Der weibliche Blick

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Der weibliche Blick Part 1 – aus der Sammlung Spallart Marina Abramovi´c / Ulay, VALIE EXPORT, Gelatin, Nan Goldin­, Michael Janiszewski, Anna Jermolaewa, Elke Krystufek­, Inés Lombardi, Tony Oursler, Sophie Pölzl, Gabriele Rothemann, Eva Schlegel, Esther Stocker, Jutta Strohmaier, Flora Watzal, Heimo Zobernig kuratiert von Anja Manfredi



Andra Spallart hat mich eingeladen, aus Perspektive der Künstlerin zum Thema „der weibliche Blick“, Werkbestände sichtbar zu machen und alternative Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. Kunstwerke dienen als Spiegel, sind temporäre Fixierung und repräsentieren Überlegungen zu gesellschaftlichen Diskursen. KünstlerInnen strukturieren, fragen und verhandeln subversiv-widerständig in der Werk-Herstellung gesellschaft­liche Bedingungen, Determinierungen werden neu ausgelotet und bestimmt, gleichsam ‚geshaked‘. Handelnde KünstlerInnen zeigen Blick-Perspektiven auf, Anschnitte und Ausschnitte, erzeugen Öffentlichkeit und Einstellungen, die luzide gemacht werden. Welche Ökonomien des Blickens gibt es? Welche Modelle des Sehens und mögliche inhärente Strukturen von Macht? Jonathan Crary entfaltet in seiner Abhandlung zu den „Techniken des Betrachtens“ ein Modell des Sehens, dem zufolge BetrachterInnen mit einer neuen Körperlichkeit ausgestattet sind und die Fähigkeit besitzen, von Sinneseindrücken affiziert zu werden, die nicht notwendig an einen Referenten gebunden sind. Als eines der Beispiele nennt er ein Thaumatrop: Im Auge der BetrachterIn verschmelzen durch Bewegung die beiden Seiten einer Wunderscheibe zu einem neuen Bild – diese visuelle Illusion durch Sinneseindrücke erzeugt auf der Netzhaut der BetrachterIn ein Bild. Durch die Trägheit des Auges wird im jeweiligen BetrachterInnen-Körper eine Wahrnehmungstäuschung hergestellt, somit werden subjektive Formen des Sehens produziert. Die BetrachterInnen beobachteten also nicht externe Objekte, sondern ihre Körper erzeugen die Illusion von Räumlichkeit oder Bewegung. Erst durch den Körper der BetrachterIn werden Objekte im Zusammenhang sichtbar, die physisch eigentlich gar nicht vorhanden sind. In der Ausstellung sollen neue Nachbarschaften und Wechselwirkungen entstehen – von Kunstwerk zu Kunstwerk, von Kunstwerk zu Betrachter­In – „Funken der Poesie“ (Max Ernst) schlagen über. In der Figur der BetrachterIn eröffnen sich Möglichkeiten der Komplizenschaft und Identifikation als zarte Verbindungslinien, ein aktives Sehen mit dem Körper und im Körper. Anja Manfredi


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Heimo Zobernig * 1958 in Mauthen/A, lebt und arbeitet in Wien/A

„Nr. 18“ 2000 Video, 13  min, Loop © Heimo Zobernig

Was zeigt ein Spiegelbild? Selbsterkennung? Identifikation mit dem Selbst? Heimo Zobernigs „Gebrochener Spiegel“ zeigt uns immer ein anderes Bild, je nachdem, welche Position wir einnehmen, wie nahe oder wie entfernt wir sind. Zobernigs in der rechten oberen Ecke zer­ brochener Spiegel bildet stets aufs Neue in der Spiegelung Vorhandenes ästhetisch flüchtig ab. Im Video „Nr. 18“ inszeniert sich der Künstler selbst, nackt wühlend in einem Haufen von Tüchern, die Vorhängen gleichen, in den ChromakeyFarben Bluebox, Video-Blau, Video-Rot und Greenbox sowie in der digitalen Nachbearbeitung eingefügtem Weiß. In diesem kreativen Prozess wird unermüdlich gesucht und geordnet, Raum und Form ändern sich beständig, die Figur des Künstlermythos wird dekonstruiert.


„Gebrochener Spiegel“ 1998 Spiegelglas, Karton, Holz, 200 x 150 x 5 cm


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Marina Abramovi´ c * 1946 in Belgrad/SRB, lebt und arbeitet in Amsterdam/NL und New York/USA

Ulay

(Uwe Laysiepen) * 1943 in Solingen/D, lebt und arbeitet in Amsterdam/NL

Aus welchem Standpunkt werden Objekte wahrgenommen? Welche Perspektiven werden eingenommen? ‚Sie küssen sich‘, denkt man beim Betrachten von „Breathing in, Breathing out“; tatsächlich blockieren Marina Abramovi´ c und Ulay ihre Nasenlöcher mit Zigarettenfiltern und drücken ihren Mund zusammen. Marina Abramovi´ c beginnt, atmet Luft ein und gibt diese Ulay, Ulay transformiert Luft für Marina, Marina verwandelt die transformierte Luft von Ulay, Ulay kopiert das Transformierte, bis zum Moment der Ohnmacht aus Mangel an Sauerstoff. Ein Original wird kopiert, die Kopie wird kopiert, die kopierte Kopie wird kopiert – steht ein neutrales Nichts am Ende? Das Ein- und Ausatmen als kommunikativer Akt, als Symbol für Gedankenaustausch oder Gabentausch. Abramovi´ c und Ulay versuchten, Grenzen zwischen ‚Realität und Kunst‘ zu löschen. „There was no space for private life. Everything was public life.“ (Abramovi´ c , 1998). Bis heute transformiert sie ihr ‚Selbst‘ in einer partizipatorischen Praxis zum Kunstwerk, z.B. mit ihrer Ausstellung im MoMA „The Artist is Present“ (2010).


„Breathing in, Breathing out“ 1977, Gelatine Silber Abzug je 47,7 x 60 cm Foto: Mumok Wien, © VBK


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VALIE EXPORT * 1940 in Linz/A, lebt und arbeitet in Wien/A

In der Köperaktion „TAPP und TASTKINO“ von VALIE EXPORT und Peter Weibel stellt EXPORT ihren Körper als Projektionsfläche und Leinwand zur Verfügung. Sie geht auf die Straße und nutzt diese als Bühne für ihre Inszenierungen, mit einer Art Schaukasten um den Oberkörper, der vorne eine mit Stoff verhängte Öffnung hat. Durch diese hindurch konnten die Passanten die Künstlerin anfassen. Hier tastet ein Gegenüber nicht mit den Augen eine Oberfläche ab, sondern greift und fühlt körperlich „denn Filme fordern uns auf, die Welt anzustarren, als ob sie ein nackter Körper sei“ (Frederic Jameson, 1990). In EXPORTs Arbeit wird, wie Barbara Clausen es formuliert, eine passive Rezeption des Mediums Film über die Projektionsfläche und die Macht des Blickes in eine aktive Handlung transformiert. Die Performance ist kein ‚optisches­ Spiel‘ mehr – sowohl die Körper der Künstlerin als auch die der BetrachterInnen werden als Oberfläche einer Einschreibung konstituiert. Inhaltlich werden Fragen thematisiert, die auch in späteren Arbeiten relevant sind: Blickregie, Seh-Positionen, Macht, Gewalt, sexuelle Revolution, Neuverhandlung von Geschlechterverhältnissen, Aufbrechen von Konditionierungen. Die Arbeiten von EXPORT sind in den Kanon des kulturellen Gedächtnisses eingegangen und bieten für Künstlerinnen wie Marina Abramovi´ c (Re-Performance, „Aktionshose Genitalpanik“, Seven Easy Pieces, Solomon R. Guggenheim Museum, 2005) oder Elke Krystufek wesentliche Impulse.


„TAPP und TASTKINO“ 1968 Gelatine Silber Abzug, 90 x 104 cm Foto: Galerie Charim Wien, © VALIE EXPORT


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Elke Krystufek * 1970 in Wien/A, lebt und arbeitet in Wien/A

„WARUM GIBT ES KEIN GENITALES TAPP- UND TASTKINO. Warum sieht eine Arbeit so und nicht anders aus, und darf frau/mann das künstle­ rische Konzept einer anderen Person weiterdenken? (…) Trotzdem muss ich noch einmal das Exportsche Tapp-und Tastkino denken: warum nicht der Arsch, warum nicht die Vagina? Warum nicht die Judith Butlerische Levinasische Nase? Warum nicht Penisse betasten? Nur weil es schon Glory Holes gibt? Vielleicht macht die Analyse von Ideen den letzten Reiz dieser Ideen kaputt. (…) LEKTORIERUNG ZUR ORIENTIERUNG. (…) Um es mit Alexander Kluge zu sagen: Es ist schon besser, wenn ein Text lektoriert wird, als wenn er nicht lektoriert wird. Frauen sind stolz auf ihre Fehler und Fehlerstellen. Die Art, wie mann/frau Fehler macht, sagt auch etwas über die Art des Funktionierens aus. So wie die Art der Verformung etwas über Formlosigkeit aussagt, die gelungene Nichtform: eine Blase. (…) Das Lektorat ist, wenn mann meine Arbeit kennt, natürlich ein Widerspruch, aber trotzdem wollte ich ausnahmsweise lektoriert werden. Eine sprachliche Schönheitsoperation. Kunst ist eine einzige persönliche Vorliebe, die Gespräche darüber immer am Rande des Slapsticks.“ Elke Krystufek, NEIN. Zitieren Verboten – machen Sie sich Ihre eigenen Gedanken, Edition Camera Austria, 2008


„Simone de Beauvoir“ 2000 Acryl auf Leinen, Schaufensterpuppe, Sonnenbrille, Walkman, 180 x 140 x 140 cm


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Eva Schlegel * 1960 in Hall in Tirol/A, lebt und arbeitet in Wien/A

Im 19. Jahrhundert kam es zu einer medialen Entladung von erotischen oder pornografischen Bildern. Für welche BetrachterInnen wurden diese Bilder hergestellt? In den Genuss der Betrachtung kamen historisch gesehen mehr Männer als Frauen. Sie konnten ihre Macht ‚des Blicks‘ ungezwungener ausleben, als Inhaber größerer gesellschaftlicher Autori­tät und Bewegungsfreiheit. Eva Schlegel zu Ihrer Arbeit: „Diese Edition entstand 1990 unter Verwendung von gefundenen anonymen Fotos um 1900, sie umfasst drei große Siebdrucke auf Papier und einen Text des Psychoanalytikers August Ruhs im gleichen Format, der eigens dazu verfasst wurde. Die drei großen Arbeiten zeigen den Geschlechtsakt mit Fokus auf eine aktive Frau, begleitend dazu wird in einer querformatigen Bleiarbeit der Mann im Negativ gezeigt.“ Schlegel eignet sich Bilder an, transformiert Material und setzt dieses in einen neuen Kontext. Sie wählt ein überdimensionales Format, wodurch die Bilder eine spezi­fische, raumgreifende ‚Macht‘ entfalten. Was ist ein ‚männlicher Blick‘? Abigail Solomon-Godeau verortet visuelle Lust „pleasure“ männlich, dargestellte Frauenkörper, die objektiviert und fetischisiert werden, ein phallisches Sehen (vision), dem eine sexuelle Ökonomie des Blickens (looking) inhärent ist. Die Arbeit von Eva Schlegel­ist eine weibliche Aneignung von etwas, was eigentlich männlich konnotiert ist. Wieso sollte eine Frau, die erotische Bilder betrachtet, keinen Lustgewinn aus ihnen ziehen? Kann mann/frau durch Bilder zur Ekstase gelangen?


ohne Titel, 1990 Siebdrucke, je 205 x 125 cm


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Nan Goldin * 1953 in Washington, D.C./USA, lebt und arbeitet seit 1978 in New York/USA

In New York lernte die Sängerin Nico durch Andy Warhol die von ihm inspirierte Band The Velvet Underground kennen. Nico äußerte in ihrer kurzen Liebesbeziehung zu ihrem Kollegen Lou Reed den Wunsch: „Lass mich dein Spiegel sein!“ Diese Aussage kulminierte im Song „I‘ll Be Your Mirror“ (1967) von The Velvet Underground & Nico. Nan Goldin wählte den selben Titel für eine ihrer Ausstellungen: „I´ll Be Your Mirror“ Whitney Museum (1996). In diesem Werkblock präsentierte sie Bilder, die facettenreich menschliches Sein und Empfinden reflektieren: Lust und Freude, gelöst und schwungvoll, traurig und ratlos, zerbrechlich und in Tränen. „Meine Arbeit ist wie ein visuelles Tagebuch, das andere lesen können. Ergebnisse von Beziehungen, nicht von Beobachtungen. Ich dachte immer, dass ich niemals einen Menschen verlieren könnte, wenn ich ihn oder sie nur oft genug fotografieren würde. Meine Fotos beweisen mir jedoch, wieviele ich verloren habe.“ (Nan Goldin) In ihren Bildern werden Biografien geborgen. Als künstlerischer Akt teilen sie und ihre Modelle diese individuellen, intimen Momente mit einer Öffentlichkeit, denn gerade im Persönlichen wird etwas Überpersön­ liches ausgedrückt. Den fotografischen Momenten, die Goldin uns zeigt, ist eine nachdenkliche Wirkkraft eingeschrieben, vielleicht noch ein letzter Fetzen an ‚Realität‘. So wird nicht nur der Referent zum Spiegel, sondern auch wir in der Rolle als BetrachterInnen.


„Lynelle in Japanese restaurant, N.Y.C“ 1988 Cibachrome, 30,5 x 40,5 cm © Nan Goldin


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Esther Stocker * 1974 in Schlanders/I, lebt und arbeitet in Wien/A

Esther Stocker fragt in ihren meist abstrakten Malereien und Installati­ onen nach sensueller, visueller Wahrnehmung. Von einer BetrachterIn zur AkteurIn, umgeben von Rastern, Ordnungssystemen, Mustern und Kategorien, die raumgreifend installiert sind. Die Arbeiten erinnern an die atemberaubende Architektur einer Stadt, in der sich Körper vorwärts bewegen, Reizen ausgesetzte Körper, die im Akt des Sehens und Fühlens Zeichen wahrnehmen. Und so thematisiert Stocker in ihrer Videoarbeit „Sehen als 1“ wie Bildwerke im wörtlichen Sinn ‚ins Auge gehen‘. „DIE HAND SCHAUT AUF DAS AUGE“ (Esther Stocker)


„Sehen als 1” 2000 Video, 30 sec, ohne Ton, Loop © Esther Stocker


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­Inés Lombardi * 1958 in São Paulo/BR, lebt und arbeitet in Wien/A

Die Arbeiten von Inés Lombardi handeln von Wahrnehmung, von diversen Blickperspektiven auf ein Objekt, Annäherungsprozesse bis zur Kristallisation. In der Arbeit „o.T.“ (1999) werden aufeinanderfolgende Momente in komplexen Zeit-Raum-Verhältnissen abgebildet, Lombardis Blick fokussiert immer genauer und detaillierter auf ihre Umwelt. Oft in der Figur einer Reisenden, nähert sie sich analysierend an. Von der ‚Bewegung zum Still und vom Still zur Bewegung‘ fixiert sie fotografisch Zeit-Raum-Gefüge und setzt diese anschließend in einer Komposition wie Mosaikstücke neu zusammen. Die Arbeiten thematisieren, wie unterschiedlich Beobachtungen ausfallen, je nach Betrachtungsweise. „Inés Lombardis konzeptuelles Denken spielt sich nicht nur in den Räumen der Kunstausstellung, sondern auch auf der gedruckten Seite ab. Sei es ein Katalog, eine kleine Broschüre, ein Offsetdruck, sie sind niemals nur begleitende Dokumentation oder Informationsträger, sondern eigenständige Werke, die allen anderen Ausdrucksmitteln der Künstlerin gleichgestellt sind. (…) Für „and“ ist der Travelogue Ausgangspunkt, Material. In dieser neuen Interpretation wird das Bindewort „and“ selbstständig. Es wird gleichermaßen wie das Bild autonom. Der Satz, der Raum, die Zeit und die Narration wurden aufgelöst, neue Assoziati­ onen und Interpretationen sind möglich.“ (Brigitte Huck)


„and“ 2009 C-print, 29,7 x 42 cm Foto: Galerie Georg Kargl, © Inés Lombardi


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Flora Watzal * 1975 in Wien/A, lebt und arbeitet in Wien/A

Als Ausgangsmaterial für das Video „Vierecke 1“ von Flora Watzal dient die Videoaufnahme von vier kleinen Holzplättchen, die – Wind und Wellen überlassen – auf der Wasseroberfläche treiben. „Am Schnittplatz wurde das Material Frame für Frame so verzerrt, dass jedes dieser Quadrate in einer der Bildecken fixiert erscheint. Die Holzstücke definieren somit die Begrenzungen des Bildes. Zu sehen ist, was zufällig innerhalb dieses Rahmens liegt: leicht bewegtes Wasser, ein paar dahintreibende Blätter, hie und da ein Insekt oder ein vorbeifliegender Samen. Der Ausschnitt ist also nicht nur ausgehend von einem Punkt hinter der Kamera konstruiert, sondern letztendlich auf der Bildebene verankert. Das Video wird endlos vorwärts und rückwärts abgespielt.“ (Flora Watzal)


„Vierecke 1“ 2002 Video, 6 min 58 sec, Loop © Flora Watzal


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Jutta Strohmaier * 1966 in Tulln/A, lebt und arbeitet in Wien/A

Jutta Strohmaier beschäftigt sich in ihren Videos und Fotografien mit unterschiedlichen Zugängen zum Begriff Raum: Neue Darstellungsweisen von Raum-Zeit-Zusammenhängen werden erforscht. Mit poetischen Mitteln visualisiert Strohmaier in ihren Arbeiten Verbindungslinien zwischen äußerem Erleben und Innenwelten. „Das Sehen wird zum bewussten Akt der Wahrnehmung.“ (Jutta Strohmaier) In den beiden ausgestellten Werkserien „Relations“ (1999) und „Türen und Schwellen“ (2001) stellt sich die Künstlerin selbst in den abgebildeten Räumen dar. Im Zusammenhang mit diesen Arbeiten zitiert Strohmaier den Sozialanthropologen Victor Turner, der neben Figuren wie Hofnarren und Schamanen auch Künstler als „Zwischenwesen“ beschreibt, als permanente Grenzgänger, die weder das eine noch das andere sind. Turner schreibt dazu: „Aus einer Haltung, die von Dissonanz und oft auch Isolation geprägt ist, entwickeln diese ‚Grenzgänger’ eine andere Perspektive, was sie zu Agenten der Innovation und Veränderung disponiert, sie aber auch in die Marginalität treiben kann.“


„Relations“ 1999 C-Prints, je 165 x 120 cm © Jutta Strohmaier


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Sophie Pölzl * 1989 in Wien/A, lebt und arbeitet in Wien/A

„Was passiert, wenn ich den Versuch starte, alles rund um mich herum auszuschalten, mich nicht mehr bewege und mich nur auf mich konzentriere?“ Aus dieser Intention heraus lud Sophie Pölzl für „20 Minuten“ verschiedene Personen ein, für 20 Minuten still vor einer Lochkamera zu posieren.
Der Apparat ist mit Direkt-Positiv-Papier 4 x 5 “ bestückt, die Kassette wird geöffnet und ein Lichtbild wird auf ein lichtempfindliches Material projiziert, dort direkt und dauerhaft fixiert. Ein visuelles Anhalten der Zeit als „vollkommene geronnene Stille“ (Holmes). Verschiedene Zeitsysteme können im fotografischen Bild geborgen werden: Momentaufnahmen, die als blitzartiges Anhalten der Zeit erscheinen oder aber lange Belichtungszeiten. Die Zeitbelichtung erfasst eine längere Dauer, ein „gleichsam in das Bild hinein wachsen, hinein leben“ (Benjamin) und macht so das Bild zum Raum einer spezifischen, ‚seltsamen‘ Erfahrung von Zeit. 
Nach und nach tritt die zu Beginn vielleicht noch wichtige posierende Haltung vor der Kamera in den Hintergrund. Anderes wird nun im Prozess des fotografischen Aktes zentral: unmittelbares Zulassen und Eintauchen in eine individuelle Gedankenwelt. Die fotografierten Personen wurden während des Fotografierens, körperlich ruhig: stillhalten, innehalten in einer dynamischen, schnelllebigen und sich ständig verändernden Zeit. Im Gedanken waren unterschiedliche Bewegungen möglich. Diese abstrakten gedanklichen Aktionen und Reaktionen schreiben sich durch die lange Dauer ins Bild ein, als spezifische­Einstellungen, Haltungen und Empfindungen.


„20 Minuten“ 2010 Gelatine Silber Direkt-Positiv Abzug, 12,5 x 9,8 cm © Sophie Pölzl


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Michael Janiszewski * 1957 in Berlin/D, lebt und arbeitet in München/D und Basel/CH

Grundthemen von Michael Janiszewski sind: „Einsamkeit, Verzweiflung über den Verlust von Utopien, Absurdes im alltäglichen Alltag des kollektiven Wahnsinns, Albträume, Verlust mühsam erkämpfter Errungenschaften, Rückkehr des Spießertums und dessen ungewollte Komik des Zwanghaften, Zwänge aller Art. Die humorvolle wie gleichzeitig beklemmende Sur­realisierung der unfreiwilligen Komik, die entsteht, wenn zwei Gegenpole zusammenprallen – hier auf der einen Seite die Welt des Einsamen, der nicht mehr sozialer Kontrolle unterworfen ist, auf der ander­en Seite die Außenwelt mit ihren sozialen Zwängen. Aus dieser Situation treiben oft die skurrilsten bizarrsten Blüten. Diese bildlich umzusetzen hat mich gereizt. Dabei sind neben Humor Aggression und Provokation als Äußerung von Verzweiflung mit eingeschlossen. Verzweiflung kann sich auch in der Entwicklung von Gegenwelten äußern, die in ihrer Eigenwilligkeit eine starke Schönheit vermitteln. Die Schilderung dieser außergewöhnlichen, oft verschrobenen, quasi verzerrten Schönheit des Bizarren drückt sich in den merkwürdigen grotesken absurden Gesten und Haltungen der Figur in meinen Bildern aus. Die Fotografien beruhen auf inszenierten Aktionen. Mit der Auswahl der Kleidung, der Gegenstände und deren Anordnung wird der Grundstein für die Farben der späteren Komposition gesetzt. Dabei spielen auch Spontaneität und Improvisation eine Rolle. In meinen Bildern findet man kaum die Farben Grün, Gelb, selten Blau und Rot. Ich habe immer Grau, Schwarz und Braun bevorzugt, vielleicht um Morbidität, Leiden und Tod auszudrücken. Fröhlich geht die Welt zugrunde.“ (Michael Janiszewski)


ohne Titel, 1992–1993 C-Prints, je 100 x 70 cm


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Gelatin Künstlerkollektiv bestehend aus: Wolfgang Gantner (* 1968), Ali Janka (* 1970), Florian Reither (* 1970) und Tobias Urban (* 1971) arbeiten seit 1993 zusammen, leben und arbeiten in Wien/A.

Exzess, Ekstase, Rebellion, Kontrollverlust oder Zufälliges stehen im Mittelpunkt der unkonventionellen Performances des Künstlerkollektivs Gelatin. In der illegalen Geheimaktion „The B-Thing“ vom 19. März 2000, die zwischen 6.15 Uhr und 6.30 Uhr stattfand, trat ein Mitglied des Kollektivs aus dem 91. Stockwerk des Word Trade Center auf einen selbstgezimmerten Balkon. Zuvor schmuggelten sie die benötigten Bauteile unter ihren Pullovern ins Gebäude, kratzten Kitt aus den Fenstern, entfernten Elemente der Glasfassade und bauten in langen komplizierten Prozessen einen Balkon. Für ein paar Minuten stand ein ‚Gelatin‘ regungslos 300 Meter über dem Boden am Balkon, ein eigens gemieteter Helikopter dokumentierte die Aktion filmisch und fotografisch. Von The New York Times bis zur Süddeutschen Zeitung gab es Berichte darüber: „Die Bilder dieser Aktion scheinen die Perforierung der Fassade des World Trade Center, die seinem Einsturz vorausging, in prophetischer Weise vorwegzunehmen. Die Idee des Balkons am WTC als Rampe zur Unendlichkeit wirkt jetzt wie ein unerreichbares Wunschbild.“ (Süddeutschte Zeitung, 17.10.2001)


„The B-Thing“ 2000 C-Prints, je 40 x 80 cm © Gelatin


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Tony Oursler * 1957 in New York/USA, lebt und arbeitet in New York/USA

Der amerikanische Videokünstler Tony Oursler ist für seine Installati­ onen bekannt, in denen er Gesichter auf Puppen projiziert. Diese brüllen, stöhnen, jammern, quatschen, weinen oder schauen die BetrachterInnen einfach stumm an. Diese Dummys – wie Oursler sie nennt – wirken wie Skulpturen von Pygmalion, die gerade zum Leben erwachen, fungieren als Stellvertreter des Subjektes, als Reaktion auf eine gegenwärtige Populär-Kultur. „Ich wusste schon immer, dass ich mit Augen arbeiten wollte. Sie sind für mich der Fokus der Medienkultur, die originale Camera obscura, ja der Ursprung der Medien, des Kinos, der Sehnsucht überhaupt. Aber der Ausdruck ,Fenster zur Seele‘ ist eigentlich irreführend. Wenn man die Augen aus dem Gesicht isoliert, kann man oft nicht unterscheiden, ob eine Person lacht oder weint. Das sieht man erst am Mund und an der Haut um den Mund herum.“ (Tony Oursler) Prägend für seine Arbeit ist das Sammeln von Büchern über Wahrsager, Medien, Zauberei, Dämonologie und Orte, die nicht existieren. Genauso interessiert Oursler sich für Geister- und Gedankenfotografie, die ihm als Inspirationsquelle dient. „Ein Kunstwerk ist wie ein Haken, der in die Zukunft geschleudert wird“, sagt Oursler und fügt hinzu: „Kunst ist immer ein Fragezeichen.“


„Pop“ 1998 Videoinstallation mit Pokalen und Puppe, 110 x 100 x 80 cm


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Anna Jermolaewa * 1970 in St. Petersburg/RUS, lebt und arbeitet in Wien/A

„Überlebensversuche“ 2000 Video, 3 min, Loop © Anna Jermolaewa

In Anna Jermolaewas Videoarbeit „Überlebensversuche“ finden sich Fragen nach Machtansprüchen, Selbst- und Fremdkontrolle, nach strukturellen kulturellen Bedingungen oder auch nach Erfolg und Scheitern. Stehauffiguren, die Babuschka-Puppen ähnlich sehen, fallen und stehen sogleich wieder auf. In der Arbeit „Mutterschaft“ wird eine fragmentierte, komplexe Kette von Beziehungen als Passage sichtbar. Zentrale Akteurin im Bild ist eine Hundemutter, diese wird von einer menschlichen Hand liebevoll gestreichelt. Gleichzeitig versuchen drei Welpen ungebändigt an ihren Zitzen Nahrung aufzunehmen. Die Person, als streichelnde Hand im Bild erkennbar, konzentriert sich wiederum auf eine Kommunikation außerhalb des gezeigten Bildes.


„Mutterschaft“ 1999 Video, 30 sec, Loop © Anna Jermolaewa


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Gabriele Rothemann * 1960 in Offenbach am Main/D,
lebt und arbeitet in Wien/A

Gabriele Rothemanns „Hinterglasbilder“ wirken zerbrechlich, rätselhaft aber auch unheimlich und bedrückend, zeitlos und ohne Verortung, durch die Wahl von schwarz/weiß haftet den Fotografien historischdokumentarisches an. Jacques Rancière reflektiert in: „Der emanzipierte Zuschauer“ über „nachdenkliche Bilder“, er definiert diese als Bilder, die einen nicht gedachten Gedanken in sich bergen. Gabriele Rothemann zeigt uns Jugendliche, Individuen in Übergangsidentitäten. Sie befinden sich in einem ‚Zwischenraum‘, einer Lebensphase, die von Veränderungen geprägt ist. Blick und Pose, die Macht haben, Geschichten verdichtet zu erzählen oder neue Geschichten in Gang zu bringen. „Ein Kind schaut aus dem halb herabgelassenen Zugfenster, feiner Schnee hat sich in seinem dunklen Haar verfangen. Ein anderes Kind blickt durch den unteren Teil der Scheibe, ernst, ein bisschen scheu. Der Titel „Hinterglas“ beschreibt zugleich die Technik der Fotoarbeiten­: Fotoemulsion auf Glas. Die alte Technik erzeugt über die Art des Auf­ trags der Emulsion einen Effekt, der die Bilder entrückt erscheinen lässt. Blicke hierhin und dorthin, ein Flechtzopf, Hände, Augen. Die Scheiben reflektieren einen weit entfernen Mast oder Schornstein, unscharf und verwischt wie im Schneetreiben, verblasst wie in der Erinnerung. Die Szenerie sieht vertraut aus. Bahnhof-Abschieds-Szenen? Kino? Heimweh? Wie viele Dokumentationen von Krieg und Vertreibung, von Verschickung und Abschiebung sind im kollektiven Bildgedächtnis gespeichert? Es wird einfacher, wenn man sich die Frage nach der Macht der Bilder stellt, nach den inszenatorischen Bildstrategien und kalkulierten Effekten.“ (aus: Katja Behrens, K.WEST, 2011)


„Hinterglasbilder“ 2007/2011 Fotoemulsion auf Glas, 20 x 25,5 cm © Gabriele Rothemann



Theresiengasse 25, 1180 Wien geöffnet Mo, Mi, Fr 10 – 13 Uhr, Do 13 – 18 Uhr und nach Vereinbarung +43 (0) 664 201 8318 www.foto-raum.at

Diese Publikation erscheint im Rahmen der Ausstellung: Der weibliche Blick  /  Part 1 – aus der Sammlung Spallart 7. September bis 20. Oktober 2011 Kuratorin: Anja Manfredi Leitung: Andra Spallart Organisation: Marie-Therese Hochwartner, Monika Ottwald Grafik: Christoph Fuchs Kurztexte und Fotos: Anja Manfredi Korrektur: Melanie Gadringer Dank an Wolfgang Drechsler, Sonja Eiböck, Galerie Charim Wien, Gelatin, Sophie Haaser, Nicole Haitzinger, Margarete Heck, Michael Janiszewski­, Anna Jermolaewa­, Ludwig Kittinger, Inés Lombardi­, Astrid Peterle, Sophie Pölzl, Gabriele­Rothemann, Eva Schlegel, Esther Stocker­, Thadeus­ Stockert­, Jutta Strohmaier­, Thomas Szanto, Flora Watzal, Martin­ Vesely, Heimo Zobernig Mit Unterstützung von Wiener Linien und Sharp

Die nächste Ausstellung im Foto-Raum: A female View  /  Part 2 – aus der Helsinki School kuratiert von Timothy Persons 28. Oktober 2011 bis 6. Jänner 2012


Marina Abramovi´c / Ulay VALIE EXPORT Gelatin Nan Goldin­ Michael Janiszewski Anna Jermolaewa Elke Krystufek­ Inés Lombardi Tony Oursler Sophie Pölzl Gabriele Rothemann Eva Schlegel Esther Stocker Jutta Strohmaier Flora Watzal Heimo Zobernig


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