Hab und G ut Gabriele Rothemann
Schlangenrituale Vor unwirklich weißem Grund und das ideale Zentrum der monu
Unschärfe erfahrbar. Gabriele Rothemann hat tableaux vivants von
mentalen Tondi umkreisend fügen sich Schlangen unterschiedlicher
hypnotischer Intensität geschaffen, die das Auge zwingen, ständig
Größe und Artenzugehörigkeit zu seltsam schwerelosen ornamen
den Modus der Betrachtung anzupassen und zwischen flächigem
talen Knotungen und Schlingungen. Eine Versuchsanordnung von
und räumlichem Sehen, zwischen ornamentaler Struktur und
strenger kompositorischer Fügung und inszenatorischer Komplexi
mimetischer Abbildhaftigkeit zu oszillieren. Folgt der Betrachter
tät, die das fordert, was Max Imdahl emphatisch das „sehende
den sich windenden Reptilien und sucht deren Verschlingungen
Sehen“ genannt hat. Die sich windenden Schlangenkörper sind
und Verknotungen zu entwirren, stößt er an neuralgischen Punkten
von mächtiger physischer Präsenz und bilden doch zuallererst
zudem immer wieder auf Störfelder. Fast unmerklich sind dort
ein rhythmisch bewegtes Formgeflecht. Ihre kontrastreiche, sich
Teile der Schlangenhaut von artifiziellen Schuppen überdeckt,
in Streifen und Rauten, in Flecken und Punkten artikulierende,
die gleichwohl die natürlichen Dehnungen und Kontraktionen
eigentlich der mimetischen Anpassung an den Lebensraum die
nachvollziehen. Diese zu mosaikartigem Ornament erstarrten
nende Zeichnung verwandelt sich unter den Reflektoren des
Schuppen hat die Künstlerin in Schwarz und Weiß gezeichnet, im
white cube in reines Ornament. Was sich zunächst als linear und
Verlauf des Werkprozesses auf die Negative appliziert und dann
flächig darstellt, erweist sich auf den zweiten Blick als atmendes
durch eine Strichfilmmaske im Originalformat des Fotopapiers
Subjekt, das seine Vitalität und akute sensorische Wahrnehmung
partiell belichtet. Die natürliche Zeichnung der Reptilien trägt so
vor allem in den züngelnden Schlangenköpfen offenbart. Was sich
eindeutig die Signatur der Kunst.
rational nur auf einer horizontalen Fläche ereignen kann, ist hier mit divinatorischer Geste um 90 Grad gekippt und auf die Wand
Dass es bei den Schlangenritualen, mit Hans Blumenberg zu
projiziert. Sehgewohnheiten sind außer Kraft gesetzt, Plastizität
sprechen, um „Arbeit am Mythos“ geht, legt schon die Wahl des
und Tiefenräumlichkeit schwer zu fokussieren. Nur da, wo sich ein
Bildgegenstandes nahe. Kaum ein anderes Tier ist in so vielen
Schlangenkopf offensichtlich vom Grunde hebt und gleichsam die
Kulturkreisen und Religionen präsent und besetzt ein symboli
ästhetische Grenze des Bildes berührt, wird dies durch eine leichte
sches Feld, das von Klugheit, Heilung und Unsterblichkeit bis hin
zu List, Verführung, Sünde und Tod reicht. Der Heilgott Asklepios
sind Dokumentation und Stillleben, Andachtsbild und Allegorie
und das Orakel in Delphi, Laokoon und Medusa, der Baum der
zugleich. Es ist ein poetisches Bedeutungs-Spiel von Aneignung
Erkenntnis, die Vertreibung aus dem Paradies, die Anbetung der
und Transformation, das in seltener Angemessenheit von kon
ehernen Schlange und die Madonna der Unbefleckten Empfängnis
zeptionellem Entwurf und künstlerischer Form seine Überzeu
scheinen am abendländischen Deutungshorizont auf. Ein ganzes
gungskraft gewinnt. Daran haben Werkmittel und Werkprozess
Arsenal von Bildern, von denen Caravaggios spektakulärer
entschiedenen Anteil. Die Arbeit am Mythos der Repräsentation
Medusenschild in den Florentiner Uffizien den Schlangenritualen
geht programmatisch einher mit einer Archäologie des eigenen
formal wie konzeptionell am nächsten kommt. „Selbstbewußte
Mediums. Die analogen Fotografien sind mit Großbildkamera auf
Bilder“ (Victor Stoichita), hier wie dort, die den Mythos der
4 ú 5 Inch Negative gebannt. Der verwendete Film, ein Technical
Medusa aufrufen, um am Mythos der Repräsentation zu arbeiten.
Pan von Kodak, dessen Produktion vor langen Jahren einge
Die beinahe altmeisterlich anmutenden, als polyphone Sequenz
stellt wurde, ist bereits selbst ein Mythos. Für das Projekt der
konzipierten Tondi von Gabriele Rothemann übersetzen diesen
Schlangenrituale kommt die ‚letzte‘ Rolle dieses extrem hart
Diskurs ins Medium der Fotografie. Es geht um die rituelle
zeichnenden, besonders für die Architekturfotografie entwickelten
Inszenierung des ewigen Widerstreites von Kunst und Natur,
Materials zum Einsatz. Um aus diesem orthografischen Strichfilm
von Präsenz und Absenz, von Fläche und Raum, von Figuration
auch die feinsten Grauabstufungen herauszuholen, bedarf es
und Abstraktion. Wir sind aufgerufen, solcherlei Früchte vom
eines speziellen Technidol-Entwicklers, den eigenhändig in der
Baum der ästhetischen Erkenntnis zu kosten, auch um den Preis
Dunkelkammer anzumischen selbstverständlich dazugehört. Solch
endgültig aus dem Paradies einfacher Gewissheit mimetischer
alchemistisches Handwerk taugt im digitalen Zeitalter wohl am
Kunst vertrieben zu werden.
ehesten zum Garanten der Wahrhaftigkeit der Bilder.
Die Schlangenrituale von Gabriele Rothemann widersetzen sich jeder klassifikatorischen Ordnung, sind Fotografie und Zeichnung,
Sebastian Schütze
„Schlangenmosaik V“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
Detail aus „Schlangenmosaik V“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
„Schlangenmosaik II“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
„Schlangenmosaik III“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
Detail aus „Schlangenmosaik III“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
„Schlangenmosaik IV“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
„Schlangenmosaik I“, 2012 Silbergelatineabzug auf Barytpapier, § 131,5 c m
„Hab und Gut N° 7“, 2012 Radiografie auf Röntgenfilm, 98,7 ú 2 12,5 cm
„Hab und Gut N° 6“, 2012 Radiografie auf Röntgenfilm, 99,1 ú 2 12,5 cm
„Hab und Gut N° 4“, 2012 Radiografie auf Röntgenfilm, 99,1 ú 2 12,5 cm
„Hab und Gut N° 8“, 2012 Radiografie auf Röntgenfilm, 99,1 ú 2 12,5 cm
„Hab und Gut N° 1“, 2012 Radiografie auf Röntgenfilm, 98,7 ú 2 12,5 cm
Making of „Hab und Gut“ am 12., 13. und 14. April 2012
Für die Produktion des Projektes Hab und Gut wurde ein Container im Maßstab 1:4 nachgebaut. Gegenstände in diesem Größen verhältnis wurden wie bei einem Umzug gestapelt und in Anleh nung an die Containerröntgenaufnahmen der Überseehäfen radiografiert. Die großformatigen Röntgenfilme sind im weitesten Sinne ‚Archivbilder‘. Sie stehen für das Lebensgefühl der überall geforderten Mobilität, der Notwendigkeit des Einpackens des gesamten Hab und Guts und dem Neubeginn mit den aus dem gewohnten Kontext genommenen Dingen an einem neuen, meist unbekannten Ort.
Schon in der Schule war das Sitzenbleiben ein böses Vorzeichen. Wer sitzen bleibt, wird es zu nichts bringen. Er wird auch später sitzen bleiben. Wer aufsteigen will, der muss mobil sein, immer in Bewegung, immer bereit zu Neuem. Ja, selbst wenn ich nur den Kopf über Wasser halten will, muss ich mich dem Zwang permanenter Veränderung fügen. Berufliche Karrieren sind mit Ortswechsel verbunden. Wer nicht übersiedeln will, der bleibt auf seinem Posten hocken. Oft ist der Wechsel des Ortes auch gar nicht eine Frage beruflichen Weiterkommens, sondern eine das Leben
rettende Notwendigkeit. Niemand geht gern in die Fremde. Viele
Völlige Ruhe ist der Tod. Fotografie ist die Kunst der völligen
werden von Not und Gewalt gezwungen ihre Heimat, ihre Familie
Ruhe. Beim Betrachten von Fotografien begegnet uns die das
zu verlassen. Wer bleibt, wird zugrunde gehen.
Leben begleitende Spur des Todes. Für die Gegenwart halten sie fest, was vergangen ist. Sie zeigen etwas, das dem Leben völlig
In den Pensées von Blaise Pascal lese ich: „Was also wird der
fremd ist: Stillstand. Die Bewegung des Lebens zieht eine Kielspur
Mensch werden? Wird er Gott oder den Tieren gleich sein? Welch
unveränderlicher Sachverhalte hinter sich her. Wer fortgegangen
entsetzlicher Abstand! Was also werden wir sein? Wer erkennt
ist, nimmt manchmal das Vergangene in Gestalt von Fotografien
nicht aus alledem, dass der Mensch verirrt, dass er aus seinem
mit. Sie bewahren den Schein der Unveränderlichkeit von etwas,
Ort gefallen ist, dass er ihn ruhelos sucht und dass er ihn nicht
das es nicht mehr gibt. Der Stillstand hat es getötet. So zeigen die
wiederfinden kann?“ (431) „Unsere Natur ist in der Bewegung,
Fotografien, dass die Bewegung unseres Lebens vom Cantus firmus
völlige Ruhe ist der Tod.“ (129)
des Todes begleitet wird. Und sie zeigen auf eine merkwürdige Weise auch, dass Leben mehr ist als eine nie enden wollende
Der Wunsch zu leben ist es, der uns zur Bewegung zwingt. Daher
Variation auf diesen Cantus firmus. Dass es eine Bewegung
brechen wir immer wieder neu auf, daher wird selbst vieles, was
gibt, die dem Stillstand gegenüber sieghaft bleibt. Denn in den
sich im Lauf der Zeit um einen ansammelt, immer neu mitgenom
Fotografien kann etwas Sonderbares begegnen. In ihnen kann die
men. Die Dinge wandern mit. Viel Liebgewordenes bleibt zurück.
Welt ins Lichte verwandelt und ganz in Schwebe erscheinen. So, als
Worin wurzeln wir? Endet dieses nie enden wollende Weiterziehen
wäre sie an der Grenze zum Bewegten angelangt und müsste nur
schließlich in völliger Entwurzelung? Vielleicht gelingt es, die Wur
angehaucht werden.
zeln anderswo zu schlagen, Luftwurzeln zu bilden oder den Vögeln gleich im Bewegten beheimatet zu sein. Vielleicht ist das Medium unseres Lebens ähnlich bewegt wie die Luft, dem Wind verwandt.
Gustav Schörghofer
Gabriele Rothemann geboren 1960 in Offenbach am Main lebt und arbeitet in Wien
Studium 1981–1985 Studium der Fotografie, Kunsthochschule Kassel 1985–1987 Staatliche Kunstakademie Düsseldorf, Klasse für Malerei bei Prof. Fritz Schwegler, Meisterschülerin Preise und Stipendien 1987 Kunstfonds Arbeitsstipendium 1988–1989 DAAD Jahresstipendium USA, Los Angeles, California Institute of the Arts (bei John Baldessari und Michael Asher) 1989 Förderpreis der Stadt Düsseldorf 1992 Peter Mertes Stipendium, Bonn 1992 Arbeitsstipendium „Transfer“ 1996–1997 Deutsche Akademie Rom Villa Massimo Lehrtätigkeit 1992–1994 Gastprofessur an der Schule für Gestaltung, Zürich 1994–1995 Lehraufträge an der Universität Mainz, Fachbereich Freie Kunst, Klasse für Fotografie 1997–2001 Künstlerische Mitarbeit an der Bauhaus-Universität Weimar, Fachbereich Freie Kunst 1999 Austauschdozentur am Kent Institute of Art and Design, M.A. Fine Art, Canterbury, England seit 2001 Professur für Fotografie, Universität für angewandte Kunst Wien
www.gabrielerothemann.com
Dank an die Förderinnen Andra Spallart Gabriela Krist
Dank an das Produktionsteam Jorit Aust Johanna Folkmann Catharina Freuis Mark Glassner Peter Hoiß Marie Janssen Olivia Jaques Pia Mayer Georg Oberlechner Judith Pichlmüller Florian Raditsch Josef Schauer Thomas Schweiger Bastian Schwind Konrad Strutz
Theresiengasse 25, 1180 Wien geöffnet Mo, Mi, Fr 10 – 13 Uhr, Do 16– 19 Uhr und nach Vereinbarung +43 (0) 676 517 5741 www.foto-raum.at
Diese Publikation erscheint im Rahmen der Ausstellung
Hab und Gut Gabriele Rothemann 30. Juni bis 7. September 2012
Dank an die Leihgeber der Objekte für das Projekt „Hab und Gut“ Veronika Aichinger – Die vermischte Warenhandlung Glasfabrik Michaela Hitzenberger Kunsthandel Christian Kaufmann – Dorotheum Matschnig’s Antikkeller Familie Noe Alexander Pallendorf – Das Spielzeug Probs Filmrequisitenverleih Rausch & Co Tschernitz – Antiquitäten Simon Weber-Unger – Wissenschaftliches Kabinett
Leitung: Andra Spallart Organisation: Marie-Therese Hochwartner, Monika Ottwald Grafik und Technik: Christoph Fuchs Dokumentation: Jorit Aust, Catharina Freuis Lektorat: Melanie Gadringer © 2012 bei der Künstlerin und den Autoren
Gabriele Rothemann