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3.3 Unbewiesene Methoden oder Methoden mit möglichen Kontraindikationen

Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung

Bis heute kann man sagen, dass der Einfluss der manuellen Therapie auf den natürlichen Verlauf der Skoliose (Progression) nicht hinreichend wissenschaftlich belegt ist (Romano und Negrini 2008). Eine weitere Untersuchung erbrachte lediglich eine schwache Beweiskraft (Level IV) für die Anwendung der Chirotherapie bei Erwachsenen (Everett und Patel 2007). Aktuellere Untersuchungen zeigten, dass eine durch Stoßwellen hervorgerufene segmentale Mobilisierung in der Tat einen positiven Effekt auf die Wirbelsäulendeformität haben kann (Weiss, Seibel und Moramarco 2014; Weiss 2017).

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Aktuell gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Anwendung von Yoga in der Skoliosebehandlung. Yoga kann für Menschen mit einem symmetrischen Körper von Vorteil sein. Unsere klinischen Beobachtungen haben wiederholt gezeigt, dass sich die Anwendung von Yoga-Übungen als alleinige Therapieform für Skoliosepatienten ungünstig auswirken kann. Dies liegt an der komplexen asymmetrischen Anatomie der Skoliose. Darüber hinaus verfügen Yogalehrer meist nicht über die speziellen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Behandlung von Wirbelsäulendeformitäten (Auswertung von Röntgenbildern, Klassifizierung der Skoliose, anatomische Kenntnisse). Dies führt dazu, dass Klassifizierung und auch Auswirkung spezifischer Korrekturmanöver nicht ausreichend verstanden werden. Sowohl Yoga als auch Pilates berücksichtigen die Autokorrektur nicht in ausreichendem Maße (Fusco et al. 2011), was jedoch, wie wir heute wissen, ein elementarer Punkt im Übungsprogramm für Skoliotiker sein sollte.

In den USA werden in der konservativen Skoliosebehandlung vielerorts passive Traktionen der Halswirbelsäule vorgenommen. Für deren Anwendung fehlt jedoch jeglicher wissenschaftlicher Beweis. Es gibt nicht eine prospektive kontrollierte Untersuchung, die aufzeigt, dass sich passive apparative Traktionen oder die Anwendung anderweitiger apparativer Korrekturen günstig auf den Verlauf einer Skoliose oder auf den Gesundheitszustand der Betroffenen auswirken würden. Außerdem ist die axiale Korrektur durch Traktion nur von untergeordnetem Wert für Krümmungen von weniger als 50° Cobb, welche normalerweise konservativ behandelt werden (White und Panjabi 1976). Einst wurde die Traktion auch als Ergänzung zum originalen Schroth-Programm angewendet, jedoch bereits vor mehr als 30 Jahren aufgegeben, nachdem man ungünstige Nebenwirkungen hat feststellen müssen LESEPROBE

Abbildung 47: Passive Traktion in Kombination mit lateralen Kräften in einem Korrekturapparat, wie er vor mehr als 100 Jahren verwendet wurde. (Historisches Bild aus dem Archiv von Christa Lehnert-Schroth).

Abbildung 48: Passive Traktion in Kombination mit begleiteten aktiven Korrekturen in den 70ern mit dem Schroth-Programm. (Historisches Bild aus dem Archiv von Christa Lehnert-Schroth).LESEPROBE

Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung

Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung

(Abbildung 47 und 48). Diese Nebenwirkungen äußerten sich in Kopfschmerzen, Taubheitsgefühlen, Destabilisierung und Hypermobilität der okzipitozervikalen Gelenke oder auch in Schwindel. Außerdem stellte man fest, dass die verwendete Traktionskraft eine größere Auswirkung auf die Halswirbelsäule hatte als auf die kaudal gelegene Deformität. Heute weiß man, dass passive Traktionen in der Tat riskant sein können (Zhang et al. 2010) und daher aufgrund fehlender wissenschaftlicher Belege nicht angewendet werden sollten. Leider werden derart unbewiesene und gefährliche Übungen vor allem in den USA immer noch heftig vermarktet und den Patienten nutzlose Apparate verkauft. Solcherlei „Behandlungen“ sind zwar in pseudowissenschaftlichen Untersuchungen beschrieben, aber noch nie in anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht worden oder gar durch aussagekräftige Studien belegt. Belegt sind lediglich skoliosespezifische Übungen und die Korsettversorgung (Weiss et al. 2016a), wobei man unter dem Begriff „skoliosespezifisch“ eine dem Krümmungsmuster entsprechende Korrektur von Wirbelsäule und Rumpf versteht. Eine solche standardisierte Korrektur ist für die dreidimensionale Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth und für das Schroth Best Practice-Programm® beschrieben. Letzteres ist allerdings leichter anzuwenden, verfügt über weit umfangreichere Korrekturen, hat aber gleichzeitig – wie auch das alte Schroth-Programm – nachgewiesenermaßen einen günstigen Einfluss auf sämtliche Zeichen und Symptome einer Skoliose und ist zudem noch auf höchster Stufe evidenzbasiert (Weiss et al. 2016a; Weiss et al. 2016c). Daher sollte heutzutage die Wahl des geeigneten Verfahrens für die Übungsbehandlung bei Skoliose nicht mehr in Frage stellen. Allerdings sind die viel zitierten randomisierten Studien zur Schroth-Therapie auch nicht alle sehr aussagekräftig. In einer Untersuchung wurde die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Health Related Quality of Life) untersucht. Beide Patientengruppen (Zielgruppe/Kontrollgruppe) erhielten eine nicht näher bezeichnete Standardbehandlung und die Zielgruppe erhielt zusätzlich Schroth (Schreiber et al. 2015). Die Autoren schlussfolgerten, dass Schroth die Lebensqualität der Patienten verbessert. Dabei ist bekannt, dass jedwede Zuwendung von therapeutischer Seite die Lebensqualität der Patienten zu verbessern vermag (Freidel et al. 1999 und 2002). Die Schlussfolgerung wäre daher nur dann gerechtfertigt, wenn die Kontrollgruppe die gleiche Menge an Zuwendung erhalten hätte wie die Zielgruppe. Die Autoren haben zusätzlich bei beiden Patientengruppen die Entwicklung des Cobb-Winkels untersucht und in einer weiteren Studie veröffentlicht (Schreiber et al. 2016). Hier gab es im Vergleich zur Kontrollgruppe einen leichten, jedoch signifikant besseren Behandlungseffekt in der Schroth-Gruppe. Dieser lässt sich allerdings bereits dadurch erklären, dass es in der Kontrollgruppe mehr kombinierte (double major/triple major) Krümmungen gab als in der Schroth-Gruppe. Kombinierte Krümmungen lassen sich nun einmal schlechter korrigieren als Krümmungen mit radiologisch einbogigen Krümmungsmustern (Weiss et al. 2021). Somit ist die Aussagekraft beider Arbeiten trotz des aufwendigen Studiendesigns ziemlich beschränkt und rechtfertigt nicht die gezogenen Schlussfolgerungen. LESEPROBE

Die aktuelle Literatur zur Physiotherapie bei Skoliose – eine kritische Einschätzung

75 LESEPROBE

„Röntgenaufnahmen sind dann erforderlich, wenn nach klinischen Messungen eine Verschlechterung zu erwarten ist …“LESEPROBE

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