Filmdienst 21 2017

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12. Oktober 2017 | € 5,50 | 70. Jahrgang

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

21 2017

www.filmdienst.de

Spätestens seit Noomi Rapace in den Stieg-LarssonVerfilmungen Lisbeth Salander spielte, ist das Genre des »Nordic Noir« ein Spiegel für tief verwurzelte Ressentiments und sexuelle Gewalt

NORDIC NOIR FREMD IN DER FREMDE

RUBEN ÖSTLUND

FILMBUCH-REIHEN

Frage von drängender Aktualität: Wie geht das Kino mit dem Unbekannten und Fremden um?

Der Schwede drehte mit »The Square« eine bissige Satire über den modernen Kunstbetrieb

Mit teilweise schon langlebigen Buchreihen begleiten Verlage fundiert und engagiert das Kino


FILMDIENST 21 | 2017 DIE NEUEN KINOFILME NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE

48 47 43 49 48 36 38 43

2 + 2 = 22 [The Alphabet] 12.10. 66 Kinos 22.10. American Assassin 12.10. Ay Lav Yu Tuu 21.9. Bickels [Socialism] 12.10. Blade Runner 2049 5.10. Borg/McEnroe 19.10. Captain Underpants – Der supertolle erste Film 12.10. Clash 19.10. Daniel Hope – Der Klang des Lebens 19.10. Darkland 12.10. Dieste [Uruguay] 12.10. Die Einsiedler 12.10. Es war einmal Indianerland 19.10. Hans Zimmer Live 1.10. Happy End 12.10. Immer noch jung – 15 Jahre Killerpilze 5.10. Louis & Luca – Das große Käserennen 12.10. Maleika 12.10. My Little Pony – Der Film 5.10. Pre-Crime 12.10. Schumanns Bargespräche 12.10. Streetscapes [Dialogue] 12.10. Tal der Wölfe – Vaterland 28.9. The Square 19.10. The Wailing – Die Besessenen 12.10. Vorwärts immer! 12.10. Wenn Gott schläft 12.10. We are X 12.10. What happened to Monday? 12.10.

45 47 49 48 46 50 47 42 47 43 51 51 47 47 48 51 39 40 44 37 43 41

KINOTIPP

36 BLADE RUNNER 2049

37 WENN GOTT SCHLÄFT

der katholischen Filmkritik

48 STREETSCAPES-SERIE (I–IV) 50

ES WAR EINMAL INDIANERLAND Fantasiereicher Jugendfilm, der von der beharrlichen Hoffnung einer Erlösung aus prekären Verhältnissen erzählt

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46 DIE EINSIEDLER

45 CLASH

Fotos: TITEL: Warner. S. 4–5: Camino, Sony, Real Fiction, missingfilms, Filmgalerie 451, Barnsteiner, Locarno Film Festival, fugu films, Kairos Film, ARD Degeto/BR/WDR/NDR/23/5 Filmproduktion/Yoshi Heimrath

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21 | 2017 DIE ARTIKEL INHALT KINO

AKTEURE

FILMKUNST

10 FREMD IN DER FREMDE

22 RUBEN ÖSTLUND

32 ALEXANDER KLUGE

10 FREMD IN DER FREMDE

22 RUBEN ÖSTLUND

Die Kinogeschichte kennt eine lange Tradition von Filmen über die Begegnung mit dem Unbekannten. Oft wird dabei auch von Gefühlen der Bedrohung erzählt. Aktuelle Filme stellen einmal mehr die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden und kommen dabei auch zu überraschenden Ergebnissen. Von Holger Twele

16 NORDIC NOIR

Skandinavische Kriminalromane, -filme und -serien rechnen mit der vermeintlichen Idylle im Norden Europas ab. Besonders oft treten in den brutalen Verbrechen tief verwurzelte Ressentiments gegen Frauen zutage. Eine Analyse. Von Lea Gamula

20 TORONTO FILM FESTIVAL

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Der schwedische Regisseur gewann in diesem Jahr mit der Satire »The Square« die »Goldene Palme« in Cannes. Ein Gespräch über den satten Kunstbetrieb und die Notwendigkeit neuer Provokationen.

In den letzten Monaten bot das US-Kino anspruchsvollen Zuschauern nur wenig Anreiz. Dennoch ließen sich Entdeckungen machen wie Terence Davies’ »A Quiet Passion« und Taylor Sheridans »Wind River«.

Von Rüdiger Suchsland

Von Franz Everschor

25 FESTIVALS

28 FILMLITERATUR

Beim Cartoon Forum in Toulouse versammelte sich die europäische AnimationsfilmBranche, das Internationale Filmfest Oldenburg überzeugte mit Bodenständigkeit.

Von Rolf Giesen und Michael Ranze

26 IN MEMORIAM

Nachrufe u.a. auf die Schauspieler Andreas Schmidt und Jan Tříska. Von Marius Nobach, Ralf Schenk und Rainer Dick

Eine Nachlese vom diesjährigen Festival in der kanadischen Metropole, bei dem neben ambitionierten US-Filmen auch vielversprechende deutschsprachige Produktionen ihre Weltpremiere feierten.

Allen Unkenrufen zum Trotz halten bemerkenswert viele Verlage weiter an ihren substanziellen Filmbuch-Reihen fest. Eine Umschau im breit gefächerten Angebot zur Frankfurter Buchmesse. Von Hans Helmut Prinzler

32 ALEXANDER KLUGE

Das Museum Folkwang in Essen zeigt die erste große Museumsausstellung des Filmemachers und Autors mit reizvollen Bildmontagen. Eine Ortsbesichtigung. Von Alexandra Wach

Von Josef Nagel

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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY TV-TIPPS FILMKLISCHEES VORSCHAU / IMPRESSUM

FERNSEH-TIPPS

62 DAS VERSCHWINDEN

56 Mit der Miniserie »Das Verschwinden« gibt Hans-Christian Schmid ein eindrucksvolles Fernsehdebüt. Dominik Graf inszeniert einen »Tatort« um das Erbe des deutschen Linksterrorismus. arte startet einen umfangreichen Schwerpunkt zum 100. Jahrestag der »Oktoberrevolution«.

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FILMKUNST FILMBUCHREIHEN

Reihe »Film-Konzepte«

Vom 11. bis 15. Oktober findet wieder die Frankfurter Buchmesse statt, das weltweit größte Ereignis rund um das Buch. Auch die Filmliteratur ist dabei, freilich als sehr bescheidene »Pflanze«, die sich schwertut, mit den Entwicklungen und Veränderungen im Filmbereich Schritt zu halten. Dass sie ein nach wie vor unverzichtbares Medium der Vermittlung ist, verdeutlichen auch die vielen substanziellen Buchreihen einiger engagierter (Filmbuch-)Verlage. Ein Überblick.

Reihe »Stilepochen«

FRAGILE GEWÄCHSE

Von Hans Helmut Prinzler

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Reihe »Schriftenreihe DEFA-Stiftung«

FILMBUCHREIHEN FILMKUNST

Auch in Österreich gibt es eine Filmbuchreihe, sie hat den etwas spröden Namen »FilmmuseumSynemaPublikation«, existiert seit 2005, richtet ihren Blick vor allem auf das Werk von Regisseurinnen und Regisseuren – Claire Denis, James Benning, Apichatpong Weerasethakul, Romuald Karmakar, Dominik Graf, Hou Hsiao-hsien, Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, Ruth Beckermann –, fällt durch ihr fast quadratisches Format auf und ist für mich eine Reihe, die ich besonders gern empfehle. Anfang 2018 erscheint Band 31: das Lexikon »The Real Eighties« zum amerikanischen Kino der 1980er-Jahre, herausgegeben von Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky. PERSONEN, MOTIVE, SCHAUPLÄTZE

Reihe »Deep Focus«

ZWISCHEN VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT

Große deutsche Buchverlage hatten in den 1980er- und 1990er-Jahren noch eigene Filmbuchreihen, wir erinnern uns gern an die blaue »Reihe Film« des Hanser Verlags, an »Fischer Cinema« oder die »Heyne Filmbibliothek«. Sie sind inzwischen alle eingestellt worden. Für Stabilität im Bereich der Filmliteratur sorgen jetzt kleinere Unternehmen: der Schüren Verlag in Marburg, die edition text + kritik in München, die Verlage Bertz + Fischer und Vorwerk 8 in Berlin. Neben Einzelbänden publizieren sie jeweils mehrere Filmbuchreihen.

Die älteste Reihe in Deutschland heißt »CineGraph-Buch«, sie existiert seit 1989. In jedem Herbst erscheint bei edition text + kritik ein neuer Band, der die Beiträge des Hamburger CineGraph-Kongresses des vergangenen Jahres dokumentiert. Initiator und Gründer ist Hans-Michael Bock. Angefangen hat es mit vier Regisseur-Bänden (Reinhold Schünzel, Richard Oswald, Joe May, E. A. Dupont), seit 1993 sind europäische Länder, Filmstudios, Genres und Schauplätze die Themen. Zuletzt erschien der Band »Film-Bühne Hotel«, im November werden Filmautoren im Exil behandelt: »Ach, sie haben ihre Sprache verloren«. Die Beiträge haben immer ein sehr hohes Niveau. Einige Jahrzehnte älter ist »Cinema«, das Jahrbuch des Schweizer Films. Das gibt es seit 1955, es hat sich natürlich in der Form sehr verändert, als Kern ist die Dokumentation des Filmjahrs erhalten geblieben. Seit langem gibt es jeweils ein Schwerpunktthema, das aus verschiedenen Perspektiven dargestellt wird. Zuletzt hießen die Themen: Sicherheit, Schön, Stadt, Politik, Bewegt, Begrenzungen, Manipulation, Ende, Rausch, Verwandlung und Pro-blemzone. Seit 2004 wird »Cinema« vom Schüren Verlag publiziert. Das Thema des nächsten Bands: »Zukunft«.

Die höchste Titelzahl (78) haben inzwischen die »Marburger Schriften zur Medienforschung« erreicht, die seit 2008 im Schüren Verlag erscheinen. Man findet dort viele Dissertationen, aber auch gesammelte Essays zu Regisseuren (James Gray, Abbas Kiarostami, Wolfgang Staudte) und Genres (Science-Fiction, Horror, Melodram). Zuletzt sind hier zwei Bücher über Storyboarding und Nonnen im Film publiziert worden. Gesamtherausgeberin ist die Verlegerin Annette Schüren. Auch die Reihe »Filmstudien«, gegründet von Thomas Koebner, kommt mit inzwischen 72 Bänden auf eine hohe Zahl. Es gibt sie seit 1996, sie erschien zunächst im Gardez! Verlag in Remscheid und ist 2011 zum Nomos Verlag nach Baden-Baden gewechselt. Als Herausgeber fungieren inzwischen Oksana Bulgakowa und Norbert Grob. Es sind vor allem Examensarbeiten (Dissertationen, Magisterarbeiten) des Instituts für Filmwissenschaft an der Universität Mainz, die hier publiziert werden. Demnächst dürfen wir eine Werkanalyse über Atom Egoyan von Julia von Lucadou erwarten. Die Reihe »Film-Konzepte«, ebenfalls gegründet von Thomas Koebner, beheimatet bei der edition text + kritik, nähert sich ihrem 50. Band. Inzwischen sind Fabienne Liptay (Zürich), Michaela Krützen und Johannes Wende (München) die Herausgeber der Reihe. In jedem Jahr erscheinen vier Bände, die jeweils dem Werk einer Person gewidmet sind, zuletzt waren dies

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FUNDIERTE FILMGESCHICHTSSCHREIBUNG

Reihe »Synema«

Seit mehr als 20 Jahren verantwortet der Verlag Vorwerk 8 zwei Buchreihen. »Texte zum Dokumentarfilm« (seit 1996, bisher 19 Bände) beschäftigt sich auf höchstem Niveau mit den Schwierigkeiten dokumentarischer Filmarbeit. Bei vier Bänden war Gabriele Voss Autorin oder Herausgeberin, viermal hat Eva Hohenberger diese Aufgabe erfüllt. Der bisher letzte Band enthielt Texte von Raymond Depardon (»Irrfahrt«, 2016). »Traversen« (seit 1995, bisher 15 Bände) widmet sich wichtigen Phasen der europäischen Filmgeschichte, theoretische Einflüsse kommen von Hermann Kappelhoff (Berlin) und Bernhard Groß (Wien). Besonders beeindruckend war der Band »Eine offene Geschichte des Kinos« von Ilka Brombach (2014). Vor 24 Jahren erschien der erste Band der Reihe »Filmgeschichte international«, herausgegeben von Uli Jung in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque de la Ville de Luxembourg im Wissenschaftlichen

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Verlag Trier: »Der deutsche Film. Aspekte seiner Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart«; er dokumentierte die Beiträge einer Tagung, die 1991 in Luxemburg stattfand. Inzwischen sind in dieser Reihe 24 Bände erschienen, zuletzt 2017 die Dissertation von Andrea Heller über »Frühes Kino in Deutschland«. Man sollte diese Reihe im Auge behalten. Große Bedeutung hat die »Schriftenreihe der DEFA-Stiftung«, in der aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte des DDR-Films aufgearbeitet wird. Über 30 Titel wurden bisher publiziert, seit 2013 ist der Verlag Bertz + Fischer für die Reihe zuständig, die in Ralf Schenk einen sachkundigen Begleiter hat. Die letzten beiden Bände waren eine Würdigung des Regisseurs Rainer Simon (»Die Zeit, die Welt und das Ich«) und ein Bildband des inzwischen verstorbenen Kameramanns und Regisseurs Roland Gräf (»Meine LAST PICTURE SHOW«). Im Frühjahr 2018 wird eine Dokumentation über die DDR-Filmplakate 1945 bis 1990 erscheinen (»Mehr Kunst als Werbung«). Mit dem beeindruckenden Buch »Wie der Film unsterblich wurde« von Rolf Aurich und Ralf Forster wurde 2015 die Reihe »Film-Erbe« eröffnet, die Chris Wahl in der edition text und kritik herausgibt. Band 2 beschäftigte sich mit dem Werk von Dziga Vertov (»Kollision der Kader«). Geplant sind Publikationen über die Amateurfilmkultur in der DDR, das Studentenfilmarchiv der HFF »Konrad Wolf« und die Verwendungsgeschichte von Filmen und Filmsequenzen aus der Nazizeit.

Der Reclam Verlag verabschiedet sich von seinen Filmbuchreihen. »Tierfilm«, herausgegeben von Ingo Lehmann und Hans Jürgen Wulff (2016), war der 18. und letzte Band der Reihe »Filmgenres«. Die Biografien-Reihe von Thomas Koebner (Roman Polanski, Edgar Reitz, Steven Spielberg) wird nicht fortgesetzt. Und die Reihe »Stilepochen des Films«, herausgegeben von Norbert Grob mit Partnern, wird nach dem fünften Band zum NS-Film (Frühjahr 2018) abgebrochen. Das finde ich sehr bedauerlich. ANSPRUCHSVOLLE STUDIEN ÜBER DAS KINO DER MODERNE Die Reihe »Aufblende«, 1990 gegründet von Heinz B. Heller und Knut Hickethier, wird es weiter geben. Bisher sind 17 Bände erschienen, zuletzt »Die Hamburgische Dramaturgie der Medien«, herausgegeben von Julia Schumacher und Andreas Stuhlmann. Eine Werkbiografie über Egon Monk von Julia Schumacher folgt im Frühjahr 2018. 1995 hat Christine N. Brinckmann die Reihe »Zürcher Filmstudien« gegründet, die zunächst im Chronos Verlag erschien und 2001 zum Schüren Verlag wechselte. Inzwischen gibt es 39 Bände, die von der beeindruckenden Arbeit des Instituts für Filmwissenschaft der Universität Zürich Zeugnis geben. Herausgeber sind inzwischen Jörg Schweinitz und Margrit Tröhler. Mein Favorit: »Farbe, Licht, Empathie« von Christine N. Brinckmann. Angekündigt ist ein Band über »PostProduction«, herausgegeben von Fabienne Liptay.

Reihe »Zürcher Filmstudien«

Reihe »Film und Theologie«

Bernd Eichinger und Chantal Akerman. In diesem Herbst wird Luchino Visconti gewürdigt, dann folgt Ken Loach, und der Jubiläumsband nimmt Wim Wenders ins Visier. Nicht auf Personen, sondern auf Motive und Schauplätze richtet die Reihe »Projektionen« den Blick. Sie erscheint ebenfalls bei edition text + kritik und wird inzwischen von Hans Richard Brittnacher herausgegeben. Themen der letzten Bände waren Ekstase, Kindheiten, Gespenster, Verräter, Inseln. Band 11 heißt »Schauplatz Berlin« und darf im kommenden Jahr erwartet werden.


Das jährlich stattfindende »Bremer Symposium zum Film« wird in einer eigenen Buchreihe dokumentiert, die der Verlag Bertz + Fischer publiziert. Zuletzt ist als Band 15 »Kino und Kindheit« erschienen, herausgegeben von Bettina Henzler und Winfried Pauleit. In Vorbereitung ist der Band über »Film als Forschungsmethode«. Die wichtigste Filmbuchreihe bei Bertz + Fischer heißt »Deep Focus«, es gibt sie seit 2009, bisher sind 25 Bände erschienen, beginnend mit »Hollywood heute« von Thomas Elsaesser, zuletzt gab es Texte zum Kino der Moderne von Norbert Grob und

Bernd Kiefer (»Bruch der Weltenlinie«) und über den Film als Medium gesellschaftlicher Konfliktbearbeitung von Jörn Ahrens (»Einbildung und Gewalt«). Angekündigt sind Publikationen über Ida Lupino und über die Aneignung von Vergangenheit durch Filme und ihre Zuschauer. »Medien/Kultur« ist die dritte Filmbuchreihe bei Bertz + Fischer, seit 2010 wurden hier zehn Bände publiziert, zuletzt die Dissertation von Lars Robert Krautschick »Gespenster der Technokratie«. Demnächst erscheinen die Bände »Radikale Erschütterungen« von Susanne Kappesser und »Vom Abbild zum Affekt« von Thomas Morsch. Als Herausgeber der Reihe fungiert Marcus Stiglegger. DIE HOFFNUNG STIRBT ZULETZT Zwei Filmbuchreihen werden von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen in Kooperation mit der Stiftung Deutsche Kinemathek herausgegeben. »Film & Schrift« erinnert an Persönlichkeiten der deutschen Filmkritik, die jüngsten Bände waren Brigitte Desalm und Wilfried Berghahn gewidmet.

Ein umfangreicher Essay würdigt jeweils die filmkritische Arbeit, im Hauptteil werden Texte aus unterschiedlichen Lebensphasen dokumentiert. Band 21 ist für den kommenden Sommer geplant und wird sich mit Peter W. Jansen beschäftigen. »Filit« ist der Titel der zweiten Reihe, die Aurich und Jacobsen edieren. Sie erscheint seit 2007 im Berliner Verbrecher Verlag, es gibt bisher 16 Titel, die beiden letzten waren eine Monografie über den Filmproduzenten Helmut Schreiber, der als Zauberer »Kalanag« Karriere gemacht hat (Autor: Rolf Aurich), und Reflexionen über »Spie-

spielen hier als Herausgeber Susanne Kaul und Jean-Pierre Palmier. Mit hohem theoretischem Anspruch ist die Reihe »Film Denken« verbunden. Zuletzt wurden die Bücher »Zwischen Raubtier und Chamäleon« mit Texten von Gertrud Koch und »Die Leinwand« von Dennis Göttel publiziert, geplant sind Bände über Jean-Luc Godard und Andy Warhol. In aller Kürze verwiesen sei noch auf die Reihen »Cadrage«, herausgegeben von Ursula von Keitz im Verlag V & R Unipress (bisher drei Bände), »On location« im Schüren Verlag (vier Bände), »Schriftenreihe zur Textualität des Films«, ebenfalls im Schüren Verlag (neun Bände), und die Regisseur-Reihe »Sein Leben, seine Filme« im Knesebeck Verlag (bisher fünf Bände). Und was wird aus dem »Lexikon des Internationalen Films«, wenn zum Jahresende die Printausgabe des »FILMDIENST« eingestellt wird? Zumindest für 2018 scheint das Erscheinen gesichert. Es gibt die Hoffnung, dass das Lexikon in veränderter Form fortbestehen wird. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Das betrifft auch all die anderen Filmbuchreihen, die ich hier kurz und knapp vorgestellt habe. Sie sind die Grundlage für einen Filmbuchmarkt, der fragil ist. Ein Filmbuch in der Hand zu haben und zu lesen, ist für mich aber noch immer so unverzichtbar wie der regelmäßige Kinobesuch.

gelungen« im Film (Autor: Jörg Becker). Geplant ist ein Band über den DDR-Dokumentaristen Hans Wintgen. Der Verlag Wilhelm Fink in Paderborn offeriert zwei Filmbuchreihen. »Directed by« ist Regisseuren gewidmet, bisher sind Bände über Stanley Kubrick, David Lynch, Alfred Hitchcock und Quentin Tarantino erschienen, in Planung befinden sich Martin Scorsese und Michael Haneke. Eine wichtige Rolle

HINWEISE Einen tabellarischen Überblick über alle beschriebenen Filmbuchreihen gibt es im Internet unter www.filmdienst.de.

Reihe »CineGraph-Buch«

Fotos: jeweilige Verlage

FILMBUCHREIHEN FILMKUNST

Regelmäßige Rezensionen zu Neuerscheinungen veröffentlicht Hans Helmut Prinzler unter www.hhprinzler.de.

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Blade Runner 2049

Eine Fortsetzung des Science-Fiction-Klassikers durch Denis Villeneuve Was war das für ein fantastischunheilvoller Beginn, als Ridley Scotts »Blade Runner« 1982 auf dem Synthesizer-Soundteppich von Vangelis in die nächtliche Megalopolis von Los Angeles einschwebte. Feuer spuckende Kamine spiegelten sich mit dem Lichtermeer der Stadt auf der Iris eines Mannes, der die gigantischen Tyrell-Pyramiden ansteuerte. Mit der Detailaufnahme eines Auges beginnt auch »Blade Runner 2049«. Nur dass sich in dieser Iris nichts mehr spiegelt, und dass Regisseur Denis Villeneuve seinen Blade Runner am helllichten Tage auftauchen lässt. Von der Sonne zeugen im Kalifornien des Jahres 2049 nur noch riesige Felder voller Sonnenkollektoren unter einem verhangenen Himmel. Nahtlos reihen sich auf der Erde unzählige Agrar-Boxen aneinander, in denen die synthetische Nahrungsproduktion nach der großen Klimakatastrophe stattfindet. Nach den Aufständen der als Arbeitssklaven eingesetzten Replikanten hat der Konzern des Großindustriellen Wallace die pleite gegangene Tyrell Corporation übernommen. Davon erzählen die ersten Texttafeln zu

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Beginn des Films. Um nicht zu viel von der Handlung preiszugeben, soll hier nur das umschrieben werden, was die ersten Szenen erzählen: Der Blade Runner namens K fliegt über die Agrarfelder, um eines der alten, gewaltanfälligen Nexus 8-Modelle aus dem Verkehr zu ziehen. »Ihr seid nur so scharf darauf, uns auszulöschen, weil ihr noch nie ein Wunder gesehen habt«, bekommt K von einem harmlosen Protein-Farmer an den Kopf geworfen, bevor der sich schlagkräftig gegen seine Eliminierung zur Wehr setzt. Ein Sturm kommt auf, prophezeit Ks Vorgesetzte Joshi, als ihr bester Mann ins regnerische, später von dreckigem Schnee eingedeckte Los Angeles zurückfliegt. Und das ist durchaus metaphorisch gemeint, in einer Welt, in der es mittlerweile sogar zwei Klassen künstlicher Menschen gibt: K lebt mit einer Frau zusammen, die nicht einmal mehr aus Fleisch und Blut ist; Joi ist ein Hologramm, das man nicht berühren kann, das aber in Nanosekunden alles darzustellen bereit ist, was einen dieser schönen neuen Welt entfliehen lässt. »Blade Runner 2049« ist selbst

ein Replikant von einem Film, von dem man befürchtete, dass er sich über das Original hinwegsetzen könnte. Doch stattdessen hat Villeneuve etwas Neues geschaffen, ohne den Geist der Vorlage zu verraten. Atemberaubend wunderschön und schrecklich zugleich sind die (Farb-) Welten, mit denen Kameramann Roger Deakins die Urbanität der Vorlage auffächert, ohne sich darin zu verlieren. K schlittert in die grau schattierte Müllhalde der Stadt. Er durchschreitet die atomaren Wüsten eines in GelbOrange getauchten Las Vegas mit riesigen Frauenstatuen und einem Casino, in dessen Bauch die großen Stars der Menschheitsgeschichte als immer wieder aufflackernde Hologramme vereint sind. Und mitten im klaustrophobisch engen L.A. ragt ein Gebilde in den Himmel, das in seiner Gigantomanie alle Proportionen sprengt, auch was die Erinnerungsleistung seiner im Inneren verborgenen, mit Platinen angefüllten Gedenksteine angeht. Villeneuve ist klug genug, mit ähnlichen Figuren und Motiven auf den ersten »Blade Runner«Film zu rekurrieren. Da ist der

blinde, sich quasi-göttlich gerierende Schöpfer Wallace, der nur mit Hilfe ihn umschwirrender Sonden zu sehen vermag. An seiner Seite steht die kühle Assistentin Luv, die ihrem Namen und ihrem Vorbild Rachael keine Ehre macht. Da sind die Prostituierten, die sich in den Straßenschluchten des Molochs zwischen den Imbissen und den Regenfäden hindurchwinden. Japanische Schriftzeichen, Sony und Atari blinken auf. Russische Balletttänzerinnen tanzen als riesige Hologramme durch die vom Nebel halb verschluckten Passanten. Ein altes Klavier enthüllt Privates. Da verzeiht man Villeneuve, dass er diesmal nicht seine zum Markenzeichen gewordenen, vor Hochspannung vibrierenden Szenen in die Handlung einflicht, sondern die Adaption lieber in kühler Grundspannung vor sich hin gleiten lässt. Und dass er für jedes Geheimnis unbedingt eine Antwort finden will, was den Film von der Deutungsoffenheit seines Vorgängers entfernt. Allerdings sind die Fragen nach dem Künstlichen Menschen in den letzten drei Jahrzehnten schon so oft ausbuchstabiert worden, dass es schwer wird, jenseits der genetischen und binären Codes nach der Wahrheit zu suchen. Villeneuve vermag in dem Spektakel der Künstlichkeit dennoch die Frage aufzuwerfen, was das Menschliche eigentlich ausmacht: Die Geburt oder der Tod? Der Wille, für eine größere Sache zu sterben? Eine echte Erinnerung, die konfuser ist als eine implantierte? Oder reicht es schon, seinem menschlichen Schöpfer auf emotionaler Ebene das Wasser reichen zu können, etwa als binäres Hologramm, das an jeder Ecke gekauft werden kann? »Unsere Welt wird von Mauern geteilt. Wenn man einer der Gruppen erzählt, diese Mauern gäbe es gar nicht, dann bedeutet das Krieg«, warnt Joshi einmal.

Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe

KRITIKEN NEUE FILME


NEUE FILME KRITIKEN Das lässt sich auf die aktuelle Flüchtlingskrise wie auch auf die sozialen Auswirkungen des Turbokapitalismus hin ausdeuten. In solch einer in Stein gemeißelten Ungleichheit kann sogar ein geschnitztes Spielzeugpferd zur Trojanischen Wunderwaffe werden – gefüllt mit Ideen, die eine aus der Balance geratene Welt zum Einsturz bringen. Und wieder ist es Detective Gaff, der diesmal nicht Deckard, sondern K ein papiernes Origami-Schaf vor die Nase stellt: »Do androids dream of electric sheep?«, fragte Philip K. Dicks gleichnamige Romanvorlage. Vielleicht tun sie es. Manche von ihnen träumen auf jeden Fall von kleinen Holzpferden. Kathrin Häger BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION

Fortsetzung des Science-FictionKlassikers »Blade Runner« von Ridley Scott (1982), in der 30 Jahre später im Los Angeles des Jahres 2049 wieder ein Blade Runner auf die Jagd nach humanoiden, potenziell gewaltbereiten Replikanten geschickt wird. Erneut thematisiert das intelligente, zurückhaltend spannende Science-Fiction-Märchen die Wertigkeit allen Lebens, während Gewissheiten durch eine für unmöglich gehaltene Entdeckung ins Wanken geraten. Die fantastisch aufgefächerte Dystopie bricht sich in atemberaubenden Bildern sowie einem eindrücklichen Klang- und Set-Design Bahn und fragt, was das Menschsein ausmacht, wobei die vertrauten Motive und Figuren umcodiert und mit neuer Bedeutung aufgeladen werden. – Sehenswert ab 14.

BLADE RUNNER 2049 Scope. 3D. USA/Großbritannien 2017 Regie: Denis Villeneuve Darsteller: Ryan Gosling (K), Harrison Ford (Rick Deckard), Ana de Armas (Joi), Jared Leto, Robin Wright, Hiam Abbass Länge: 163 Min. | Kinostart: 5.10.2017 Verleih: Sony | FD-Kritik: 44 978

Wenn Gott schläft

Bewegendes Porträt des iranischen Sängers Shahin Najafi Ein Leben mit der Angst, auch vor der eigenen Courage. Im Jahr 2012 wurde der iranische Sänger Shahin Najafi mit einer Todes-Fatwa belegt, nachdem er einen satirischen Rap-Song über einen von den Schiiten verehrten Imam veröffentlicht hatte. Seitdem ist der »Rushdie des Rap« ständig auf der Flucht, macht aber weiter Musik: Rock, Pop und Hip Hop, der die Hoffnungen iranischer Jugendlicher auf mehr Freiheit zum Ausdruck bringt. Najafi lebt in Köln. Eine Zeit lang versteckte er sich bei dem Journalisten Günter Wallraff. Der empfahl ihm, ständig sein Äußeres zu ändern, damit er von den radikalislamischen Häschern nicht erkannt werde: »Ich habe eine gute Maskenbildnerin.« »Wenn Gott schläft« folgt dem Musiker auf Schritt und Tritt, dokumentiert Diskussionen, Mut und Ängste nach der Fatwa. Najafi will weitermachen, er ist zum Idol geworden, für jenen Teil der iranischen Jugend, die in der muslimischen Welt frei leben möchte. Seine Songs sind eingängig und hart zugleich; manchmal integriert Najafi Rap, Jazz, Blues und Versatzstücke traditioneller Musik. Texte und Videoclips sind frech, kontrovers, sie singen gegen Homophobie und Frauenfeindlichkeit an, fordern »Satiriker statt Propheten«. Stücke wie »Bega Mega« oder »Mammad Nobari« sichern ihm Hunderttausende von Followern. Dem Druck nachgeben hieße, seine Anhänger und ihre Zukunft zu verraten. Die Gegner erhöhten derweil das Kopfgeld von 100.000 auf 500.000 Dollar. Ein InternetSteckbrief droht: »Wir werden

dich finden und zerhacken.« Erinnerungen an den iranischen Popsänger Fereydoun Farrochsad werden wach, der 1992 im Bonner Exil mit 21 Messerstichen ermordet wurde. Najafi ist ein Mann der Tat, bei dem es auch mal vulgär und direkt zugeht: »Ich beschwöre Liebe, Viagra und gespreizte Beine.« Seine Angst versucht er mit Trotz zu besiegen. Damit stößt er auch bei seinen Weggefährten nicht nur auf Zustimmung. »Entweder bist du ein Narr oder selber ein Tyrann«, kommentiert sein langjähriger CoKomponist Majid Kazemi die Konsequenz, mit der Najfi die offensichtliche Bedrohung ignoriert und seine Band zum Weitermachen auffordert. Als seine Musiker kurz vor einem Konzert aussteigen, schimpft er über die »Weicheier«: »Du musst zeigen, dass dir alles egal ist.« Das Konzert beginnt er dann mit den Worten: »Entweder hier geht eine Bombe hoch, oder ihr werdet den Saal explodieren lassen.« Der Dokumentarfilm von Tim Schauder porträtiert nicht nur einen mutigen Musiker, der sich gegen die von radikalen Hetzern und Dogmatikern inszenierte Pogromstimmung stemmt. Er zeigt auch die Angst hinter diesem Kampf, die Zweifel, die gebrochenen Lebensläufe seiner Protagonisten. Najafis Freundin Leili ist die Enkelin des ersten iranischen Premierministers unter Ayatollah Khomeini. Najafi selbst wollte zunächst Mullah werden, ging jeden Tag in die Moschee. Er glaubt auch heute noch an Gott: »Für mich existiert Gott, aber er schläft.«

Nebenbei fängt der Film auch die sich ändernde Stimmung gegenüber Migranten aus dem Nahen Osten ein. 2005 kam Najafi nach Deutschland. Seitdem haben der islamistische Terror und die Erfolge der AfD das gesellschaftliche Klima in Deutschland nachhaltig verändert. Er fühlt sich nicht nur von denen beobachtet, die ihm nach dem Leben trachten. »Obwohl ich kein Sunnit bin, bin ich doch Ausländer«, fasst er resigniert seine Erfahrungen zusammen; trotz seiner offensichtlichen Nähe zu den »westlichen Werten« wird es nie möglich sein, in diesem Land anzukommen. »Wenn Gott schläft« ist ein tiefschürfendes Porträt über einen unkonventionellen Musiker, der mit seinem Mut und seiner Angst, seinem Widerstandsgeist und seinem Starrsinn zwischen die Fronten geraten ist, auf seine Weise aber dennoch in sich ruht. Bernd Buder BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION

Dokumentarfilm über den iranischen Sänger Shahin Najafi, über den 2012 eine Todes-Fatwa verhängt wurde, nachdem er einen satirischen Rap-Song über einen von den Schiiten verehrten Imam veröffentlichte. Er folgt dem in Köln lebenden Musiker auf Schritt und Tritt, dokumentiert Auftritte und öffentliche Auseinandersetzungen, zeigt aber auch die Angst und die Zweifel hinter diesem Kampf. Das Porträt eines mutigen Künstlers, der sich gegen die radikalen Hetzer und Dogmatiker wehrt, fängt ebenso die sich wandelnde Stimmung in Deutschland ein, die sich in den letzten Jahren Ausländern gegenüber deutlich verschlechtert hat. – Sehenswert ab 14.

Deutschland/USA 2017 Regie: Till Schauder Länge: 88 Min. | Kinostart: 12.10.2017 Verleih: Real Fiction | FD-Kritik: 44 979

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NEUE FILME DVD / BLU–RAY / INTERNET

Unsere Seelen bei Nacht

Jane Fonda und Robert Redford in einer bezwingenden Altersromanze

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FILMDIENST 21 | 2017

Romanze. Die unprätentiösen Dialoge der literarischen Vorlage erfüllen sie durch eine Choreografie der Blicke und Gesten mit Leben, haargenau austariert zwischen komödiantisch-romantischen und sanft melancholischen Tönen. Aus den zunächst noch etwas steifen nächtlichen Treffen erwächst schnell eine tiefere Verbindung. Beide haben als langjährige Nachbarn das Leben des jeweils anderen aus der Distanz mitverfolgt, was eine Basis dafür bietet, sich einander zu öffnen und über Fehler wie auch über Verwundungen zu sprechen. Bei ihrem Zusammensein geht es aber nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern vor allem um die geteilte Gegenwart. Konsequenterweise bleibt ihr Kontakt bald nicht mehr nur auf die Nächte begrenzt, nachdem Louis seine Scheu überwunden hat, die Beziehung ans Licht der Kleinstadt kommen zu lassen. Die Mitbürger nehmen die ungewöhnliche Altersromanze neugierig und etwas spöttisch, aber nicht feindselig zur Kenntnis. Als Addies Sohn Gene (Matthias Schoenaerts), der von seiner Frau verlassen wurde, seine Mutter bittet, für eine Weile auf seinen Sprössling aufzupassen, wird die Zweisamkeit um den kleinen Jungen bereichert, der in der entspannten

Gesellschaft der beiden Senioren aufblüht. Doch da Gene den neuen Partner an der Seite seiner Mutter nicht gutheißt, droht das späte Glück wieder zu zerbrechen. Das kleinstädtische Umfeld in Colorado, einem wie aus der Zeit gefallenen, von sozialen Verwerfungen weitgehend freien Idyll, bleibt bei all dem weitgehend im Hintergrund; die Inszenierung konzentriert sich ganz auf das gegenseitige Sich-Öffnen von Addie und Louis und legt dabei ähnliche Qualitäten an den Tag, wie sie Batra schon in dem thematisch verwandten Film »Lunchbox« (2013) demonstriert hat. Vor allem aber profitiert der Film von der Chemie der beiden Hauptdarsteller, die der Glamour einer langen Karriere umweht, die ihre Figuren aber auch mit einer Natürlichkeit und Verletzlichkeit ausstatten, die von Anfang an für sie einnimmt. – Sehenswert ab 14. Felicitas Kleiner OUR SOULS AT NIGHT USA 2017 Regie: Ritesh Batra Darsteller: Jane Fonda, Robert Redford, Matthias Schoenaerts, Iain Armitage, Bruce Dern, Phyllis Somerville Länge: 103 Min. | Anbieter: Netflix FD-Kritik: 45 005

Fotos S. 52–55: Jeweilige Anbieter

»Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte. Es war an einem Abend im Mai, kurz bevor es endgültig dunkel wurde.« So beginnt der Roman »Unsere Seelen bei Nacht« des US-amerikanischen Autors Kent Haruf, und ähnlich umstandslos kommen auch die Figuren im Film zur Sache. Addie macht Louis einen Antrag. Ob er sich vorstellen könnte, hin und wieder zu ihr zu kommen und bei ihr zu schlafen, im wortwörtlichen Sinne das Bett zu teilen und miteinander zu reden. Addie ist Witwe, und auch ihr Nachbar Louis hat schon vor geraumer Zeit seine Ehefrau verloren. Beide sind allein, und insbesondere Addie findet diese Einsamkeit nachts am schlimmsten. Louis geht es ähnlich. Also nimmt er nach nur kurzer Bedenkzeit Addies Angebot an. Und steht am Abend darauf mit Pyjama und Zahnbürste vor Addies Hintertür. Die vom indischen Regisseur Ritesh Batra inszenierte Romanverfilmung ist ein großartiges Vehikel für die beiden Altstars Jane Fonda und Robert Redford. Von der ersten Szene an tragen die beiden Darsteller, die schon in den 1960er- und 1970er-Jahren in Filmen wie »Ein Mann wird gejagt«, »Barfuß im Park« oder »Der elektrische Reiter« gemeinsam vor der Kamera standen, mühelos die bittersüße


KRITIKEN FERNSEH-TIPPS

20.15 – 21.50 Disney Channel Taran und der Zauberkessel R: Ted Berman, Richard Rich Düsterer Disney-Zeichentrickfilm USA 1985 Ab 10 20.15 – 22.55 ProSieben Star Wars – Die Rückkehr der Jedi-Ritter R: Richard Marquand Dritter Teil der Ursprungs-Trilogie USA 1983 Ab 12 20.15 – 22.25 Servus TV Frost/Nixon R: Ron Howard Herausragendes Drama um Showbiz und Politik USA 2008 Ab 14 20.15 – 22.05 zdf_neo The Big Lebowski R: Joel Coen Überbordende Komödie um einen Späthippie USA 1997 Sehenswert ab 16 22.05 – 23.35 zdf_neo Red Rock West R: John Dahl Spannender Noir-Thriller mit Nicolas Cage USA 1992 Ab 16 22.25 – 00.30 Servus TV Der Eissturm R: Ang Lee Melancholisches Gesellschaftsbild USA 1997 Sehenswert ab 14 00.30 – 01.55 Servus TV Beasts of the Southern Wild R: Benh Zeitlin Ausdrucksstarke Parabel USA 2012 Sehenswert ab 14 01.05 – 02.00 Kurzschluss – Das Magazin Schwerpunkt Kuba

02.40 – 04.15 arte Austerlitz R: Stan Neumann Reizvolle Reflexion des Romans von W.G. Sebald Frankreich 2014 Ab 16

FILMDIENST 21 | 2017

Servus TV

Der Eissturm

Thanksgiving 1973 in einer US-amerikanischen Kleinstadt im Umfeld von New York. Was gemeinhin als das große Familienfest gilt, bei dem sich alle Amerikaner zum Truthahnessen um den heimischen Tisch versammeln, entpuppt sich in Ang Lees brillanter Roman-Adaption (nach dem gleichnamigen Werk von Rick Moody) als desaströses Zerrbild einer desillusionierten Gesellschaft. Alle vier Mitglieder der Hood-Familie, um die die kunstvoll gesponnene Handlung gruppiert ist, ziehen auf unerfüllten Bahnen durch ein zunehmend frustriertes, auch einsames Universum. Der Vater (Kevin Kline) verzweifelt an der erkaltenden Affäre mit der Nachbarin (Sigourney Weaver), die Mutter (Joan Allen) kann nicht aus ihrer kratzigen Haut, der Sohn (Tobey Maguire) ist unglücklich in eine Mitstudentin verliebt und die pubertierende Tochter (Christina Ricci) sieht überall nur Faschisten am Werk. In den Irrwegen der Familie spiegelt der Film die Zerwürfnisse einer Nation, die über Vietnam und Watergate zentrale innere Orientierungsmarken verloren hat. Doch trotz der frostigen Titelmetapher artikuliert der Film eine tiefe melancholische Sehnsucht nach Harmonie und Verständnis über die Generationsgrenzen hinweg.

14. Oktober, 22.05 – 23.35

zdf_neo

Red Rock West

Von »Wild at Heart« (1990) bis »Bringing Out the Dead« (1999): Für Nicolas Cage, dessen Filmografie in den letzten Jahren arg schlingerte, waren die 1990erJahre ein fruchtbares Jahrzehnt; auch seine Erfolge als Actionheld in Filmen wie »The Rock«, »Im Körper des Feindes« und »Con Air« sowie der »Oscar« für seine Rolle in »Leaving Las Vegas« fielen in diese Phase. Zu den Highlights gehört auch der stilvolle Neo-noir-Thriller »Red Rock West«, in dem Cage durch eine Verwechslung in den mörderischen Rosenkrieg eines Paares verwickelt wird. Obwohl er eigentlich nur auf der Suche nach einem Job ist, wird er in dem Kaff Red Rock für einen Killer gehalten und von einem Mann auf dessen Frau angesetzt. Als er der Gattin den Mordauftrag offenbart, bietet sie ihm viel Geld dafür, wenn er ihren Mann um die Ecke bringt. Zum Schein nimmt er auch diesen Auftrag an und will sich unverrichteter Dinge schon aus dem Staub machen. Doch so schnell gibt es aus dem Ort kein Entkommen. Ein ungemein spannender Thriller, dessen ausgefeilter Plot von Ironie und Witz lebt und in dem Dennis Hopper als wahrer Killer auch noch ein Wörtchen mitzureden hat.

arte

01.25 – 02.55 Das Erste Der Tote aus Nordermoor R: Baltasar Kormákur Düster-spannender Island-Krimi Island 2006 Ab 16

56

14. Oktober, 22.25 – 00.30

14. Oktober, 01.05 – 02.00

arte

Kurzschluss: Kuba

Der karibische Inselstaat Kuba befindet sich seit längerem in einer Art Zwischenstadium. Das Erbe der kubanischen Revolution ist mit dem Tod des langjährigen Diktators Fidel Castro im November 2016 an ein Ende gekommen; gleichzeitig stagniert aber die Annäherung an die USA. Die »Kurzschluss«Sendung fragt vor diesem Hintergrund nach den Entfaltungsmöglichkeiten für Filmemacher und sucht die Filmhochschule in San Antonio de Los Baños sowie etablierte Regisseure wie Fernando Pérez (»Das Leben, ein Pfeifen«) auf. Zu sehen sind die Kurzfilme »Polski« von Rubén Rojas, in dem sich ein junger Mann notgedrungen mit einem schrottreifen Auto arrangiert, und »Das blaue Auto« der deutschen Regisseurin Valerie Heine über das schwierige Verhältnis eines ExilKubaners zu seinem schutzbedürftigen behinderten Bruder.

Fotos S. 56 – 64: Jeweilige Sender.

SA

SAMSTAG 14. OKTOBER


FERNSEH-TIPPS KRITIKEN ERSTAUSSTRAHLUNG: 15. Oktober, 20.15 – 21.45

Das Erste

Tatort – Der rote Schatten

»Die Vergangenheit wirft Schatten…«, verkündet Kriminalhauptkommissar Lannert einmal unheilschwanger im neuen Tatort von Dominik Graf. Ganz trifft er die Geschichte von »Der rote Schatten« damit nicht, in der vielmehr das schattenverhangene Damals ins Jetzt wächst. Auch vierzig Jahre nach dem Deutschen Herbst ist nicht jeder Hergang erörtert, nicht jede Mitschuld geklärt. Um die berüchtigte Todesnacht von Stammheim etwa ranken sich immer noch Verschwörungstheorien: War es wirklich Suizid oder doch Mord? Mit genau dieser Frage sind Lannert (Richy Müller) und sein Partner Sebastian Bootz (Felix Klare) auch beim Tod von Marianne Heider konfrontiert: Obwohl es sich offiziell um einen Unfall handelt, verdächtigt ihr Ex-Mann Christoph (Oliver Reinhard) ihren aktuellen Lebensgefährten, den umtriebigen Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke). Dessen Vergangenheit ist voller Ungereimtheiten und kreuzt immer wieder die Pfade von Terroristen und Verfassungsschutz. Wohlmöglich war er – Carlo Goldonis Lustspiel wird erwähnt – »Der Diener zweier Herren«. Graf inszeniert eine Wahrheitssuche durch die Zeit, bei der Menschen immerzu in verschiedene Facetten ihrer Selbst zerfallen, nur um doch wieder eins zu werden. Die Form des Films tut es ihnen gleich: Jump Cuts und Schwarzblenden geben dem Geschehen eine unstete Fiebrigkeit. Manche Szenen werden nur angeschnitten und erst durch die Nacherzählung Wirklichkeit. Kaum ein Moment steht ganz für sich, viele sind lediglich Portale in die Vergangenheit. Mal geht es vierzig Minuten, mal vierzig Jahre zurück. Gleichwertig stellt Graf die grobkörnig dahinratternden Spätsiebziger (dargestellt wie Archivmaterial, als Dokumentation des Fiktiven) und die High-DefinitionGegenwart nebeneinander, immerzu zwischen sanfter Nostalgie und reflektierter Zeitgeistanalyse pendelnd. Der Fall offenbart letztendlich, wie symbiotisch die Beziehung des Staats zu seinen Feinden ist, wie sehr man einander braucht, um alte Schatten auszubreiten und lebendig zu halten. Lukas Barwenczik

SO

SONNTAG 15. OKTOBER

18.05 – 20.15 TELE 5 Ferris macht blau R: John Hughes Sympathische Teenagerkomödie im 1980er-Jahre-Stil USA 1986 Ab 14

00.00 – 01.35 BR FERNSEHEN Der brave Soldat Schwejk R: Axel von Ambesser Jaroslav-Hasek-Adaption mit Heinz Rühmann BRD 1960 Ab 16

19.00 – 19.30 hr fernsehen Die hessischen »Oscars« Der Hessische Film- und Kinopreis 2017

00.05 – 01.43 Das Erste Das Blaue vom Himmel R: Hans Steinbichler Demenzkranke wird von alter Schuld heimgesucht Deutschland 2010 Ab 16

20.15 – 22.45 arte Germinal R: Claude Berri Aufwändige Adaption des ZolaRomans mit Miou-Miou Frankreich 1993 Ab 16 20.15 – 22.00 Disney Channel Der kleine Horrorladen R: Frank Oz Schwungvolles Musical um gefräßige Pflanze USA 1986 Ab 16 20.15 – 22.35 Guardians of the Galaxy R: James Gunn Schräges Marvel-Heldenteam findet sich USA 2014

RTL

Ab 14

22.10 – 00.25 TELE 5 The Faculty R: Robert Rodriguez Gelungenes Körperfresser-Update an eine amerikanische High School USA 1998 Ab 16

15. Oktober, 20.15 – 22.00

Der kleine Horrorladen

Disney Channel

Bevor die Musical-Autoren Alan Menken und Howard Ashman mit eingängigen Songs für die Disney-Zeichentrickfilme »Arielle – Die Meerjungfrau«, »Die Schöne und das Biest« und »Aladdin« reüssierten, glänzte das Duo in den 1980erJahren mit kreativen Bühnenshows. Zum erfolgreichen Off-Broadway-Hit wurde dabei vor allem ihre schwarzhumorige Adaption eines Roger-Corman-Films von 1960: »Little Shop of Horrors«. Frei nach der Vorlage spannen Menken und Ashman die Geschichte des menschlichen Mauerblümchens Seymour und seiner blutgierigen, beständig wachsenden Pflanze zur hintersinnigen »Zauberlehrling«-Variation mit Seitenhieben auf Kommerzialisierung und Ruhmsucht aus. Das bleibt auch in der Filmversion des »Muppets«-Veteranen Frank Oz intakt, der mit dem schmächtigen Kanadier Rick Moranis einen idealen Hauptdarsteller fand. Wie er sich gegenüber seinem immer bedrohlicher werdenden Schützling zu behaupten versucht und zugleich seine Kollegin Audrey (Ellen Greene) gewinnen will, hat etwas von der Beharrlichkeit eines Buster Keaton – weshalb man Seymour auch verzeiht, dass er zwischenzeitlich sehr rabiat für das Futter seiner Pflanze sorgt.

15. Oktober, 01.45 – 03.13

00.40 – 02.20 mdr Der Loulou R: Maurice Pialat Junge Frau gerät unter Aussteiger Frankreich 1979 Ab 16

01.15 – 02.55 3sat Nur noch 72 Stunden R: Don Siegel Zwei US-Polizisten sollen einen Psychopathen verhaften USA 1967 Ab 16 01.45 – 03.13 Das Erste Die Farben des Paradieses R: Majid Majidi Sensibles Vater-Sohn-Drama Iran 1999 Sehenswert ab 14

Das Erste

Die Farben des Paradieses

Am Ende des Schuljahres wartet Mohammad fast umsonst auf seinen Vater. Der verwitwete Mann empfindet tiefe Scham über den blinden Jungen und würde ihn am liebsten auch in den drei Monaten der Sommerferien in der Schule in Teheran lassen. Doch das geht nicht, und so müssen sich der schweigsame, abweisende Mann und der aufmerksame Junge, der so enthusiastisch auf Geräusche und Gerüche reagiert, gemeinsam auf den Weg in ihr abgeschiedenes Heimatdorf machen. Der Vater lässt nichts von Mohammads Glücksgefühlen im Umgang mit seinen Schwestern und der geliebten Großmutter an sich heran, nichts geht von der Schönheit der Natur und vom Leben im Einklang mit ihr auf ihn über. Als er Mohammad bei einem ebenfalls blinden Zimmermann in die Lehre gibt, ist dies der erste Schritt in die Katastrophe. Der Iraner Majid Majidi inszeniert diese Tragödie als märchenhafte Fabel, die einfühlsam und in Bildern von zunehmend archaischer Wucht und Symbolkraft für die Sinne und die Sinneswahrnehmungen der Menschen sensibilisiert. Dabei entwickelt der betörend schöne Film gerade in der behutsam eingeflochtenen symbolischen Ebene einen besonderen Reiz.

FILMDIENST 21 | 2017

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