebenfalls anerkannt, dass ein langfristiger präventiver Schutz erfolgen kann, und zwar auch bei Wirkungsunsicherheiten.31 Der weltweite Klimawandel lässt sich ohnehin nicht vom nationalen Klimawandel unterscheiden, wenn ein solcher überhaupt getrennt feststellbar ist. Das betrifft nur die Auswirkungen etwa in Form regionaler Dürreperioden und Hitzephasen, ist aber gleichwohl eingebettet und bedingt durch den 26
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29 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 200 ff. 30 S. nunmehr BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE: BVerfG:2021:rs20210324.1bvr265618, Rn. 203: „durch eigenes Handeln auch internationales Vertrauen stärken, dass Klimaschutz … zu lebenswerten Bedingungen gelingen kann.“ 31 BVerfG, Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 (140 ff.) – Kalkar sowie Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021:rs20210324. 1bvr265618, Rn. 145.
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31 weltweiten Klimawandel. Dementsprechend ist auch angesichts der begrenzten Territorialhoheit Deutschlands der Bezug auf den weltweiten Klimawandel in § 1 Satz 1 sachgerecht und geboten. Auch diese Vorschrift bildet damit die durch die grundrechtlichen Schutzpflichten erforderliche Normierung.
b) Notwendige internationale Tragweite nach dem BVerfG-Klimabeschluss
Das BVerfG bejahte zwar ebenfalls den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter aus Umweltbelastungen und damit auch vor den Gefahren des Klimawandels.32 Zudem betont es ebenfalls im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten die notwendig internationale Tragweite auch des nationalen Klimaschutzes. Daher muss der deutsche Staat Lösungen des Klimaschutzes auch auf internationaler Ebene suchen und im Rahmen internationaler Abstimmungen mit anderen Staaten etwa durch Verhandlungen, in Verträgen oder Organisationen auf Klimaschutzaktivitäten hinwirken, und zwar eingebettet in diese und für deren Realisierung nationale Maßnahmen zum Stopp des Klimawandels ergreifen.33 Daraus ergibt sich schon eine
Wechselwirkung zwischen ambitioniertem nationalen Klimaschutz und
Fortschritten auf internationaler Ebene.
c) Ausprägung der objektiven Funktion der Grundrechte
Im Übrigen aber zeigt sich der Charakter der grundrechtlichen Schutzpflichten als Ausprägung der objektiven Funktion der Grundrechte. 34 Daraus folgt ihre Unbestimmtheit, weshalb der Gesetzgeber einen breiten Einschätzungs-, Gestaltungs- und Wertungsspielraum hat und nur dem Grunde nach verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz des Rechtsguts zu ergreifen, woraus eine nur begrenzte verfassungsrechtliche Kontrolle folgt: Wurden Schutzvorkehrungen überhaupt nicht getroffen? Sind sie offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich, das gebotene Schutzziel zu erreichen? Bleiben sie erheblich hinter dem Schutzziel zurück?35
Daraus folgt, dass das BVerfG die grundrechtlichen Schutzpflichten durch das KSG nicht verletzt sah.36 Zudem zog es aus ihnen für die internationale Tragweite des Klimaschutzes nur begrenzte Konsequenzen und behielt diese seinem eigentlichen Ansatz eines wirksamen Klimaschutzes für die jungen Generationen aus den Freiheitsrechten i. V. m. dem Umweltstaatsziel vor.
32 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Ls. 1, Rn. 144, 148. 33 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 149. 34 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 146. 35 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 152. 36 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 151.