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Leben mit Asperger, Familiengeheimnisse und die Liebe

„Wer bin ich, und wenn ja, wem sage ich es?“

Ein fiktives Tagebuch einer 16-Jährigen, die die Diagnose Asperger-Syndrom erhält

Selbstfindung in der Jugend ist eine schwere Aufgabe, auch wenn man sich ganz „normal“ entwickelt. Umso mehr Anforderungen bestehen für jene, die sich deutlich von ihren Altersgenossen unterscheiden. Fabienne, genannt Fabi, ist so eine. Nicht nur ihre Familie findet, dass sie komisch ist, gerne übertreibt und wegen Kleinigkeiten ein Drama macht. Auch sie selbst merkt es. Sie mag keine Menschenmengen, vermeidet Blickkontakt und macht sich ständig Sorgen. Sie schlä schlecht, kann sich schwer konzentrieren und lächelt wenig. Für sie ist o etwas falsch: zu heiß, zu weich, zu leise, zu laut.

Cornelia Travnicek macht in „Harte Schale, Weichtierkern“ die Innenwelt der 16-Jährigen plastisch, indem sie Fabi selbst zu Wort kommen lässt. Der Psychiater, bei dem die Jugendliche ohne Wissen ihrer Familie einge-

„Du sollst nicht Asperger sagen“

„FABI“ BEI

CORNELIA TRAVNICEK

checkt hat, hat ihr mit der Diagnose „Asperger“ diverse Aufgaben aufgetragen: Mindmaps zu zeichnen, Listen über Vorlieben und Abneigungen zu verfassen und ein Tagebuch zu schreiben.

Ein Tagebuch zu führen scheint ihr zwar „superberuhigend“, ihrem überkritischen Auge hält aber schon die Handschri kaum stand. Nach und nach findet sie aber hinein in die Reflexion über ihr Leben und ihren Charakter. Einen festen Handlungsfaden gibt es nicht, dafür aber Beziehungen: zu ihrem Freund Marco, der sich zu Beginn des Buchs von Fabi trennt, oder ihrer besten Freundin Walli, deren Zuneigung Fabi sich nicht sicher ist – wie es ihr überhaupt schwerfällt, Menschen und die Bande zwischen ihnen einzuschätzen.

Dass aus dem Ganzen keine schwere Kost entsteht, dafür sorgen – für ein Jugendbuch ungewöhnlich – die durchgängigen Illustrationen von Michael Szyszka. In diesen spielt der titelgebende Oktopus eine Hauptrolle, bei dem das Gehirn – wie bei der hypersensiblen Fabi – über den gesamten Körper verteilt ist.

Der Hauptgrund für das Gelingen liegt aber in dem Sound, den Travnicek für ihre Heldin gefunden hat: unsicher und rotzfrech, tastend und treffsicher, ironisch und voller Ernst.

Dass Fabi nicht Asperger genannt werden will, liegt zum einem an dessen Namensgeber, dem Kinderarzt Hans Asperger (1906–1980), der in der Nazi-Zeit junge Patienten in die Euthanasieanstalt Am Spiegelgrund überwies. Asperger wird auch gerne „hochfunktionaler Autismus“ genannt, aber dieser hat keinen guten Leumund. Dabei gibt es viele bekannte Persönlichkeiten, die zu dem Spektrum zählen, von Albert Einstein über Anthony Hopkins und Elon Musk bis zu Greta Thunberg. Mädchen und Frauen können ihre Symptome übrigens besser verbergen und werden weniger o diagnostiziert.

Fabi will aber auch einfach in keine Schublade gesteckt werden: „Ich will nicht, dass die Leute hinter meinem Rücken sagen, ich wäre irgendwie gestört. Da sollen sie lieber weiterhin denken, ich wäre eingebildet, unhöflich, berechnend, krankha ehrgeizig, überängstlich, schlecht gelaunt.“

Asperger ist keine Krankheit, sondern ein Syndrom. Und dieses hindert Fabi nicht daran, zu lernen, zu sich selbst zu stehen und an der Welt teilzunehmen. Sie fährt zu einem Musikfestival und reklamiert sich in eine von ihrer Freundin Walli geplante Reise hinein, beginnt eine Freundscha mit ihrem Exfreund und lernt bei den Meetings von Asperger-Teenies einen jungen Mann kennen, der Meeresbiologe werden will.

Travniceks schmales und kluges Buch über ein noch zu wenig bekanntes Persönlichkeitsprofil schafft nicht nur den Spagat zwischen Literatur und Sachbuch, es vermag auch viel zwischen den Zeilen zu transportieren. Da in vielen Menschen eine hochsensible Person steckt, wird den allermeisten Leserinnen und Lesern die Innenwelt von Fabienne gar nicht so fremd sein.

KIRSTIN BREITENFELLNER

„Manches einfach so lassen, wie es ist“

Ein Jugendroman über eine spröde Jugendliche, Familiengeheimnisse und die Liebe

Wenn ein Mädchen Maserati heißt, scheint es naheliegend, es mit bösen Spitznamen zu bedenken. Caspar probiert alle Automarken durch, um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu ergattern. Ferrari, Volkswagen, Toyota, Trabi et cetera. Der Jugendroman von Alina Bronsky unter dem Titel „Schallplattensommer“ spielt in einer Gegend, in der nicht viel los ist, wo es Birken ohne Ende gibt, im Herbst Pilze und im Winter Schnee und an den vielen Seen im Sommer eine Menge Sommergäste.

Maseratis Oma betreibt ein Gasthaus, das für seine gefüllten Teigtaschen bekannt ist. Da es so viel Arbeit gibt, verzichtet Maserati darauf, weiter in die Schule zu gehen.

In die bis dahin verfallene Villa nebenan zieht eine Familie mit zwei Burschen in Maseratis Alter. Einer

Wie immer, wenn ihr zum Heulen zumute war, musste Maserati lachen

ALINA BRONSKY

der Burschen, Caspar, blond, gutaussehend und frech, schmeißt sich an die knapp 17-Jährige heran, der andere, Theo, dunkelhaarig und verdüstert, „eine nur auf den zweiten Blick hübsche traurige Mischung aus Dracula und Professor Snape“, interessiert sich ebenfalls für sie. Er trägt ein Geheimnis, das merkwürdigerweise etwas mit Maserati zu tun hat.

Und dann gibt es da noch Georg, einen taubstummen ehemaligen Klassenkameraden, der zupacken kann und mit dem sie angenehmerweise nicht viel reden muss.

Maserati ist eine typische Heldin der Autorin Alina Bronsky: spröde, unangepasst und schwer zu beeinflussen. „Wie immer, wenn ihr zum Heulen zumute war, musste Maserati lachen“, heißt es an einer Stelle. Auch ihr Gesicht fällt auf. „Sie war schon mit einer Elfe, einem Raubtier und einer Außerirdischen verglichen worden. Als sie noch mit Oma in der Stadt gelebt hatte, war sie dreimal in zwei Jahren auf der Straße zu Castings eingeladen worden.“

Familiengeheimnisse spielen die zweite tragende Rolle in Bronskys fein hingetup em, spannendem Roman. Die Autorin versteht es dabei meisterha , ihre Leser mit Andeutungen bei der Stange zu halten. Dass am Schluss nicht alle Geheimnisse aufgelöst werden, gehört zu den Stärken des Buchs. „Keiner muss irgendwas klären“, sagt Maserati zu Caspar. „Manches muss man einfach so lassen, wie es ist. Ungeklärt, mit Lücken. Was ist das für eine nervige Angewohnheit, alle Geheimnisse aufdecken zu müssen?“

Eines der Rätsel hängt mit der titelgebenden Schallplatte zusammen, auf deren Cover Theo Maserati zu erkennen meint. Aber wie kann das sein? Die beiden begeben sich unabhängig voneinander ins Internet und entdecken eine Verbindung zu Maseratis Mutter. Maserati sieht aus wie Lenchen, die in der Klatschpresse an den Pranger gestellt wurde.

Seitdem ist Oma krank im Kopf. Und Maserati gibt vor, kein Handy und keinen Internetanschluss zu haben.

Alina Bronsky, geboren 1978 in Swerdlowsk (heute: Jekaterinburg) in der damaligen Sowjetunion, legte bereits mit ihrem Erstling ein Jugendbuch vor, das die Kunst beherrscht, leicht über schwere Themen zu schreiben. „Scherbenpark“, erschienen 2008, wurde bereits 2010 für die Bühne adaptiert und 2011 auch verfilmt. Inzwischen gehört das Buch über die russischstämmige Sascha, deren Mutter von ihrem Stiefvater getötet wurde und die diesen schon im ersten Satz des Romans ebenfalls umbringen möchte, zur Schullektüre.

Auch in „Schallplattensommer“ gelingt es ihr, über Themen wie Selbstmord, Medien, Mobbing, Demenz und soziale Ausgrenzung nonchalant und ohne Larmoyanz oder moralischen Zeigefinger zu schreiben. Bronsky tritt damit einmal mehr den Beweis an, dass Unterhaltung nicht seicht sein muss.

KIRSTIN BREITENFELLNER

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