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1. Einleitung

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„Hauptziel physiotherapeutischer Bemühungen ist neben dem Erhalt oder der Verbesserung der Funktion auch das Eindämmen einer Krümmungszunahme.“LESEPROBE

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Früher definierte man die Skoliose als teilstrukturelle Seitverbiegung der Wirbelsäule, welche nicht mehr vollständig aufgerichtet werden kann (Heine und Meister 1972, Meister 1980, Asher und Burton 2006, Weiss und Moramarco 2013a). Im Gegensatz zu den Skoliosen bekannter Ätiologie (angeborene Skoliose, neurogene Skoliose, myogene Skoliose, Skoliose bei Stoffwechsel- oder Systemerkrankungen, Skoliosen bei seltenen Syndromen) tritt die idiopathische Skoliose (Abbildung 1) ohne ersichtlichen Grund vor Einsetzen der Skelettreife auf (Heine 1980, Perdriolle und Vidal 1985, Weiss und Moramarco 2013a). In 80-90 % der Fälle handelt es sich um eine idiopathische Skoliose. Eine asymmetrische Rumpfsilhouette im Stand deutet auf eine Skoliose hin. Der Vorbeugetest zeigt die strukturelle Komponente der Skoliose durch den in dieser Haltung hervortretenden Rippenbuckel oder durch den dadurch in Erscheinung tretenden Lendenwulst. Durch die ventral verdrehten Rippen auf der thorakalen Konkavseite entsteht zusätzlich ein sogenannter ventraler Rippenbuckel. Die Diagnose einer Skoliose erfolgt mittels einer Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule im Stehen (Abbildung 2). Im Zeitalter des digitalen Röntgens ist es möglich, bei optimaler Einstellung in der Verlaufskontrolle mit einer „kleinen“ Aufnahme und reduzierter Belichtungszeit auszukommen (Abbildung 3). Bei Patienten mit einer Körpergröße über 170 cm sind allerdings in der Regel zwei Teilaufnahmen anzufertigen und dann aneinanderzufügen.

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15 Abbildung 1: Deutlich sichtbare Skoliose bei einer 13-Jährigen. Alle Komponenten einer Skoliose sind klar zu erkennen: 1. Seitabweichung, 2. Rippenbuckel als Ausdruck einer Verdrehung der Rumpfabschnitte gegeneinander und 3. Flachrücken mit deutlicher Reduktion der Kyphose im thorakalen Wirbelsäulenabschnitt. Auf dem mittleren Bild wird die Seitabweichung der Wirbelsäule deutlich und auf dem rechten Bild sind zusätzlich die gegeneinander verschobenen Rumpfabschnitte gekennzeichnet. LESEPROBE

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Abbildung 2: Ganzaufnahme im Stehen mit Teilen des Skelettschädels und Beckens. Unter Verwendung der „direct radiography“ (DR) kann man heutzutage allerdings Kinder und Adoleszente bei optimaler Einstelltechnik auch unter Einblendung des Strahlenfeldes auf die absolut notwendige Region (Region of Interest/ROI) fast immer auf eine DR-Platte bringen, ohne weitere Aufnahmen zu machen (Weiss und Seibel 2013).

Die Auswertung der Röntgenbilder erfolgt mittels der Ausmessung des Krümmungswinkels nach Cobb (1948), der Ausmessung der Scheitelwirbelrotation und der Bestimmung der knöchernen Reifezeichen (Abbildung 4). Krümmungen von weniger als 10 Grad nach Cobb (1948) werden nicht als Skoliosen definiert.

Weibliche Individuen sind im Verhältnis von etwa 4:1 häufiger von der idiopathischen Skoliose betroffen als männliche. Zwar treten Krümmungen unter 10 Grad bei Jungen und Mädchen gleich verteilt auf, je schwerer aber die Krümmung wird, desto häufiger sind Mädchen davon betroffen (Weinstein 1985 und 1986, Asher und Burton 2006). Eindeutige Erkenntnisse hinsichtlich des natürlichen Verlaufs der unbehandelten idiopathischen Skoliose liegen bislang noch nicht vor. Auch in der neueren Literatur gibt es unterschiedliche Angaben zur Progredienz, zumal den Einzeluntersuchungen unterschiedliche Ausgangsbedingungen zugrunde lagen und der Begriff „Progredienz“ zum Teil doch recht uneinheitlich definiert wurde. Es kristallisiert sich allerdings heraus, dass kleine Wirbelsäulenverbiegungen einen eher günstigen Verlauf nehmen (Brooks et al. 1975, Rogala et al. 1978, Asher und Burton 2006). Demgegenüber geben Sahlstrand und Lidström (1980) sowie Lonstein und Carlson (1984) übereinstimmend an, dass Krümmungen größeren Ausmaßes prozentual gesehen sehr viel mehr zu einer Progredienz neigen. Im Vergleich zu Jungen ist das Risiko für eine Progredienz bei Mädchen mit vergleichbaren Krümmungsformen in Abhängigkeit vom Cobb-Winkel 4- bis 10-fach erhöht (Weinstein 1985, Asher und Burton 2006). Mit zunehmender Skelettreife sinkt das Risiko einer Progredienz, obwohl bei hochgradigen Krümmungen trotz vorhandener Skelettreife noch eine beträchtliche Tendenz zur Verschlechterung bestehen kann. Mit dem Erreichen der Skelettreife wird die Tendenz zu einer weiteren Krümmungszunahme demnach deutlich geringer. Duriez (1967), Collis und Ponseti (1969) und Weinstein (1986) fanden heraus, dass Krümmungen prinzipiell während des LESEPROBE

gesamten Lebens fortschreiten können. Dies betrifft jedoch in der Regel nur Verkrümmungen über 30 Grad, am stärksten solche zwischen 50 und 75 Grad zum Zeitpunkt der Skelettreife, welche kontinuierlich um 0,75 bis 1 Grad zunehmen können (Weinstein 1986). Caillens et al. (1991) beschrieben, dass zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr bei stärkeren Lumbalskoliosen nochmals mit einer Progredienz von mehr als 2 Grad pro Jahr gerechnet werden muss. Im Alter zwischen 65 und 80 Jahren zeigte sich in der Untersuchung gar eine Krümmungszunahme um mehr als

Abbildung 3: Einplattentechnik. Im Zeitalter des digitalen Röntgens unter Verwendung der „direct radiography“ (DR) kann man die Wirbelsäule von Kindern und Adoleszenten bei optimaler Einstelltechnik unter Einblendung des Strahlenfeldes auf die absolut notwendige Region (Region of Interest/ROI) fast immer auf eine DR-Platte bringen, ohne weitere Aufnahmen zu machen. Dadurch werden unnötige Bestrahlungen größerer Körperregionen außerhalb der ROI vermieden. Links weit eingeblendetes Röntgenbild der Patientin (Mitte) ohne Korsett und rechts Röntgenkontrolle der Patientin mit Korsett.

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17 Abbildung 4: Darstellung der Knochenreife nach Risser in Anlehnung an Henke (1982). Bei einem Risser-Zeichen von 0 steht der puberale Wachstumsschub größtenteils noch bevor. Ab einem RisserStadium von 3 ist die Hauptwachstumsphase abgeschlossen. Der vollständige Wachstumsabschluss wird durch ein Risser-Stadium 5 angezeigt, obwohl in manchen Fällen ein Risser-Stadium 4 auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt. LESEPROBE

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5 Grad pro Jahr. Bislang ist allerdings nicht geklärt, ob diese Krümmungszunahmen medizinisch bedeutsam sind. Insgesamt ist die idiopathische Adoleszentenskoliose eine eher gutartige Wachstumsstörung. Auch im Alter sind nur geringe Einschränkungen zu erwarten (Weiss et al. 2016a). Hauptziel physiotherapeutischer Bemühungen ist neben dem Erhalt oder der Verbesserung der Funktion auch das Eindämmen einer Krümmungszunahme. Nebenziele sind die Prävention sekundärer Funktionsstörungen, die sich im Bereich des Bewegungsapparates, aber auch im Bereich des kardiopulmonalen Systems, manifestieren können.

Es ist schon seit der Untersuchung von Collis und Ponseti (1969) bekannt, dass Skoliosepatienten nur unwesentlich stärker von Rückenschmerzen betroffen sind als ein nicht von der Skoliose betroffenes Kontrollkollektiv. Nach späteren Untersuchungen (Weiss 1993a, Weiss et al. 1999, Asher und Burton 2006) lässt sich kein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Krümmungswinkels und Rückenschmerzen nachweisen.

Sofern Schmerzen vorliegen, besteht bei den Skoliosepatienten eine erhöhte Schmerzanfälligkeit im Bereich des Krümmungsscheitels (Weiss 1993a). Auch wenn zwischen Krümmungswinkel und Schmerz keine Korrelation besteht, so lässt sich doch der Schmerz bei Patienten mit Skoliose durch eine intensive krankengymnastische Therapie günstig beeinflussen (Weiss 1993a, Weiss et al. 1999, Weiss et al. 2016b). In der Regel haben Skoliosepatienten große Angst vor den Einschränkungen im kardiopulmonalen Bereich. Diese Ängste sind jedoch meist unbegründet. Nach Pehrsson et al. (1992) führen Krümmungen unter 100 Grad nicht zu lebensverkürzenden kardiopulmonalen Einschränkungen. Patienten mit deutlich weniger als 100 Grad nach Wachstumsabschluss sind dementsprechend nicht von einem Cor pulmonale bedroht, was aber nicht heißt, dass nicht auch Betroffene mit Krümmungen von weit mehr als 100 Grad 80 Jahre alt werden können und auch nicht zwangsläufig über eine mangelhafte Lebensqualität klagen (Weiss 2016c). Es ist allerdings bekannt, dass Beeinträchtigungen der Atemmechanik und der Leistungsfähigkeit schon bei geringeren Krümmungswinkeln bestehen können (DiRocco und Vaccaro 1988, Weber et al. 1975). Aus diesem Grunde spielt die Rehabilitation der Atmung im Rahmen der Physiotherapie bei Skoliose nicht nur zur Korrektur des skoliotischen Atemmusters eine große Rolle, sondern auch zur Verbesserung der Atemfunktion und damit der Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Die physiotherapeutische und gymnastische Behandlung der Skoliose hat in Europa, und speziell in Deutschland, eine lange Tradition. Auch im europäischen Ausland gibt es eine Vielzahl spezialisierter Zentren, welche sich mit der Physiotherapie bei Skoliose befassen. Zwanzig Jahre lang existierte eine europäische Gesellschaft zur krankengymnastischen Behandlung der Skoliose (Groupe Européen Kinésithérapie Travail sur la Scoliose, GEKTS), deren Mitglieder sich jährlich auf wissenschaftlichen Kongressen zur Weiterentwicklung der physiotherapeutischen Ansätze austauschten. Diese Gruppe ist später in der SIRER (Société Internationale de Recherches et d’Etudes sur le Rachis) aufgegangen, wobei die Skoliosebehandlung ein Schwerpunkt LESEPROBE

geblieben ist. Durch die Sprachbarriere haben sich nur wenige Kontakte dieser ursprünglich französischsprachigen Gesellschaft zu deutschen oder englischsprachigen Spezialisten ergeben. Heute gibt es eine internationale Akademie (Schroth Best Practice Academy), die es sich ursprünglich zur Aufgabe gemacht hat, den konservativen Behandlungsstandard international zu verbessern. Einleitung In Deutschland selbst gab es eine Vielzahl krankengymnastischer Behandlungsansätze. Letztendlich haben sich die Behandlungsverfahren auf entwicklungskinesiologischer Grundlage (Vojta und E-Technik) zur Frühbehandlung der Skoliose und die dreidimensionale Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth® auch für die prognostisch ungünstigeren Fälle sowie begleitend zur Korsetttherapie durchgesetzt. Das PEP-Verfahren (peripher evozierte Posturalreaktion), das in diesem Buch beschrieben ist, wird heutzutage vor allem bei Kindern unter zehn Jahren in der Frühbehandlung angewendet. Neuere Erkenntnisse zur Korrigierbarkeit der Skoliosen (van Loon et al. 2008) lassen den Schluss zu, dass sowohl die Seitverbiegung der Wirbelsäule als auch die Wirbelsäulenrotation durch eine einfache Korrekturbewegung vermindert werden können. Allein durch Verstärkung der lumbalen Lordose auf Höhe des 2. Lendenwirbelkörpers, in Verbindung mit einer Verstärkung der Kyphose im unteren Brustkorbbereich, wird eine Verringerung der Seitverbiegung möglich. Dementsprechend werden neuerdings vermehrt Übungen zur Korrektur des Sagittalprofils in das Schroth-Konzept integriert. Die sogenannten „physio-logic®“-Übungen haben bei zusätzlicher Anwendung im Rahmen der stationären Rehabilitation das Behandlungsergebnis in erheblichem Maße verbessert (Weiss und Klein 2006). Die Langzeitprognose der idiopathischen Adoleszentenskoliose quoad vitam ist insgesamt günstig (Weiss et al. 2016a). Die Zeichen und Symptome einer idiopathischen Skoliose, auch geringeren Ausmaßes (Hawes und O’Brien 2006), müssen jedoch aufgrund ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung (vermehrte Krankheitsanfälligkeit, Arbeitsunfähigkeit) Zielparameter der konservativen Skoliosebehandlung sein. Im Langzeitvergleich haben operierte und korsettbehandelte Skoliosepatienten mit vermehrtem Verschleiß und – nach aktuellen Untersuchungen – mit einer leicht erhöhten Schmerzinzidenz zu rechnen (Danielson und Nachemson 2001, Danielsson et al. 2001, Weiss et al. 2016a). Die Beeinträchtigungen durch die Skoliose sind im Langzeitverlauf für operierte und nicht operierte Patienten nach älteren Untersuchungen gleich stark. Den Beeinträchtigungen (Funktionsverlust, Reduktion des allgemeinen Gesundheitszustandes, erhöhte Schmerzinzidenz, Beeinträchtigung der Lungenfunktion) kann also nicht durch eine Operation vorgebeugt werden. 19 Durch aktuellere Cochrane-Reviews von Romano et al. (2012) und Negrini et al. (2010) ist nachgewiesen, dass sowohl die Physiotherapie bei Skoliose, als auch die Korsettversorgung als evidenzbasierte Behandlungsverfahren gelten. Interessant ist in diesem Zusammenhang die randomisierte, kontrollierte Untersuchung (RCT) aus China, nach der auch unspezifische Übungen bei reiferen Jugendlichen offenbar eine positive Wirkung auf Skoliosen haben (Wan et al. 2005). LESEPROBE

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Mittlerweile wurden einige RCTs zur konservativen Behandlung veröffentlicht: drei zu korrigierenden Übungen (Monticone et al. 2014, Schreiber et al. 2015, Kuru et al. 2016) und eine zur Korsettbehandlung (Weinstein et al. 2013). Ferner gibt es eine Metaanalyse zur konservativen Behandlung der Skoliose (Anwer et al. 2015). Die konservative Skoliosebehandlung ist somit auf Stufe-I-Evidenz basiert. In mehreren systematischen Reviews kam zutage, dass die konservativen Behandlungsmaßnahmen als wirksam eingeschätzt werden können, die operativen Behandlungsverfahren jedoch nicht (Weiss und Goodall 2008, Westrik und Ward 2011, Weiss et al. 2013, Bettany-Saltikov et al. 2015, Bettany-Saltikov et al. 2016, Weiss et al. 2021). Somit können wir uns mit Selbstbewusstsein der konservativen Behandlung der Skoliose widmen, zumal wesentliche Nebenwirkungen und Risiken für konservative Behandlungsverfahren nicht beschrieben sind. Die idiopathischen Skoliosen werden eingeteilt in die infantile Skoliose, die juvenile Skoliose, sowie die Adoleszentenskoliose (Winter 1995, Kruzel und Moramarco 2020). An dieser Stelle sollen allerdings auch die weniger häufigen Skolioseformen kurz umrissen werden.

Grob eingeteilt werden die Skoliosen in: • idiopathische Skoliosen, • neuromuskuläre Skoliosen (neuropathisch, myopathisch), • kongenitale Skoliosen, • Skoliosen bei Neurofibromatose, • Skoliosen bei mesenchymalen Veränderungen (Marfan, Ehlers-Danlos und andere), • Osteochondrodystrophien und • andere seltene symptomatische Skoliosen (Winter 1995, Chik 2020).

Allerdings spielen nach den Erfahrungen des Erstautors auch Gendefekte (z. B. das Prader-Willi-Syndrom, Abbildung 5) eine Rolle (Weiss und Goodall 2009). Der Definition gemäß sind idiopathische Skoliosen Wirbelsäulenverkrümmungen bei ansonsten gesunden Kindern oder Jugendlichen. Demgegenüber können wir die anderen Skolioseformen als symptomatische oder auch syndromatische Skoliosen bezeichnen, da diese in direktem Zusammenhang mit einer Grunderkrankung auftreten.

Neuromuskuläre Skoliosen sind beispielsweise Skoliosen in Zusammenhang mit einer Störung im Bereich des Nervensystems (neuropathisch), wie bei der Zerebralparese oder auch der Meningomyelocele (Abbildung 6). Eine Unterform der myopathischen Skoliosen sind zum Beispiel die Skoliose bei Muskeldystrophie oder bei Arthrogryposis Multiplex Congenita (AMC). Die Skoliose bei Neurofibromatose ist gekennzeichnet durch rasch progrediente Verläufe. Typisch sind die Flecken auf der Haut, deren Farbe Milchkaffee ähnelt (Abbildung 6). LESEPROBE

Die Prognose der symptomatischen Skoliosen ist auch innerhalb der einzelnen Skolioseformen recht unterschiedlich und damit schwer vorhersagbar. Daher sind im Wachstumsalter wie bei der idiopathischen Skoliose Verlaufskontrollen in 3-monatigen Abständen angebracht. Bei optimaler konservativer Behandlung ist die operative Behandlung nicht primär indiziert, zumal es hierzu ohnehin keine Evidenz (Cheuk et al. 2012, Weiss et al. 2021), aber Berichte über hohe Komplikationsraten gibt (Weiss und Goodall 2008).

Abbildung 5: Patienten mit Prader-Willi-Syndrom. Es handelt sich um einen Gendefekt mit unterschiedlicher Expression. Im Allgemeinen besteht Übergewicht und ein fast unstillbarer Heißhunger. Obwohl eher kleinwüchsig, entwickeln Patienten mit Prader-Willi-Syndrom oftmals beträchtliche Skoliosen (Weiss und Goddall 2009).

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21 Abbildung 6: Spina Bifida, Neurofibromatosis, AMC (v. links nach rechts). Unterschiedliche Skolioseformen. Links gehfähiger Patient mit einer Meningomyelocele ohne Hautdefekt, aber mit deutlicher Haarbildung im Bereich der Haut über der Fehlbildung. Mitte: Thorakal rechtskonvexe Skoliose bei einem Jungen mit Neurofibromatose. Typisch sind Hautflecken, deren Farbe Milchkaffee ähnelt. Rechts Junge mit Arthrogryposis Multiplex Congenita (AMC) mit der typischen Kyphoskoliose. LESEPROBE

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Bei den kongenitalen Skoliosen sind die Formationsstörungen (Keil-, Halbwirbel) von den Segmentationsstörungen (einseitige Stabbildung, Rippensynostosen) zu unterscheiden. Oft kommen Formationsstörungen gemeinsam mit Segmentationstörungen vor. Die kongenitalen Skoliosen sind vielfach gutartig und bedürfen oft überhaupt keiner Behandlung (Abbildungen 7 und 8). Segmentationsstörungen sind nicht immer progredient, auch wenn bei mehrsegmentalen Synostosen eher von einer ungünstigen Prognose ausgegangen werden muss (Abbildung 9). Vom klinischen Erscheinungsbild her sind kongenitale Skoliosen mitunter unauffällig (Abbildungen 7 und 8), können aber besonders im Zusammenhang mit Segmentationsstörungen zu beträchtlichen Deformitäten führen (Abbildung 10). Somit besteht auch bezüglich der symptomatischen oder syndromatischen Skoliosen primär eine konservative Behandlungsindikation, wobei auch hier in Phasen verstärkten Wachstums die Korsettversorgung und in Phasen geringerer Wachstumserwartung die spezifische Physiotherapie im Vordergrund steht (Weiss und Goodall 2009, Weiss 2012, Kaspiris et al. 2011). Die vielfach propagierte frühe operative Behandlung der kongenitalen Skoliose ist bei balancierten Deformitäten meist unnötig und bei größeren Deformitäten nicht grundsätzlich erfolgreich (Abbildung 11). Die hohe Komplikationsrate bezüglich der operativen Behandlung (Weiss und Goodall 2008) und die mangelnde Evidenz hinsichtlich postoperativer Langzeitverläufe bis zum Wachstumsabschluss (Kaspiris et al. 2011) sprechen gegen eine primäre operative Indikation bei Patienten mit kongenitaler Skoliose.

Abbildung 7: Mädchen mit kongenitaler Skoliose ohne jegliche Behandlung links im radiologischen Verlauf zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr ohne Progression. Rechts das klinische Bild bei Behandlungsabschluss (Kaspiris et al. 2011). LESEPROBE

Abbildung 8: Monozygote Zwillinge mit kongenitaler Skoliose unterschiedlicher Form und Ausprägung im Röntgenbild, klinisch ohne wesentliche Deformität und damit bei der bereits bestehenden Ausreifung nicht behandlungsbedürftig (Kaspiris et al. 2008).

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23 Abbildung 9: Zwei Patienten mit kongenitaler Skoliose und Rippensynostosen (RS). Die Wirbelsäule der Patientin auf der linken Seite ist nach weitgehend knöcherner Ausreifung trotz der nachgewiesenen Rippensynostosen fast gerade. Rechts mehrsegmentale Rippensynostosen mit ausgeprägter Deformität. LESEPROBE

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Abbildung 10: Links ein junger Mann mit einer Formationsstörung thorakolumbal. Auffällig ist die thorakolumbale Kyphose im betroffenen Wirbelsäulenabschnitt, während die Seitabweichung nicht stark auffällt. Rechts Adoleszente mit Rippensynostosen (s. a. Abbildung 9 rechts) und ausgeprägter Deformität. Bei dieser Patientin hatte der Erstautor eine Operationsindikation gestellt. Die Operation wurde nach erfolgter MRT-Untersuchung von den Wirbelsäulenchirurgen aus Gründen des beträchtlichen neurologischen Risikos abgelehnt.

Abbildung 11: Kleinkind mit einer kongenitalen Skoliose von initial 60° Cobb nach Operation mit Progredienz auf 85° und mit Verstärkung der lumbalen Kyphose. LESEPROBE

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„Katharina Schroth wollte die Skoliose durch eine Veränderung des Körpergefühls beeinflussen.“LESEPROBE

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