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Cordula Simon und Georgi Gospodinov
In Zeiten der Krise und des Umbruchs haben Dystopien Hochsaison. Angesichts des Klimawandels, der Macht der Konzerne und einer zunehmenden Aushöhlung der Demokratie wurden in den letzten Jahren nicht nur Aldous Huxleys und George Orwells Klassiker dieses Genres wieder ausgepackt. Es entstanden auch zahlreiche neue Romane, darunter allerdings nur wenig wirklich gute, etwa Raphaela Edelbauers Künstliche-Intelligenz-Roman „Dave“.
Ihr Verfasser Georgi Gospodinov hat sich mit einem Œuvre aus drei Romanen, zwei Short-Story-Sammlungen und ein paar Gedichtbänden den Status eines Geheimtipps aus Osteuropa erschrieben. Inzwischen wird der Bulgare zur Riege der großen europäischen Autoren gezählt. Das neue Werk wird diesen Status zementieren. Als „experimenteller Humorist der Verzweiflung“ wurde Gospodinov einmal apostrophiert, und das gilt bis heute. Seine Literatur ist mit allen Wassern der Moderne und Postmoderne gewaschen und dementsprechend verspielt, aber nicht gespreizt. Und sie ist von einem dunklen, schwermütigen Witz durchzogen.
Wie in fast allen seinen Büchern tritt Georgi Gospodinov darin auch selbst auf. Man könnte sogar behaupten: in einer Doppelrolle, denn der rätselha e zweite Protagonist Gaustín lässt sich als Alter ego des Autors verstehen. Mehr Idee als handelnde Figur, existiert er vor allem in den Nachrichten, die er (G.) dem Autor (G.G.) von Zeit zu Zeit zukommen lässt.
Gaustín ist ein Flaneur, für den die Örtlichkeiten seiner Streifzüge zweitrangig sind. Er reist nämlich durch die Zeit. Für eine Dystopie völlig untypisch, interessiert er sich nicht für die Zukun – welche Zukun ? –, ihm hat es die Vergangenheit angetan. Ja, er scheint regelrecht von ihr besessen. Und er ist nicht allein, sondern nur die Avantgarde der Retromanie, die im Buch langsam ganze Staaten erfasst und extreme Formen annimmt.
Es beginnt mit der Eröffnung einer „Klinik für die Vergangenheit“. Gaustín ist überzeugt, dass Demenzkranke aufleben, wenn man sie mit Eindrücken, Dingen oder Gerüchen aus ihrer Kindheit konfrontiert. Jedes Stockwerk in dem Haus ahmt eine Wohnungseinrichtung aus einem bestimmten Jahrzehnt bis ins Detail nach. Die Methode hat Erfolg, ähnliche Einrichtungen schießen bald allerorten aus dem Boden. Und es melden sich auch völlig Gesunde an, die offenbar lieber in vorangegangenen Dekaden leben würden.
Die Figur Gospodinov zeigt sich ebenfalls fasziniert: „Du öffnest die Tür und gerätst sofort ins 20. Jahrhundert, in die Mitte der 60er. Eine Diele mit Garderobenständer, dunkelgrün, Kunstleder mit Rautenmuster. Wir hatten so einen zu Hause. […] Am Garderobenständer hing ein kurzer, blassgrüner Mantel mit zweireihigen Holzknöpfen. […] Das war der Mantel meiner Mutter. […] Willkommen in den 60ern, sagte Gaustín, der mein Erstarren im Vorraum des Jahrzehnts mit kaum verhohlenem Lächeln betrachtete.“
Das Heute ist unwirtlich, das Morgen fraglich, also nehmen immer mehr Menschen das Angebot, sich in die Vergangenheit zurückzuziehen, dankbar an. Aber in welche? Die Europäische Union will in einem eigenen Referendum klären, wohin die Reise gehen soll. Aber natürlich kann man sich nicht auf ein Jahr oder auch nur ein Jahrzehnt einigen. Schließlich sucht sich
Georgi Gospodinov: Zeitflucht. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Au au, 342 S., € 24,70
Sascha Macht: Spyderling. Dumont, 480 S., € 25,70
Cordula Simon: Die Wölfe von Pripyat. Residenz, 400 S., € 25,–
jeder Mitgliedsstaat selbst die bevorzugte Ära des Reenactments aus. In den meisten von ihnen gewinnen die 80er-Jahre knapp – „das Jahrzehnt, das am meisten Langeweile und Disco hervorgebracht hat“. Am „disparatesten und unklarsten“ ist das österreichische Votum ausgefallen: „Hier gab es die größte Anzahl Nichtwähler, und von den Wählern erhielten gleich mehrere Bewegungen, die selbst ziemlich anämisch waren, einen fast identischen Prozentsatz an Stimmen.“ Und: „Das Österreich des Anschlusses vereinte einen beunruhigenden Prozentsatz auf sich“.
Gospodinov unternimmt derweil eine Reise nach Sofia, wo sich die Wiederkehr des Kommunismus abzeichnet. Aus dem Spiel wird schnell Ernst. Ihm gelingt gerade noch die Ausreise, zwei Tage bevor die Grenzen dichtgemacht werden: „Schön ist es, seine Heimat gut genug zu kennen, um sie ein wenig früher zu verlassen, bevor die Falle zuschnappt. Ich hatte jenes, was kommen sollte, bereits gelebt.“ „Zeitzuflucht“ gelingt es, einen bei der Lektüre unablässig zu überraschen, zu erheitern und zu erschrecken. Auch in den düsteren Passagen hat Gospodinovs Prosa in der gelungenen Übersetzung Alexander Sitzmanns etwas angenehm Tänzelndes an sich. Den Nullpunkt dieses glänzenden Romans bildet der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939. Angesichts der aktuellen Weltlage hat das etwas Prophetisches, scheinen wir doch gerade wieder in die Vergangenheit abzubiegen.
In die Kategorie „WTF did I just read“ fällt der Roman „Spyderling“ des deutschen Autors Sascha Macht. Während die Welt am Abgrund steht, trifft sich die Elite der Brettspielentwickler auf einem Weingut in der Republik Moldau zum informellen Austausch. Heißt konkret: Es wird ziemlich viel gesoffen, Unsinn geredet, rumgemacht. Außerdem probiert man die gut ausgestattete Ludothek des Hauses durch.
Macht versteht sich auf die Schilderung absurder Situationen und Verhältnisse. Viel mehr Positives lässt sich über seinen fast 500 Seiten starken Roman leider nicht sagen. Mit ihren Macken und Schrullen sind die Figuren grotesk überzeichnet (das jugendliche Genie, die Lebefrau, der Deutsche et al.) und wirken dennoch völlig farblos. Von dem offenbar selbst gelangweilten Erfinder werden diese langweiligen Pappkameraden auf dem Anwesen herumgeschoben, wo sie großteils bedeutungsloses Blabla von sich geben.
Die Ich-Erzählerin, Daytona Sepulveda mit Namen, hat in ihrer Vergangenheit schlimme Dinge erlebt, aber auch sie bleibt erschreckend blass. Und die Titelfigur „Spyderling“, eine mysteriöse Größe in der Welt der Brettspiele und immerhin der Gastgeber, zeigt sich bis zuletzt nicht, sondern raunt Daytona übers Telefon lediglich unverständliches Zeugs zu. Daytona ihrer-
Im Roman von Cordula Simon haben die Menschen die Kontrolle über ihre Leben an den „Log“ übergeben, einem subkutanen Chip. Fast alle sind „gelogged“ und „gecrispert“, Kinder kommen maßgeschneidert zu Welt
seits muss mitten in der Handlung immer wieder innehalten und die Gedankenfrüchte des Autors servieren: „Ein Brettspiel – was ist das überhaupt? Ich bin der Meinung: so etwas wie komprimierte Wirklichkeit. Oder anders ausgedrückt: eine Rückschau in die Vergangenheit, ein Umgang mit der Gegenwart, ein Blick in die Zukun . […] Es bietet uns Mittel und Wege. Nur wofür? Das ist die Frage.“
Man soll Bücher angeblich nicht danach befragen, was der Autor mit ihnen sagen wollte. Im konkreten Fall drängt es sich aber auf. Bleibt uns angesichts der Weltlage nur mehr die Flucht ins Spiel? Ist das Leben ein Spiel? Die Welt ein Spielbrett? Naja. Das Lektorat hat allem Anschein nach frühzeitig kapituliert, anders lässt sich vieles in diesem Buch einfach nicht erklären.
Die Österreicherin Cordula Simon hat einige Jahre in der Ukraine gelebt, was sich in ihrem Schreiben bis heute bemerkbar macht. Mit „Die Wölfe von Pripyat“ legt sie eine vergleichsweise klassische Dystopie vor, die bedrohliche Entwicklungen unserer Zeit weiterdenkt und in die nahe Zukun transferiert. Handlungsort des Romans ist die sogenannte „Toleranzunion“, die wohl das Gebiet dessen miteinschließt, was heute noch Ukraine heißt: Die Geisterstadt Pripyat war die dem Kernkra werk Tschernobyl nächstgelegene Siedlung.
Simon betreibt großen Aufwand, um glaubwürdig eine schöne neue Welt zu errichten, in der die Auswüchse moderner Technologien oder auch der Cancel Culture sichtbar werden. Die Menschen haben die Kontrolle über ihre Leben längst an den „Log“ übergeben, einem unter die Haut implantierten Chip. Fast alle sind „gelogged“ und „gecrispert“, Kinder kommen maßgeschneidert zur Welt.
Wer keinen „Log“ will, macht sich verdächtig. Und verdächtig möchte man in dieser Welt, in der alle nur Gutes, jedenfalls ja nichts Böses oder Falsches sagen wollen, auf keinen Fall sein. Hier wird nichts toleriert, der Begriff „Toleranzunion“ für die nicht grei are politische Elite ist natürlich ein böser Witz.
Es braucht eine gewisse Anlaufzeit, bis man bei der Handlung und in Hinblick auf die einzelnen Figuren den Durchblick hat. Aber dann schafft es die Autorin überzeugend, ihr sorgsam aufgebautes Zukun stableau auch mit Leben zu füllen. Da ist TV-Moderator Sandor, der als Wettermann in Ungnade fällt, weil er sich angesichts einer gigantischen Aschewolke eines Tages weigert, den ihm vorgelegten Beschwichtigungs-Wetterbericht abzulesen. Er spürt, dass etwas schief läu und zieht sich immer mehr zurück. Auch von seiner Frau, die als Märchentante im Fernsehen reüssiert. Stattdessen verbringt er seine Zeit im „Virtuali“, einer süchtig machenden Computerspielewelt.
Viel später wird man Sandor in ganz anderer Rolle wieder begegnen. Derweil macht sich eine Gruppe zorniger Jugendlicher, die sich wegen kleiner oder mittelgroßer Vergehen in einem Besserungscamp befinden, in Richtung „Goldene Stadt“ auf. Dort, in der mythischen „Gelehrtenrepublik“, soll alles besser und ein freies Leben möglich sein.
Das ist keine erfreuliche Lektüre, aber es ist auch nicht die Aufgabe von Literatur, uns von der Realität abzulenken. Cordula Simons Vision eines Überwachungsstaates wirkt bedrohlich realistisch und nah.