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d) Genügen des Paris-Ziels als solchem

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56 Restbudgets folgt, wenn sich daraus die mögliche Überschreitung der verfassungsrechtlich maßgeblichen Temperaturschwelle ergibt.76 Daran kann die Vereinbarkeit des KSG im Hinblick auf die zugelassenen Emissionsmengen „dem Grunde nach gemessen“ werden,77 auch wenn die (bisherigen) Unsicherheiten in der Berechnung „derzeit“ noch keine Heranziehung als zahlengenaues Maß für die verfassungsgerichtliche Kontrolle erlauben, wie das BVerfG für das vom Sachverständigenrat für Umweltfragen ermittelte CO2Restbudget Deutschlands entschied, welches auf den Schätzungen des IPCC zur Wahrung einer 1,75 Grad Celsius-Temperaturschwelle beruht.78

e) Dynamische Betrachtung auf der Basis des aktuellen IPCC-Berichts

Angelegt ist damit aber eine Prüfung des KSG darauf hin, ob die Zahlengrundlagen des Sachverständigenrates für Umweltfragen auf der Basis der IPCC-Schätzungen gewahrt sind. Letztere sind damit im Ergebnis höhergestellt als das KSG, jedenfalls wenn die noch vorhandenen Unsicherheiten verschwunden sind. Das KSG muss damit zumindest in der Zukunft den Standards und Berechnungen entsprechen, welche der IPCC heranzieht und die nunmehr auch schon faktisch zugrunde gelegt werden. Das legt einen dynamischen Prozess nahe. Die Berechnungen des IPCC von 2018, die auf der Kattowitz-Konferenz nur in ihrer zeitlichen Fertigstellung begrüßt wurden, sind zwar vom BVerfG zugrunde gelegt, wurden aber durch den neuen IPCC-Bericht vom 09. 08. 2021 abgelöst, der wesentlich dramatischere Berechnungen enthält. In der Konsequenz sind daher diese zugrunde zu legen. Auf sie bezogen ist nunmehr zu prüfen, ob die Unsicherheiten und Wertungen immer noch so stark sind, dass eine Heranziehung für die juristische Prüfung ausscheidet. Daran zeigt sich zugleich die Unsicherheit über den juristischen Prüfungsmaßstab: Ist dieser nun unter strikter Beachtung der Berechnungen von IPCC und Sachverständigenrat für Umweltfragen zu wählen oder können diese nur berücksichtigt werden, sodass der Gesetzgeber ihnen nur Rechnung getragen haben muss? Insoweit braucht auch der Gesetzgeber Verlässlichkeit, muss er doch sonst bei jeder Verfassungsklage erst einmal abwarten, ob das BVerfG IPCC-Schätzungen und Berechnungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen als verbindlich oder lediglich als zu berücksichtigenden Posten heranzieht. Oder aber greifen mit der Regulierung im Zuge des EU-Klimapakets nur noch die europäischen Festlegungen und auch Grundrechte, die kein Klimaschutzgebot enthalten (näher o. Frenz, Klimaschutz und Grundrechte, Einf. E Rn. 102 f.)?

76 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 229. 77 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 216 a. E. 78 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 236.

Jedenfalls muss das KSG nach diesem Maßstab anhand des neuen IPCCBerichts vom 09. 08. 2021 überprüft werden, ob die angestellten Prognosen auch mit diesem übereinstimmen und inwieweit davon ausgehend schärfere Reduktionsziele und Minderungsmaßnahmen zu ergreifen sind. Ansatz dafür ist aber letztlich ein auf völkerrechtlicher Ebene eingesetztes Gremium, dessen Arbeit von der Staatengemeinschaft indes als nicht verbindlich zugrunde gelegt wird, wie die Konferenz von Kattowitz 2018 zeigte.79

f) Innerstaatliche Verbindlichkeit

Durch die verfassungsrechtlich vorgegebene Internationalität und Vorbildfunktion Deutschlands wird das auf freiwilligen Mechanismen und einem keineswegs fest vereinbarten, sondern als Zielmarke fungierenden Klimaziel beruhende Pariser Klimaabkommen für Deutschland innerstaatlich verbindlich, während ansonsten die Staaten selbst darüber zu entscheiden haben, wie genau sie auf dieses Ziel hinarbeiten.80 Dabei muss der deutsche Gesetzgeber noch beobachten, ob das von ihm gesetzte Klimaschutzziel möglicherweise schärfer zu fassen ist, um seiner Anpassungspflicht an die neuesten Entwicklungen und Kenntnisse in der Wissenschaft nachzukommen, vergleichbar zur Risikovorsorge im Hinblick auf die Kernenergie.81 Daraus ergibt sich damit ein strenger Maßstab. Eine Absenkung des Klimaziels ist dementsprechend kaum zu rechtfertigen.82 Vielmehr ist der aktuelle IPCC-Klimabericht vom 09. 08. 2021 ein Weckruf, um zu prüfen, ob angesichts der eingeleiteten irreparablen Entwicklungen, wie das Ansteigen der Meeresspiegel, nicht doch die Reduktionsziele anzupassen und zu verschärfen sind. Darüber muss aber der Gesetzgeber entscheiden (u. Rn. 114). Je konkreter der IPCC Bericht erstattet und Unsicherheiten über künftige Entwicklungen verschwinden, desto schärfer wird die Kontrolle des BVerfG ausfallen und daher die normative Konkretisierung überprüft werden. Dabei muss dann aber auch berücksichtigt werden, wenn der IPCC feststellen sollte, dass das 1,5 Grad-Ziel weltweit gar nicht mehr erreicht werden kann. Dann kann Deutschland noch zu hohen Anstrengungen verpflichtet sein, aber nicht mehr zur Erreichung eines gar nicht mehr zu schaffenden Ziels.

Die in § 1 Satz 1 festgelegte weltweite Bedeutung des Klimaschutzes ist damit verfassungsfest und durch den Klimabeschluss des BVerfG erheblich konkretisiert sowie verdichtet worden. Die Vorbildfunktion Deutschlands führt zu konkreten staatlichen Verhaltenspflichten, die im Lichte der weltweiten Tragweite des Klimaschutzes auszulegen und aus dieser Sicht regelmäßig so 57

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79 Frenz, Grundzüge des Klimaschutzrechts, 2. Aufl. 2022, Rn. 38 f. 80 Frenz, Grundzüge des Klimaschutzrechts, 2. Aufl. 2022, Rn. 39. 81 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 212. Unter Verweis auf Beschl. v. 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89 (130, 132) zu Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG. 82 BVerfG, Beschl. v. 24. 03. 2021 – 1 BvR 2656/18 u. a., ECLI:DE:BVerfG:2021: rs20210324.1bvr265618, Rn. 212 a. E.

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65 zu interpretieren sind, dass sie die Vorbildfunktion Deutschlands möglichst wirksam zur Geltung kommen lassen. Die Grenze dafür ist allerdings die in § 1 ebenfalls enthaltene Berücksichtigung nicht nur der ökologischen, sondern auch der ökonomischen und sozialen Folgen, wie es dem Zieldreieck der nachhaltigen Entwicklung entspricht (näher u. Rn. 85). Insoweit ist jedoch näher zu untersuchen, inwieweit in Deutschland nach dem BVerfG-Klimabeschluss die ökologische Seite einen zumindest relativen Vorrang besitzt (Rn. 86 ff.).

IV. Bedeutung für die Gesetzesanwendung

1. Generelle Leitlinie für Interpretation und Handhabung

Damit wird durch § 1 ein sehr weiter Rahmen gesteckt. Dieser ist maßgeblich für die Auslegung der folgenden Vorschriften des KSG. Es ist bei Umweltgesetzen mittlerweile Standard, dass die Zweckvorschrift die Interpretation und Handhabung des Normwerkes insgesamt prägt. Das gilt auch für die Ausfüllung von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen (näher u. Frenz/Schink, § 1 BEHG Rn. 2 ff.).83 Auch wenn konkretisierende Maßnahmen ergriffen werden, so durch die Festlegung der Klimaschutzziele nach § 3 Abs. 4, die Erarbeitung und der Beschluss von Sofortprogrammen bei der Überschreitung der Jahresemissionsmengen sowie von Klimaschutzprogrammen, ist die Zielsetzung nach § 1 von maßgeblicher Bedeutung. So müssen diese Programme hinreichend anspruchsvoll sein, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Das ist aber zugleich Ausdruck der effektiven Umsetzung von Unionsrecht, bezieht sich doch bereits § 1 auf die europäischen Zielvorgaben. Diese sind damit auch über § 1 relevant, soweit sie nicht schon unmittelbar in die Handhabung von § 9 einfließen. Dies ist ein Beispiel dafür, wie das europäische Recht nochmals verstärkend auch indirekt über die Zweckvorschrift des § 1 wirken kann (s. o. Rn. 22). Das gilt namentlich für das Sofortprogramm bei Überschreitung der Jahresemissionsmengen nach § 8, handelt es sich doch dabei um ein nationales Instrument, das gleichwohl der effektiven Umsetzung von Unionsrecht dient.

Die Zwecknorm des § 1 bedarf damit vor allem der näheren Ausfüllung durch weitere Maßnahmen, welche durch sie dann gesteuert wird. Zugleich werden wichtige Eckpunkte festgelegt, welche bei etwaigen Einschätzungen und Abwägungen zu wahren sind. Das gilt für die sogleich zu erläuternde Berücksichtigung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen nach § 1 Satz 2. Damit wird zugleich das weitere Vorgehen bei der Entwicklung des Klimaschutzes näher vorgezeichnet.

2. Bedeutung in der Abwägung nach dem BVerfG-Klimabeschluss

Damit bildet § 1 eine spezifische Leitlinie und Prinzipiennorm, indem zugleich die vorzunehmende Abwägung näher gestaltet wird. Damit dürfen

83 Vgl. etwa Jarass, in: ders./Petersen, Kreislaufwirtschaftsgesetz, 2014, § 1 Rn. 31.

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