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3. Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose eine kritische Einschätzung

3. Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung

3.1 Die Schroth-Methode und das Schroth Best Practice-Programm®

3.2 Mobilisation und Chirotherapie

3.3 Unbewiesene Methoden oder Methoden mit möglichen Kontraindikationen 68 71 72 LESEPROBE

„Heute weiß man, dass passive Traktionen in der Tat riskant sein können.“

LESEPROBE

Wie bereits bekannt, ist die Skoliose eine dreidimensionale Fehlstellung der Wirbelsäule und des Rumpfes, die sich im Wachstumsalter schnell verschlechtern kann (Asher und Burton 2006; Goldberg et al. 2002; Hawes und O’Brien 2006; Weiss et al. 2016a). Obwohl eine Skoliose Symptom bestimmter Krankheiten sein kann (z. B. neuromuskuläre oder angeborene Skoliose, Skoliose bei Syndromen oder Tumoren), wird der Großteil aller Skoliosen (80–90 %) als idiopathisch bezeichnet, da nach wie vor keine der Deformität zugrunde liegende Ursache bekannt ist (Weiss et al. 2016b). Bei einer symptomatischen Skoliose hängt die Therapie hauptsächlich von der eigentlichen Ursache ab. Die Behandlung der sogenannten idiopathischen Skoliose hängt von der Fehlstellung selbst ab. Da sich die meisten Formen der Skoliose im Wachstumsalter entwickeln, liegt das Hauptziel darin, die Krümmungszunahme zu stoppen (Asher und Burton 2006; Goldberg et al. 2002; Hawes und O’Brien 2006; Weiss und Moramarco 2013; Weiss et al. 2016a; Weiss et al. 2016c). Um die Studien zur Skoliose bei Kindern und Jugendlichen verstehen und interpretieren zu können, ist es notwendig, Kenntnisse zur Wachstumsdynamik im Kindes- und Jugendalter zu besitzen (Weiss 2012). Kinder und Jugendliche wachsen in manchen Wachstumsphasen schneller als in anderen. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich Krümmungen in Phasen vermehrten Wachstums verschlechtern (Asher und Burton 2006; Goldberg et al. 2002; Hawes und O’Brien 2006 – Abbildung 44). Die erste Wachstumsphase im Kindesalter endet mit fünfeinhalb bis sechs Jahren. Darauf folgt eine Phase geringerer Wachstumsdynamik, die mit den ersten Anzeichen der Pubertät endet. Mit dem sichtbaren Brustansatz bei Mädchen und den ersten Schamhaaren beginnt die Wachstumsphase der Pubertät (P1–P5). In dieser Zeit kann eine Skoliose neu auftreten oder eine vorhandene Krümmung kann sich weiter verschlechtern (Goldberg et al. 2002). Kurz nach dem Höhepunkt der Wachstumsphase (P3) – sie äußert sich in der ersten Regelblutung bei Mädchen und dem Stimmbruch bei Jungen – lässt das Wachstum langsam nach, bis es schließlich zum Stillstand (P5) kommt und in die Skelettreife mündet (Weiss 2012). Für Patienten mit idiopathischer Adolezentenskoliose kann das Progressionsrisiko unter Berücksichtigung des Cobb-Winkels (Cobb 1948) mithilfe der Formel nach Lonstein und Carlson (1984) berechnet werden. Nach dieser Formel werden die Behandlungsmöglichkeiten für noch heranwachsende Skoliosepatienten bestimmt Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung (Abbildung 45). Die daraus hervorgehenden Richtlinien wurden von führenden Mitgliedern der SOSORT (Internationale Gesellschaft für Orthopädische und Rehabilitationsbehandlung bei Skoliose, Weiss et al. 2006) aufgestellt, um eine Überbehandlung oder auch eine Unterbehandlung zu vermeiden. Der Progressionsfaktor (PF), als Ergebnis dieser Formel, kann auf der Korrelations63 tafel abgelesen werden und dazu dienen, den Prozentsatz des bestehenden Progressionsrisikos zu bestimmen (Abbildung 45). Die entsprechende Schätzung kann ein Indikator für eine Behandlung im Wachstumsalter sein, wie in den internationalen Leitlinien und auch hier im Kapitel „Leitlinien: Indikation zur Behandlung von Skoliosen“ dargestellt (Weiss et al. 2006). Um das Progressionsrisiko bestimmen zu können, muss man das Risser-Zeichen oder die Abbildung der Beckenkammapophyse auf dem Röntgenbild (Risser 1958) LESEPROBE

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einbeziehen. Die Einteilung von Risser geht von Null bis Fünf. Im Durchschnitt haben Mädchen vor Eintritt der ersten Regelblutung Risser 0. Nach Einsetzen der ersten Regel bzw. des Stimmbruchs schreitet das Risser-Zeichen durch die Entwicklung der Knochen voran (Risser 1-5). Das Risser-Zeichen entwickelt sich von Mensch zu Mensch recht unterschiedlich, aber klinische Studien zeigen, dass ein 14-jähriges Mädchen für gewöhnlich ein Risser-Stadium von 3, manchmal auch 4, hat, während eine 15-Jährige ein Risser-Stadium von 4, manchmal auch 5, aufweist. Hier nun exemplarisch zwei Beispiele für die Berechnung des Progressionsfaktors: • Ein 10-jähriges Mädchen mit einem Cobb-Winkel von 20° und einem Risser-

Zeichen von 0 hat einen Progressionsfaktor von 2. Die Korrelationstafel zeigt ein 90%iges Progressionsrisiko. • Ein 15-jähriges Mädchen mit einem Cobb-Winkel von 20° dürfte bereits vor zweieinhalb Jahren ihre erste Regelblutung bekommen haben und ein Risser-

Zeichen von 4 aufweisen. In diesem Fall wäre der Progressionsfaktor 0,53, was ein geringes Progressionsrisiko anzeigt (Abbildung 45).

cm/Jahr Durchschnittliche Patientenverteilung aus einigen Studien

Jahr

Wachstumsrate (Körperlänge) für Mädchen

Abbildung 44: Geschätzte Wachstumsrate (Körperlänge) für Mädchen. Die Grafik zeigt, dass noch nicht ausgewachsene Menschen zwei Wachstumsschübe erleben. Der erste kann als Baby-Schub mit deszendierender Charakteristik bezeichnet werden (0 bis etwa 6 Jahre). Die andere Wachstumsphase findet während der Pubertät statt (etwa 10 bis 13 Jahre). Zwischen diesen beiden Phasen schnelleren Wachstums liegt eine flache Phase, in der das Progressionsrisiko geringer ist. Die durchschnittliche Patientenverteilung aus einigen Studien zur Physiotherapie in der Skoliosebehandlung (aus Weiss 2012) wird durch Punkte angezeigt. LESEPROBE

Für den behandelnden Spezialisten ist es wichtig zu verstehen, welche Verbindung zwischen Wachstum und Progressionsrisiko besteht. Dies gilt insbesondere bei Patienten mit einem hohen Risiko, wenn der behandelnde Arzt die Behandlungsindikation zu treffen hat (siehe auch Kapitel „Leitlinien: Indikation zur Behandlung von Skoliosen“). Der Therapeut muss die Grenzen der Behandlungsmethoden kennen, um zu entscheiden, ob er Physiotherapie alleine verordnet, oder ob bereits eine Korsettindikation besteht.

In einem kritischen Review (Weiss 2012) zeigte sich, dass es keine Langzeitergebnisse zur Physiotherapie bei Skoliose gab (Behandlungsbeginn bei unreifen Patienten/Endergebnisse nach Abschluss des Wachstums; kontrollierte Studien bei Erwachsenen mit Skoliose mit einer Verlaufsbeobachtung über mehr als fünf Jahre). Im Ergebnis fanden sich viele Studien mit fast ausgewachsenen Patienten ohne wesentliches Progressionsrisiko und damit ohne Behandlungsindikation. Es gab allerdings auch Studien mit unreifen Patientengruppen und geringen Krümmungen, ebenfalls ohne jegliche Behandlungsindikation (Abbildung 45). Aus Studien mit derartigen

% Inzidenz der Krümmungszunahme

Korsettbehandlung

Physiotherapie

Verlaufskontrolle

Inzidenz der Krümmungszunahme entsprechend dem Progressionsfaktor kalkuliert nach folgender Formel

Cobb-Winkel – (3 × Risser-Stadium) ---------------------------------------------------------------------------------------------------Chronologisches Alter

= Progressionsfaktor

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Progressionsfaktor

65 Abbildung 45: Das Progressionsrisiko kann nach der Formel von Lonstein und Carlson (1984) berechnet werden. Nach den Indikationsleitlinien (Weiss et al. 2008) muss unterschieden werden zwischen einer Indikation zur Beobachtung (Inzidenz (Risiko) einer Progression 40 %), Indikation zur Physiotherapie (Inzidenz (Risiko) einer Progression 40–60 %), Indikation zum Korsett (Inzidenz (Risiko) einer Progression 60 % und mehr). Man erkennt, dass die Patienten der meisten Studien zur Physiotherapie keine Behandlungsindikation hatten. Sie befanden sich innerhalb eines Risikobereichs, in welchem die Verlaufskontrolle alleine indiziert ist (aus Weiss 2012).LESEPROBE

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Einschlusskriterien lassen sich keine Schlussfolgerungen ableiten, da für Patientengruppen ohne Behandlungsindikation ohnehin keine Verschlechterungstendenz besteht.

Bislang ist die Ursache der idiopathischen Adoleszentenskoliose immer noch ungeklärt. Roaf (1960) behauptet, dass eine Seitausbiegung der Wirbelsäule durch die Schwerkraft zu einer asymmetrischen Belastung der Bandscheiben, zu einer asymmetrischen Muskelaktivität und, gemäß dem Hueter-Volkmann-Prinzip, zu einem asymmetrischen Wachstum der einzelnen Wirbel führt (Weiss und Hawes 2004). Der Mechanismus der Krümmungsprogression im Wachstum wurde im „vicious cycle“-Modell („Teufelskreis-Modell“) beschrieben, wonach eine bestehende Seitabweichung eine asymmetrische Belastung der Wirbelsäule hervorruft. Dies führt zu asymmetrischem Wachstum der Wirbelsäule, zu einem einseitigen Druck auf die Bandscheiben, zu Keil-verformten Wirbelkörpern sowie infolge zu größeren Wirbelsäulendeformitäten (Stokes et al. 2006). Daher sollte man annehmen können, dass korrigierende Übungen einen positiven Einfluss auf die skoliotische Fehlstellung haben. Aktuell wird die Skoliose durch Übungen, durch das Tragen eines korrigierenden Korsetts sowie durch die operative Wirbelsäulenversteifung behandelt (Hawes 2003). Die Übungsbehandlung war 2012 noch nicht hinreichend untersucht und damit umstritten (Mordecai und Dabke 2012; Romano et al. 2012; Weiss 2012). Traditionell lehnten Wirbelsäulenchirurgen jegliche Art der Übungsbehandlung für die Skoliose ab – unabhängig vom Schweregrad der Deformität. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass es nur eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern gab, die sich für die Übungsbehandlung interessierten, und sei es nur, um die Flexibilität der Wirbelsäule aufrechtzuerhalten und die Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten. In den USA fand man quasi keinerlei Studien hierzu. In ihrem Buch „Scoliosis and the Human Spine“ schreibt Hawes von einer langjährigen Voreingenommenheit bezüglich der Übungsbehandlung bei Skoliose im englischsprachigen Raum. Die Autorin führte die Ablehnung jeglicher Frühbehandlung der Skoliose auf einen Interessenkonflikt seitens der Wirbelsäulenchirurgen zurück (Hawes 2003). Wie bereits angesprochen, war die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten zur Übungsbehandlung der Skoliose eher spärlich, insbesondere im Vergleich zum Umfang der Studien zu Operationstechniken und zur Korsettbehandlung. Es wurden Studien höherer Evidenz zum Thema Physiotherapie bei Skoliose gefordert (Mordecai und Dabke 2012; Weiss 2012). Eine Ursache für den Mangel an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zum Thema Physiotherapie bei Skoliose ist sicherlich die mangelnde finanzielle Unterstützung seitens der Universitäten. Die randomisierte kontrollierte Untersuchung (RCT), der Goldstandard in der heutigen Forschung, erfordert eine über Jahre hinweg engagierte Arbeitsgruppe und finanzielle Unterstützung. Es ist allerdings unrealistisch zu erwarten, dass Unternehmen, die mit der Skolioseoperation in Verbindung stehen, sich hier finanziell beteiligen. Unternehmen, deren Einnahmen darauf basieren, dass sich die Anzahl der Wirbelsäulenoperationen mit LESEPROBE

langstreckiger Fusion erhöht, werden sicherlich keine Studien unterstützen, die sich ernsthaft mit der Vermeidung einer Operation befassen (Hawes 2003). Eine systematische Untersuchung der spärlichen Literatur zur Rehabilitation der Skoliose mittels Übungen offenbart recht unterschiedliche und damit nicht vergleichbare Studiendesigns (Fusco et al. 2010; Weiss 2012; Mordecai und Dabke 2012). Außerdem wurden, wie bereits oben beschrieben, in einigen Studien Patientengruppen berücksichtigt, die nach den gängigen Leitlinien überhaupt keine Behandlung benötigen (Abbildungen 44 und 45). In einigen Untersuchungen fanden sich noch unreife Patientengruppen mit einer Krümmung von weniger als 15° Cobb, während in einer randomisierten Untersuchung aus China fast nur nahezu ausgewachsene Mädchen zu finden waren.

Diese chinesische randomisierte kontrollierte Studie (RCT) beinhaltete ein Kollektiv (n = 80) mit einem Durchschnittsalter von 15 Jahren zu Beginn des Beobachtungszeitraums von durchschnittlich sechs Monaten (Wan et al. 2005). Mädchen im Alter von 15 Jahren und einer Krümmung von < 30° haben für gewöhnlich kein bedeutsames Restwachstum mehr und bedürfen nicht mehr unbedingt einer Behandlung. Diese Studie mit dem wichtigsten Studiendesign (RCT) kann also nichts Wesentliches zur Unterstützung der Physiotherapie bei Skoliose beitragen. Maruyama et al. (2003) zeigten, dass die Übungsbehandlung von Krümmungen zwischen 20 und 40° einen positiveren Effekt hat als bei Krümmungen über 40° Cobb. Diese Erkenntnis unterstützt den möglichst frühzeitigen Beginn der Übungsbehandlung. Glassman et al. (2010) untersuchten die konservative Behandlung von erwachsenen Skoliosepatienten. Zwei weitere Untersuchungen setzten sich mit dem Vergleich von operativer und nicht-operativer Behandlung auseinander (Bridwell et al. 2009; Li et al. 2009). Nicht-operativ bedeutet oder beinhaltet nicht zwingend eine befundgerechte, dem Krümmungsmuster entsprechende, Übungsbehandlung. In der Studie zu Erwachsenen, die sich einer konservativen Behandlung unterzogen, definierte man die Behandlungsmodalitäten als Medikation, unspezifische Übungstherapie, allgemeine physikalische Therapie (z. B. elektrische Muskelstimulation), Injektionen/Blockaden, Chirotherapie, Korsettbehandlung und Bettruhe. In dieser Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung Studie untersuchte man den Wert der nicht-operativen Skoliosebehandlung bei Erwachsenen und folgerte, dass bei „substanziellen“ Behandlungskosten im Zeitraum von zwei Jahren keine wesentlichen Verbesserungen des Gesundheitszustandes erzielt werden konnten (Glassman et al. 2010). Diese Schlussfolgerungen basierten auf einer Studie ohne jeglichen speziellen, klar definierten, übungsbasierten Behand67 lungsansatz. Die Grenzen der Studie wurden aufgezeigt, jedoch wurden die genannten Schlussfolgerungen trotz der bekannten Defizite gezogen. In einer ersten randomisierten Untersuchung wurden 2014 unspezifische Übungen mit spezifischen Korrekturübungen verglichen. Man konnte klar nachweisen, dass spezifische Korrekturübungen unspezifischen Übungen überlegen sind. Daraus folgt, dass zur spezifischen Skoliosebehandlung auf eine mustergenaue Korrektur der bestehenden Fehlhaltung/-stellung geachtet werden muss (Monticone et al. 2014).LESEPROBE

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