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DER WEIBLICHE BLICK

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DÖNTJE SINGERS

DÖNTJE SINGERS

Ein Gespräch mit Karin Rass

Beim „Female Gaze“ - zu deutsch etwa „weiblicher Blick“ - handelt es sich um ein vielschichtiges Konzept, bei dem es darum geht - in Abkehr von der traditionell männlich dominierten Perspektive - ein ausgewogeneres und realistischeres Bild von Frauen zu vermitteln, das die Vielfalt und Komplexität ihrer Erfahrungen widerspiegelt. Auch wenn wir das Thema in diesem Rahmen nicht vertiefen, bietet der Gedanke daran einen Anknüpfungspunkt zu fragen, wie es sich mit dem „weiblichen Blick“ auf Norderney verhält. Wir haben dazu - als Auftakt zu einer Serie unterschiedlicher weiblicher Inselperspektiven - mit Karin Rass gesprochen, die mehr als drei Jahrzehnte ehrenamtlich Mitglied im Rat der Stadt Norderney und zwischenzeitlich stellvertretende Bürgermeisterin war. Ein streitbarer Geist und eine Norderneyerin, sich bis heute als Stiftungsratsvorsitzende in der Bürgerstiftung (www.buergerstiftung-norderney.de) für das Gemeinwohl auf der Insel engagiert.

Woran denkst Du, wenn vom „weiblichen Blick“ auf Norderney die Rede ist?

Ich würde lieber von einem „menschlichen Blick“ sprechen. Dieser umfasst für mich das „große Ganze“ - auf einer Nordseeinsel könnten wir auch sagen „das kleine Ganze“. Ich blicke dabei auf das Zusammenspiel von drei Komponenten, die aus meiner Sicht den Rahmen für das Leben auf Norderney bilden: den Einkommenserwerb überwiegend durch den Tourismus - innerhalb des begrenzten Raumes einer Insel im Nationalpark Wattenmeer - inmitten einer möglichst gut funktionierenden Sozialgemeinde. Hierauf einen „menschlichen“ Blick zu werfen, bedeutet für mich, stets die Balance zwischen diesen zum Teil gegensätzlichen Bestrebungen zu beachten. Wenn es überwiegend Frauen sein sollten, die diesen umfassenden „menschlichen Blick“ haben, freuen wir uns natürlich über alle Männer, die mit uns eine lebenswerte Zukunft gestalten möchten.

In welchen konkreten Bereichen siehst Du Handlungsbedarf?

Gestärkt werden können weiterhin die wichtigen sozialen Einrichtungen, wie zum Beispiel das Krankenhaus und die allgemeine medizinische Versorgung, die Kinderbetreuung in Kitas und Schulen sowie die Betreuung unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die professionelle Arbeit wird unterstützt durch ehrenamtliche Tätigkeiten, nennen wir nur beispielhaft die AWO, „Verwenden statt Verschwenden“ und den Seniorenverein. Manchmal benötigt es Durchhaltevermögen, wichtige Ziele für das Gemeinwesen zu erreichen - vor allem das Engagement von Frauen auf der Insel hat zum Beispiel die Hebammenversorgung maßgeblich vorangetrieben.

Welche persönlichen Erfahrungen hast du als Frau bei deinem langjährigen Engagement gemacht - und welche Entwicklung kannst du feststellen?

Als ich 1981 in den Rat der Stadt Norderney gewählt wurde, wollten uns die „Herr“-schaften nicht ernst nehmen. Wir jungen Frauen, die den Fokus auch auf ökologische und soziale Belange richten wollen, stießen auf Betonwände. Die Einladungen waren zunächst an „Ratsherrin“ Karin Rass adressiert. Und ja, es gab anfangs vereinzelt auch Sprüche, die auf ein veraltetes Frauenbild abzielten. Das war auf Norderney sicher nicht anders als auf dem Festland. Wenn heute auf breiter Ebene kontrovers über Gendern oder die Wirkung von Sprache und Worten diskutiert und gestritten wird, sehe ich darin eine positive Entwicklung. Das Thema dringt immer stärker ins allgemeine Bewusstsein - und peu a per verändert sich etwas.

Wofür hat es sich gelohnt, sich 35 Jahre kommunalpolitisch einzusetzen?

Eine vollständige Aufzählung all dessen, was wir mit Beharrlichkeit erreicht haben, würde viele Seiten füllen. Meine persönlichen Highlights sind natürlich untrennbar mit meinen politischen Einstellungen und Zielen verbunden. Aber um uns in dieser Form einbringen zu können, mussten wir als Frauen ein Teil der Gremien sein - und das war vor unserer Zeit längst nicht immer selbstverständlich. Allein dafür hat sich das Ganze gelohnt. Heute könnte eine Grundlage für die zukünftige Ausrichtung der Insel das seit Ende 2020 vorliegende „Lebensraumkonzept“ (www.norderney.de/lebensraumkonzept) sein, das unter engagierter Mitarbeit vieler Norderneyerinnen und Norderneyer erstellt wurde. Bei der Umsetzung besteht leider noch reichlich Luft nach oben. Die Ideen und Maßnahmen für konkrete Projekte sind in dem Konzept klar benannt. Jetzt kommt es auf den Willen an, das endlich praktisch anzupacken.

Was kannst du jungen Frauen, die sich auf der Insel engagieren möchten, mit auf den Weg geben?

Aus meiner Sicht ist es ungeheuer bereichernd, sich in Entscheidungsprozesse einzumischen. Nicht nur können wir wichtige Ziele zum Wohle aller erreichen, sondern schon der Weg dorthin ist belebend. Wir arbeiten zusammen mit Menschen, die in Bewegung sind, die visionär denken und mutig handeln. Ich halte es für einfacher, in einer Gruppe aktiv zu sein, wenn Geduld und Beharrlichkeit gefragt sind. Neben Aktionen und Bündnissen sollte die Bedeutung der Arbeit im Stadtrat nicht unterschätzt werden. Hier bestehen für Frauen und Männer mit Familie aus meiner Sicht zurzeit noch unnötige Hürden. Ich glaube, es wäre zum Beispiel ein lohnendes Ziel, durch familienfreundlichere Sitzungszeiten mehr Möglichkeiten zur Teilnahme zu schaffen. Ich persönlich würde meinen Weg nochmal so gehen - und habe auch zukünftig vor, mich weiterhin zu engagieren.

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