5 minute read
9.2 Korsettversorgung bei nicht idiopathischen Skoliosen
Die Korsettbehandlung
Abbildung 172: Neueste Technologie: Gensingen Brace (GBW) aus dem 3D-Drucker, hergestellt in China (Xiaofeng Nan). Dieses Korsett ermöglichte die vollständige Korrektur beider Krümmungen (thorakal und lumbal).
Zukünftige Entwicklungen in der Korsettversorgung – ein Ausblick
Mit Einzug der CAD-Technik ist es möglich geworden, die Korrekturen bis an die Grenze des Möglichen zu verstärken (Abbildung 172). Weitergehende Rumpfverschiebungen könnten allerdings im Alltag stark auffallen und die Betroffenen davon abhalten, ein solches „schiefes“ Korsett auch in der Schule zu tragen. Mit den Möglichkeiten des 3D-Drucks ergeben sich für die Korsettversorgung vielfältige Möglichkeiten. Bislang haben gedruckte Korsette keine Vorteile gegenüber Korsetts, die auf einem 3D-Fräsmodell tiefgezogenen werden. Das gesamte Potenzial des 3D-Drucks entfaltet sich erst durch gezielte Variationen der Wandstärke, durch die Kombination unterschiedlicher Materialien und unterschiedlicher Texturen.
Die meisten Berichte zur Korsettversorgung betreffen Patienten mit idiopathischer Skoliose. Wenig ist bekannt über die Effekte einer Korsettversorgung auf symptomatische oder syndromatische Skoliosen (siehe auch Kapitel „Einleitung“). Symptomatische/syndromatische Skoliosen (Winter 1995; Chik 2020) haben nach den Erfahrungen des Erstautors bei der Korsettversorgung meist eine ungünstigere Prognose. Lediglich die balancierten Formationsstörungen kongenitaler Skoliosen bedürfen häufig keiner Korsettversorgung. LESEPROBE
Die Korsettbehandlung
Abbildung 173: Ein zweijähriges Mädchen mit Marfan-Syndrom wurde dem Erstautor mit einer double-major-Krümmung von 20° Cobb vorgestellt. Zunächst erfolgte die Verlaufskontrolle. Innerhalb von 6 Monaten zeigte sich eine Progression auf 50° Cobb. Umgehend wurde eine spezifische CAD-/CAM-Chêneau-Korsettversorgung eingeleitet. Die Krümmung konnte unter dieser konsequenten Behandlung auf 24° ohne Korsett im Alter von 4,6 Jahren reduziert werden.
Im Lichte der aktuellen Erkenntnisse über die verfügbaren Langzeitergebnisse der Skolioseoperation, der Erkenntnisse über die mittelfristig hohe Komplikationsrate und die fehlende Evidenz der Skolioseoperation (Weiss et al. 2021b) müssen auch bei den symptomatischen/syndromatischen Skoliosen die konservativen Behandlungsmaßnahmen – genau wie bei der idiopathischen Skoliose – in den Vordergrund gerückt werden. Aufgrund der Seltenheit der einzelnen Krankheitsbilder, die mit einer Skoliose einhergehen können, gibt es für diese keine umfassenderen Untersuchungen zur konservativen Behandlung. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass symptomatische/ syndromatische Skoliosen häufig früh operiert werden – und das mit ungewissem Ausgang. Allerdings gibt es einzelne ermutigende Falldarstellungen zur Korsettversorgung (Abbildung 173) bei Patienten mit ungünstiger Prognose und nachgewiesener Progredienz vor Behandlungsbeginn (Weiss 2012). 239 Bei kongenitalen Skoliosen sind die Korrekturergebnisse in den Korsetten aktuellen CAD-/CAM-Standards naturgemäß nicht so bedeutsam wie bei den idiopathischen Skoliosen (Abbildung 174). Es gibt gerade bei den kongenitalen Skoliosen einige Fälle, die auch nach einer Operation noch progredient sind. Die Frage ist, ob man vor einer erneuten Operation nicht eine hochkorrigierende Korsettversorgung (wie eigentlich primär indiziert) versuchen sollte. Auf den Abbildungen 175 und 176 sieht man einen Jungen mit kongenitaler Skoliose progredient nach Operation, dem zunächst ein CAD-/CAM-Korsett mit reduziertem Korrektureffekt angepasst worden war, um LESEPROBE
Die Korsettbehandlung
Abbildung 174: Guter Korrektureffekt bei einer kleinen Patientin mit kongenitaler Formationsstörung (Halbwirbel thorakolumbal).
Abbildung 175: Junge mit kongenitaler Skoliose progredient nach Operation, dem zunächst ein CAD-/CAM-Korsett mit reduziertem Korrektureffekt angepasst worden war, um herauszufinden, ob eine Teilkorrektur bei postoperativem Zustand eine Komplikation verursachen würde. Unter dieser Behandlung ergaben sich zwar keine Komplikationen, allerdings eine Krümmungszunahme, welche dann mit einem Gensingen Brace® und gutem Shift gestoppt werden konnte.LESEPROBE
Abbildung 176: Zweites Korsett für den Jungen aus Abbildung 175. Mit dieser Versorgung wurde die Progression zunächst gestoppt.
Die Korsettbehandlung
241 Abbildung 177: Junge mit ausgeprägter Skoliose bei Neurofibromatose. Deutliche Dekompensation der Thorakalkrümmung nach rechts. Im in den USA gefertigten Gensingen Brace® (Scoliosis 3DC) deutlich sichtbare klinische Korrektur. LESEPROBE
Die Korsettbehandlung
herauszufinden, ob eine Teilkorrektur bei postoperativem Zustand eine Komplikation verursachen würde. Unter dieser Behandlung ergaben sich zwar keine Komplikationen, allerdings eine Krümmungszunahme, welche dann durch die Versorgung mit einem Gensingen Brace® mit gutem Shift gestoppt werden konnte. Mit Korsetten des aktuellen CAD-/CAM-Standards lassen sich auch kleinere Kinder optimal behandeln. Vor allem jüngere Patienten mit symptomatischen/syndromatischen Skoliosen haben gute Korrekturergebnisse und vergleichsweise geringe Probleme oder Eingewöhnungsschwierigkeiten. Auf Abbildung 177 sieht man einen Jungen mit ausgeprägter Deformität bei Neurofibromatose, welcher das Gensingen Brace® bei der Anpassung ausgesprochen gut tolerierte. Wie auch bei der idiopathischen Skoliose, sollten die symptomatischen/syndromatischen Skoliosen sowohl bei der Physiotherapie als auch bei der Korsettversorgung spezifisch, d. h. mustergenau behandelt werden. Vordringlich erscheint hier bei Behandlungsabschluss nicht unbedingt das Röntgenbild, sondern eine ungestörte, kosmetisch unauffällige Rumpfsilhouette (Abbildung 178). Das zu erzielen, ist die eigentliche Kunst bei der Auswahl der geeigneten therapeutischen Mittel (Weiss und Moramarco 2013). Die befundgerechte Physiotherapie bei Skoliose verwendet dieselben Korrekturprinzipien wie die mustergerechte Korsettversorgung. Die verwendeten Korrekturprinzipien sind über eine jahrzehntelange Erfahrung in der physiotherapeutischen Behandlung, durch vielfältiges Experimentieren mit den Korrekturmöglichkeiten, aber hauptsächlich durch die Auswertung von mehreren 10.000 Röntgenuntersuchungen unter Korsettversorgung mit Evaluation der Korrektureffekte entstanden. Daher kann das in diesem Buch beschriebene „Best Practice“-Programm, ebenso wie die spezifische, dem individuellen Krümmungsmuster entsprechende Korsettversorgung nach dem „Best Practice“-Standard (Gensingen Brace®) als aktuelle, evidenzbasierte Entwicklung (Borysov und Borysov 2012; Pugacheva 2012; Lee 2014; Weiss et al. 2017; Weiss et al. 2019; Weiss et al. 2021a) auf dem Fundament umfangreicher empirischer Erfahrung angesehen werden. Die konservative Skoliosebehandlung nach dem „Best Practice“-Standard ist ein zeitsparender, einfacher und zudem effektiver Behandlungsansatz, welcher von den Betroffenen ausgezeichnet angenommen wird (Weiss und Seibel 2010; Borysov und Borysov 2012; Pugacheva 2012; Lee 2014).
242
LESEPROBE
Die Korsettbehandlung
Jan. 2008 Nov. 2008 Juli 2008 Aug. 2008 Nov. 2008
Abbildung 178: Links unreifes Mädchen mit dekompensierter Thorakalkrümmung und hohem Progressionsrisiko. Im Verlauf der Behandlung mit spezifischen Chêneau-Orthesen und seit 2009 mit dem Gensingen Brace® deutliche Rekompensation bei abschließend unauffälliger Rumpfform nach vollständiger Ausreifung, obwohl die Patientin nicht immer die volle Compliance aufwies.
Übersichtsarbeit zur Korsettversorgung bei Skoliosen.
Falldarstellung einer Patientin im Hauptwachstumsschub mit einer schweren Narbenskoliose nach zweimaliger Herzoperation im frühen Kindesalter.