HEUREKA 6/21

Page 18

18 FALTER  43/21  H EUR EKA 6/21 :  T I T ELT H E M A

Zwischen Scharia und Staatsgrundgesetz Muslim*innen in Österreich leben in einem zunehmend aufgeladenen Klima ara Zakils Tag beginnt manchmal zwei­ mal. Je nachdem, wann die Sonne auf­ geht. Im Wiener Herbst beginnt ihr Tag zum ersten Mal, wenn ihr Wecker für das Morgengebet klingelt. Wann sie bereit sein muss, zeigt die App des Islamischen Zen­ trums. Öffnet sie die, läuft auf dem Bild­ schirm ein Countdown bis zum nächsten Gebet. Die Zeiten der fünf Pflichtgebete sind aufgelistet: Fadjr, Dhuhr, Assr, Ma­ ghrib und Ishaa. Im Oktober steht sie für das Morgenge­ bet zwischen fünf und sechs Uhr auf. ­Fadjr muss in der Morgendämmerung und jeden­ falls vor Sonnenaufgang verrichtet wer­ den. Dafür braucht Zara etwa vier Minu­ ten. Davor wäscht sie sich rituell, denn nur dann gilt das Gebet. Mit Wasser wäscht Zara ihre Hände, spült ihren Mund aus, dann die Nase, wäscht ihr Gesicht, reinigt ihren rechten Unterarm, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, dann ihren linken. Sie streicht sich übers Haar, fährt mit benetzten Fingern über ihre Ohren, vom oberen Rand bis zu den Ohrläppchen, und wäscht zuletzt ihre Füße. Dann streift Zara ein langes Ge­ betskleid über, in das ein Kopftuch inte­ griert ist, und betet. Nach dem Gebet legt sie das Kleid ab und schlüpft wieder unter die Bettdecke. Bevor ihr Tag nach weltli­ cher Zeitrechnung beginnt, schläft sie noch ein bisschen. Gottes Wort ist den Muslim*innen Gesetz Dass Muslim*innen fünf Mal pro Tag be­ ten sollen, gibt der Koran vor, die Heilige Schrift des Islam. Gott hat Mohammed of­ fenbart, dass man vor dem Gebet bestimmte Körperteile einmal reinigen soll, und dieser hat Gottes Wort verschriftlicht. Der Prophet selbst hat sich vor dem Gebet drei Mal ge­ waschen. Das ist in der Sunna überliefert, in der seine religiösen Praktiken niederge­ schrieben sind. Koran und Sunna bilden die zentralen Elemente der Scharia, des Normensystems des Islams. In ihr werden auch Rechtsfragen geregelt, etwa Vertrags-, Erb- oder Famili­ enrecht, zu einem kleinen Teil auch Straf­ recht. „Viel davon ist unproblematisch, man­ ches davon ist halbproblematisch, zum Bei­ spiel wenn es Regelungen sind, die unse­ rem Gleichheitssatz nicht entsprechen“, sagt Ebrahim Afsah, Professor für islami­ sches Recht und Völkerrecht an der Univer­ sität Wien und der Universität Kopenhagen. „Manche Bereiche sind hingegen unverein­ bar mit unserer Rechtsordnung, zum Bei­ spiel die Ablehnung des Vorrangs staatli­ chen Rechts, rigide strafrechtliche und frei­ heitsbegrenzende Vorstellungen.“ Wenn eine Frau etwa nach islamischem Recht weniger erbt als ein Mann, obwohl ihr nach österreichischem Recht mehr zu­ stünde, kann der Staat einschreiten. „Dass Leute ihr Familienrecht mitbringen, ist re­ lativ normal“, sagt Professor Afsah. Weil

TEXT: PIA MILLER-AICHHOLZ

„Dem Islam steht ein Adaptionsprozess wie einst dem Christentum bevor“ ­ NDREAS A ­K OWATSCH, UNIVERSITÄT WIEN

Ebrahim Afsah, Universität Wien

Wolfram Reiss, Universität Wien

das islamische Rechtssystem als unabding­ bare Offenbarung Gottes verstanden wür­ de, komme es teils zu Konflikten mit der hiesigen Rechtsordnung. „Sie haben es mit Menschen zu tun, die sagen: Dein Straf­ recht, dein politisches Recht, dein Verfas­ sungsrecht ist für mich nur mittelbar gül­ tig, nämlich wenn es nicht mit meinen ei­ genen Regeln in Konflikt kommt.“ Religionsfreiheit und ihre Grenzen Zara arbeitet selbstständig als Dolmetsche­ rin für Englisch, Arabisch und Deutsch, un­ ter anderem bei österreichischen Behörden. Wenn sie mit ihrem Hijab zu einem Ar­ beitstermin kommt, hat sie das Gefühl, mit Vorurteilen konfrontiert zu sein. „Wenn sie dann sehen, wie ich arbeite, schwinden die­ ses Vorurteile, und sie sehen, dass ich doch anders bin, als sie vorher dachten.“ Zara entschied sich selbst dazu, Kopftuch zu tra­ gen. Ihre Mutter trug nie eines. Zaras El­ tern kamen aus Ägypten nach Österreich, sie selbst kam hier zur Welt. Ihr Vater bete­ te regelmäßig, die Eltern brachten den Kin­ dern bei, dass Muslim*innen kein Schwei­ nefleisch essen sollen. Zara wuchs zwar mit gewissen islamischen Regeln auf, ihre El­ tern konnten aber nie erklären, woher die kamen. Sie kannten sich nicht gut genug aus. Mit 18 Jahren begann Zara selbst, sich mit der islamischen Lehre auseinanderzu­ setzen, ging jeden Sonntag zum Unterricht im Islamischen Zentrum. In Europa ist das Kopftuch in den ver­ gangenen Jahren zum Politikum geworden, auch in Österreich. So beschloss die türkisblaue Regierung unter Sebastian Kurz 2019 ein Verbot religiös geprägter Kopfverhül­ lung an Schulen für Kinder bis zum voll­ endeten zehnten Lebensjahr. 2020 hob der Verfassungsgerichtshof das Verbot auf, mit der Begründung, dass zwar nicht explizit das islamische Kopftuch verboten worden wäre, das Gesetz aber de facto nur die isla­ mische Tradition betreffe und damit gegen den „Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit der Religionsfreiheit“ verstoße. Die Religionsfreiheit ist verfassungs­ rechtlich geschützt: Der Staat hat in inner­ religiösen Angelegenheiten keine Kompe­ tenz, und umgekehrt haben Religionsge­ meinschaften keine staatliche Kompetenz. Als seit 1912 durch das Islamgesetz aner­ kannte Religion genießt auch die islamische Glaubensgemeinschaft Freiheiten. Geschützt ist auch ein gewisser Spiel­ raum dafür, Normen vorzugeben und auszu­ leben, die vom modernen gesellschaftlichen Mainstream abweichen, erklärt ­Andreas ­Kowatsch, Professor für Religions­recht an der Universität Wien, „solange nicht ein­ zelne Rechte total verletzt werden“. Den­ noch fände er es blauäugig zu behaupten, dass alle Religionen dasselbe Konfliktpo­ tenzial mit einem modernen, demokrati­ schen Staat hätten: „Ich bin nicht für ein

Denk- und Redeverbot darüber.“ Dem insti­ tutionellen Islam in Europa stünde noch ein A­daptionsprozess bevor, wie ihn das Chris­ tentum bereits durchgemacht habe. Reli­ gionen müssten sich mit Fragen der jet­ zigen Gesellschaft auseinandersetzen und „das, was sie überliefert haben, als Ange­ bot für die Gesellschaft zum Dialog sehen, aber nicht als Forderung, dass die Gesamt­ gesellschaft danach leben muss“. R wie Rassismus, Religion und Radikalität Dass muslimische Frauen ihre Haare mit einem Kopftuch bedecken, ist durch die Re­ ligionsfreiheit geschützt. Gleichzeitig wer­ den Musliminnen durch ihren Hijab zur Zielscheibe. 2020 hat die „Dokustelle für antimuslimischen Rassismus“ 1.402 gemel­ dete Fälle verzeichnet – die höchste Zahl seit Aufzeichnungsbeginn. Betroffen sind zu 74 Prozent Frauen, während die Tat in rund 73 Prozent der Fälle von Männern ausgeht. Wenn Mahmoud Al Abdallah mit seiner Mutter und seiner Schwägerin unter­ wegs ist, erlebt er das immer wieder. Einmal habe ein Mann im Vorbeigehen seinen Bru­ der und dessen Frau angespuckt. Ein ande­ res Mal habe ein Mann seine Mutter an­ gerempelt. „Ich finde es traurig, dass unse­ re Religion hier nicht akzeptiert wird. Die Leute haben Angst, aber die haben die rich­ tigen Muslime nicht kennengelernt.“ Mudi, wie er genannt wird, ist mit 16  Jahren aus Syrien nach Österreich ge­ flohen, zusammen mit seinem Bruder. Ein Jahr später kamen seine Eltern nach. Die Flucht war schlimm, aber das Ankommen war schwieriger, erzählt er. Heute ist er 23  Jahre alt, spricht Deutsch auf C1-Level, organisiert mittlerweile selbst Sprachkurse für Geflüchtete und ist im dritten Lehrjahr bei einem großen Telekomkonzern. Irgend­ wie ist Österreich jetzt sein Zuhause, sei­ ne syrische Kultur kann er aber nicht offen leben. Er würde gern auch einmal Kaftan tragen, aber „sobald ein Moslem das anhat, steigen die Leute, glaube ich, nicht mehr in die U-Bahn ein.“ Stattdessen trimmt er sich vor Bewer­ bungsgesprächen besonders ordentlich den Bart, zieht sich besonders gut an. Mudi lebt seinen Glauben, trinkt keinen Alkohol und konsumiert keine Drogen. Aber man­ che Vorschriften nimmt er nicht so streng. Etwa wenn er Stress in der Arbeit hat und die Gebetszeiten verschiebt. Die Stimmung in Österreich macht ihn traurig. Er versteht nicht, warum manchmal Polizist*innen in die Moschee kommen, während gebetet wird. Wolfram Reiss, Professor für Religi­ onswissenschaft an der Universität Wien, hält Polizeikontrollen und Untersuchungen durch den Verfassungsschutz für dringend notwendig: „Es gibt nun einmal ­radikale Muslime. Da hat man zu lange wegge­ Fortsetzung nächste Seite

FOTOS: ARMIN HUBNER, UNIVERSITÄT KOPENHAGEN, KARIN WINKLER

Z


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.