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6. Krankengymnastische Befunde
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In der krankengymnastischen Skoliosebehandlung findet die befundspezifische Behandlung ihren Ausgangspunkt in der Erkennung der therapierelevanten Krümmungsmuster. Zwar lässt sich nicht jede Krümmungsform auf ein bestimmtes Grundmuster reduzieren, bei über 90 % der Skoliosepatienten sind jedoch spezielle Befundmuster zu erkennen. Aus den erhobenen Befundmustern lassen sich dann die spezifischen Übungen ableiten, welche in der Praxis eingeübt und zu Hause selbstständig weiter trainiert werden sollen. In der ambulanten Physiotherapie lassen diese funktionellen Skoliosemuster eine Einteilung in homogene Übungsgruppen zu, wodurch auch in der Gruppe eine hohe Übungsintensität möglich wird. In der Physiotherapie der Skoliose ermöglicht es die Identifikation des Befundmusters, die passende Übungsauswahl zu treffen. Nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bewirkt die Einrich- Krankengymnastische Befunde tung bzw. Wiederherstellung eines physiologischen sagittalen Profils in gewissen Grenzen eine echte dreidimensionale Korrektur der Rückenoberfläche (van Loon et al. 2008). Nach Sommerville (1952, zitiert von Tomaschewski 1987), Dickson (1984) und Tomaschewski (1987, 1992) muss die Abflachung bzw. Umkehrung des Sagittalprofils als Ausgangspunkt der Idiopathischen Skoliose betrachtet werden (Abbildung 66). Bei Patienten mit idiopathischer Skoliose und thorakalem Krümmungsmuster ist eine Abflachung des thorakalen Sagittalprofils bis hin zur thorakalen Lordose zu erheben (Abbildung 67), bei einer lumbalen Seitverbiegung eine Abflachung der lumbalen Lordose bis hin zur lumbalen Kyphose. Bei double-major-Krümmungsmustern ist nicht selten eine Umkehrung des sagittalen Profils zu erkennen (Abbildungen 68 bis 69a und b). Wie in Abbildung 69 zu erkennen, unterscheidet sich die Ausrichtung der zygapophysealen Gelenke der Thorakalregion von derjenigen der lumbalen Wirbelsäule. Auch muss das normale Sagittalprofil als rotations- und seitabweichungsstabil angesehen werden, während eine Verschiebung der Drehachse im Verhältnis zur Gelenkausrichtung zu einer Instabilität führt. Wenn man als initiale Deformität in der Entwicklung der idiopathischen Skoliose die Inversion des sagittalen Profils betrachten darf (siehe Abbildung 66), so wird sich während der Skolioseentwicklung der thorakale Scheitelwirbel zunächst einmal nach ventral bewegen, bevor die Rotation und die Seitverbiegung in Erscheinung treten. Entsprechend wird sich im Lendenwirbelsäulenbereich der Scheitelwirbel nach dorsal in Richtung einer Kyphosierung bewegen, bevor die entsprechende Rotation mit Entwicklung eines Lendenwulstes und die Seitabweichung sichtbar werden. Dieses Modell ist in den Abbildungen 70a und b dargestellt. Entsprechend dieser Befunde müssen sowohl in der physiotherapeutischen Behandlung als auch in der Korsettversorgung sagittale Korrekturelemente eingesetzt wer111 den. Begreifen wir die idiopathische Skoliose als echte dreidimensionale Deformität, werden bei ausschließlicher Berücksichtigung von nur zweidimensionalen Korrekturkräften zwangsweise Blockierungseffekte entstehen, welche eine optimale Korrektur unmöglich machen. Daher findet in der befundgerechten Physiotherapie bei der Skoliose das Sagittalprofil der betroffenen Patienten zunehmend Beachtung. Nach der Schrothschen Nomenklatur müssen in der befundgerechten Krankengymnastik zunächst einmal die „dreibogigen Skoliosen“ von den „vierbogigen Skoliosen“ LESEPROBE
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Abbildung 66: Patientin mit beginnender idiopathischer Skoliose im „Päckchen-Sitz“ nach Tomaschewski. Deutlich zu erkennen sind die tiefthorakale Abflachung und die kompensatorische hochlumbale Kyphosierung als Ausdruck einer strukturellen Inversion des physiologischen Sagittalprofils.
Abbildung 67: Höhergradige rechtsthorakale idiopathische Skoliose mit ausgeprägtem Rippenbuckel. Auf dem Seitprofil, hier rechts dargestellt, ist eine Lordosierung des thorakalen Hauptkrümmungsbereiches zu erkennen. LESEPROBE
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Abbildung 68: Links physiologisches Sagittalprofil der Wirbelsäule mit Kyphose im thorakalen Bereich und mit einer Lordose, welche den gesamten lumbalen Wirbelsäulenabschnitt umfasst. In 113 der Mitte zeigt sich das strukturell invertierte Sagittalprofil bei einer double-major-Skoliose mit Lordose im thorakalen Bereich und Kyphose im lumbalen Bereich. Rechts im Bild sogenannte „Sitzkyphose“, welche vielfach bei Menschen besteht, die sitzende Tätigkeiten ausüben. Dies Bild finden wir allerdings auch häufig bei thorakolumbalen Skoliosen. Typischerweise ist hier ebenfalls die lumbale Lordose reduziert und eine Sakrum-Akutum-Stellung zu erkennen. Dieses führt zwangsweise zu vermehrtem Stress auf die zygapophysealen Gelenke und auf den Wirbelbogenbereich von L5/S1. Die Gesamtlordose scheint hier nur auf dieses Segment begrenzt, während die kranialen Segmentanteile an der Lordose nicht teilhaben. LESEPROBE
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a b
Abbildung 69a: Die Orientierung der zygapophysealen Gelenke des Thorakalbereichs unterscheidet sich deutlich von der des Lumbalbereichs. Unter physiologischen Bedingungen mit einer thorakalen Kyphose und einer gesamtlumbalen Lordose liegt der Drehpunkt im Brustwirbelsäulenbereich entsprechend der Gelenkausrichtung und der Belastungsverhältnisse im Zentrum des Wirbelkörpers, während er sich in der Lendenwirbelsäule aufgrund der eher dorsal gelegenen axialen Belastungsverhältnisse an der Basis des Wirbelkörperdornfortsatzes befindet. Abbildung 69b: Bei einer idiopathischen Skoliose mit Inversion des Sagittalprofils ist die Gelenkausrichtung zwar die gleiche, das Zentrum der axialen Rotation jedoch in umgekehrter Weise zum physiologischen verschoben. Hierdurch wird die Wirbelsäule instabil und kann Deformitätskräften nur noch schwer widerstehen (modifiziert nach Burwell 2003).
unterschieden werden. Bei den „dreibogigen Skoliosen“ sind Schulter-Hals-Block, Brustkorb-Block und Lenden-Becken-Block in frontaler, sagittaler und auch transversaler Ebene gegeneinander verdreht und verschoben (Abbildung 71). Bei der „vierbogigen Skoliose“ wird der Lenden-Becken-Block nochmals unterteilt in einen Lenden-Block und einen Becken-Block, wobei das Becken als funktionelle Zusatzkrümmung angesehen wird, welche im Rahmen der befundspezifischen Physiotherapie als Ausgangsbasis für ein eigenständiges Korrekturprinzip dient (Abbildung 72). Bei den dreibogigen Skoliosen unterscheiden wir Skoliosen mit prominenter Hüfte auf der thorakalen Konkavseite (= 3BH) und funktionell dreibogige Skoliosen mit zentriertem Becken (= 3BN). Die funktionell vierbogigen Skoliosen sind durch die Hüftprominenz auf der thorakalen Konvexseite gekennzeichnet (= 4B). In der Regel besteht eine Lumbal- oder LESEPROBE
a b Krankengymnastische Befunde
Abbildung 70a: Bei der Entstehung einer idiopathischen Skoliose verschiebt sich der Scheitelwirbel einer Brustkorbverkrümmung zunächst nach ventral, ehe die Seitabweichung und die Rotation in Erscheinung treten. Abbildung 70b: Im Lumbalbereich verschiebt sich der Scheitelwirbel eher nach dorsal. Wir benötigen daher im Brustkorbbereich eine deutliche Korrekturkraft von ventral nach dorsal, im Lendenwirbelsäulenbereich eine Korrekturkraft von dorsal nach ventral, wie dies die eingezeichneten vertikal ausgerichteten Pfeile anzeigen.
Thorakolumbalkrümmung und die Lendenwirbelsäule geht schräg vom Kreuzbein ab (sogenanntes „oblique take off“). Funktionell vierbogige Skoliosen weisen aufgrund dieses biomechanischen Sachverhaltes fast immer eine funktionelle Beinlängendifferenz auf. Der thorakal konvexseitige Beckenkamm steht in diesen Fällen höher als der thorakal konkavseitige (Lehnert-Schroth 1981). Im Vorbeugetest ist diese asymmetrische Krafteinleitung aufgehoben; somit kann man die echte Beckenbalance an der Horizontaleinstellung des Kreuzbeines beim Vorbeugetest erkennen. Nur eine ISG-Blockierung kann dann noch zu einem falsch-positiven Befund einer 115 Beinverkürzung führen. Es versteht sich von selbst, dass die erwähnten funktionellen Krümmungsmuster nichts mit den radiologischen Termini „einbogig“ oder „zweibogig“ zu tun haben. Eine radiologisch einbogige Lumbalkrümmung wird immer dem Krümmungsmuster „vierbogig“ zugeordnet und eine einbogig thorakale Krümmung mit geradem Abgang der Lendenwirbelsäule auf dem Kreuzbein wird als „dreibogig“ klassifiziert. Anders als im radiologischen Bereich werden bei der physiotherapeutischen LESEPROBE
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Abbildung 71: Hüftgruppe 3BH. Es besteht eine thorakale Hauptkrümmung mit zwei funktionellen Ausgleichskrümmungen kranial und kaudal. Dieses Krümmungsmuster kann im Hinblick auf die spezifischen Korrekturen in drei Rumpfregionen untergliedert werden, welche statisch dekompensiert, deformiert und gegeneinander verdreht sind. Der Rumpf ist zur thorakalen Konvexseite hin dekompensiert. Das Becken – eingegliedert in den untersten Rumpfblock – ist zur thorakalen Konkavseite hin verschoben (nach Lehnert-Schroth 2007).
Klassifizierung die Ausgleichskrümmungen als funktionell eigenständige Krümmungen betrachtet. Nach den theoretischen Grundlagen der dreidimensionalen Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth besteht die Gefahr, bei Nichtbeachtung auch einer nur kleinen funktionellen Gegenkrümmung, diese durch unsachgemäße Anwendung physiotherapeutischer Maßnahmen zu verstärken. Die Frage nach der sachgerechten Beeinflussung von funktionellen Gegenkrümmungen bedarf allerdings einer Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln. Einerseits versuchen wir natürlich unser Bestes, alle vorhandenen Krümmungen dem individuellen Befund entsprechend zu korrigieren. Andererseits stoßen wir grade bei mehrbogigen Krümmungen (double-major-Krümmung, doppelthorakale Krümmung) oftmals an die biomechanisch vorgegebenen Grenzen. Welcher Vorgabe soll man nun folgen, wenn man unter Berücksichtigung aller vorhandener Krümmungen nicht mehr weiterkommt?
Nachdem bekannt geworden ist, dass Doppelkrümmungen nach Wachstumsabschluss am stabilsten bleiben (Asher und Burton 2006) und außerdem am wenigsten auffallen, haben wir das folgende Paradigma eingeführt: Wenn man gegen Ende des Wachstums eine dekompensierte Krümmung unter Berücksichtigung der Nebenkrümmungen mithilfe von Physiotherapie und Korsett bei Beachtung aller Grundregeln der mustergenauen Korrektur nicht mehr ausreichend rekompensieren kann, so darf man durchaus eine Verstärkung der Nebenkrümmung in Kauf nehmen, wenn dies zu einer Rekompensation der Hauptkrümmung führt.LESEPROBE
Abbildung 72: Typisch funktionell vierbogiges Krümmungsmuster. Kombinierte thorakale und lumbale (oder auch thorakolumbale) Krümmung, kaudal kompensiert durch eine lumbosakrale Gegenkrümmung. Die lumbale oder thorakolumbale Krümmung ist meist die Hauptkrümmung bezüglich Krümmungsstärke und Rigidität. Die Lenden-Becken-Region ist hier funktionell aufgebrochen in zwei Untereinheiten, den sogenannten lumbalen und den sogenannten lumbosakralen Block. Der Rumpf ist typischerweise zur thorakalen Konkavseite hin dekompensiert. Das Becken ist auf der thorakalen Konvexseite prominent und scheinbar wird durch das thorakal konkavseitige Bein die Hauptlast des Körpergewichtes getragen (nach Lehnert-Schroth 2007).
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Wann kommt diese Vorgehensweise in Betracht? Beispielsweise wird eine doublemajor-Krümmung (4B) unter Korsettbehandlung lumbal ausgezeichnet, thorakal aber weniger korrigiert (es entsteht eine 3BL-Krümmung, siehe unten). Dies kann dazu führen, dass eine einstmals gut kompensierte Krümmung dekompensiert. Dann sollte man sich immer auf die thorakale Hauptkrümmung fokussieren und diese rekompensieren, um eine statische Rekompensation des gesamten Rumpfes zu ermöglichen. Grade das Muster 3BL wird zunächst immer als vierbogige Skoliose behandelt; gegen Ende der Wachstumsphase sollte man, je nach Befund, auf eine Behandlung nach dreibogigen Prinzipen übergehen. Zwei Krümmungsmuster haben wir bereits genannt. Weiter vorgreifen möchten wir an dieser Stelle jedoch nicht, sodass wir uns nun dem Thema „Krümmungsmuster“ widmen können. 117 Die Musterklassifikation nach Lehnert-Schroth (Lehnert-Schroth 2007) ist eine einfache und verständliche Basis zur Differenzierung der unterschiedlichen Krümmungsmuster und ihrer Korrektur (Abbildungen 71–74). Daher soll sie auch Ausgangspunkt für eine Erweiterung auf eine neue Klassifikation sein, welche die vielfältigen Musterkonfigurationen möglichst umfassend abdeckt. Diese Erweiterung ist im Folgenden dargestellt. LESEPROBE
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Vor der Darstellung der einzelnen Krümmungsmuster sollen aber zunächst einige topografische Begriffe definiert werden, wie wir sie im Folgenden verwenden wollen: 1. Die Paketseite ist die Seite, auf welcher der Rippenbuckel zu finden ist, und zwar unabhängig von seiner Ausprägung und auch unabhängig vom Krümmungsmuster. Der Begriff „Paketseite“ bezieht sich demnach immer auf die Ausrichtung der thorakalen Krümmung. Bei thorakalen Hauptkrümmungen ist die Paketseite einfach zu bestimmen. Es kann aber auch vorkommen, dass – wie beim lumbalen
Krümmungsmuster – überhaupt kein augenfälliger Rippenbuckel zu sehen ist; wir sprechen dennoch auch bei rein lumbalen Krümmungen von einer Paketseite, wenn wir die Konvexseite der thorakalen Ausgleichskrümmung meinen. 2. Die schwache Seite ist die Seite, auf welcher das Rippental zu finden ist. Dementsprechend bezieht sich auch der Begriff „schwache Seite“ immer auf die Ausrichtung der thorakalen Krümmung. Die schwache Seite liegt also immer der
Paketseite gegenüber. 3. Die absolute Dekompensation wird definiert als radiologisch messbare
Lotabweichung (C7–Rima ani). 4. Eine relative Dekompensation ist die klinische Abweichung eines der auf den folgenden Abbildungen gezeigten Rumpfblöcke in frontaler Ebene gegen die anderen Rumpfblöcke, auch wenn radiologisch keine wesentliche Lotabweichung festgestellt werden kann. 5. Vereinfachend beschreiben wir als thorakale Dekompensation eine Dekompensation zur Paketseite hin und als lumbale Dekompensation eine Dekompensation zur schwachen Seite hin.
In der Schrothschen Nomenklatur finden sich weit mehr Begriffsdefinitionen (Lehnert-Schroth 2007), allerdings soll dieses Buch zur Vereinfachung der Behandlung beitragen. Daher möchten wir uns hinsichtlich der Nomenklatur auf das Wesentliche beschränken.
Die Skoliose ist eine dreidimensionale Deformierung der Wirbelsäule und des Rumpfes, die in Phasen schnellen Wachstums auch schnell fortschreiten kann. Eine Skoliose kann durch Knochenfehlbildungen, bestimmte Krankheiten oder Syndrome (z. B. kongenitale Skoliose, neuromuskuläre Skoliose, Skoliose bei mesenchymalen Erkrankungen und viele andere Ursachen) verursacht werden. Die Mehrheit der skoliotischen Verkrümmungen wird als idiopathisch bezeichnet, wenn eine andere Ursache ausgeschlossen ist (Chik 2020; Kruzel und Moramarco 2020). Die Behandlung der Skoliose besteht historisch gesehen aus musterspezifischen Übungen (z. B. Schroth/Sideshift/Monticone), der Korsettbehandlung (Boston-Korsett/Chêneau-Korsett) und der Wirbelsäulenversteifungsoperation. Heutzutage gibt es eine qualitativ hochwertigere Evidenz für musterspezifische Übungen (Pattern Specific Exercises, PSE) und für die Korsettbehandlung (Weiss, Moramarco und Borysov 2020). Die Wirbelsäulenchirurgie wird auch heute noch nicht durch eine qualitativ hochwertige Evidenz gestützt (Weiss et al. 2021). LESEPROBE
Während bei symptomatischen oder syndromatischen Skoliosen die Krümmung sehr individuell, manchmal bizarr erscheinen kann, treten bei der idiopathischen Skoliose bestimmte Krümmungsmuster regelmäßig auf. Daher lassen sich die Krümmungsmuster bei der idiopathischen Skoliose, aber auch bei den meisten symptomatischen/syndromatischen Skoliosen in gewissen Grenzen einordnen. Sowohl bei musterspezifischen Übungen (z. B. Schroth) als auch bei musterspezifischen Korsettversorgungen unterscheidet sich die Korrekturroutine entsprechend den unterschiedlichen Krümmungsmustern. Daher müssen sich die Korrekturprinzipien in der Skoliosebehandlung auf eine Klassifizierung stützen oder zumindest an einer evaluierten Klassifizierung orientieren. Musterklassifikationen helfen bei der Erstellung eines Korrekturplans nicht nur in der Physiotherapie, sondern auch bei musterspezifischen (asymmetrischen) Korsettanwendungen sowie bei chirurgischen Behandlungen. Eine der ältesten Klassifikationen, die in den 70er-Jahren erstellt wurde, geht auf LehnertSchroth (1981, 2007) zurück und wurde später von Jacques Chêneau für die Planung der nach ihm benannten Orthese verwendet. 2020 wurde die Lehnert-Schroth-Klassifikation (LS-Klassifikation) erstmals validiert (Borysov et al. 2020). Die King-Klassifikation (1988) wurde in den 80er-Jahren für die Planung von Operationen eingeführt, erwies sich jedoch als ungenau und wurde in den 90er-Jahren mehrfach überarbeitet. Sie wurde schließlich durch die Lenke-Klassifikation ersetzt (Lenke et al. 1998; Lenke 2005). Diese beinhaltet die Bewertung der sagittalen Konfiguration sowie eine Klassifikation der Krümmungen in der Frontalebene.
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Schlüsselmerkmale 3B
Radiologische Merkmale:
• Thorakalkrümmung länger als Lumbalkrümmung • Cobb-Winkel thorakal > Cobb-Winkel lumbal • lumbaler Apex überschreitet nicht die zentrale
Sakrallinie (ZSL)
Klinische Merkmale:
• Dekompensation zur thorakalen Konvexseite • lange Krümmung thorakal, kurze Krümmung lumbal • deutliche Hüftprominenz thorakal konkavseitig * Die Pfeile zeigen die notwendigen Korrekturrichtungen in frontaler Ebene.
119 Abbildung 73: Die wichtigsten Merkmale des Musters 3B.LESEPROBE
Krankengymnastische Befunde Schlüsselmerkmale 4B
Radiologische Merkmale:
• Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Cobb-Winkel thorakal und lumbal etwa gleich groß • lumbaler Apex überschreitet die ZSL • Keilverformung Intervertebralraum (IVR)*L4/5 und/oder L5/S1
Klinische Merkmale:
• Dekompensation thorakal konkavseitig oder balanciert • Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Hüftprominenz thorakal konvexseitig * Die Pfeile zeigen die notwendigen Korrekturrichtungen in frontaler Ebene.
Abbildung 74: Die wichtigsten Merkmale des Musters 4B.
Rigo (2004) leitete seine erste Klassifikation von der Lenke-Klassifikation ab, die auch in einer der vorherigen Ausgaben dieses Lehrbuchs zu finden ist. 2010 überarbeiteten Rigo und Mitarbeiter die Klassifikation und führten eine neue Terminologie ein, die vielfach als überaus kompliziert angesehen wurde. Daher wurde eine Erweiterung der Lehnert-Schroth-Klassifikation entwickelt, in der Hoffnung, dass sie ein wertvolles praxisbezogenes Hilfsmittel für Physiotherapeuten und Orthopädietechniker sein wird (Weiss 2010). Die erweiterte, oder auch augmentierte Lehnert-Schroth-Klassifikation (ALS-Klassifikation) wurde 2021 von einer Arbeitsgruppe aus der Türkei validiert (Akcay et al. 2021). Aus didaktischen Gründen sollen hier zunächst noch einmal die Merkmale der ursprünglichen Lehnert-Schroth-Klassifikation in einer Synopse von klinischem Bild und Röntgenbild erklärt werden, ehe wir die daraus abgeleiteten einzelnen Krümmungsmuster der ALS-Klassifikation beschreiben. Die einzelnen Krümmungsmuster dieser ALS-Klassifikation, welche im Folgenden ausführlich beschrieben sind, sollen an dieser Stelle schon einmal genannt werden (Abbildung 75): • 3BH (funktionell dreibogig, mit Hüftprominenz) • 3BTL (funktionell dreibogig, thorakolumbal) • 3BN (funktional dreibogig, kompensiert) • 3BL (funktionell dreibogig mit langer lumbaler Gegenkrümmung)LESEPROBE
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Abbildung 75: Die augmentierte Lehnert-Schroth-(ALS-)Klassifikation. 121 LESEPROBE
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• 4B (funktional vierbogig, Doppelkrümmung) • 4BL (funktionell vierbogig mit strukturell lumbaler Hauptkrümmung) • 4BTL (funktionell vierbogig mit strukturell thorakolumbaler Hauptkrümmung)
Beschreibung der Klassifizierung
Heute wird diese Klassifikation für die Anwendung von Schroth Best Practice® (SBP-) Übungen und für die Anwendung des Gensingen Brace (GBW) weltweit verwendet. Aus Vereinfachungsgründen betrachten wir zunächst nur die Abweichungen in der Frontalebene, zumal sich bereits daraus bei idiopathischen Skoliosen die Abweichungen in horizontaler und sagittaler Ebene nahezu gesetzmäßig ergeben. Anderweitige Besonderheiten können zusätzlich beschrieben werden (z. B. thorakale Kyphose; lumbale Hyperlordose). Somit kann die Klassifizierung so einfach wie möglich gestaltet werden, ohne dass zusätzliche Unterklassifizierungen erforderlich sind. Diese Klassifikation kann für das musterspezifische Skoliosemanagement eine große Hilfe sein. Eine wissenschaftliche Validierung wurde vor Kurzem durchgeführt (Akcay et al. 2021).
Typische Merkmale des Musters 3BH
Das Muster 3BH ist das von Katharina Schroth beschriebene Hauptmuster (Abbildung 76). Patienten mit diesem Muster haben typischerweise die strukturelle Hauptkrümmung im Thorakalbereich mit jeweils einer kranialen und einer kaudalen funktionellen Ausgleichskrümmung. Becken und Lendenwirbelsäule bilden zusammen eine funktionelle Einheit. Die lumbale Gegenkrümmung kann als vollständige oder als Teilkrümmung sichtbar sein, allerdings fehlen in diesem Fall klare Anzeichen einer strukturellen Krümmung im Lumbalbereich mit Keilverformung und ausgeprägter Rotation des Scheitelwirbels.
Schematisch gibt es beim Muster 3BH drei Rumpfregionen, die in gegeneinander verschobene und verformte Abschnitte unterteilt werden können. Von kaudal nach kranial verlaufend finden wir folgende Regionen: • Die Lenden-Becken-Region mit Becken, Bauch, Lendenwirbelsäule und meist auch mit den unteren beiden Brustsegmenten und den damit verbundenen freien Rippen. • Die Brustregion mit dem größten Teil des Brustkorbs und der Brustwirbelsäule.
Außerdem wird auch die Stellung des unteren Drittels beider Schulterblätter von einer thorakalen Hauptkrümmung beeinflusst. • Die Schulter-Nacken-Region mit dem Schultergürtel zusammen mit dem oberen
Brustkorb (kraniale Ausgleichskrümmung) und der Halswirbelsäule. Bei einer typischen Skoliose des Musters 3BH mit rechtskonvexer Thorakalkrümmung wird der Lenden-Becken-Abschnitt in der Frontalebene nach links verschoben und links auch nach dorsal verdreht. Der Thorakalbereich wird nach rechts gegen den Lenden-Becken-Abschnitt verschoben, links oberhalb der Lendenwölbung (sofern vorhanden) keilförmig zusammengestaucht und rechts im Bereich der Keilbreitseite nach dorsal verdreht, was zum Auftreten eines Rippenbuckels führt. Der Schulter-Nacken-Bereich wird ähnlich wie der Lenden-Becken-Abschnitt nach links LESEPROBE
Schlüsselmerkmale 3BH
Radiologische Merkmale:
• Thorakalkrümmung länger als Lumbalkrümmung • Cobb-Winkel thorakal > Cobb-Winkel lumbal • lumbaler Apex überschreitet nicht die zentrale
Sakrallinie (ZSL)
Klinische Merkmale:
• Dekompensation zur thorakalen Konvexseite • lange Krümmung thorakal, kurze Krümmung lumbal • deutliche Hüftprominenz thorakal konkavseitig
Abbildung 76: Die wichtigsten Merkmale des Musters 3BH.
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verschoben. Die linke Schulter ist nach dorsal verdreht. Statisch betrachtet ist der Rumpf der Patienten mit dieser Krümmung in der Frontalebene zur thorakalen Konvexseite (Rippenbuckelseite) dekompensiert. Die Prominenz der Hüfte auf der thorakalen Konkavseite ermöglicht die Diagnose dieser funktionell dreibogigen Krümmung. Das Gewicht scheint überwiegend vom Bein der thorakalen Konvexseite getragen zu werden. Das sagittale Profil des Musters 3BH ist in der Regel durch eine langgezogene Lordose vom Bereich der Brustwirbelsäule bis hinunter zum Kreuzbein gekennzeichnet. Auf den ersten Blick ist eine Reduktion der Lendenlordose nicht erkennbar. Erst bei genauerer Beobachtung wird bei diesem Krümmungsmuster eine relative Steilstellung der Lendenwirbelsäule sichtbar.
Typische Merkmale des Musters 3BTL
123 Das Krümmungsmuster 3BTL (Abbildung 77) kann als eine besondere Form des Musters 3BH angesehen werden. Eine Skoliose mit Krümmungsscheitel bei T12 oder L1 wird als thorakolumbales Muster definiert, aber Krümmungen mit einem Krümmungsscheitel bei T12 weisen in der Regel deutliche Merkmale des Musters 3BH mit thorakaler Dekompensation und thorakalem Flachrücken auf. Diese Unterkategorisierung hat daher eher didaktische als praktische Gründe, auch wenn eine thorakolumbale Skoliose mit Scheitel bei T12 im Einzelfall selten als funktionelle Vierkurvenkrümmung erscheinen kann und dann auch so behandelt werden muss.LESEPROBE
Krankengymnastische Befunde Schlüsselmerkmale 3BTL
Radiologische Merkmale:
• Krümmung thorakolumbal (TL) länger als lumbal • Cobb-Winkel thorakolumbal > Cobb-Winkel lumbal • keine vollständige lumbale Gegenkrümmung • Apex bei Th 12
Klinische Merkmale:
• Dekompensation zur thorakolumbalen Konvexseite • lange Krümmung thorakolumbal, keine
Krümmung lumbal • deutliche Hüftprominenz thorakolumbal konkavseitig
Abbildung 77: Die wichtigsten Merkmale des Musters 3BTL.
Aus physiotherapeutischer Sicht wird dieses Muster als strukturelle thorakale Hauptkrümmung mit funktionellen kranialen und kaudalen Gegenkrümmungen beschrieben; aus radiologischer Hinsicht wird es jedoch typischerweise als einbogige Krümmung klassifiziert. Die thorakale (thorakolumbale) Hauptkrümmung ist langgezogen und dekompensiert den Rumpf zur thorakalen Konvexseite. In der kaudalen Region ist L5 über dem Kreuzbein zentriert und L4 ist bereits seitlich zur Seite der Hauptkrümmung geneigt. Die Hauptkrümmung reicht hinab bis in den Lendenbereich. Physiotherapeutisch ist das Muster 3BTL meist nicht als thorakolumbale Krümmung anzusehen, da der Scheitelwirbel im Thorakalbereich liegt. Aus dieser langgezogenen Seitausbiegung der Wirbelsäule entsteht der typische langgezogene Rippenbuckel (Paket). Die für Lumbalkrümmungen typische Einbuchtung unterhalb des Rippenbuckels ist bei diesem Krümmungsmuster oft schwer zu erkennen. Dementsprechend sind auch an dieser Stelle meist keine Falten sichtbar, da wir bei diesem Muster nur höchst selten eine funktionelle lumbale Gegenkrümmung finden. Allerdings sind die Lenden- und Brustfaszikel des M. erector spinae, die sich in Längsrichtung durch diesen Bereich erstrecken, unterhalb des Rippenbuckels verkürzt. In der Praxis stellt dies eine zusätzliche Herausforderung für die Korrektur der Körperhaltung und für die Übungsauswahl dar. LESEPROBE
Schlüsselmerkmale 3BN
Radiologische Merkmale:
• Thorakalkrümmung länger als Lumbalkrümmung • Cobb-Winkel thorakal > Cobb-Winkel lumbal • lumbaler Apex überschreitet die ZSL
Klinische Merkmale:
• Dekompensation zur thorakalen Konvexseite • lange Krümmung thorakal, kurze Krümmung lumbal • Hüftprominenz thorakal konkavseitig oder zentriert
Abbildung 78: Die wichtigsten Merkmale des Musters 3BN.
Krankengymnastische Befunde
Typische Merkmale des Musters 3BN
Das Muster 3BN ist eine weitere funktionell dreibogige Skoliose mit einer strukturellen Hauptkrümmung im Thorakalbereich, die bei idiopathischen Skoliosen typischerweise rechtskonvex ist. Beim Muster 3BN findet man eine kompensatorische funktionelle oder auch teilstrukturelle Lumbalkrümmung geringerer Ausprägung und kürzerer Ausdehnung (Abbildung 78). Diese lumbale Gegenkrümmung überschreitet die Mittellinie nur geringfügig und die Wirbelkörper erscheinen nur wenig gegeneinander verdreht. Die lumbale Gegenkrümmung ist weitgehend flexibel und oft vollständig aufrichtbar. Die Position des Beckens in der Frontalebene ist relativ ausgewogen und somit ist auf der thorakalen Konkavseite kein wesentlicher Beckenvorsprung zu erkennen. Bei einem balancierten Rumpf über dem Becken ist keine wesentliche statische Dekompensation zu sehen. Im Vorbeuge-Test (Adams Bending Test) ist der Lenden-Becken-Abschnitt nur leicht asymmetrisch. 125 Funktionell gesehen ist das Muster 3BN eine funktionelle dreibogige Skoliose mit einer thorakalen Hauptkrümmung ohne deutliche Hüftprominenz und auch ohne wesentliche Abweichung von der Vertikalen, d. h. ohne deutliche Lotabweichung. Betrachtet man jedoch den Thorakalbereich allein, so scheint dieser bezüglich des Schulter- und Beckengürtels relativ dekompensiert zu sein. Dies nennen wir eine relative Dekompensation. LESEPROBE
Krankengymnastische Befunde Schlüsselmerkmale 3BL
Radiologische Merkmale:
• Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Cobb-Winkel thorakal > Cobb-Winkel lumbal • lumbaler Apex überschreitet die ZSL • keine Keilverformung IVR L4/5 und/oder
L5/S1
Klinische Merkmale:
• Dekompensation zur thorakalen Konvexseite • Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Hüftprominenz thorakal konvexseitig
Abbildung 79: Die wichtigsten Merkmale des Musters 3BL.
Typische Merkmale des Musters 3BL
Das Muster 3BL (Abbildung 79) ist eine Sonderform der funktionell dreibogigen Skoliose. Sie ist gekennzeichnet durch eine relativ dekompensierte thorakale Hauptkrümmung (das definierende Merkmal einer funktionell dreibogigen Krümmung), ohne signifikante Lotabweichung im Röntgenbild und mit einer langen lumbalen Gegenkrümmung. Eine vollständige lumbosakrale Ausgleichskrümmung kaudal der Lumbalkrümmung ist nicht nachweisbar. Radiologisch lässt sich die lumbosakrale Ausgleichskrümmung daran erkennen, dass zwischen L4 und S1 ein oder mehrere keilförmige Zwischenwirbelräume erkennbar sind. Beim Muster 3BL sind die Zwischenwirbelräume L4–S1 relativ parallel und erfüllen daher nicht die weiter unten beschriebene Definition einer vollständigen lumbosakralen Gegenkrümmung. Aufgrund der langen lumbalen Gegenkrümmung wird dieses Muster in erster Linie als funktionell vierbogig (double-major-Muster) behandelt, da man bei einer Behandlung nach den 3B-Prinzipien die lumbale Gegenkrümmung deutlich verstärken könnte. Typische Merkmale des Musters 4B Die statischen Veränderungen bei einer funktionell vierbogigen Skoliose (doublemajor-Muster, siehe Abbildung 80) wurden erstmals Ende der 70er-Jahre beschrieben und Anfang der 80er-Jahre publiziert (Lehnert-Schroth 1982). Aus anatomisch-radiologischer Sicht beobachten wir bei diesem Krümmungsmuster eine strukturelle LESEPROBE
Schlüsselmerkmale 4B
Radiologische Merkmale:
• Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Cobb-Winkel thorakal und lumbal etwa gleich groß • lumbaler Apex überschreitet die ZSL • Keilverformung IVR L4/5 und/oder L5/S1
Klinische Merkmale:
• Dekompensation thorakal konkavseitig oder balanciert • Krümmung thorakal und lumbal etwa gleich lang • Hüftprominenz thorakal konvexseitig
Abbildung 80: Die wichtigsten Merkmale des Musters 4B.
Krankengymnastische Befunde
Thorakalkrümmung unterschiedlichen Ausmaßes in Kombination mit einer strukturellen Lumbalkrümmung, die über die Mittellinie hinausreicht und zudem nach kaudal in eine komplette lumbosakrale Gegenkrümmung mündet. Auch thorakolumbale Krümmungen können diesem Muster zugeordnet werden, wenn der Krümmungsscheitel bei L1 liegt und die thorakolumbale Krümmung länger ist als die kranial liegende Thorakalkrümmung (entsprechend Lenke-Muster 6C; Lenke 2005). Lenden- und Beckenregion sind gegeneinander verdreht und die großen Breitseiten der die Regionen bezeichnenden Keile sind nach dorsal verdreht; die Spitzen der Keile sind dementsprechend nach ventral verdreht. Bei einer funktionell vierbogigen Skoliose wurden die Veränderungen der Beckenstellung in mehreren radiologischen Studien beschrieben. Bei Betrachtung dieses Krümmungsmusters in der Frontalebene kippt das Becken auf der thorakalen Konkavseite nach kaudal und wird zusätzlich zur thorakalen Konvexseite geschoben. In der Horizontalebene steht das Becken 127 auf der thorakalen Konvexseite nach dorsal. Diese Aussagen beziehen sich auf die räumliche Lage des Beckens unter Berücksichtigung eines patientenorientierten Koordinationssystems. Dafür verwenden wir den Begriff der „geometrische Beckentorsion“. Die einseitige Dehnung des intrinsisch lumbalen Anteils der autochthonen Rückenmuskulatur sowie der Funktionsmechanismus des Iliosakralgelenks bewirken nach Lehnert-Schroth (1981) eine Anteversion des Darmbeinflügels auf der thorakalen Konvexseite (Die Querfortsätze der Lendenwirbelsäule dieser Seite sind vom Beckenkamm weg nach ventral gedreht, wodurch Ursprung und Ansatz der LESEPROBE
Krankengymnastische Befunde
intrinsischen Lendenmuskulatur voneinander entfernt werden). Der Darmbeinflügel der thorakalen Konkavseite steht entsprechend retrovertiert (Beckenverwringung). Aufgrund der hier beschriebenen statischen Veränderungen wirkt sich die Fehlstellung des Beckens bei einer funktionell vierbogigen Skoliose auch auf die coxofemorale Gelenkverbindung aus: Das Hüftgelenk auf der thorakalen Konkavseite erfährt daher eine relative Abduktion, Außenrotation und Extension, während sich der untere Teil des Beines vom Knie abwärts eher nach innen dreht. Die veränderte Beckengeometrie kann sich somit ungünstig auf die Symmetrie der anatomischen Bezugspunkte der unteren Extremitäten auswirken. Bei den funktionell vierbogigen Skoliosen stellte Lehnert-Schroth (1981) eine typische Asymmetrie der Position der vorderen oberen Darmbeinstacheln (Spina iliaca anterior superior) entsprechend der oben beschriebenen Beckenverwringung fest. Bei den funktionell vierbogigen Krümmungen handelt es sich vielfach um lumbale oder thorakolumbale Krümmungen, die größer und steifer als die thorakalen Gegenkrümmungen sind. Bei diesen Krümmungsmustern können wir eine Dekompensation des Rumpfes zur thorakalen Konkavseite, eine Hüftprominenz auf der thorakalen Konvexseite und eine scheinbar erhöhte Belastung des Beines der thorakalen Konkavseite beobachten.
Typische Merkmale des Musters 4BL
Das Muster 4BL (funktionell vierbogig mit singulärer Lumbalkrümmung, siehe Abbildung 81) zeichnet sich durch das Vorhandensein einer strukturellen lumbalen Hauptkrümmung mit den entsprechenden kranialen und kaudalen Ausgleichskrümmungen aus. Über die keilförmig verformten Zwischenwirbelräume im Bereich L4–S1 lässt sich radiologisch eine lumbosakrale Gegenkrümmung nachweisen. Die thorakale Sekundärkrümmung ist nur schwach sichtbar und die zervikothorakale Ausgleichskrümmung ist bei diesem Muster in der Regel nicht sichtbar. Dieses Muster ist normalerweise zur lumbalen Konvexseite (bzw. zur thorakalen Konkavseite) dekompensiert. Auf der Paketseite (bzw. thorakalen Konvexseite) erkennt man die typische Hüftprominenz, die ein Ansatz für das musterspezifische Korrekturmanöver ist.
Typische Merkmale des Musters 4BTL
Das Muster 4BTL (funktionell vierbogig mit singulärer thorakolumbaler Krümmung, siehe Abbildung 82) ist durch eine thorakolumbale Hauptkrümmung mit den entsprechenden kranialen und kaudalen Ausgleichskrümmungen gekennzeichnet. Beim Muster 4BTL ist der apikale Wirbel normalerweise L1. In seltenen Fällen kann der Krümmungsscheitel auch bei T12/L1 liegen. Ein apikaler Wirbel bei T12 wäre in aller Regel ein Grund, sich für das Muster 3BTL zu entscheiden (Abbildung 77). Eine lumbosakrale Gegenkrümmung ist aufgrund der keilförmigen Zwischenwirbelräume im Bereich L4–S1 radiologisch nachweisbar. Die thorakale Sekundärkrümmung gibt sich nur schwach zu erkennen und die zervikothorakale Ausgleichskrümmung ist bei diesem Muster in der Regel nicht sichtbar. Dieses Muster ist zur thorakalen Konkavseite (schwachen Seite) dekompensiert. Zu erkennen ist die LESEPROBE
Schlüsselmerkmale 4BL
Radiologische Merkmale:
• Lumbalkrümmung, kurze thorakale Gegenkrümmung • Cobb-Winkel lumbal > thorakal • lumbaler Apex bei L2 oder darunter • Keilverformung IVR L5/S1
Klinische Merkmale:
• Dekompensation thorakal konkavseitig • Krümmung lumbal > thorakal • Hüftprominenz thorakal konvexseitig • ventraler Rippenbuckel lumbal konvexseitig
Abbildung 81: Die wichtigsten Merkmale des Musters 4BL.
Krankengymnastische Befunde
Schlüsselmerkmale 4BTL
Radiologische Merkmale:
• TL-Krümmung, kurze thorakale Gegenkrümmung • Cobb-Winkel thorakolumbal > thorakal • lumbaler Apex bei L1 • Keilverformung IVR L4/5 oder L5/S1
Klinische Merkmale:
• Dekompensation thorakal konkavseitig • Krümmung thorakolumbal > thorakal • Hüftprominenz thorakal konvexseitig • ventraler Rippenbuckel thorakolumbal konkavseitig
129 Abbildung 82: Die wichtigsten Merkmale des Musters 4BTL.LESEPROBE
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typische Hüftprominenz auf der Paketseite, die ein Ansatz für das musterspezifische Korrekturmanöver ist. Es gibt mehr Krümmungsmuster als dargestellt, auch sind die Übergänge zwischen zwei Krümmungsmustern mitunter fließend. Einige der Sonderformen treten so selten auf, dass sie nicht systematisch behandelt werden können, sondern individuell angegangen werden müssen. Doppelthorakale Krümmungsmuster sind jedoch häufig und sollten als Sonderfall erwähnt werden. Doppelthorakale Krümmungen können je nach kaudaler Ausrichtung entweder als funktionell dreibogig oder als funktionell vierbogig klassifiziert werden. Doppelthorakale Krümmungsmuster treten häufiger zusammen mit den funktionell dreibogigen Mustern auf, seltener mit einem 4B-Muster.