Filmdienst 22 2017

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FILM Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

22 2017

WWW.filmdienst.DE 26. Oktober 2017 € 5,50 70. Jahrgang

S a l ly H a w k i n s M i t „ H a p py- G o - L u c ky “ w u rd e s i e bekannt, mit „Maudie“ ist sie nun auf d e m We g z u g ro ß e n C h a ra k te r ro l l e n .

ZuKunft des kinos D a s f r ü h e K i n o d e r At t ra k t i o n e n l e h r te d a s S t a u n e n . E i n P l ä d oye r f ü r d i e s e ve r l o re n g e g a n g e n e E u p h o r i e .

Th o r s t e n S c h a u m a n n W i e g e h t e s we i te r i n H o f ? E i n G e s p rä c h m i t d e m n e u e n k ü n s t l e r i s c h e n L e i te r d i e s e r t ra d i t i o n s re i c h e n „ L e i s t u n g s s c h a u “ .

D i e h i s to r i s c h e Krimiserie taumelt furios d u rc h d i e S p a ß g e s e l l s c h a f t d e r We i m a re r R e p u b l i k . U n te r d e n g ra n d i o s e n D a r s te l l e r n : Liv Lisa Fries.


iNhalt Die neuen KinOFilme Neu im KiNo ALLE STARTTERMInE

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Barbie - Die Magie der Delfine 2.11. Bayern sagenhaft 26.10. Casting 2.11. Cingöz Recai 12.10. Django Ein Leben für die Musik 26.10. El Séptimo Sentido - I am a Dancer. Von der Kunst zu leben 2.11. Free! Timeless Medley #1 21.10. Gauguin 2.11. Ghostland Reise ins Land der Geister 2.11. God’s Own Country 26.10. Good Time 2.11. Der kleine Vampir 26.10. Lady Macbeth 2.11. Mathilde 2.11. Maudie 26.10. Die Misandristinnen 2.11. Der Nobelpreisträger 2.11. Patti Cake$ - Queen of Rap 2.11. Professor Marston & The Wonder Women 2.11. Die Reise der Pinguine 2 2.11. Schneemann 19.10. Sommerhäuser 26.10. The Secret Man 2.11. Thor: Tag der Entscheidung 31.10. Die Unsichtbaren Wir wollen leben 26.10. Untitled 26.10.

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KiNotipp

44 untitleD

49 Die unsichtbaren - wir wollen leben

der katholischen Filmkritik

43 laDy macbeth

41 ghostlanD Dokumentarfilm über einen afrikanischen Stamm im Konflikt mit der Moderne

ferNseh-tipps 56 Zum 500. Jahrestag der Reformation zeigt das ZDF die Luther-Biografie „Zwischen Himmel und Hölle“. Der mdr begleitet DOK Leipzig mit einer Filmreihe. 4

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49 patti cake$ - queen of rap

Fotos: TITEL: Frédéric Batier_X Filme. S. 4/5: Drop-Out Cinema, Real Fiction, Tobis, Koch Films, Twentieth Century Fox, Frédéric Batier_X Filme, Edition Filmmuseum, StudioCanal, Constantin

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stilvoll führt die fernsehserie »Berlin Babylon« in die schillernde deutsche hauptstadt der 1920er-Jahre.

KiNo

aKteure

filmKuNst

10 Die Zukunft Des kinos

20 sally hawkins

27 e-mail aus hollywooD

10 DIE ZUKUNFT DES KINOS VI

Zum Abschluss seiner Essay-Reihe schaut Patrick Holzapfel auf die Anfänge des Kinos und plädiert für eine Wiederkehr der damaligen Kultur des Staunens. Von Patrick Holzapfel

16 THORSTEN SCHAUMANN

Der neue künstlerische Leiter der Internationalen Hofer Filmtage will das traditionsreiche Festival behutsam erneuern. Ein Gespräch über die Zukunft von Hof. Von Margret Köhler

18 SAN SEBASTIÁN

Das Festival in der nordspanischen Stadt überzeugte auch in seiner 65. Ausgabe mit authentischen Filmstoffen. Von Wolfgang Hamdorf

20 SALLY HAWKINS

Der wachsende Kinomarkt in China erweist sich als Hoffnungsschimmer für viele USFilme. Während die nationalen Umsätze einbrechen, nimmt das chinesische Interesse an der Kooperation mit Hollywood weiter zu.

Von Jens Hinrichsen

Von Franz Everschor

23 THIEMANN & GÖBEL

28 »BERLIN BABYLON«

Der Übergang von Kinder- zu TeenagerRollen fällt nicht jedem jungen Schauspieler leicht. Flora Li Thiemann und Tristan Göbel haben ihn gemeistert. Eine Begegnung mit den beiden jungen Darstellern. Von Holger Twele

26 IN MEMORIAM

nachrufe u.a. auf den französischen Gentleman-Schauspieler Jean Rochefort und die deutsche Darstellerin Lissy Tempelhof.

Von Marius Nobach und Ralf Schenk

RUBRIKEN EDITORIAL 3 InHALT 4 MAGAZIn 6 DVD-KLASSIK 34 DVD/BLU-RAY 50 TV-TIPPS 56 FILMKLISCHEES 66 VORSCHAU / IMPRESSUM 67

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Mit ansteckender Heiterkeit wurde die britische Schauspielerin durch „Happy-Go-Lucky“ bekannt. Seitdem brilliert sie in vielen Rollen und erweist sich aktuell in „Maudie“ als großartige Charakterdarstellerin.

Die 40 Mio. Euro teure historische Krimiserie ist ein einmaliges Spektakel. Eine Betrachtung des komplexen Epochengemäldes und ein Gespräch mit den drei Cuttern der Serie. Von Thomas Klein

32 LIV LISA FRIES

Die 27-jährige Schauspielerin ist für emotional aufwühlende Filmauftritte bekannt. In „Berlin Babylon“ spielt sie eine junge Frau im Großstadt-Sumpf der 1920er-Jahre. Ein „Spielwütig“-Porträt.

Von Alexandra Wach

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Weit aufgerissene Augen zwischen Aufmerksamkeit und Ablenkung. StummfilmStar Buster Keaton (Ausschnitt aus dem Plakat des StummfilmFestivals Bologna, 2016)

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DIE ZEIT DER WIEDER­ ERLANGTEN UNSCHULD »DIE ZUKUNFT DES KINOS« TEIL 6

ÜBER EUPHORIE UND POTENZIALE IM KINO

In seiner sechsteiligen Essay-Reihe zur Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. Im abschließenden Teil geht es nun um die Anfänge des Kinos, in das man in den frühen Tagen mehr oder weniger zufällig von der Straße hineinstolperte und es als ein „kleines Wunder des Alltags“ erlebte. Das frühe Kino wurde nicht umsonst als Kino der Attraktionen beschrieben und ist bis heute auch ein Kino des Staunens. So ist dieser letzte Text der Reihe zur Zukunft des Kinos vor allem auch das Plädoyer für eine verlorengegangene Euphorie. Von Patrick Holzapfel FILMDIENST 22 | 2017

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KINO ZUKUNFT DES KINOS VI „Ich will einen Fluss… einen nebligen, nebligen Fluss. Einen Fluss der Träume. Die Themse, wie sie Whistler oder vielleicht Turner gemalt hätten. Es muss nur ein realer Fluss sein, verstehst du? Ein realer Fluss, der endlos fließt, der das Schicksal mit sich trägt, das nie endende Schicksal des Lebens in seiner Strömung. Ich muss diesen Strom sehen, den stummen Strom der Zeit und des Schicksals mit all den Mysterien einer unvorhersehbaren Zukunft, die man dort sehen und doch nicht sehen kann.“ (D.W. Griffith und seine Wünsche für eine Einstellung in seinem Film „Broken Blossoms“, 1919) Frei nach Maurice Blanchot könnte man für die Zukunft des Kinos formulieren, dass sie am lebendigsten sein könne, wenn sie das Kino als ein Potenzial begreift. Wenn das Kino wieder eine Frage würde. Die größten Fragen stellte sich das Kino in seinen Geburtsjahren. Damit sind sowohl die tatsächlichen Anfänge einer ästhetischen und ökonomischen Kulturpraxis rund um die erste öffentliche Vorführung in Paris 1895 gemeint als auch die theoretische Bewusstwerdung solch einer Praxis, die vor allem in den 1920er-Jahren deutlich an Schub gewann. Das Kino definierte sich als Begegnung mit einer Welt. Spricht man heute mit Filmschaffenden oder Filmtheoretikern, bekommt man den Eindruck, dass das Kino vollständig erfasst wurde. Lange schon gibt es in der Filmtheorie den Diskurs über das eigene Ende. Entwicklungen gibt es praktisch nur mehr

in technischer Hinsicht, und diese werden in der Regel sehr skeptisch betrachtet. Aber sind wirklich alle Fragen beantwortet? Sind wirklich alle Potenziale erschöpft? Dieser letzte Text der Reihe zur Zukunft des Kinos ist auch als Plädoyer für eine verlorengegangene Euphorie zu verstehen.

„Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung aus dem Leben genommen.“ Einer jener Aspekte der frühen Arbeit mit dem Kino, über die heute kaum mehr gesprochen wird, ist das Verhältnis der Filmbilder zur Realität. Begriffe wie „Objektivität“ oder „Realität“ werden heute mit wissendem Kopfschütteln abgewehrt. Es seien veraltete Theorien. In der Tat sind diese Konzepte von ihrer Unmöglichkeit geprägt. Was aber oft übersehen wird, ist, dass diese Unmöglichkeit schon in das frühe Filmschaffen und in frühe Filmtheorien eingeschrieben war. Das Eingangszitat von D.W. Griffith erzählt von der Unsicherheit darüber, was „real“ ist, und bereits eine der ersten Reaktionen auf den Lumière-Kinematografen in „La Poste“ las sich wie folgt: „Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung aus dem Leben genommen.“ An die Utopie wird also gleich eine Relativierung gehängt. Diese „aus dem Leben genommene“ Bewegung ist es, die spätestens mit Christian Metz und seiner Aussage „In mancher Hinsicht ist das ganze Kino ein Spezialeffekt“ in eine zynische

Unglaubwürdigkeit transportiert wurde. Der Filmemacher und Theoretiker Jean Epstein, einer der größten Euphoriker der Filmgeschichte, beschrieb diese verlorene Unschuld einmal anhand der „verhexten“ Autoreifen im Kino. Kinder würden sehen, dass sich Autoreifen auf der Leinwand nicht bewegten. Das würde ein Misstrauen gegenüber den Kinobildern auslösen. Wenn sie sich an ihre Eltern wenden würden, wüssten diese oft keine Antwort, und somit könnte sich ein Zweifel an der Wirkkraft des Kinematografen etablieren, der nicht mehr aus den Köpfen ginge. Das Kino ist eben entweder die Wahrheit 24-mal in der Sekunde oder wie Brian De Palma das Godard-Diktum wendete, eine Lüge 24-mal in der Sekunde. Im digitalen Zeitalter hat sich selbst das mit den Bildern pro Sekunde als deutlich variabler offenbart.

Das frühe Kino als ein „kleines Wunder des Alltags“ Eine Verbindung zur Realität gibt es dennoch. Man kann von einer Zeugenschaft sprechen. Solange es Bewegung auf der Welt gibt, kann das Kino diese Bewegung aus dem Leben nehmen und hin zu einer Wahrheit oder einer Lüge führen, je nach Bedarf. Daran hat sich auch im digitalen Zeitalter nichts verändert, weil es im Analogen wie im Digitalen eine Illusion ist, die uns eine Realität näher bringt. Auf der einen Seite eine optische, auf der anderen Seite eine mathematische Illusion. Im Jahr 2016

„L’arrivée d’un train à La Ciotat“ der Brüder Lumière wurde 1896 zur Sensation. Im Sommer 1897 fotografierte Louis Lumière die Zugankunft ein weiteres Mal.

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ZUKUNFT DES KINOS VI KINO gab es im Grand Palais in Paris eine große Ausstellung zum Werk der Gebrüder Lumière. Dort wurde unter anderem vorgeschlagen, dass zeitgenössische Webcam-Bilder ähnlich arbeiten wie die ersten Filme aus dem Hause Lumière, als Kameramänner um den ganzen Globus geschickt wurden und mit Aufnahmen zurückkamen. Eine gewagte These, gegen die man sicherlich einiges einwenden kann. Vor allem aber liegt der Unterschied in der Rezeption. Denn gerade die ersten Jahre des Kinos waren vom Teilen eines Phänomens geprägt. Dem Betrachten der Bewegung selbst. Glaubt man den Berichten, war das Kino der frühen Tage etwas, in das man mehr oder weniger zufällig von der Straße hineinstolperte. Ein kleines Wunder des Alltags. Man lugte durch den Vorhang und sah plötzlich das Bild einer Bewegung, das wirkte, als wäre es selbst bewegt. Dabei galt die Aufmerksamkeit oft der Bewegung selbst. Gerade die Stadtansichten bei Lumière zeigen, dass man nur schwer eine Erzählung oder eine determinierte Bewegung festmachen kann. Vielmehr wird dem Blick erlaubt zu wandern und gemeinsam zu entdecken. Diese Streuung des Blicks zeigt, dass es nicht nur darum gehen kann, was wir sehen, sondern auch, wie wir es sehen. An diesem „Wie“ entzünden sich brennende Fragen des Kinos. Es ist ein Sehen, das selbst wenn man heute mit den Filmen konfrontiert wird, ganz anders funktioniert als jene Geschichten des Kinos, die daraufhin folgten. Keine Betrachtung, sondern eine geteilte Erfahrung. Der Zuseher wird eingeladen zu sehen. Dieser

kurze Augenblick einer gemeinsamen Sensation erlaubte Träume. Und wohin führten diese Träume? Überwachung, Kriegsführung, Industrie, Begehren, Narration, Identifikation und Repräsentation sind Begriffe, die sich seither als dominant und in vielerlei Hinsicht schlüssiger offenbart haben, als die Frage nach dem Verhältnis zu einem Realen, vielleicht sogar die Konstitution einer anderen, möglichen Realität. Man kann sich dem Problem auch umgekehrt nähern: Wenn es so sicher ist, dass die Art und Weise, in der das Kino arbeitet, nichts mit Wahrheit oder Realität zu tun hat, warum wird dann auf breiter Front so sehr auf Naturalismus in der Darstellung gesetzt? Warum setzen sich etwa artifiziellere Schauspielstile wie bei Straub/Huillet oder bei Manoel De Oliveira nicht durch? Wenn man theoretisch weiß, dass das Kino ein Bastard ist, eine Synthese unterschiedlichster Elemente, warum wird dann in der Arbeit immer noch nach Reinheit oder im schlimmsten Fall Authentizität gesucht? Könnte es sein, dass diese Fragen, die man so leicht abtun kann, noch gar nicht beantwortet sind? Um eine letzte Frage zu stellen: Wenn wir einen Film sehen, haben wir es dann mit roher Phänomenologie zu tun, mit Abstrahierungen oder mit einer Wahrheit/Lüge, die sich aus beidem zusammensetzt? Das Kino der letzten Jahre hat immer dann Antworten auf diese Fragen gefunden, wenn es gezweifelt und sich auch selbst bezweifelt hat. Man denkt an Abbas Kiarostami, der in seinen Filmen die Frage

nach der Illusion gestellt hat. In Filmen wie „Close-Up“ (1990) oder „Quer durch den Olivenhain“ (1994) hat er die Illusion genau dadurch ermöglicht, dass er sie offengelegt und angezweifelt hat. Gerade weil dem Zuseher gesagt wird, dass alles nur eine konstruierte Fiktion ist, beginnt er, wieder daran zu glauben. Jacques Rancière schrieb einmal, dass ein Bild nie von sich selbst sagen würde, ob es tatsächlich sei, eine Erinnerung oder eine Halluzination. In Zeiten von manipulierten Bildern und extremer Bildpropaganda stellen sich diese Fragen und ihre Vermittlung wieder sehr dringend für das Kino.

Man spürt, dass das Kino sich seines eigenen Ursprungs, ja seiner Essenz beraubt. Ein anderes Beispiel für ein Neudenken des alten Problems des Kinos zwischen Wahrheit und Illusion schlug der Argentinier Lisandro Alonso mit seinem Debüt „La libertad“ (2001) vor. Der Film folgt einem jungen Mann bei seinem täglichen Leben im Dschungel. Es ist eine Fiktion und eine Dokumentation zugleich. Vor allem kehrt Alonso das „Make-Believe“-Prinzip des Naturalismus um. Der Film will gar nicht, dass man ihm glaubt. Man wüsste nicht mal, was man glauben soll. Er will einfach nur sein. Diese Filme führen zu einer Essenz des Kinos. Nur im Diskurs, der für eine mögliche Euphorie, für ein Offenlegen einer Zukunft zuständig wäre, ist kein großer Platz für

„Entrée de cinématographe à Vienne, 1896“. Der Kinematograf der Brüder Lumière wird zur festen Einrichtung in Wien

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KINO ZUKUNFT DES KINOS VI Fragen der Essenz. Das sieht man allein schon daran, wie wenig Platz in Kinematheken (vom Fernsehen muss man nicht anfangen zu schreiben) für Stummfilm existiert. Der Blick so weit zurück wird Historikern und einigen Cinephilen vorbehalten. Wie sehr in Stummfilmen ein Umgang mit Bildern dargestellt wird, der sehr viel mit dem modernen Bildkonsum zu tun hat und aus dem nicht nur das Kino sehr viel über Haltung, Blickstrukturen oder menschliches Zusammensein lernen könnte, wird oft ignoriert. Betrachtet man dann noch, wie halbherzig nicht nur in Deutschland mit Restaurierungsfragen umgegangen wird, dann spürt man, dass das Kino sich seines eigenen Ursprungs, ja seiner Essenz beraubt. Eine fatale Bewegung hin zu einer Ohnmacht der Sprache des Kinos. Das Kino ist in einem Warenhaus gefangen, das immer wieder verlauten lässt, dass das seine Realität ist und dass das seine Beziehung zur äußeren Welt prägt. Es ist nun mal so, dass das Kino eine Industrie ist, an der viele Menschen hängen, die bezahlt werden sollten. Es wäre nun naiv zu glauben, dass man einfach wieder in eine Unschuld springen könne. Ein großer Schritt wäre aber getan, wenn die intellektuelle Feststellung, dass man nicht einfach nur filmen kann, was da ist, nicht dazu führt, dass man die Frage danach nicht mehr stellt. Denn seit jeher hat sie das Kino angetrieben. Der Traum von der Unschuld muss erlaubt und nicht im Keim erstickt werden. Das frühe Kino wurde nicht umsonst als Kino der Attrakti-

onen beschrieben. Es war und ist bis heute auch ein Kino des Staunens. Aus den weit aufgerissenen Augen, irgendwo zwischen Aufmerksamkeit und Ablenkung ist dann ein Diskurs entstanden. In Frankreich sind große Intellektuelle wie Apollinaire, Picasso, Colette, Cocteau oder Breton ins Kino gegangen. Diese Positionen und ihr Dialog mit dem Kino waren von höchster Wichtigkeit. Es ist ein Dialog, der deshalb möglich war, weil das Kino auf die Zukunft verwies. Es gab da eine andere Art der Wahrnehmung der Welt, und man musste darüber diskutieren.

Kino als Sprache, Form des Sehens und Denkens sowie als Erinnerung Vergleicht man das mit den heutigen Reaktionen auf Virtual Reality, fallen zwei Aspekte auf. Zum einen geht es beständig um Abgrenzung. Das ist insofern gut, weil es wieder ein Nachdenken über die Essenz des Kinematografen erlaubt. Es ist schlecht, weil es eine „neue“ Art des Sehens nicht über ihr (eng an Entwicklungen des Kinos laufendes) Verhältnis zur Welt definiert, sondern über andere Modi des Sehens. Zum anderen gibt es einen Diskurs über Erneuerung. Es geht nicht darum, was sich ändert, sondern dass etwas „Neues“ kommt. Als wären Strategien der Bildwerdung Waschmaschinen. Selbiges kann man auch in deutlich kleinerem Ausmaß bei den Advokaten der Video-Essays beobachten,

die diese beständig als eine „neue“ Form der Filmkritik bezeichnen. Wenn man an die Kameraindustrie, die Projektionsindustrie oder die Heimkinoindustrie denkt, kann man vor lauter „neu“ bald nicht mehr denken. Man kauft nur noch. Diese Unfähigkeit zu einer anderen Begegnung mit technologischer Entwicklung gibt Guy Debord Recht, der schrieb, dass man selbst kommuniziert werden müsse, um neue Formen der Kommunikation zu betreten. Inzwischen sind alle Konsumenten von Bildern selbst zu Bildern geworden. Das Kino jedoch hätte, wenn man es denn ließe, das Potenzial, diese Bilder in den Hintergrund rücken zu lassen. Noch mehr müssten diese anderen Formen der Kommunikation eine Frage an die bisher bestehende Form stellen und in einen gemeinsamen Dialog treten. Das Wort „neu“ wirkt im Kino immer wie eine Lüge, denn jeder Film ist bei jeder Projektion in der Gegenwart, er kann immer wieder neu sein. Filme sind flüchtig, sie arbeiten immer hin zu ihrer eigenen Unvollkommenheit. Nicht, was wir in ihnen festmachen können, bewegt sie, sondern genau das, was sich uns daran entzieht. Zum Beispiel das, was zwischen zwei Bildern passiert. Dieselbe Aktualität und Flüchtigkeit gilt für jeden Text über diesen Film. Kann man also die Frage stellen: Inwiefern bildet Film die Realität ab? Inwiefern ist dieser oder jener Film objektiv? Man muss sie sogar stellen, denn nur dann hat das Kino eine Zukunft als Sprache, Form des Sehens und Denkens sowie als Erinnerung. •

Jean Epstein und sein Team bei Dreharbeiten am Meer. Der Filmemacher und Theoretiker Epstein war einer der größten Euphoriker der Filmgeschichte

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filmkunst babylon berlin

WeGeMarKe in Der DeUTScHen SerienProDUKTion: Die serie „BaBylon Berlin“

Düstere Party-staDt selten wurDen hoch gesteckte erwartungen so einDrucksvoll eingelöst: Die aufwänDige krimiserie „BaBylon Berlin“ fasZiniert als sPannenD-süffiges genre-„kino“, aBer auch als raffiniert-komPlexes sittenBilD einer ePoche. Von Thomas Klein „Zwischen Glück und Qual … Du bist dem Tod so nah“, singt die androgyne Nikoros zur suggestiven Musik auf der Bühne des legendären Tanztempels „Moka Efti“, ganz als ahne sie bereits, was der Spaßgesellschaft, die zuckend tanzend vor ihr steht, ein paar Jahre später blühen wird, wenn es im Gleichschritt in den nationalsozialistischen Todeskult geht. Dieser furiose Tanz auf dem Vulkan ist als abschließender Höhepunkt der ersten Doppelfolge von „Babylon Berlin“ symptomatisch für die Ästhetik und Konzeption der Serie – im Allgemeinen und im Umgang mit Geschichte. Einen Song komplett durchlaufen zu lassen und den Rhythmus und die Stimmung der Musik vor allem auf die Montage einwirken zu lassen, ist durch eine neue Serienkultur möglich gemacht worden, die sich dafür die Zeit nimmt. Nikoros verkörpert hier die zum Mythos gewordene

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Performativität von Gender in der Weimarer Republik und weist zugleich die Star-Aura einer Lady Gaga auf. In ihrer Bombastik und ihrem apokalyptischen Fatalismus erinnert die Performance zudem an Rammstein, womit abermals die Brücke zwischen Gestern und Heute mit Blick auf Bilder faschistischer Popästhetik gebaut wird. Für Achim von Borries ist Berlin die Hauptfigur der Serie. Gemeinsam mit Tom Tykwer und Henk Handloegten hat er die Drehbücher geschrieben und Regie geführt. Von den aktuellen Konventionen des Serienmachens abweichend, haben sie alle Episoden gemeinsam geschrieben und inszeniert. Auch die Editoren haben an allen Episoden kollaborativ gearbeitet (siehe Interview). Vielleicht ist es diese Methode, die aus „Babylon Berlin“ ein komplex erzähltes Sittengemälde des Berlin der späten 1920erJahre gemacht hat und durchaus mit Rainer Werner Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ (1979/80) kontextualisiert werden kann, einer Wegemarke der deutschen Serienproduktion, in der Berlin ebenfalls den Status einer Hauptfigur aufweist. Auf Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman basierend, erzählt sie von Franz Biberkopf, der 1928 nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis kommt, mit der Absicht ein guter Mensch zu werden. Doch die Stadt hält nur Arbeitslosigkeit und Schäbigkeit für ihn bereit, treibt ihn immerfort in die Fänge der Kriminalität. In „Babylon Berlin“ kommt der Kommissar Gereon Rath aus Köln nach Berlin, wo er – zunächst in einem einfachen Erpressungsfall ermittelnd – immer tiefer in die kriminellen Schattenseiten dieser Gesellschaft des Spektakels eintaucht. So wie „Berlin Alexanderplatz“ soziale Themen der Entstehungszeit

mit einem historischen Stoff verarbeitete, so weist auch „Babylon Berlin“ deutliche Verbindungen zwischen Gestern und Heute auf. Das betrifft nicht nur die oben erwähnte Inszenierung im „Moka Efti“, sondern auch die Parallelen politischer und sozialer Art: Berlin erscheint heute vielen als Party-Stadt, in der alles nur Erdenkliche konsumiert werden kann, während sie gleichzeitig als Hauptstadt des Verbrechens gilt und Neonazis als Abgeordnete in den Bundestag einziehen. Parallelen zwischen „Berlin Alexanderplatz“ und „Babylon Berlin“ zeigen sich auch im Anspruch, neue Wege der Fernsehproduktion zu gehen. Im Fall von „Babylon Berlin“ ist mit Sprüchen wie „Aufbruch in eine neue Ära der TV-Produktion“ des Produzenten Stefan Arndt indes Vorsicht geboten. „Babylon Berlin“ ist großes Kino, aber anspruchsvolle Serienunterhaltung muss nicht notwendigerweise 40 Millionen Euro kosten. • „Babylon Berlin“. Deutschland 2017. regie und buch: Tom Tykwer, achim von borries, Henk Handloegten. Darsteller: Volker bruch, liv lisa Fries, Peter Kurth, Matthias brandt, leonie benesch. länge: 720 Min. FSK: ab 12. anbieter: Sky nach der Weltpremiere der Serie am 28.9.2017 im berliner ensemble sowie einigen Festivalaufführungen startete die Pay-TV-ausstrahlung der Serie ab dem 13.10. bei Sky; seitdem sind die 16 episoden jeweils freitags um 20.15 Uhr in Doppelfolge zu sehen. Parallel dazu stehen die episoden auch auf Sky Go, Sky on Demand und Sky Ticket auf abruf zur Verfügung. ab dem 24.11. gibt es alle 16 episoden dann als „box Set“ zu sehen. Das erste beginnt mit der Free-TV-auswertung ende 2018. Vgl. auch das interview mit achim von borries („in berlin gab es eine enorme Freiheit“) in FD 02/16 sowie den artikel „eine raumzeitmaschine. Der Szenenbildner Uli Hanisch entwirft für die Serie ‚babylon berlin‘ ein faszinierendes architekturkondensat“ in FD 03/2017.


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KRITIKEN NeUe FiLMe Im Sommer 1976 ging Rudi Carrells Wunsch nach „Sonne von Juni bis September“ tatsächlich in Erfüllung. Ein geradezu legendär heißer Sommer, in dessen Verlauf zunächst Uli Hoeneß einen Elfmeter in den nächtlichen Himmel von Belgrad verschoss und später, nach der Geiselbefreiung von Entebbe, eine Reihe afrikanischer Länder die olympischen Sommerspiele in Montréal boykottierten. Die Filmemacherin Sonja Maria Kröner (Jahrgang 1979) hat mit ihrem im Sommer 1976 spielenden Spielfilmdebüt einen Film gedreht, der aussieht, als blättere man in einem alten Familienalbum, das auf einem Dachboden gefunden wurde. „Sommerhäuser“ ist zunächst eine forcierte Ausstattungsorgie von ausgesuchter Hässlichkeit. Es ist die Zeit bunter, gelber oder beiger Blusen, unförmiger Jeans-Röcke, klobiger Pumps und fast farbloser Kittel. Die Männer tragen bevorzugt Turnhosen zum gelben Hemd. Doch die Inszenierung will die Figuren mittels der furchterregenden Ausstattung nicht etwa denunzieren, sondern registriert durch Kleidung und Alltagsgegenstände schlicht, dass die Jahre der cool-urbanen Styles auch in der Bundesrepublik noch ein paar Jahrzehnte auf sich warten lassen. Kröner vermeidet zudem den Fehler, Zeitkolorit durch unmissverständliche Zeichen und Sounds zu signifizieren und zur „großen Erzählung“ zu formen. „Sommerhäuser“ ist ein Film über 1976, aber ohne Hauptund Staatsaktionen, ohne Fernsehbilder, ABBA, die Bellamy Brothers, Helmut Schmidt, den Tod von Ulrike Meinhof, Soweto und Seveso. Der Film spielt im Abseits, in einer potentiellen Idylle, in einem großen Gemeinschaftsgarten, in dem mehrere Generationen einer Familie ihre Wochenenden, Feiertage und

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Sommerhäuser Familiendrama und Zeitporträt aus dem Jahr 1976 Ferien verbringen. Allerdings ist gerade Oma Sophie gestorben; ein Blitzeinschlag hat Schäden auf dem Grundstück angerichtet, und es gibt höchst unterschiedliche Pläne, wie es mit dem Grundstück weitergehen soll. Während die ältere Generation die Optionen wägt, treffen die Kinder und Enkel ein. Auch hier liegen Konflikte in der Luft: die alleinerziehende Gitti gibt sich provinziell und pflegt wechselnde Männerfreundschaften. Von Janas Vater gibt es jedenfalls keine Spur; auch dies hat offenbar Tradition. Bernds Ehefrau Eva bemüht sich nach Kräften, Gittis „Lotterleben“ ihre Musterfamilie entgegenzusetzen. Bleiben noch die Enkel, die mit Kinderaugen ein Terrain voller Geheimnisse erkunden, sich um das Baumhaus balgen, aber vor allem auch das mysteriöse Nachbargrundstück durchstöbern, das mal verwunschen-magisch, mal fast unheimlich erscheint. Die Regisseurin lässt viele Erzählfäden souverän lose, balanciert clever zwischen dramaturgischer Verdichtung der Konflikte und unbeschwerter Sommerfrische am Swimming-

pool. Doch ganz unbeschwert ist es nie: Mal häufen sich Wespen-Attacken, mal eskaliert ein Streit; Janas Geburtstag steht ins Haus und wird eine ernüchternde Erfahrung mit sich bringen. Im Hintergrund läuft die Suche nach einem verschwundenen Mädchen, dessen Leiche später in unmittelbarer Nähe des Grundstücks gefunden wird. Es ist die große Leistung des Films, mit Hilfe eines eindrucksvollen und prominenten Ensembles die Banalität und die Widersprüche der Erwachsenen mit der Neugier und dem Mut der Kinder auf eine Weise zu verschmelzen, dass trotzdem ein Unbehagen bleibt. Man beginnt mit dem Schlimmsten zu rechnen, ohne zu wissen, worum es sich dabei handeln könnte. Ausgerechnet an Janas Geburtstag eskalieren viele der bislang nur schwelenden Konflikte, ohne dass sich alles in Wohlgefallen auflösen würde. So könnte es immer weitergehen. Doch dann kündigt sich ein weiteres Gewitter an, das nicht nur diesen Jahrhundertsommer jäh enden lässt. Ulrich Kriest

BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

ein großer Gemeinschaftsgarten wird im Jahrhundertsommer 1976 für drei Generationen einer Familie zum Schauplatz bedeutsamer umbrüche. Der Tod der Großmutter und ein verheerendes Gewitter führen zu Auseinandersetzungen um den möglichen Verkauf des Grundstücks, während sich in der mittleren Generation Konflikte aufbauen, in die auch die neugierigen Kinder hineingezogen werden. eindrucksvoll gespielte Komödie über die Widersprüche in lebensentwürfen, die souverän zwischen dramaturgischer Verdichtung und unbeschwerter Sommerfrische balanciert. Dabei widersteht die inszenierung einer forcierten Betonung des Zeitkolorits sowie der Versuchung, jeden erzählstrang bis zum ende auszuloten. – Sehenswert ab 14.

Deutschland 2017 Regie: Sonja maria Kröner Darsteller: Thomas loibl (Bernd), laura Tonke (eva), ursula Werner (ilse), Günther maria Halmer (erich), Christine Schorn (Frieda), inge maux (mathilde), mavie Hörbiger Länge: 97 min. | Kinostart: 26.10.2017 Verleih: Prokino | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 45 012


Fotos S. 36–49: Jeweilige Filmverleihe

NeUe FiLMe KRITIKEN Die Schauspielerin ist geladen. Sie spricht jetzt schon zum vierten Mal vor. Die Maskenbildnerin kommt ihr mit einer schwarzen Kurzhaarperücke, außerdem will sie eben noch mal über ihr Gesicht „drübergehen“, wie sie es nennt. Und zu guter Letzt setzt man ihr auch noch die „Anspielwurst“ Gerwin vor. Der Film von Nicolas Wackerbarth hält sich erst gar nicht mit Warmspielen auf, er ist sofort auf Hundert. Anerkennungssucht, Versagensangst, gekränkte Eitelkeit und die Panik des Älterwerdens verdichten sich schon in den ersten Szenen zu einem explosiven Gemisch. „Ich bin nicht hysterisch!“: Dieser gefährlich nah an der Schwelle zur Hysterie stehende Satz aus Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“, für dessen Fernseh-Remake die Regisseurin Vera noch kurz vor Drehbeginn verschiedene Schauspielerinnen castet, steht als Drohung stets im Raum. Im Spiegelsystem „Film im Film“ ist das Casting in den letzten Jahren vermehrt als Subgenre in Erscheinung getreten. Dafür gibt es gute Gründe. Nicht zuletzt werden beim Casting die Mechanismen neoliberaler Arbeit in Zeiten steigenden Wettbewerbs deutlich ausformuliert. Mit anderen Worten: Es geht um die Ökonomisierung des Ichs und das auf sehr direkte, sehr schonungslose Weise. Dabei steht das Casting immer auf der Kippe zwischen Fiktion beziehungsweise Illusion und der Realität der Arbeitswelt. So spielt Gerwin seine vermeintliche Unabhängigkeit gegenüber den bedürftigen Bewerberinnen auch gerne mit dem Satz, „Ich mach’ das ja nur zum Spaß. Mir geht es nicht um mein Leben“, aus. Für die Schauspieler steht hier allerdings weit mehr auf dem Spiel als nur eine Absage. Da sie sich selbst als Produkt anbieten, kann jede Kritik

Casting Impro-Komödie: Looking for Petra von Kant gar nicht anders als persönlich gemeint sein. Und da die Schauspielerinnen in „Casting“ allesamt nicht mehr jung sind, spielt auch das Verhältnis von Marktwert und Alter unweigerlich eine Rolle. Wackerbarth streift diese Überlegung, ohne sie systematisch oder gar thesenhaft zu bearbeiten. Denn „Casting“ ist vor allen Dingen eine spielfreudige Improvisationskomödie, die ihre Intensität, ihren „Drive“, aus dem Unvorhergesehenen, Ungeplanten zieht, aus Momenten der Irritation und des unangenehmen Berührtseins, aus schnellen Richtungswechseln. Die Handkamera ist wie ein Sensor, der auf jede noch so kleine Regung reagiert. Zwischen den verunsicherten oder sich zu sicher wähnenden Schauspielerinnen, der zaudernden Regisseurin Vera, dem vor dem Sender buckelnden Produzenten und einer zwischen sämtlichen Stühlen herumschlitternden Assistentin herrscht eine instabile Dynamik, die Wackerbarth bis in die feinstofflichsten Bereiche einfängt. Die Figur des Anspielpartners Gerwin ist in dieser Dynamik

ein ebenso formbares wie stures „Objekt“. Je mehr er von den Petra-Darstellerinnen als Karl adressiert wird, und von der Regisseurin als jemand, der Insiderwissen über die Produktion besitzt, desto mehr verschwindet der Platzhalter in ihm. Gerwin beansprucht in den Spielszenen immer mehr Raum, er dreht richtig auf und erweist sich gegenüber Regieanweisungen („mach mal weniger“) als ziemlich resistent, umso mehr, als er eine Chance wittert, tatsächlich besetzt zu werden. Außerhalb des Castings stiftet er durch vorlautes Ausplaudern und besser gemeinte Ratschläge Unmut und Verwirrung. „Casting“ lebt ganz entscheidend von seinem virtuosen (und hervorragend gecasteten) Ensemble. In gewisser Weise verdoppelt und reflektiert der Film nicht nur die Erfahrung der Schauspielerinnen – schließlich mussten auch sie sich für die Rolle qualifizieren –; auch als Zuschauerin übernimmt man unweigerlich die Rolle der beurteilenden Instanz. Die Schauspielerinnen wiederum stehen innerhalb wie außerhalb des Films für verschiedene Positionen in der Film- und Fernsehwelt: etwa Corinna Kirchhoff (Theater), Andrea Sawatzki (prominente „Tatort“Kommissarin) oder Marie-Lou Sellem, die man sowohl mit „Fernsehware“ als auch mit Arbeiten der Berliner Schule

(Angela Schanelec, Franz Müller) assoziiert. Das Fassbinder-Stück erweist sich als dankbarer Text, über aktuelle Abhängigkeiten und Machtasymmetrien zu sprechen. Wie der präzise Dialog mal die Figurenwelt, mal das Leben meint, wie die Darsteller aus ihren Figuren fallen und sich wieder hineinbegeben und wie das eine vom anderen mitunter einfach nicht mehr voneinander zu unterscheiden ist: Das alles macht „Casting“ zu einer experimentellen Erfahrung, von der man in der „echten“ Fernsehwelt natürlich nur träumen kann. Esther Buss BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

Kurz vor Drehbeginn einer neuverfilmung von Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ fürs Fernsehen sucht die Regisseurin noch nach der idealen Besetzung. Während sich beim Team langsam nervosität ausbreitet und die sich vorstellenden Schauspielerinnen mit ihren Versagensängsten und eitelkeiten kämpfen, findet der Anspielpartner im Casting immer mehr Gefallen an seiner Aufgabe. improvisationskomödie, die durch Spielfreude und ein virtuoses Schauspielerinnen-ensemble begeistert. mittels der Fassbinder-Vorlage macht sie die Abhängigkeiten und macht-Asymmetrien in der Fernsehwelt deutlich, wobei sie geschickt den unschärfebereich zwischen Fiktion und leben, Person und Rolle nutzt. – Sehenswert ab 16.

Deutschland 2017 Regie: nicolas Wackerbarth Darsteller: Andreas lust (Gerwin), Judith engel (Vera), ursina lardi, Corinna Kirchhoff, Andrea Sawatzki, milena Dreißig, nicole marischka, marie-lou Sellem Länge: 94 min. | Kinostart: 2.11.2017 Verleih: Piffl medien | FSK: ab 0; f FD-Kritik: 45 013

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kriTiken dvd/Blu-ray/Internet

The Bad Batch Hinterwäldlerhorror meets Psychotrip

„Good Luck“ steht zynisch unter dem Schild, das jene, die in die „Bad Batch“-Zone verbannt werden, davor warnt, dass sie nun nicht mehr unter dem Schutz der US-Gesetze stehen. Hinter dem mit Stacheldraht gesicherten Zaun beginnt ein Western-Wüsten-Niemandsland, wie man es aus „El Topo“ von Jodorowsky, „Wild at Heart“ von Lynch und „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Leone kennt – Filme, auf die sich Regisseurin Ana Lily Amirpour in „The Bad Batch“ bezieht. Arlen (Suki Waterhouse), ihre Hauptfigur, hat kein Glück: Kurz nachdem sie die Wilde Zone betreten hat, findet sie sich angekettet im Hof einiger ihrer Bad-Batch-Mitbewohner wieder und bekommt einen Arm und ein Bein abgesägt, die prompt in der Pfanne landen: Die Community muskelbepackter Bodybuilder-Typen und ihrer Familien behilft sich angesichts der Nahrungsknappheit in der

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Wüste damit, Jagd auf andere Verbannte zu machen und sie stückchenweise zu verspeisen. Arlen kann es immerhin tatkräftig verhindern, noch mehr Körperteile einzubüßen, und schafft es zu fliehen. Eine mitleidige Seele (Jim Carrey), die sie in der Wüste aufgabelt, bringt sie in die Enklave Comfort. Dort ist es bis auf den Palast eines Gurus bzw. Führers (gespielt von Keanu Reeves) zwar auch nicht viel komfortabler als im schrottigen Lager der Kannibalen, immerhin aber fressen die Bewohner Fremde nicht einfach auf. Arlen zieht es trotzdem bald wieder aus Comfort hinaus in die Wüste. Dort kreuzt sich ihr Weg zuerst mit der Mutter und der kleinen Tochter, später mit dem Vater einer Kannibalen-Familie. Wie in ihrem Arthouse-VampirNoir-Drama „A Girl Walks Home Alone at Night“ erweist sich Ana Lily Amirpour auch hier als stilsichere Erzählerin, die Gen-

reelemente (des Western sowie des Hinterwäldler-Horrors) und einprägsame Bilder zu einem wahnwitzigen cineastischen Trip verbindet. Arlens Gang in die Wildnis, der zuerst eine Verbannung ist und immer mehr zur Suche nach etwas Unbestimmtem wird, entfaltet sich angenehm entschleunigt, hält sich mit Dialogen zurück und wirkt ein wenig wie ein von Minimal Techno und „Mad Max“ befruchtetes Bastardkind von Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“. Das Motiv einer Zone der Ausgegrenzten, die sich die US-Gesellschaft mittels Zäunen vom Leib hält, wirkt angesichts der Politik Donald Trumps nicht mehr sonderlich futuristisch. In Sachen Gesellschaftskritik ist auch interessant, wie Amirpour mit dem Kannibalismus-Motiv arbeitet, das in den letzten Jahren regelmäßig in postapokalyptischen Stoffen à la „The Road“, „Hell“ oder „The Walking Dead“ herbeibemüht

wurde – als unterste moralische Stufe, auf die man als Mensch nach dem Zusammenbruch der zivilisatorischen Infrastruktur absinken kann. Amirpours Film scheint diesem Muster zunächst zu folgen, schwenkt aber dann davon ab und schlägt eher den zivilisationskritischen Tonfall an, in dem weiland Montaigne in seinem Text über „Les Cannibales“ seine Zeitgenossen ermahnte, nicht die exotischen Menschenfresser als Barbaren zu verdammen, für die Unmenschlichkeiten in der eigenen Gesellschaft aber blind zu sein. So entpuppt sich der Kannibalen-Mann (Jason Momoa) als liebevoller Familienvater, mit dem man durchaus gut zurechtkommt, wenn man es denn erst einmal geschafft hat, von ihm nicht mehr nur als potenzielles Frischfleisch wahrgenommen zu werden. Das Zusammenleben in Comfort dagegen gerät unter dem selbstsüchtigen Regime des Gurus zum absurden Zerrspiegel einer US-Klassengesellschaft, deren Burgfrieden sich nur durch die drogeninduzierte Party-Beschwörung eines illusorischen gemeinsamen „Traums“ aufrechterhalten lässt. Kein Wunder, dass Arlen der Wüste den Vorzug gibt. Die mag eine gefährliche Wildnis sein, erscheint aber auch als Möglichkeitsraum, in dem sich das menschliche Zusammenleben vielleicht ganz neu und anders gestalten lässt. Unversehens infiltriert ein Hauch von Utopie die Dystopie. Felicitas Kleiner

THe BAD BATCH USA 2016 regie: Ana Lily Amirpour Darsteller: Suki Waterhouse, Jason Momoa, Keanu Reeves, Jim Carrey Länge: 120 Min. Anbieter: Netflix FD-kritik: 45 038


KRITIKEN FerNseH-TiPPs

SO

SAMSTAG 28. Oktober

20.15-22.05 Servus TV Zusammen ist man weniger allein R: Claude Berri Liebeserklärung ans Leben Frankreich 2007 Ab 12

12.00-13.20 KiKA Wie heiratet man einen König? R: Rainer Simon Innovative Märchenverfilmung DDR 1969 Ab 10

28. Oktober, 23.20-01.25

One

Eden 21.40-23.25 zdf_neo Das Bourne Ultimatum R: Paul Greengrass Dritter Teil der avantgardistischen Thriller-Reihe USA 2007 Ab 16 22.05-00.10 Servus TV Tödliche Entscheidung R: Sidney Lumet Meisterlicher fatalistischer Thriller USA 2007 Sehenswert ab 16 23.20-01.25 One Eden R: Mia Hansen-Løve DJ erlebt Siegeszug der House-Musik Frankreich 2014 Ab 16

00.10-01.45 Servus TV Mona Lisa R: Neil Jordan Gangster-Thriller um eine fatale Liebe Großbritannien 1986 Ab 14 00.15-01.10 Kurzschluss – Das Magazin Schwerpunkt Wunschträume

arte

01.10-01.55 arte Die Tage davor R: Karim Moussaoui Preisgekröntes Drama um Algerien Algerien/Frankreich 2014 Ab 16

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SoNNTAG 29. Oktober

Mit ihren scheinbar leichthin inszenierten Filmen, die in Wahrheit höchst sorgfältig erdacht sind und mit unaufdringlicher Poesie daherkommen, hat sich die Französin Mia Hansen-Løve in den letzten Jahren als eine der aufregendsten Regisseurinnen Europas etabliert. 2016 gewann sie mit „Alles was kommt“ den Regie-Preis der „Berlinale“, 2018 soll unter dem Titel „Maya“ ihr neuestes Werk (u.a. mit Juliette Binoche) in die Kinos kommen. In „Eden“ taucht sie in die Pariser Techno-Clubszene der 1990er-Jahre ein und zeichnet Aufstieg und Fall eines jungen Disc Jockeys nach. Dieser schwimmt zuerst auf der Erfolgswelle der House-Musik, bis Drogen und ein neuer Musikgeschmack seiner Karriere ein Ende bereiten. Zwischen Epochenporträt und tragischem Einzelschicksal entfaltet sich eine fast zwei Jahrzehnte währende Vertreibung aus dem musikalischen Garten Eden.

28. Oktober, 00.15-01.10

arte

Kurzschluss: Wunschträume Rund um das weite Feld menschlicher Sehnsüchte und Begehrlichkeiten versammelt das arte-Kurzfilmmagazin eine Reihe sehenswerter Beiträge. Darunter ist der dritte Kurzfilm des Digitalkünstlers Pablo Munoz Gomez: „Kapitalistis“, ein 14-minütiges Drama, in dem es um den Widerstand gegen deprimierende soziale Realitäten geht: Ein Vater möchte seinem Sohn ein schönes Weihnachtsgeschenk besorgen, obwohl er gerade völlig abgebrannt ist. Im Anschluss an den Film gibt es ein Interview mit dem Regisseur. Gezeigt wird auch „Charles“, ein Animationsfilm von Dominic Etienne Simard über einen Jungen, der vor seinen Problemen in eine von Fröschen bevölkerte Fantasiewelt flüchtet; es gibt erste Einblicke in „Riot“, den neuen Kurzfilm von Frank Ternier, sowie die Animation „Der mit den zwei Seelen“ von Fabrice Luang-Vija, die märchenhaft-poetisch von einem Inuit erzählt, der weibliche und männliche Wesenszüge in sich vereint und nicht recht weiß, nach welchem Geschlecht er/sie sich in Sachen Liebe sehnen soll. Außerdem gibt es ein Gespräch mit Regisseur Karim Moussaoui über den Film „Die Tage davor“, der im Anschluss zu sehen ist (01.10-01.55) und eine tragische, im konfliktgebeutelten Algerien der 1990er-Jahre angesiedelte Liebesgeschichte erzählt.

15.00-16.30 Genug gesagt R: Nicole Holofcener Einfühlsamer Liebesfilm USA 2013

ZDF

Ab 14

18.00-18.30 3sat kinokino extra Bericht von den Hofer Filmtagen 20.15-22.40 arte Das Reich der Sonne R: Steven Spielberg Junge erlebt japanisch-chinesischen Krieg USA 1987 Ab 16 20.15-21.45 One Philomena R: Stephen Frears Eine Mutter sucht ihren Sohn GB 2013 Sehenswert ab 14 21.45-23.15 Das Erste Das Verschwinden – Weil wir euch lieben R: Hans-Christian Schmid Zweiter Teil der intensiven Miniserie Deutschland 2017 Sehenswert ab 16 22.00-01.40 3sat Die andere Heimat – Chronik der Sehnsucht R: Edgar Reitz Meisterhafte Familiengeschichte aus der Zeit um 1840 Deutschland 2013 Sehenswert ab 16 23.10-00.10 mdr 60 Jahre Dokfilm Leipzig Rückschau auf die Festival-Geschichte 01.40-03.00 3sat Verbotene Spiele R: René Clément Drama über eine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs Frankreich 1952 Ab 14

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

SA


FerNseH-TiPPs KRITIKEN

MO

MoNTAG 30. Oktober

20.15-21.40 arte Duell R: Steven Spielberg Psychopath in Laster vs. Autofahrer USA 1971 Ab 16

ERSTAUSSTRAHLUNG: 29. Oktober, 22.40-23.35

arte

Die wahren Abenteuer des André Heller An dem österreichischen Tausendsassa André Heller (Jahrgang 1947) scheiden sich die Geister. Die einen halten ihn für einen größenwahnsinnigen Impresario, die anderen verehren ihn als den letzten Universalkünstler unserer Zeit. Der 1947 als Sohn eines jüdischen Großindustriellen geborene Künstler ist ein dandyhafter Egozentriker, dessen überbordende Fantasie sich nahezu in allen denkbaren Genres ausgetobt hat. Heller war Liedermacher und Chansonnier, Aktionskünstler, politischer Aktivist, Kulturmanager, Schriftsteller, Schauspieler und Filmemacher, er rief den Zirkus Roncali ins Leben, glänzte mit Installationen, Happenings und Environments und gestaltete jüngst einen „Anima Garden“ in Marokko, der als eine der fantasievollsten Gartenanlagen der Welt gilt. In der essayistischen Annäherung an Hellers komplexe Persönlichkeit tut die Filmemacherin Andrea Morgenthaler gut daran, den Künstler auf eine virtuelle Reise in seine eigene Vergangenheit zu schicken, die ihn auch mit der Geschichte seiner Familie, Drogenerfahrungen und anderen Fehlern und Schwächen konfrontiert. Auf diese Weise entsteht das packende Bild eines außergewöhnlich talentierten Menschen, der schwer zu greifen ist, weil er in seinen Visionen längst schon wieder ganz woanders ist. 29. Oktober-3. November

mdr

Dok-Woche im mdr Der mdr begleitet das 60. Dokfestival in Leipzig (27.10-5.11.) mit einer Reportage über die wechselhafte Geschichte der ehemaligen ostdeutschen Renommierschau. Passend zur streitbaren Neuausrichtung nach der Wende strahlt der Sender vier Filme über deutschdeutsche Themen aus, die in Leipzig ihre Premiere feierten: Mario Schneiders Schlussstück seiner „MansFeld“-Trilogie, die eigenwillige Studie „Träume der Lausitz“ von Bernhard Sallmann, „Striche ziehen“ über aufmüpfige Punks in Thüringen, die von der Stasi weichgekocht wurden, am Schluss das ernüchternde Porträt über Menschen aus Halle/Neustadt von Thomas Heise: „Kinder. Wie die Zeit vergeht“. 29.10., 23.10-00.10 60 Jahre Dokfilmfestival Leipzig 29.10., 00.10-01.50 MansFeld 1.11., 23.35-01.00 Träume der Lausitz 2.11., 23.35-01.03 Striche ziehen 3.11., 00.05-00.25 Kino Royal spezial 3.11., 00.25-01.48 Kinder. Wie die Zeit vergeht

20.15-22.10 One Gottes Werk und Teufels Beitrag R: Lasse Hallström Stimmungsvolle Irving-Adaption USA 1999 Sehenswert ab 16 21.40-23.20 arte Gefahr: Diabolik! R: Mario Bava Aufwändiges Science-Fiction-Abenteuer Italien/Frankreich 1967 Ab 16 21.45-23.15 Das Erste Das Verschwinden – Zwei Mütter R: Hans-Christian Schmid Dritter Teil der intensiven Miniserie Deutschland 2017 Sehenswert ab 16 22.00-00.20 TELE 5 Infini R: Shane Abbess Einfallsreicher SciFi-Horrorfilm Australien 2015 Ab 16 23.15-01.05 NDR fernsehen Heute bin ich Samba R: Eric Toledano, olivier Nakache Interkulturelle Romanze Frankreich 2014 Ab 12 23.20-01.10 Ein Haus in Ninh Hoa R: Philipp Widmann Familiengeschichte Deutschland/Vietnam 2016

arte

Ab 14

00.30-01.55 BR FERNSEHEN Agonie R: David Clay Diaz Düstere Doppelmilieustudie Deutschland/Österreich 2016 Ab 16

ERSTAUSSTRAHLUNG: 30. Oktober, 20.15-23.00

ZDF

Zwischen Himmel und Hölle Alle Qualen der Hölle beschwört der Ablassprediger, damit die verängstigten Sünder ihre letzten Pfennige für einen Ablass hergeben. Zum Auftakt von Uwe Jansons Luther-Epos gibt es die Ablassprediger-Show, mit der viele Lutherfilme (vgl. den Artikel „Luther-Bilder“, fd 2/2017) starten; dann aber folgt eine unübliche, erstaunliche Szene: Spalatin, Berater des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, will die landesherrlichen Eigeninteressen gegen Rom zur Geltung bringen und überlegt, wen man als Agitator gegen den schändlichen römischen Ablasshandel voranschicken könnte. Die Wahl fällt auf den Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg. Jansons 165-minütiges Historiendrama zum Reformationsjubiläum zeigt Luther als eine Figur auf dem Schachbrett der Macht. Natürlich wird der Reformator, den Maximilian Brückner als jugendlichen Hitzkopf konturiert, nicht einfach nur als Marionette an den Strippen seines Landesherrn hingestellt; er darf seine eigene Rebellionsdynamik entfalten. Sein Kampf um die „Freiheit des Christenmenschen“ wird durchaus gewürdigt: die Gnadentheologie, Luthers Bibelübersetzung ins Deutsche, sein Hochhalten der Schrift gegen Hierarchie und Tradition der Papstkirche. Erzählt wird die Frühphase der Reformation von Luthers Thesenanschlag 1517 über seine WiderrufWeigerung beim Reichstag in Worms 1521 bis zur schroffen opposition gegen die aufständischen Bauern 1525. Den Mitstreitern Luthers – Bodenstein, Müntzer und dessen Ehefrau ottilie (herausragend: Aylin Tezel) – wird ausführlich Raum eingeräumt, sodass sich der Spannungsbogen von jugendlicher Gemeinsamkeit bis zur erbitterten Gegnerschaft nuancenreich zeigen kann. Luther verteufelte alle seine Gegner; der Film aber tut das nicht. Jeder darf seine Interessen verteidigen und hat seine Glaubwürdigkeit. Unterbelichtet bleiben die weltgeschichtlichen und technologischen Umwälzungen der Zeit. Nicht hinreichend deutlich wird, wie sehr Denken, Fühlen und Alltag aller Menschen damals von Religion und Frömmigkeitsritualen durchdrungen waren. Aber das Machtspiel wird glänzend vorgeführt, mit analytischer Präzision; Joachim Król als Erzbischof Albrecht und Rüdiger Vogler als Kurfürst Friedrich erhalten so die prächtigsten Rollen. Rainer Gansera

01.00-02.45 ZDF Land der Wunder R: Alice Rohrwacher Drama übers Erwachsenwerden Italien 2014 Sehenswert ab 12

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