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7.1 Das physio-logic®-Programm

Das Schroth Best Practice-Programm®

7.1 DAS PHYSIO-LOGIC®PROGRAMM

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Nach Ansicht vieler Autoren kann der thorakale Flachrücken als begünstigender Faktor für die thorakale idiopathische Skoliose angesehen werden (Deacon und Flood 1984; Tomaschewski 1987; Weiss und Lauf 1995; Burwell 2003; Raso 2000; siehe Abbildungen 83 und 84). Dies war allerdings bereits Farkas (1925) bekannt. Wenn also die Rotation und die seitliche Abweichung der Wirbelsäule sekundäre Ausprägungsmuster der idiopathischen Skoliose sind, sollte es möglich sein, die dreidimensionale Deformität einer Skoliose durch die alleinige Applikation sagittaler Korrekturbewegungen zu korrigieren oder zu verringern. Der Flachrücken ist zumindest bei der Korsettbehandlung von Patienten mit idiopathischen Skoliosen ein größeres Problem. Es hat sich bereits in der Literatur niedergeschlagen, dass sich der Flachrücken durch bestimmte Korsettkonzepte sogar verstärkt. Weder im Boston-Korsett, im Charleston Bending Brace, noch in den meisten anderen Korsetttypen zur Korrektur einer Skoliose sind Druckzonen zur Korrektur des sagittalen Profils zu finden. Lediglich im originalen Chêneau-Korsett sind Druckzonen zur Korrektur einer thorakalen Hypokyphose eingeführt worden (Weiss und Moramarco 2013).

Abbildung 83: Bei Naturvölkern kann oft eine „Vorverlagerung“ des Rumpfes beobachtet werden, die deshalb als natürlich und „sinnvoll“ angesehen werden kann. (Foto © LRP, veröffentlicht in Weiss HR, Weiss G. Physiologic balance®. Pflaum, München 2013). Diese Rumpfeinstellung mit verstärkter Lumballordose führt zu einer seitlichen Stabilisierung und kann auch die Wirbelsäulenverdrehung günstig beeinflussen (Weiss 2004; 2005; Weiss et al. 2006; van Loon et al. 2008).

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Krankengymnastische Behandlungsprogramme zielen bislang hauptsächlich auf die Deformität in frontaler Ebene ab (Klapp 1907; Niederhöffer 1942; Ocarzuk 1994), wenige haben die Korrektur der Wirbelsäulenrotation zum Ziel (Rigo et al. 1991; Klisic und Nikolic 1985; Mollon und Rodot 1986; Lehnert-Schroth 2007), und eben noch weniger wird in der Physiotherapie das Sagittalprofil beachtet (Tomaschewski 1987 und 1992; Weiss und Moramarco 2013). Schon vor 1992 hat Antonio Negrini darauf hingewiesen, dass das Sagittalprofil mithilfe korrigierender Übungen wiederhergestellt werden sollte (Negrini 1992). In einigen Übungsprogrammen steht der Flachrücken im Zentrum des Interesses, jedoch ließen sich hierdurch offenbar keine günstigen Ergebnisse erzielen (Ducongé 1992). Alle Patienten, welche mit einem hyperkyphosierenden Programm (globale Kyphose) für den gesamten Rumpf behandelt worden waren, verschlechterten sich innerhalb eines Jahres regelmäßiger Behandlung. Aus dieser Untersuchung kann der Schluss gezogen werden, dass es nicht sinnvoll ist, die Wirbelsäule in Richtung einer gesamthaften Kyphose unter Einschluss von Brust- und Lendenwirbelsäule zu mobilisieren. Mit dem Schroth-Programm versucht man, die thorakale Kyphose durch eine spezielle Atemtechnik, wie auch durch spezielle Übungen wiederherzustellen, welche ausschließlich thorakal kyphosierend wirken. Mittlerweile gibt es Beweise dafür, dass in der Sagittalebene wirkende Korrekturkräfte die skoliotische Deformität auch in transversaler und frontaler Ebene korrigieren können (van Loon et al. 2008). In einer experimentellen Untersuchung mit dem Ziel, den kurzzeitigen Korrektureffekt zweier unterschiedlicher Korsette mithilfe der

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137 Abbildung 84: Links: Aus den Service-Seiten unserer Zeitung: (Öffentlicher Anzeiger Nr. 182 – 08.08.2009): „Hervorstehender Bauch und hängende Schultern: Schlechte Haltung (links) ist nicht attraktiv. Jemand, der sich gerade hält (Mitte links), hinterlässt automatisch einen besseren Eindruck.“ Die Haltung ganz links ist auf keinen Fall erwünscht! Die „gerade Haltung“ der Frau (Mitte links) sieht eher so aus, als hätte sie einen Stock verschluckt. Unserer Meinung nach machen die beiden Frauen rechts den besten Eindruck (Mitte rechts optimale natürliche Haltung und ganz rechts eine Achtjährige mit ihrer natürlichen, physiologischen Haltung). LESEPROBE

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85 86

Abbildung 85: Werden die Bauchmuskeln bei gerader Haltung angespannt, bewegen sich der obere Rumpf und die Schultern automatisch nach vorne (links). Um weiterhin gerade zu stehen, müssen die Schultern aktiv zurückgehalten werden (Mitte). Das führt zu dauerhafter Anspannung, verringerter Blutzirkulation und Schmerzen. Wenn man die vorderen Rippenbögen weiter nach vorne bringt (rechts; siehe auch Abbildung 83), wird die Lordose des oberen Lendenbereichs stärker. Der Oberkörper kann besser ausbalanciert werden, die Schultern fallen locker nach hinten und die benötigte Muskelanspannung reduziert sich. Abbildung 86: Um die Korrekturbewegungen zu erlernen, wird die Haltungskorrektur übertrieben. Da normalerweise häufiges Sitzen kompensiert werden muss, muss sich die obere Lendenwirbelsäule an die Korrektur erst gewöhnen. Kontrakturen müssen gelöst werden, damit die Korrektur durchgeführt werden kann.

Oberflächenvermessung zu dokumentieren, konnte belegt werden, dass sagittale Korrekturkräfte zu ähnlichen Kurzzeitkorrekturen führen können wie die dreidimensionalen Korrekturkräfte, welche im Chêneau-Korsett wirken (Weiss et al. 2006). Wenn auch die dreidimensionale Skoliosebehandlung nach Lehnert-Schroth langzeitig Verbesserungen bei einer Skoliose bewirken kann (Lehnert-Schroth 2007), legen die Ergebnisse der vorher beschriebenen Studie nahe, dass man die Qualität der physiotherapeutischen Skolioserehabilitation durch die Korrekturen in sagittaler Ebene zu verbessern vermag. Auf dieser Grundlage wurde ein neues Übungsprogramm entwickelt mit dem Ziel, ein physiologisches Sagittalprofil wiederherzustellen (Weiss & Klein 2006; siehe Abbildungen 85 und 86). LESEPROBE

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Abbildung 87: Alltagshaltung aus dem physio-logic®-Programm im Stehen und Sitzen.

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Die Übungen dieses Programms haben allesamt die gleichen Grundprinzipien, nämlich eine Verstärkung und somit Verbesserung der Lordose auf Höhe von L1–L2, wie auch eine Verstärkung und Verbesserung der thorakalen Kyphose im mittleren Thorakalbereich (Abbildungen 83, 84 und 87). Diese Übungen werden physio-logic®Übungen genannt. Die Ergebnisse, die in einer nach Alter, Geschlecht, Krümmungsmuster und Cobb-Winkel vergleichbaren kontrollierten Untersuchung erzielt wurden, stimmen mit der Hypothese überein, dass durch die Applikation von physio-logic®-Übungen das Behandlungsergebnis der stationären Skolioserehabilitation verbessert werden kann (Weiss und Klein 2006). Mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass der Erhalt der Lumballordose im Erwachsenenalter äußerst wichtig ist. Glassman und Mitarbeiter (2005) haben herausgefunden, dass das Sagittalprofil einen entscheidenden Einfluss auf die Stabilität einer Sko139 liose hat. Van Loon, Kühbauch und Thunnissen (2008) haben belegt, dass die Wiederherstellung der Lumballordose zu einer Stabilisierung und Aufrichtung einer Skoliose führt. Demnach kann man es als wissenschaftlich belegt ansehen, dass die Relordosierung der Lendenwirbelsäule zur Korrektur der Skoliose und auch zu deren Stabilisierung wesentlich beiträgt. LESEPROBE

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