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Kommentar: Potenzialorientierte Förderung als Bildungsauftrag

Potenzialorientierte Förderung als Bildungsauftrag

Seit den 1990er-Jahren tauchen die Begriffe Begabungs- und Begabtenförderung vermehrt in Weiterbildungsveranstaltungen an Schulen auf. Inzwischen hat sich die gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und überdurchschnittlichen Begabungen an etlichen Schulen etabliert.

Von Salomé Müller-Oppliger

Gegenwärtige Konzepte der Begabungsförderung stellen Schulstrukturen vor, die es ermöglichen individuelle Begabungspotenziale und Leistungsprofile der Schüler*innen zu erkennen und entsprechende individualisierte Lernaufgaben, Lernorte und massgeschneiderte Lernangebote anzubieten. Basierend auf den Anforderungen des Lehrplans 21, werden Unterrichtspraktiken angepasst, um die Lernenden beim Aufbau von persönlichen Interessen, dem Vertiefen von individuellen Begabungen und in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu ermutigen, zu unterstützen und zu begleiten. Dieser Bildungsanspruch ist zentral für ein gesundes Lernen. Eine über längere Zeit dauernde Unterforderung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen des Wohlbefindens führen und negative Auswirkungen auf die Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung haben.

Die Begabungsförderung hat zum Ziel, dass alle Schüler*innen ihre persönlichen Stärken und Schwächen erkennen und unter Berücksichtigung ihrer individuellen Möglichkeiten und Begabungen optimal gefördert werden. Darüber hinaus nimmt sich die Begabtenförderung explizit den teilweise besonderen Bedürfnissen über-

durchschnittlich begabter Kinder an und unterstützt sie in der Entwicklung ihrer Potenziale und weiterführender Kompetenzerwerbung, um ihnen in ihren Begabungsdomänen Hochleistungen zu ermöglichen.

Fördermöglichkeiten sind vielfältig

In den Anfängen beschränkten sich die Begabtenförderungsangebote vor allem auf Lern- und Forschungsateliers, sogenannte Pullout-Programme, um den im regulären Unterricht unterforderten Kindern individuelle Förderung zu ermöglichen. Inzwischen wird in den Schulen versucht, solche Kinder auch integriert im Klassenverband zu fördern. Dabei geht es nicht darum, lediglich mehr desselben Unterrichtsmaterials bereit zu halten für diejenigen Lernenden, die die geforderten Arbeiten innert kürzester Zeit erledigen, sondern auch darum, divergentes und problemlösungs-orientiertes Denken anzuregen. Zudem ist wichtig, dass (hoch-)begabte Schüler*innen anhand vertiefter und weiterführender Aufgabenstellungen Lernstrategien entwickeln und lernen, sich anzustrengen und durchzuhalten, auch wenn einmal etwas nicht so leicht von der Hand geht, wie sie es sich sonst gewöhnt sind (Aufbau von Frustrationstoleranz).

Die Möglichkeiten der Begabungsförderung sind vielfältig. Sie reichen von der Straffung des Lehrplans und Vermeidung unnötiger Übungszeit bis zu Lernumgebungen, die Raum schaffen für das selbstgesteuerte Lernen. Ergänzende Enrichment-Angebote bereichern den Unterricht und bieten Gelegenheit, an interessenbezogenen Projekten zu arbeiten. Auch das Überspringen einer Klasse oder die Zulassung zu höheren Leistungskursen kann nach sorgfältiger Erwägung in Betracht gezogen werden.

Als speziell wirkungsvolle begabungsfördernde Massnahme gilt das Mentoring durch eine qualifizierte Fachperson. Beispielsweise möchte ein musikalisch begabtes Kind, einen eigenen Groove auf dem Schlagzeug komponieren. Es kann sich dank dem Internet und dort zu findenden Tutorials die erforderliche Theorie selber erarbeiten und weiss auch, in welchem Stil und Rhythmus das neue Stück ertönen soll. Nur mit der konkreten Umsetzung hapert es noch. Eine Musiklehrperson kann das Kind darin unterstützen, die Schwierigkeiten zu überwinden und ihm Anregungen geben, wie es seinen eigenen Stil entwickeln und umsetzen kann.

Kriterien begabungsfördernder Lernaufgaben

Für die Wirksamkeit von Lernprozessen ist neben der didaktischen Kompetenz von Lehrpersonen und der Beziehungsgestaltung zu den Lernenden die Qualität der Lernaufgaben entscheidend. Begabungsfördernde Lernaufgaben verbinden fachliche und überfachliche Kompetenzen sowie motivationale Lern- und Leistungseinstellungen. Sie fördern exekutive Fähigkeiten wie Planungs- und Handlungsfähigkeiten, Lernpraktiken und Selbstregulationsfähigkeiten (Selbstmotivation, Impuls- und Emotionskontrolle).

Um einen stärken- und ressourcenorientierten Unterricht zu bieten, können die Aufgabenstellungen differenziert werden nach Schwierigkeitsgrad, Interessen, Methoden der Bearbeitung, selbstgesteuertem Lernen, nach individuellem Lerntempo und kooperativen Lernformen. Letztlich dienen der Ansatz des entdeckenden und forschenden Lernens, aber auch verschiedene Leistungsbeurteilungspraktiken und der Aufbau von Reflexionskompetenzen der persönlichen Entwicklung eines Lernenden.

Zentral ist, dass begabungsfördernde Lernaufgaben in kognitiv verschieden anspruchsvollen Vertiefungsniveaus angeboten werden und den Schüler*innen unterschiedliche Zugänge und erweiterte Ausdrucksformen von Leistung ermöglichen. Darüber hinaus ist ein wesentliches Merkmal begabungsfördernder Aufgaben die Offenheit der Lösungswege. Somit wird dem Ausprobieren und Finden von Lösungen Raum gegeben, kreative Produkte und innovative Ideen dürfen realisiert werden.

Letztendlich sollen die Schüler*innen befähigt werden, ihre Stärken zu erkennen und ihre Potenziale umzusetzen. Dazu ist es erforderlich, dass metakognitive Kompetenzen aufgebaut werden. Durch die in den Aufgabenstellungen eingebundene explizite Aufforderung, die eigenen Denk- und Vorgehensweisen zu analysieren, reflektieren die Kinder ihre Lernwege, ihre fachlichen wie überfachlichen Erkenntnisse und besprechen diese mit den Lehrpersonen.

SALOMÉ MÜLLER-OPPLIGER ist Dozentin am Institut Weiterbildung und Beratung der PH FHNW und Studienleiterin des internationalen Masterstudiengangs «Integrative Begabungs- und Begabtenförderung».

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