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8. Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung
LESEPROBE
Mit dem Begriff „Biofeedback“ wird eine Methode bezeichnet, bei der Veränderungen von Körperfunktionen (z. B. Puls, Blutdruck, Atmung, Muskelspannung, EEG), die der unmittelbaren Sinneswahrnehmung nicht zugänglich sind, mit technischen (oft elektronischen) Hilfsmitteln beobachtbar und damit dem eigenen Bewusstsein zugänglich gemacht werden. Biofeedback weist eine inhaltliche Nähe zu verhaltenstherapeutischen und lerntheoretischen Ansätzen auf. Die Einsatzmöglichkeiten der Behandlungstechnik sind vielfältig. Es wird zur Entspannung aber auch in der Rehabilitation eingesetzt (Rief und Bierbaumer 2011). Körpereigene Regelungsmechanismen sind dem Bewusstsein häufig nicht direkt zugänglich, sodass bei einer Fehlregulation auch nicht bewusst auf die Regelungsmechanismen eingewirkt werden kann. Biofeedback dient unter anderem dazu, eine Körperfunktion dem Bewusstsein mittels physiologischer Messungen zugänglich zu machen (vgl. Wikipedia). Der Patient versucht, durch diese Rückkopplung, beispielsweise in der Skoliosebehandlung, eine Verbesserung der Haltungsregulation zu erzielen.
Schon vor mehr als 100 Jahren wurden Apparate zur Skoliosebehandlung genutzt. Teils zur Unterstützung der Physiotherapie, teils als Gradehalter (Abbildung 142). Einige Korrekturapparate hatten den Charakter eines Korsetts, andere wurden als Korrekturhilfen für Übungen eingesetzt (Schanz 1904; Weiss 2013). Katharina Schroth führte 1921 eine neue Art Biofeedback in die Skoliosebehandlung ein. Die bestmögliche Haltungskorrektur sollte mithilfe der beschriebenen Übungen erzielt werden. Das Empfinden für die bestmögliche Haltung – das „Haltungsbewusstsein“ – wurde über die Kontrolle der im Spiegelbild sichtbaren Korrekturen erarbeitet (vgl. Kapitel „Geschichte“). Am Spiegelbild lässt sich somit das HaltungsBiofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung bewusstsein in Abhängigkeit von der jeweiligen Korrekturposition derart skalieren, dass der Grad an Korrektur nach einer gewissen Einübungszeit im täglichen Leben auch ohne Spiegelkontrolle sicher bestimmt werden kann. Biofeedbacksysteme im eigentlichen Sinne (Rief und Bierbaumer 2011) wurden allerdings erst seit den 80ern des letzten Jahrhunderts beschrieben (Dworkin et al. 1985; Nowotny et al. 1987; Bogdanov et al. 1990; Weiss und Michely 1992; Birbaumer et al. 1994; Wong et al. 2002; Bazzarelli et al. 2002). Durchgesetzt haben sich Biofeedbacksysteme in der Skoliosebehandlung jedoch bislang nicht. Zum Teil lag dies auch daran, dass die Apparaturen recht unbequem zu tragen waren und auch größere Gehäuse zur Aufnahme der Elektronik benötigten, welche mit dem System am Körper getragen werden mussten (Abbildung 143). Elektromyographie-basierte Untersuchungen und Methoden zur Verbesserung der 205 Haltungskorrektur wurden schon im letzten Jahrhundert in der Skoliosebehandlung angewendet (Weiss 1991; siehe auch Abbildung 144). In der Anfangszeit waren solche Anwendungen auch wegen der damals noch nötigen großen Apparaturen (Weiss 1993) sehr aufwendig (Abbildung 145). Heute könnten sie eine Renaissance erleben, wo die EMG-Geräte klein und handlich geworden sind und teils gar ohne Kabel auskommen, was auch Ganganalysen mit EMG-Feedback möglich macht. LESEPROBE
Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung
Abbildung 142: Korrekturapparate, teils aus dem 19. Jahrhundert. Diese wurden als Gradehalter oder zur Unterstützung der Physiotherapie eingesetzt, aber auch als Korsett (Schanz 1904; Weiss 2013).
Abbildung 143: Links die Schemazeichnung eines Biofeedbacksystems (modifiziert nach Dworkin et al. 1985). Das System wurde im Wesentlichen als Längenmess-System in der Skoliosebehandlung als auch in der Kyphosebehandlung verwendet. Unbequem war die Führung der longitudinalen Mess-Schlaufe durch den Schritt und der vor der Brust angebrachte Kasten zur Aufnahme der Messelektronik. Rechts die Schemazeichnung eines weiteren Systems, welches mithilfe eines Sensors die Biegung in der Konkavität einer Krümmung messen sollte (Weiss und Michely 1992).LESEPROBE
Abbildung 144: Unterstützung der spezifischen Physiotherapie durch EMG. Ganz links EMG-Vierfachableitung im ruhigen Stand. Abgeleitet wurden (A) Erector Spinae (ES) thorakal konvexseitig auf Höhe des Krümmungsscheitels, (B) ES thorakal konkavseitig auf Höhe des Krümmungsscheitels, (C) intrinsisch lumbaler Anteil des ES lumbal konvexseitig im Faserverlauf und (D) intrinsisch lumbaler Anteil des ES lumbal konkavseitig im Faserverlauf. Mitte: Aktivitätsmuster in der Übung Muskelzylinder. Rechts: Übung beispielhaft ausgeführt mit sowohl lumbaler als auch thorakaler klinischer Überkorrektur bei einer Patientin mit rechts thorakaler Krümmung über 50° Cobb (EMG-Ableitungen aus Weiss 1991).
Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung
207 Abbildung 145: Standardisierter Aufrichteversuch (Ableitpositionen wie auf Abbildung 144) zur Verlaufskontrolle in der Rehabilitation (Weiss 1993). LESEPROBE
Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung Mechanisches Biofeedbacksystem
Im Jahr 2011 wurde ein neues mechanisches Biofeedbacksystem entwickelt (Abbildung 146). Bei dieser Entwicklung kamen die bewährten Korrekturprinzipien des Schroth Best Practice-Programms® zur Anwendung (vgl. Kapitel „3D einfach gemacht“). Das Bandmaterial des Spinealite®-Biofeedbacksystems ist von end-elastischer Qualität und besitzt daher (im Gegensatz zu vollelastischen Gurtsystemen) bei Dauerbeanspruchung eine gute Rückhaltekraft, die auch bei mehrmonatiger Daueranwendung nicht verloren geht. Die Korrekturstärke des Systems und damit auch die Zugstärke lassen sich einstellen. Bei optimaler Einstellung hat das System einen ausgezeichneten Korrektureffekt (Abbildung 147), welcher radiologisch belegt werden konnte (Weiss 2013). Bei geringerer Korrektur ist das System nur wenig spürbar, bei maximal eingestellter Korrektur entsteht ein relativ starker Zug an der Schulter. Bei nächtlichem Tragen im Schlaf oder auch ansonsten bei bewusstlosen Patienten kann die Wirkungsweise nicht gesichert werden und eine Fehlanwendung ist möglich. Daher wird dieses Biofeedbacksystem im Unterschied zu Korsetten nur in den Wachphasen und bei Patienten ohne Bewusstseinseintrübung angewendet. Aus diesem Grunde sprechen wir auch nicht von einem Korsett, welches beispielsweise auch im Schlaf getragen werden kann. Der Biofeedback-Charakter des Systems ist dadurch gegeben, dass bei Fehlhaltung (beim Hängen in der Krümmung) der Schulterzug im System stärker und damit der Tragekomfort schlechter wird. Es werden also ein aversiver Reiz mit der Fehlhaltung und ein angenehmes Gefühl mit der Korrekturhaltung verbunden. Durch zunehmende Gewöhnung an den Korrekturzug tritt der Biofeedback-Charakter immer mehr in den Hintergrund, es wird zunehmend zu einem Korrektursystem. Daher kann es auch zur Entlastung größerer bzw. dekompensierter Krümmungen oder möglicherweise auch zur Wachstumslenkung, gemeinsam mit Hartschalenkorsetten, eingesetzt werden. Wir empfahlen, die Korrektur im Spinealite®-Biofeedbacksystem zunächst auf einen Bereich zu begrenzen, der gut vertragen wird, und alle 2–3 Tage oder auch nur wöchentlich zu steigern, bis die volle Korrektur erreicht war. Dies konnte nach vorheriger ordnungsgemäßer Einweisung der Patienten bzw. deren Eltern sowie durch einen sachverständigen Spezialisten leicht zu Hause durchgeführt werden.
Man verwendete das Spinealite® im Wachstumsschub ergänzend zu hoch korrigierenden Hartschalenkorsetten für bis zu 12 Stunden täglich. Positive Erfahrungen in der Behandlung dekompensierter und schmerzhafter Erwachsenenskoliosen sind bereits gemacht worden. In der Behandlung der Erwachsenenskoliose versuchte man, die durch Dekompensation verursachte asymmetrische Haltearbeit der Rumpfmuskulatur zu verringern. Dies gelingt bereits bei nur leicht korrigierender Einstellung. Durch die Entlastung von der Haltearbeit kann Schmerzen vorgebeugt werden. Ferner verringert die sachgerechte Anwendung des Spinealite®-Biofeedbacksystems die frühe Ermüdung der Betroffenen im Alltag. Allerdings hat sich dieses System nicht durchgesetzt und ist daher als Medizinprodukt vom Markt genommen worden. Momentan wird keines der beschriebenen apparativen Biofeedbacksysteme systematisch angewendet. LESEPROBE
Abbildung 146: Prototyp des Spinealite®-Biofeedbacksystems in der Anwendung für eine thorakal rechtskonvexe Krümmung mit lumbal linkskonvexer Gegenkrümmung.
Biofeedback in der Physiotherapie bei der Skoliosebehandlung
209 Abbildung 147: Oben: Korrektureffekt im Spinealite®-Biofeedbacksystem bei einer Patientin mit Adoleszenter Idiopathischer Skoliose (AIS) und einer Thorakalkrümmung von 27° nach Cobb sowie einer Überkorrektur im Biofeedbacksystem. Unten: Das Spinealite®-Biofeedbacksystem in der Ansicht ohne Patient. LESEPROBE