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Ein Schatz, den es zu Nutzen gilt von Marc Fischer
Ein Schatz, den es zu nutzen gilt
Viele Schüler*innen haben andere Erstsprachen als Deutsch. Emanuel Brito nutzt diese Ressource in seiner 5. Klasse im Deutsch- und Fremdsprachenunterricht.
Von Marc Fischer (Text und Foto)
Donnerstagmorgen, erste Lektion. Deutschunterricht in einer 5. Klasse am Basler Gotthelf-Schulhaus. Lehrer Emanuel Brito liest zum Einstieg eine Geschichte vor. Miro der ours kommt darin vor, andere animals des Waldes ebenso. Und es riecht nach printemps. Die Schüler*innen hören aufmerksam zu und zählen anschliessend auf, welche Sprachen sie erkannt haben – neben Englisch und Französisch auch Spanisch, Italienisch und Portugiesisch.
Emanuel Brito lässt die Erstsprachen der Kinder – eine kurze Umfrage ergibt eine lange Liste von Schweizerdeutsch und Deutsch über Italienisch und Spanisch hin zu Albanisch, Kreolisch, Kurdisch, Lingala, Polnisch oder Tschechisch – immer wieder im Unterricht einfliessen. «Die Erstsprachen sind ein Schatz, der in den Kindern steckt», sagt er.
Aufmerksam wurde er auf den Ansatz, Erstsprachen im Deutsch-, Englisch- oder Französisch-Unterricht sichtbar zu machen im Studium an der PH FHNW. Dort gibt es etwa die Projekte «Sprachenausstellung zur Mehrsprachigkeit in der Schweiz» (SAMS) oder «Français pour les bilingues» (vgl. Seite 20), die diesen Ansatz aufgreifen. «Man muss am sprachlichen (Vor-)Wissen andocken, welches die Kinder mitbringen», betont Katja Schnitzer, Dozentin an der Professur Deutschdidaktik und ihre Disziplinen und Co-Leiterin des SAMS-Projekts. Auch der Lehrplan 21 weise auf die Wichtigkeit der Erstsprachen hin, so Schnitzer. Dort heisst es etwa: «Jedes Kind bringt die eigene Sprachbiografie und eigene Voraussetzungen mit, die in der schulischen Bildung berücksichtigt werden sollen. Jede Sprache, die ein Kind mitbringt und dazu lernt, hat ihren Wert. Die Wertschätzung der Erstsprache stärkt die (sprachliche) Identität, die Bewusstheit für weitere Sprachen und das Sprachenlernen.»
Allerdings wüssten viele Lehrpersonen noch nicht, wie sie die Erstsprachen in den Unterricht einfliessen lassen könnten, hat Schnitzer beobachtet. «Im Projekt SAMS entwickeln wir deshalb gemeinsam mit den Studierenden Materialien, setzen sie im Unterricht ein und reflektieren darüber. Und wir bauen ein Netzwerk auf, das den Austausch von Erfahrungen ermöglicht.»
Vom Vorlesen zum Vergleich
Wie die Umsetzung im Deutschunterricht aussehen kann, zeigt Emanuel Brito im weiteren Verlauf seiner Deutschlektion. In «Forscher*innen-Gruppen» erhalten die Schüler*innen eine kurze türkische Geschichte zur Bearbeitung. Die türkischsprechenden Kinder werden damit für den Verlauf dieser Stunde zu Expert*innen – Freude und Stolz darüber sind unverkennbar. Sie übernehmen in den Gruppen sofort die Führung, lesen vor, beantworten Fragen und loben Mitschüler*innen für ihre Vorleseversuche.
Schon bald finden die Schüler*innen heraus, dass im Türkischen die Pluralform von Substantiven mit der Endung «-lar» gebildet wird. Im Plenum werden danach
Vergleiche gezogen zu spanischen und englischen Mehrzahlendungen und zur Pluralbildung in der deutschen Sprache. Nicht alle Kinder können spontan erklären, wie die Pluralform in ihrer Erstsprache gebildet wird. «Das erleben wir immer wieder», sagt Katja Schnitzer später. «Für viele Kinder sind die Sprachen klar getrennt. Die Erstsprache ist für zuhause, Deutsch für die Schule.» So gingen fruchtbare Vergleichsmöglichkeiten verloren, ist sie überzeugt. «Deshalb ist es wichtig, die Sprachen der Schüler*innen immer wieder vergleichend heranzuziehen und Sprachvergleiche als allgemeines didaktisches Prinzip zu verstehen.» Emanuel Brito bestätigt dies – und erinnert sich an seine Schulzeit. «Meine portugiesische Erstsprache wurde nie thematisiert. Ich habe mich sogar fast dafür geschämt.» Und weiter: «Zwar habe ich schon in der Schule gemerkt, dass mir das Lernen von Sprachen liegt, aber das Potenzial des Vergleichens wurde mir erst während des Studiums bewusst.»
Das soll seinen Schüler*innen nicht passieren. «Dass ich in Lektionen so umfangreich auf die Erstsprachen der Kinder eingehe wie heute, kommt nicht oft vor. Aber ich rege sie immer wieder zum Vergleichen an,
vor allem auch dann, wenn ich merke, dass sie Fehler begehen, die möglicherweise darauf zurückzuführen sind, dass es in ihrer Erstsprache anders gemacht wird.»
Diesen Ansatz vertritt auch Marta Oliveira, Dozierende an der Professur Französischdidaktik und ihre Disziplinen. «Es gibt in den verschiedenen Sprachen Ähnlichkeiten in Bezug auf Wortschatz und Grammatik. Man kann sowohl die Gemeinsamkeiten, als auch die Unterschiede herausarbeiten und Lehren daraus ziehen. So kann es sogar vorkommen, dass Kinder im Deutsch-, Französisch- oder Englischunterricht etwas in ihrer Erstsprache lernen.»
Geringe Sprachkenntnisse nötig
Bleibt die Frage, ob und wie gut man die Erstsprachen der Kinder beherrschen muss, um sie im Unterricht einzubeziehen. «Mir macht es grossen Spass, jeweils ein paar Wörter, etwa Begrüssungsformeln oder Zahlen, zu lernen», sagt Emanuel Brito. Beherrschen müsse man aber die Sprachen nicht, bei einfachen grammatikalischen Regeln helfen etwa spezifische Publikationen, das Internet oder der Austausch mit Lehrpersonen der Kurse «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK). Auch die Schüler*innen und deren Eltern können helfen. «Es braucht höchstens etwas Mut, seinen eigenen Expertenstatus für eine kurze Zeit abzugeben.» Im Gespräch mit den Kindern liessen sich dann viele Regeln herleiten. Katja Schnitzer fügt an, dass es auch immer mehr PH-Studierende oder Lehrpersonen gibt, die andere Erstsprachen als Deutsch sprechen. «Auch für sie gilt es, diese Ressource, diesen Schatz zu nutzen.»