Fritz+Fränzi 11-17: Ernährung

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Fr. 7.50 11/November 2017

Hemmzwerg Wie schüchternen Kindern geholfen werden kann Downsyndrom Mein Leben mit Maél, 8 – eine Mutter erzählt

Fleisch, Milch, Ei

Was ist gut für mein Kind – und was nicht?


Illustration von Björn Berg © Bildmakarna Berg AB Originaltitel: «Winter in Lönneberga», Text bearbeitet von Tristan Berger

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Unsere Krankenversicherung unterstützt «Neues von Michel aus Lönneberga» und «Die kleine Hexe». Zwei Kindermusicals, die der ganzen Familie Spass machen.


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Bild: Geri Born

Am 4. September erreichte mich eine E-Mail von Miriam Bettschen aus Frutigen BE: «Mit grossem Interesse habe ich Ihren Bericht über Autismus gelesen. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen! Ich bin selber mit einem Autisten verheiratet und zwei unserer drei Kinder leiden unter Autismus. Für unseren siebenjährigen Sohn Joel wünschen wir uns sehnlichst einen Autismusbegleithund. In der Schweiz wartet man Jahre auf so einen Hund. Für Joel wäre der Hund aber jetzt wichtig und nötig. Bitte helfen Sie uns.»

Nik Niethammer Chefredaktor

Dem Schreiben war ein Spendenaufruf beigelegt, mit dem Frau Bettschen bei Freunden, Verwandten und Stiftungen Geld gesammelt hatte – wenig erfolgreich: Statt der benötigten 34 500 Franken für die Ausbildung und Anschaffung eines Autismusbegleithundes waren lediglich 4000 Franken zusammengekommen.

«Für Joel ist es schwierig, mit Emotionen umzugehen und angemessen zu reagieren», erzählt die dreifache Mutter. «Unser Sohn ist schnell reizüberflutet. Kleinste Veränderungen werfen ihn aus der Bahn. Dann schreit er, wirft mit Gegenständen um sich, schlägt sich selbst.» Fachleute schätzen, dass ein Begleithund die Anfälle von Autisten um die Hälfte reduzieren kann. «Hat Joel einen Anfall und verkriecht sich unter der Bettdecke, würde sich der Hund auf mein Kommando sachte auf Joel legen; zuerst nur auf seine Beine, dann auf seinen ganzen Körper», sagt Miriam Bett«Wenn Sie uns versprechen, schen. «Es ist bekannt, dass Autisten bei Anfällen nichts mehr spüren. Sie dass Sie nicht alles glauben, brauchen Widerstand. Der Druck des Hundes beruhigt sie.»

was Ihr Kind von der Schule erzählt, versprechen wir Ihnen, dass wir nicht alles glauben, was Ihr Kind von zu Hause erzählt.»

Notiz an der Wandtafel in einer österreichischen Grundschule, aufgeschrieben anlässlich eines Elternabends.

Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi, unterstützt Miriam Bettschen bei der Finanzierung ihres grossen Wunsches. Wie die Familie zu ihrem Begleithund kommt und wie Sie helfen können, hat unsere Autorin Sarah King aufgeschrieben. Ein Hund nach Mass für Joel – ab Seite 46. In eigener Sache: Zweimal im Jahr veröffentlicht die WEMF AG die Leserschaftsstudie MACH-Basic; sie gibt Aufschluss darüber, welche Zeitungen und Zeitschriften Leser verlieren. Und welche zulegen. Die Zahlen für unser Magazin in der Übersicht:

• 21 Prozent mehr Leserinnen und Leser innerhalb eines Jahres (MACH-Basic 2017-2: 178 000 vs. MACH-Basic 2016-2: 147 000) • Zunahme der verkauften Auflage gegenüber dem Vorjahr um 34 Prozent (WEMF-Auflagenbulletin 2017: 24 846 Exemplare vs. 2016: 18 572 Exemplare) • Zunahme der verkauften Auflage gegenüber 2015 um satte 143 Prozent (Basis 2015: 10 224 Exemplare) Ihr Zuspruch macht uns stolz. Und motiviert uns, Ihnen auch in Zukunft ein treuer Weg­ begleiter zu sein. Für Ihr Vertrauen danke ich Ihnen sehr herzlich. Ihr Nik Niethammer

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Inhalt Ausgabe 11 / November 2017

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf fritzundfraenzi.ch und

Psychologie & Gesellschaft 40 T ypisch Mädchen, typisch Buben? Buben lernen anders als Mädchen. Warum es wichtig ist, die Unterschiede zu kennen, und wie Sie damit umgehen können.

facebook.com/fritzundfraenzi. Augmented Reality

Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und Zusatzinformationen zu den Artikeln.

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10 Zu Tisch, bitte! Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Es ist Wissenschaft und Glaubensfrage, Geschmackssache und Kulturgut, es verbindet Familien oder spaltet sie. Wir haben sieben Ernährungsmythen auf den Prüfstand gestellt – mit teilweise überraschenden Erkenntnissen. 32 S chön entspannt bleiben Die Ernährungspsychologin Katja Kröller plädiert für Gelassenheit, wenn Kinder plötzlich zu Früchte- und Gemüsemuffeln werden.

Fr. 7.50 11/November 2017

Hemmzwerg Wie schüchternen Kindern geholfen werden kann

Bild: Filipa Peixeiro / 13 Photo

Downsyndrom Mein Leben mit Maél, 8 – eine Mutter erzählt

Fleisch, Milch, Ei

Was ist gut für unsere Kinder – und was nicht?

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Cover Viele Kinder greifen gerne nach Fleisch, Milch und Ei – doch ist das auch gesund?

Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo, Daniel Winkler / 13 Photo, Samuel Trümpy / 13 Photo, Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Dossier: Ernährung


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Georg Stöckli, warum sind gewisse Kinder übermässig schüchtern?

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Joel, 7, hat Asperger. Ein Begleithund würde ihm und seiner Mutter den Alltag erleichtern.

Erziehung & Schule 46 Ein Begleithund für Joel Joel hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus. Ein Begleithund könnte ihm helfen, sich im Leben beser zurechtzufinden. Die Stiftung Elternsein startet eine grosse Spendenaktion. 54 Eine Frage der Sicht Für das Verständnis von Kindern ist ein Perspektivenwechsel nötig. 56 Freude an der Rechtschreibung Drei Praxistipps. 60 Schlagen, treten, beissen Was Eltern bei extremer Aggression ihres Kindes tun können. 64 Freude am Rechnen Die «befreiende Pädagogik» kann Kinder fürs Lernen begeistern. 70 Leben mit Downsyndrom Eine Mutter erzählt, wie die genetische Veranlagung ihres Kindes die Familie verändert und prägt.

Digital & Medial 82 A nderen beim Spielen zuschauen Let’s Player sind Jugendliche, die sich während des Gamens filmen. Deren

Youtube-Filme sind bei Teenagern äusserst beliebt. 86

Sind Gesundheits-Apps sinnvoll? Drei Tipps, worauf es ankommt.

Ernährung & Gesundheit 78 G eneration kurzsichtig Die Zahl der Schulkinder, die eine Brille brauchen, steigt weltweit. Warum? Und kann Kurzsichtigkeit verhindert werden?

Rubriken

«Wenn ich mit Maél zusammen bin, zählt nur der Moment», sagt Barbara Stotz.

57 Stiftung Elternsein Ellen Ringier über ihre Mutter, die sie auch im Winter in Kniesocken zur Schule schickte, und warum sie Verständnis hat für die Modemacken ihrer Töchter. 58 F abian Grolimund Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd – das gilt auch für unsere engsten Beziehungen. 68 Leserbriefe 90 Eine Frage – drei Meinungen Was tun, wenn der jüngere Bruder besser Fussball spielt als der ältere?

03 Editorial 06

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Service

34 M onatsinterview Der Erziehungswissenschaftler Georg Stöckli ist Experte für Schüchternheit.

85 Verlosung

42 Jesper Juul Wie kommen Eltern zu Schlaf, wenn Kinder das Familienbett belagern?

89 Buchtipps

44 M ichèle Binswanger Unsere Kolumnistin ist irritiert, dass eine Teenie-Girlband mit sehr explizitem Wortschatz sie fasziniert.

88 Sponsoren/Impressum

91 Abo

Die nächste Ausgabe erscheint am 1. Dezember 2017.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 5


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So entspannt ist Bern

3 FRAGEN

Wo wollen Sie wohnen? Dort, wo das Leben möglichst entspannt ist? Dann sollten Sie nach Bern ziehen. Laut einer Studie im Auftrag der mobilen Wäscherei und Reinigung Zipjet in Berlin ist Bern die stressfreiste Stadt der Schweiz. Untersucht wurden rund 500 Städte nach Kriterien wie psychische Gesundheit der Bewohner, Arbeitslosigkeit, Schulden pro Kopf, Anzahl Sonnenstunden, Anzahl Grünflächen, Gleichstellung, Sicherheit, Umweltbelastung und Bevölkerungsdichte. Bern schaffte es auf Platz vier. Der erste Platz ging an Stuttgart.

an Daniel Hess, Co-Leiter des Vereins Glücksschule

Der Verein «Glücksschule» setzt sich für eine öffentliche Schule ein, in der Kinder mit Freude lernen und in die sie gerne gehen. Wie diese aussehen soll, erklärt Vereinsleiter Daniel Hess. Interview: Evelin Hartmann Daniel Hess, im Januar 2015 kam Ihr Buch «Glücksschule» auf den Markt. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Buch? Ich habe in dieser Zeit als Berufsschullehrer gearbeitet und war entsetzt, wie viele Schüler bereits mit der Schule innerlich abgeschlossen hatten. Zu dieser Zeit kam auch mein ältester Sohn in die Schule und wollte schon nach wenigen Wochen nicht mehr hingehen. «Ich werde dort krank», waren seine Worte. Mir wurde bewusst, wie viele schulische und gesellschaftliche Strukturen nicht dem Glück aller Menschen dienen. Ich wollte ein Buch schreiben, welches das Glück jedes Menschen ins Zentrum stellt. 2015 wurde der gleichnamige Verein gegründet. Mit welchem Ziel? Der Verein setzt sich für einen Wandel an der öffentlichen Schule ein: Es müssen am Ende der Schulzeit nicht alle das Gleiche können, sondern jeder Schüler sollte vor allem an die eigenen Fähigkeiten glauben. Das ist doch die wichtigste Ressource jedes Menschen! Wie sieht heute Ihre Arbeit konkret aus? In der gesamten Schweiz gibt es inzwischen mehrere Regionalgruppen. Wir wollen die Menschen für eine andere Schulkultur sensibilisieren, bieten aber auch für Lehrpersonen oder Eltern konkrete erste Schritte an. Ausserdem beraten wir Schulen, die unser Programm im Schulalltag umsetzen wollen, und führen Kongresse, Vorträge und Kurse durch. Auch möchten wir eine Beratungsstelle aufbauen, die Eltern unterstützt, deren Kinder in der Schule Probleme haben, sowie Schulen und Lehr­ personen, die Probleme mit Lernenden oder Schulklassen haben. www.gluecksschule.ch

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71 Prozent der Familien mit Kindern unter 15 Jahren sorgen privat für das Alter vor. (Quelle: Umfrage der AXA Winterthur, bei der 500 Familien in der Schweiz befragt wurden)

Auf Jobsuche? Eine neue Hotline soll helfen 40 000 Jugendliche in der Schweiz sind ohne Job. Um diesen jungen Menschen eine Anlaufstelle zu bieten, startet «Check Your Chance», der Dachverein gegen Jugendarbeitslosigkeit, nun die Helpline GO4JOB, unter der sich ein Team aus Jugendpsychologen den Fragen und Nöten junger Arbeits­ suchender annimmt. Und das rund um die Uhr. GO4JOB wurde in Zusammenarbeit zwischen «Check Starten Sie Your Chance» und dem Arbeitgeber­ die aktuelle pp, verband entwickelt und wird von Pro Fritz+Fränzi-A Seite e es di e Si n Juventute betrieben. scanne einen e Si n he se d un Beratung per Helpline 0800464562 Film über oder E-Mail: beratung@go4job.ch ance». «Check Your Ch

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bilder: ZVG, Bern Tourismus

«Schüler sollen an sich glauben können»


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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 7


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«Elterntaxis sind nicht nur ein grosses Ärgernis, sondern auch für Erziehungsdefizite verantwortlich. Man nimmt den Kindern so die Möglichkeit, den Umgang mit Gefahren zu lernen.» (Beat W. Zemp in einem Interview auf www.aargauerzeitung.ch)

Beat W. Zemp ist Präsident des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH)

Kinder und Lernen Entdecken, staunen und viel Neues ausprobieren – die «Kinder und Lernen»-Messe geht in die nächste Runde und lockt mit einer Ausstellung rund um Baby-, Kinder- und Jugendthemen. So informiert beispielsweise der Sprachreisenanbieter fRilingue über sein Angebot für Schüler und Studenten in den USA, England oder Frankreich oder der Club Chess4Kids über Schachkurse für junge Spieler. Dabei gilt es natürlich viel auszuprobieren und zu testen. Die nächsten Messen «Kinder und Lernen» finden am 19. November in Aarau und am 26. November in Zürich statt. www.kinderundlernen.ch

Wie die Mutter, so das Kind ...

... zumindest, wenn es ums Schlafverhalten geht. Ein Forscherteam um Natalie Urfer-Maurer von der Universität Basel hat untersucht, wie Ein- und Durchschlafprobleme der Eltern mit der Schlafqualität der Kinder zusammenhängen. Dafür analysierten die Forscher den Schlaf von knapp 200 Kindern im Primarschulalter und befragten ihre Eltern zur eigenen Schlafqualität und der ihres Nachwuchses.Dabei stiessen die Forschenden auf einen Zusammenhang zwischen der Schlafqualität der Mütter und jener ihrer Kinder: Die Kinder von Müttern, die von Schlaf­­ problemen berichteten, schliefen später ein, schliefen weniger lang und befanden sich weniger lang im Tiefschlaf. Der Nachwuchs könnte sich das Schlafverhalten von den Eltern abschauen, oder abendlicher Streit in der Familie könnte das Einschlafen erschweren, so die Forscher. Zwischen der Schlafqualität von Vätern und jener ihrer Kinder wurde übrigens kein Zusammenhang gefunden.

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Bei einem Arztbesuch mit ihren Kindern sind Eltern oft überbehütend und «managen» das gesamte Prozedere, von der Anmeldung über die Untersuchung bis zur Besprechung der Befunde. Das mag bei kleinen Kindern angebracht sein, doch selbst bei Jugendlichen lassen zumindest amerikanische Eltern diesen kaum Freiräume. Eine für die USA repräsentative Befragung der Univer­ sity of Michigan von 1517 Müttern und Vätern 13bis 18-jähriger Teenager ergab, dass fast 40 Prozent der Eltern den Medizinern alle Fragen selbst stel­ len. Nur 15 Prozent gaben an, dass ihre Tochter oder ihr Sohn körperliche oder emotionale Proble­ me mit seinem Arzt unter vier Augen bespricht. Um ein Bewusstsein für seine eigene Gesundheits­ vorsorge zu entwickeln, wäre aber genau dies wich­ tig, erklären die Forscher.

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Bilder: Glowimages RM / Alamy Stock Photo, Hero Images / Plainpicture, ZVG

«Doktor, was fehlt ihm?»


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Dossier

Du bist, was du isst Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Es ist Wissenschaft und Glaubensfrage, Geschmacks­sache und Kulturgut, es verbindet Familien oder spaltet sie. Was zu essen, ist gesund? Und womit schaden wir unseren Kindern? Eine Einordnung. Text: Virginia Nolan Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 11


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Dossier

Die Forschung zeigt: Jugendliche mit hohem Milchkonsum haben ein höheres Risiko für Knochenbrüche.

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acht Milch wirklich stark? Ist Fleisch gut für mein Kind? Gilt es, Zucker um jeden Preis zu vermeiden? Alte, tief in unserer Gesellschaft verankerte Weisheiten darüber, was gesund ist und was nicht, sind ins Wanken geraten. Dies macht uns bisweilen ratlos: Was dürfen wir überhaupt noch essen? Und vor allem: Was sollen wir unseren Kindern zu essen geben? Als Autorin, die oft über Ernährung schreibt, gelangte ich mit der Zeit zur Erkenntnis: Der goldene Mittelweg ist der richtige, auch beim Essen. Doch was heisst das genau? Und stimmt das überhaupt? Ich machte mich auf Spurensuche – und stellte sieben Mythen auf den Prüfstand der Wissenschaft.

1. «Milch macht stark» Kaum ein Lebensmittel spielt in der Kinderernährung eine so zentrale Rolle wie Milch. «Milch macht stark» ist fest in den Köpfen verankert. Erst recht, wenn es um die Ernährung von Kindern und Jugendlichen geht. Milch gilt als wichtige Kalziumlieferantin, die Knochen und Zähne stärkt. Die ­Milchempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) variieren nach Alter des Kindes. Demgemäss sollten Zehn- bis Zwölfjährige drei Portionen verschiedener Milchprodukte pro Tag

zu sich nehmen. Als eine Portion gelten 2 Deziliter Milch, 150 bis 200 Gramm Joghurt, Quark oder Hüttenkäse, 30 Gramm Halbhart- oder Hartkäse oder 60 Gramm Weich­ käse. Daraus resultiert eine Tagesmenge von bis zu 460 Gramm. Milchtrinker werden grösser

«Ein so hoher Milchkonsum wird oft mit der Kalziumversorgung gerechtfertigt. Demnach soll Milch die Knochen stärken und Brüchen vorbeugen», sagt Walter Willett, Professor für Ernährungswissenschaft und Epidemiologie an der Harvard School of Public Health in Boston. «Dafür gibt es aber keine wissenschaftlichen Beweise.» Der 72-jährige Willett ist der meistzi­­ tierte Ernährungswissenschaftler und er­­forscht, wie Ernährung und Krankheit zusammenhängen. «Der Mythos, wonach Kinder viele Milchprodukte konsumieren sollten, um ihre Knochen zu stärken, scheint der Realität definitiv nicht standzuhalten», sagt Willett. «Wir wissen heute, dass Jugendliche mit einem hohen Milchkonsum ein höheres Risiko für Knochenbrüche im Erwachsenenalter haben.» Ein wahrscheinlicher Grund dafür sei, dass ein hoher Milchkonsum in der Kindheit zu längeren Knochen führe – die damit anfälliger seien für Brüche. Dass Milchtrinker grösser werden, gilt als unumstritten. Grösser bedeutet aber nicht unbedingt

gesünder. «Gross gewachsene Menschen haben ein erhöhtes Risiko für bestimmte Krebsarten», sagt Susannah Brown vom World Cancer Research Fund. «Der Risikofaktor ist nicht die Körpergrösse selbst, sondern der Wachstumsprozess, den wir bis ins Erwachsenenalter durchlaufen.» Wie gross ein Mensch werde, hänge auch von der Ernährung in Kindheit und Jugend ab. So begünstige eine stark proteinreiche Kost ein rasanteres Wachstum und eine höhere Körpergrösse, auch übergewichtige Kinder wüchsen tendenziell schneller. Zudem setzt die Pubertät früher ein. Keinen Bedarf mehr für Milch nach der Stillzeit

«Solche Entwicklungen sind eine unmittelbare oder indirekte Folge unserer Ernährung als Kind», sagt Brown. «Dabei spielen erhöhte Spiegel von Wachstums- und Sexualhormonen eine Schlüsselrolle.» Diese Hormone beeinflussten Körper­ grösse und Geschlechtsmerkmale, aber auch das Verhalten unserer Zellen – und so das Risiko für Krebs. Was hat das mit der Milch zu tun? «Wir wissen, dass ein hoher Konsum von Milchprodukten die Konzentration von Wachstums­faktoren im Blut erhöht», sagt Ernährungswissenschaftler Walter Willett. Im Fokus steht dabei der Wachstumsfaktor IGF-1, der die Zellteilung beschleunigt. Ein erhöhter Spiegel von IGF-1 geht nachweislich mit einem gesteigerten Risiko für gewisse Krebsarten einher. Warum mehr von diesem Botenstoff im Blut hat, wer ausgiebig Milchprodukte konsumiert, ist gemäss Willett noch nicht geklärt. Im Verdacht stünden jedoch Wachstumshormone in der Kuhmilch. Auch Muttermilch enthält Wachstumshormone. Nach der Stillzeit jedoch, etwa ab dem dritten Lebensjahr, habe der Mensch keinen Bedarf mehr für Milch: «Dann ist rasantes Wachstum nicht >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 13


Dossier

>>> mehr wünschenswert, sondern mit gesundheitlichen Risiken verbunden.» Steigender Östrogenspiegel in der Milch

Als solche bezeichnet die HarvardForscherin Ganmaa Davaasambuu auch die in der Kuhmilch enthaltenen Sexualhormone, vor allem Ös­trogene. Problematisch ist gemäss Davaasambuu nicht Milch per se,

sondern das Produkt einer hochmodernen Milchwirtschaft, die Kühe dauerträchtig hält und fast ununterbrochen melkt. «Mit fortschreitender Trächtigkeit», sagt Davaasambuu, «steigt der Östrogenspiegel in der Milch.» Die Forscherin analysierte nebst westlicher Hochleistungsmilch auch Rohmilch aus der Mongolei: Diese hatte eine bis zu 33 Mal tiefere Konzentration an weiblichen >>>

Problematisch ist Milch als Produkt einer hochmodernen Milchwirtschaft, die Kühe dauerträchtig hält und fast ununterbrochen melkt.

Dem Zucker auf der Spur Anita und Martin haben das Leben ohne Zucker auf Probe gewagt. Die Mutter des 6-jährigen Noah* und des 3-jährigen Nico und ihr Partner befanden den Versuch als wohltuend, aber alltagsuntauglich. Jetzt praktiziert die Patchworkfamilie einen Mittelweg. Anita: Ich habe kein Problem damit, zwischendurch ein Stück Kuchen zu essen. Da weiss ich wenigstens auf Anhieb, dass Zucker drin ist. Problematisch finde ich, dass wir Zucker auch da finden, wo ihn keiner vermutet. Martin: Hüttenkäse, Brot, Würzmischungen, Trockenfleisch – überall ist versteckter Zucker drin. Wollen wir den weglassen, wirds schnell kompliziert. Da komme ich beim Einkaufen nicht ohne Anitas Hilfe zurecht, ganz ehrlich. Anita: Fruktose, Gerstenmalz, Saccharose, Raffinose – Zucker hat viele Namen, dies sind nur ein paar davon. Es muss sich gut informieren, wer zuckerfrei leben will. Martin: Wir haben es 40 Tage lang durchgezogen, einfach als Versuch. Für mich war das Neuland. Anita: Ich beschäftige mich schon länger mit dem Thema und verdanke der Zuckerreduktion

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ein besseres, gesünderes Körpergefühl. Martin: Ich habe in den 40 Tagen gut sieben Kilo abgenommen, aber darum ging es mir nicht: Vor allem war ich wacher, konzentrierter, fitter. Anita: Wir begannen, viele Nahrungsmittel selbst herzustellen: Brot, Joghurt, Würzmischungen oder Aufstriche etwa. Als berufstätige Mutter war mir das auf Dauer jedoch zu anstrengend. Die optimale Ernährungsweise soll auch familientauglich sein. Diese Herausforderung thematisiere ich auch auf meinem Blog runningmami.ch. Martin: Gelohnt hat sich unser Versuch aber trotzdem. Da hat ein Umdenken stattgefunden. Anita: Auf jeden Fall. Wir haben vieles daraus in unseren Alltag integriert. So habe ich zum Beispiel ein zuckerfreies Brot gefunden, das auch die Kinder mögen, und Fruchtjoghurts kaufe ich nicht mehr. Ich möchte nicht, dass meine Kinder ihren täglichen Zuckerbedarf schon nach dem Frühstück gedeckt haben. Noah: Mein Lieblingsessen sind Gummibärchen. Anita: Mein Sohn liefert die Antwort gleich selbst: Nein, die Kinder mussten unseren Versuch nicht mitmachen. Die Naschbox stand ihnen weiterhin offen. Da dürfen sie ab und zu was Süsses rausnehmen. Martin: Anita und ich werden unsere zuckerfreien 40 Tage aber definitiv wiederholen. Ich bin leider rückfällig geworden und merke es auch – die verflixte Schokolade … * Namen der Kinder von der Redaktion geändert

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Anita und Martin lebten 40 Tage zuckerfrei. Das bedeutete auch Verzichten auf Trockenfleisch und Hüttenkäse.

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Dossier

Das Lieblings­essen von David (rechts hinten) und Anna (vorne) ist Durian – eine Stinkfrucht.

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Dossier

Forscher bezeichnen zwei Portionen Milchprodukte pro Tag – egal welcher Art – als massvoll.

>>> Geschlechtshormonen. Kühe in der Mongolei werden nicht künst­ lich besamt und nur in den ersten drei Monaten einer Trächtigkeit gemolken. «Die Milch, die wir heu­ te konsumieren, hat kaum noch etwas mit der Milch zu tun, die unsere Vorfahren tranken», sagt Davaasambuu.

Roh und natürlich: Essen wie unsere Vorfahren Die Patchworkfamilie von Sandra und Tanja ernährt sich von Rohkost. Wenn Luca*, 12, David, 9, oder die 6-jährigen Mia und Anna Geburtstag feiern, ist sogar der Kuchen roh. Tanja: Ich ernähre mich nun schon so lange von Rohkost, dass ich kaum mehr weiss, wie es vorher war. Sandra: Auch ich fing in späten Teenagerjahren damit an, nachdem diese Ernährungsweise meinem Vater zu einer besseren Gesundheit verholfen hatte. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen, anders zu leben. Tanja: Unsere Kinder kennen seit Geburt nichts anderes. Im Sommer sind wir dank unserem Garten fast selbstversorgend. Sandra: Je nach Lust der Kinder kaufen wir aber auch mal etwas dazu, Melonen oder exotische Früchte zum Beispiel. David: Mein Lieblingsessen ist Durian. Anna: Meines auch! Tanja: Die Stinkfrucht ist der ungeschlagene Favorit der Kinder. Wahrscheinlich, weil wir sie so selten essen. Mia: Ich esse am liebsten Geburtstagskuchen. Sandra: Der Kuchen ist ein Highlight für die Kinder. Ich mache einen Boden aus Datteln und Nüssen und eine Füllung aus frischen Früchten und Nüssen. Tanja: Als Rohkost gelten Naturprodukte, die nicht über 40 Grad erwärmt wurden. Wir essen auch Trockenfleisch, rohe Eier von unseren

Milch ist gesund – für mangelernährte Kinder

«Uns fehlen viele Antworten auf die Frage, wie der Konsum von Milch­ produkten in der Kindheit die Gesundheit beeinflusst», sagt Wil­ lett. «Bis weitere Informationen vor­ liegen, ist Masshalten ein guter Mit­ telweg.» Als massvoll bezeichnet der For­ scher Mengen von täglich höchstens zwei Portionen Milchprodukten, egal welcher Art. «Milch enthält wichtige Nährstoffe wie Protein oder Kalzium», schreiben die Forscher Willett und David Ludwig im Fach­ magazin JAMA. Kindern, die von Mangelernährung betroffen seien, könne Milch gesundheitliche Vor­ teile bieten. «Bei Kindern aber, die bereits eine hochwertige Er­­ >>>

Hühnern und Rohmilch, die Sandra zu Quark verarbeitet. Sandra: Wir essen alles in natürlicher Form, so, wie unsere Vorfahren gegessen haben und es Wildtiere noch heute tun. Dadurch bleiben unserer Nahrung wichtige Enzyme und Nährstoffe erhalten. Tanja: Die Milch kann ich eigentlich nicht mit mir vereinbaren, weil es unnatürlich ist, Muttermilch einer anderen Art zu trinken. Sandra: Bisher haben die Kinder noch nie den Wunsch geäussert, etwas zu essen, das sie zu Hause nicht bekommen. Ich wüsste nicht, wie ich darauf reagieren würde. Luca: Bei Oma habe ich früher einmal heimlich Brot und Teigwaren gegessen. Tanja: Dass es heimlich war, fand ich nicht so toll. Da gabs Diskussionen mit meiner Mutter. Luca: Heute esse ich aus Überzeugung roh. Meine Freunde haben das schnell begriffen. Ich kann problemlos bei denen essen: Ein paar Äpfel und Bananen hat jeder daheim. Sandra: Drei unserer Kinder werden zu Hause unterrichtet, David besucht die Schule. Wenn dort ein Kind Geburtstag feiert, nimmt die Lehrerin Nüsse für ihn mit. Mir wäre es lieb, könnten wir unsere Kinder noch lange von der industriellen Nahrung fernhalten. Tanja: Klar könnten wir sagen: Jetzt kochen wir das Gemüse halt einmal. Aber wir haben bei Freunden gesehen, dass die Hemmschwelle, auch andere Sachen zu probieren, dann abnimmt. Rohkost gibt klar vor, was drinliegt – dass Süsskram und Industrienahrung da nicht dazugehören, finden wir als Mütter prima.

*Namen der Kinder von der Redaktion geändert

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Dossier

>>> nährung mit grünblättrigen Früchten, Gemüsen, Nüssen und Samen sowie guten Proteinquellen geniessen, können die Vorzüge der Milch ihre etwaigen gesundheitlichen Risiken möglicherweise nicht aufwiegen.»

2. «Fleisch muss sein» Wer heutzutage kein Fleisch isst, erweckt damit kaum mehr Aufsehen. Wo immer wir speisen, sind vegetarische Optionen gang und gäbe. Es wird auch kaum mehr angezweifelt, dass eine fleischlose Ernährung nicht zwangsläufig zu Mangelerscheinungen führt. Nicht ganz so entspannt sind wir jedoch, wenn es um Kinder geht. Es bleibt die Frage im Raum: Braucht unser Nachwuchs Fleisch, um gesund zu wachsen?

«Fleisch ist ein hochwertiges Nahrungsmittel, reich an Protein, Eisen und anderen Vitalstoffen», sagt Josef Laimbacher, Chefarzt für Kinderund Jugendmedizin am Ostschweizer Kinderspital und Mitglied der Eidgenössischen Ernährungskommission. $ Um Fleischkonsum propagieren zu können, müsste aber eine wichtige Voraussetzung stimmen. Für Laimbacher ist das Bio-Qualität: «Sie garantiert uns ein hohes Mass an Sicherheit, dass das Fleisch nicht mit Antibiotika oder Rückständen aus kontaminiertem Tierfutter be­­ lastet ist.» Seien diese Bedingungen erfüllt, stelle Fleisch in der Kinderernährung eine wertvolle Quelle für essenzielle Aminosäuren dar. Das sind Proteinbausteine, die im >>>

Allergie oder Intoleranz? Blähungen, Hautausschläge oder Atemnot: Manche Menschen reagieren empfindlich bis sehr heftig auf bestimmte Lebensmittel. Dann kann eine Allergie vorliegen oder eine Intoleranz. Die beiden Formen der Reaktion auf Inhaltsstoffe unterscheiden sich grundlegend voneinander. Eine Nahrungsmittelallergie beruht auf einer Abwehrreaktion des Körpers gegenüber harmlosen pflanzlichen oder tierischen Eiweissen (Allergenen). Die von unserem Organismus gebildeten Antikörper lösen bei jeglichem Kontakt mit den Allergenen – oft reichen nur Spuren davon – eine allergische Reaktion aus. Sie variiert je nach Schweregrad der Allergie von Juckreiz über Hautekzeme

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«Bio-Qualität garantiert uns ein hohes Mass an Sicherheit, dass Fleisch nicht mit Antibiotika belastet ist», sagt Kinderarzt Josef Laimbacher.

oder Verdauungsbeschwerden bis hin zum sogenannten anaphylaktischen Schock, der schwersten Form einer allergischen Reaktion, die im schlimmsten Fall zu Atem- und Kreislaufstillstand führt. Im Fall der Nahrungsmittelallergien ist die gefühlte Betroffenheit weit höher als die tatsächliche, wie Zahlen des Allergiezentrums Schweiz zeigen: So geben bei Umfragen jeweils 20 Prozent der Bevölkerung an, auf bestimmte Nahrungsmittel allergisch zu sein, nachweislich davon betroffen sind allerdings lediglich 2 bis 8 Prozent. Nahrungsmittelintoleranz ist ein Sammelbegriff für verschiedene, nicht allergisch bedingte Reaktionen auf Nahrungsmittel. Dabei bildet der Körper keine Antikörper, sondern ihm fehlt stattdessen die Fähigkeit, einen bestimmten Stoff zu verdauen, beziehungsweise er hat diese Fähigkeit ganz oder teilweise verloren. Ein bekanntes Beispiel für eine Nahrungsmittelintoleranz ist die Zöliakie oder Glutenintoleranz. Dabei können

Betroffene das Klebereiweiss in verschiedenen Getreidesorten nicht verdauen, was zu einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut führt. Bei der Laktoseintoleranz, einer weiteren bekannten Störung, fehlt Betroffenen ein Verdauungsenzym, um Milchzucker zu spalten. Anstatt ins Blut gelangt der Milchzucker unverdaut in den Dickdarm und wird dort von Bakterien vergoren, was zu Blähungen, Bauchkrämpfen, Durchfall, Verstopfung oder Erbrechen führen kann. Eine Nahrungsmittelintoleranz führt nicht zu einer lebensbedrohlichen Situation, kann für Betroffene aber sehr einschränkend und unangenehm sein. Die Symptome sind vielfältig, zu den häufigsten gehören Verdauungsbeschwerden wie Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall oder Verstopfung sowie Unwohlsein. Je nach Form der Intoleranz sind in der Schweiz bis zu 20 Prozent der Bevölkerung betroffen. Mehr Informationen: www.aha.ch

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August November 2017 19 2017 19


Dossier

Einer für alle: Obwohl Mutter Sandra «Ella-konform» kocht, essen alle aus demselben Topf.

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier

Familiensolidarität mit der Allergikerin Ella Macher, 16, aus Bäretswil ZH leidet an schweren Lebensmittelallergien. Ihre Eltern Sandra und Andreas sowie Bruder Flynn, 12, stellten deshalb auch den eigenen Speiseplan auf den Kopf. Sandra: Ihr erster Griessbrei kostete Ella fast das Leben. Sie bekam einen Ausschlag, ihr Hals schwoll zu, sie verlor das Bewusstsein. Ella hatte als Baby einen allergischen Schock. Es stellte sich heraus, dass sie hochallergisch auf Weizen war – sowie auf Nüsse, Eier und Milch. Ella: Heute sind meine Reaktionen nicht mehr lebensbedrohlich. Ich hatte neulich sogar Brot probiert – und nachher nur Bauchweh. Experimentieren läuft nicht immer gleich gut. Andreas: Als du Milchschaum probiert hattest, warst du zwei Tage ausser Gefecht. Sandra: Solche Reaktionen waren früher gang und gäbe. Nur schon, wenn ein anderes Kind Glace gegessen hatte und Ella mit ungewaschenen Fingern berührte, reagierte sie mit Nesselfieber. Ella: Daran erinnere ich mich kaum mehr. Sandra: Mich dagegen prägt die Angst, dass Ella etwas Falsches erwischen könnte, bis heute. Ich schärfte der Kindergärtnerin ein, dass Ella nicht einmal die Blockflöte mit anderen teilen darf, Lehrer und Eltern von Schulfreunden wurden informiert, Spezialessen fürs Klassenlager organisiert. Ich war jahrelang wie auf Nadeln. Ella: Dass Mama nicht aus der Rolle meiner Beschützerin herauskann, ist ein grosses Thema zwischen uns. Andreas: Es führt auch zu Konflikten zwischen uns Eltern, weil ich es unterstütze, wenn Ella experimentieren will. Als Arzt interessieren mich ihre Reaktionen eher, als dass sie mich ängstigen. Gleichzeitig verstehe ich Sandra, weil der Umgang mit Ellas Allergien im Alltag vor allem an ihr hängt. Sandra: Früher kochte ich zu jeder Mahlzeit zwei verschiedene Gerichte. Irgendwann wuchs mir das über den Kopf, mittlerweile pflegt auch Andreas als Vegetarier eine spezielle Ernährung. Flynn: Wir essen meist alle «Ella-konform» – das ist bei uns ein fester Begriff. Manchmal gibts für mich und Papa etwas Käse dazu. Sandra: Flynn hat in den vergangenen Jahren oft zurückstecken müssen, ich hatte keine Kapazität, auf seine Essenswünsche einzugehen. Flynn: Manchmal motze ich auch. Meist sehe ich es positiv: Ellas Allergien machten uns erfinderisch – und Kochen spannender. Sandra: Der vegane Trend hat uns viele neue Produkte beschert. Ella: Es gibt aber leider auch den Trend, Pseudo-Allergien an die grosse Glocke zu hängen. Ich kann nicht verstehen, wie Leute sich damit interessant machen möchten, wo ich stets nur eines wollte: ja nicht auffallen mit meinen Allergien.

Vegan lebende Kinder sollten täglich etwa einen Viertel mehr Pflanzenprodukte essen als traditionell ernährte Altersgenossen. >>> Körper unter anderem am Muskelaufbau sowie an der Produktion von Enzymen, Hormonen und Antikörpern beteiligt sind. Es geht auch ohne

Geht es auch ohne? «Grundsätzlich ja», sagt Laimbacher. Ein Kind vegetarisch zu ernähren, bedeute allerdings nicht nur, Fleischprodukte vom Speiseplan zu streichen, sondern diese durch eine ausgewogene Mischkost zu ersetzen. So seien Milchprodukte, Eier, Hülsenfrüchte, Getreide und Nüsse gute Proteinlieferanten und deckten dabei auch essenzielle Aminosäuren ab. «Proteinmangel ist in unseren Breitengraden kein Thema mehr», sagt Laimbacher. Daran ändere auch die zunehmende Beliebtheit der fleischlosen Kost nichts. Ihren Bedarf an Vitamin B12, zentral für die Blutbildung und die Funktion des Nervensystems, müssten vegetarisch lebende Kinder über Milchprodukte und Eier decken. «Eine ausgewogene Ernährung, die ohne Fleisch auskommt, aber andere Tierprodukte miteinschliesst», so Laimbacher, «deckt die Nährstoffbedürfnisse des wachsenden Kindes gut ab.»

3. «Veganer sind Rabeneltern» Aber was ist mit der veganen Ernährung, die sämtliche Nahrungsmittel tierischen Ursprungs ausschliesst? In den Medien lesen wir von Müttern und Vätern, die ihre Kinder mit Trockenobst fütterten, bis diese spitalreif waren, von einem Baby, das durch Pflanzenkost verhungerte, weil ihm die Eltern keine >>>

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Vegane Ernährung kann bei fehlendem Fachwissen zu Hirnschädigungen führen.

>>> Säuglingsmilch anboten, nach­ dem das Stillen nicht funktioniert hatte. Auch am Ostschweizer Kinder­ spital mussten schon Kinder behan­ delt werden, bei denen die vegane Ernährung zu schweren Entwick­ lungsdefiziten geführt hatte: «Die meisten davon waren Babys und Kleinkinder mit irreversiblen Hirn­ schädigungen, ausgelöst durch einen Mangel an Vitamin B12 der Mutter während Schwangerschaft und Still­ zeit.» Laimbacher betont allerdings, dass diese Patienten Einzelfälle dar­ stellten, von denen er in den letzten Jahren keine mehr gesehen habe: «Dies ist vermutlich einer intensive­ ren Aufklärung zu verdanken.» Das Bild der veganen Rabeneltern, das von den Medien kolportiert werde, sei überzogen. Seitan und Bohnen haben mehr Proteine als Fleisch

Eine rein pflanzliche Kost, sagt Laimbacher, biete durchaus gewisse gesundheitliche Vorteile, gerade in Bezug auf Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht. Trotzdem rät der Jugendmediziner nicht dazu, Kinder entsprechend zu ernähren: «Weil die vegane Ernährung schlicht keine massentaugliche Empfehlung ist. Sie setzt ein gutes Fachwissen der Eltern voraus und die Bereitschaft, dafür einen höheren zeitlichen Aufwand zu betreiben.» Dazu gehörten die Beratung durch eine qualifizierte Ernährungsfachkraft sowie regel­ 22

mäs­­sige Kontrollen beim Kinderarzt – inklusive Laboruntersuchungen. Eltern, die auf Pflanzenkost set­ zen, müssen die Ernährung ihrer Kinder sorgfältig zusammenstellen, damit diese alle wichtigen Nährstof­ fe in der richtigen Menge bekom­ men. Nüsse, Samen, Hülsenfrüchte und daraus hergestellte Produkte wie Tofu liefern Eiweiss und Kalzi­ um und je nach Sorte auch pflanzli­ ches Eisen. Auch Vollkorngetreide sind gute Proteinlieferanten. Man­ che Bohnen oder das aus Weizen­ protein hergestellte Fleischersatz­ produkt Seitan übertrumpfen mit ihrem Proteingehalt sogar Fleisch. In der Kalziumversorgung spielen zudem etwa grünes Blattgemüse und kalziumreiches Mineralwasser eine wichtige Rolle. Eisen können Veganer über Ge­­ treideprodukte, Nüsse und Samen, Trockenobst, Spinat oder Rucola zu sich nehmen. Bestimmte Säuren wie Vitamin C helfen unserem Körper dabei, das Eisen aus Pflanzen besser absorbieren zu können. Die Biover­ fügbarkeit von Nährstoffen – das, was der menschliche Körper davon effektiv aufnehmen kann – ist in pflanzlichen Quellen geringer als in tierischen. «Darum sollten vegan lebende Kinder täglich etwa einen Viertel mehr Pflanzenprodukte essen als traditionell ernährte Altersgenossen», sagt Laimbacher.

Fleischlos glücklich Die vegetarische Ernährung hat viele Facetten – eine Übersicht: Ovo-Lacto-Vegetarier essen Eier und Milchprodukte, aber nichts, was aus dem getöteten Tier hergestellt wird – also weder Fleisch und Fisch noch tierische Fette und Gelatine. Lacto-Vegetarier essen Michprodukte, aber keine Eier. Ovo-Vegetarier essen Eier, aber keine Milchprodukte. Veganer meiden von Fleisch über Milchprodukte bis hin zu Honig jegliche Nahrung tierischen Ursprungs. Viele verzichten auch auf tierische Produkte in Textilien oder Kosmetika. Frutarier essen nur Früchte, Gemüse, Nüsse und Samen, deren Ernte die Pflanze, von der sie stammen, nicht beschädigt. Dazu gehören Lebensmittel wie Beeren oder Bohnen, die gepflückt werden können, ohne die Pflanze zu zerstören. Tabu sind dagegen Karotten oder Kohl, weil beim Ernten die Wurzeln der Pflanzen ausgerissen werden.

B12 aus Tabletten

Das für unsere Gesundheit zentrale Vitamin B12 kommt fast aus­ schliesslich in tierischen Produkten vor. Veganer kommen nicht umhin, es in künstlicher Form zu sich zu nehmen, beispielsweise in Tablet­ tenform. «Diese Supplemente sind zwingend notwendig, um gesund zu bleiben», sagt Laimbacher. «Gut informierte Eltern wissen das.» Je nach Versorgungslage seien zudem weitere Supplemente nötig. «Ich ver­ teufle den Veganismus nicht», sagt Kinderarzt Laimbacher. «Fachper­ sonen sollten dazu Stellung >>> November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 23 23


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«Enkeltauglicher Umgang mit den Ressourcen»: Die Familie Heiligtag/ Klingler isst vegan.

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Gemäss WHO rangiert verarbeitetes Fleisch auf derselben Gefahrenstufe wie Zigaretten und Asbest. >>> nehmen, und zwar auf differenzierte Art und Weise. Schliesslich geht es darum, eine wachsende Gruppe von Eltern, die ihre Kinder so ernähren, mit den nötigen Informationen auszustatten.»

4. «Würste sind böse» Von Gammelfleisch bis zu Antibiotikarückständen – Fleisch stand schon oft in den Negativschlagzeilen, viele Konsumenten sind verunsichert. Für Aufruhr sorgte auch die WHO, als sie verarbeitetes Fleisch

Vegan leben für eine bessere Welt Sarah Heiligtag und Georg Klingler aus Hinteregg ZH führen mit dem vierjährigen Nils und der zweijährigen Indra einen Bauernhof der anderen Art: Der «Hof Narr» will zu Tierschutz und einem schonenden Umgang mit der Umwelt inspirieren. Dazu gehört auch die vegane Ernährungsweise. Sarah: Ich bin in einem vegetarischen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater beschäftigte sich als Onkologe früh mit den gesundheitlichen Risiken von Fleischkonsum. Schon als Kind habe ich mich für Tiere eingesetzt. Dass man dazu nicht nur auf Fleisch, sondern auf sämtliche Tierprodukte verzichten sollte, wurde mir erst später klar. Prägend war in diesem Zusammenhang mein Philosophiestudium. Georg: Ich habe Umweltnaturwissenschaften studiert. Seit ich denken kann, wollte ich etwas tun für den Schutz unserer Lebensgrundlage und ein friedliches Zusammensein. Sarah: Bei mir war es Tierliebe, bei Georg die Sorge um die Umwelt, die uns zur veganen Lebensweise führte. Beides prägt unser Lebensprojekt «Hof Narr». Hier leben ehemalige Nutztiere, die vor dem Tod gerettet wurden. Georg: Die Aus-

vor knapp zwei Jahren in die Gefahrenkategorie 1 der krebserregenden Substanzen einstufte. Gemäss WHO stehen Wurst und Co. damit auf der gleichen Stufe mit krebserregenden Stoffen wie Tabakrauch, Asbest, Plutonium oder Röntgenstrahlen. Die WHO schickte ihrem Expertenbericht Erläuterungen für den Normalbürger hinterher. Darin präzisiert sie, was mit der Gefahrenstufe 1 gemeint ist: «Diese Kategorie kommt zum Zug, wenn genügend und überzeugende wissenschaftliche Beweise vorliegen, dass die betreffende Substanz beim Menschen Krebs erzeugt.» Kein Fall für die Znünibox

Wurst, Aufschnitt, Pastete, Trockenfleisch oder Fleischkonserven ­werden oft mit nitrit- oder >>>

einandersetzung mit den ethischen, gesundheitlichen und ökologischen Dimensionen der Landwirtschaftsindustrie sowie die Produktion von bio-veganen Lebensmitteln stehen auf dem Hof im Zentrum. Ganz im Bewusstsein, dass uns viele deshalb für Narren halten, wollen wir zu einem enkeltauglichen Umgang mit unseren Lebensgrundlagen inspirieren. Sarah: Die vegane Ernährung ist eine wichtige Voraussetzung dafür. Wir interpretieren sie auf sehr genussvolle Art und Weise: An unseren Buffets sind die Leute überrascht ob der Vielfalt, die ohne Tierprodukte möglich ist. Georg: Wir hoffen, dass wir damit positive Impulse geben können. Es braucht nämlich gar nicht so viel, um unseren Enkeln eine bessere Welt zu hinterlassen. Sarah: Wir finden nicht, dass jeder vegan leben muss. Aber ein zukunftstauglicher Trend sollte wohl in die Richtung gehen, dass wir uns überwiegend pflanzlich ernähren. Georg: Wer seine Kinder vegan ernährt, gerät gerne unter Generalverdacht. Aber vegan lebende Eltern aus unserem Umfeld informieren sich sehr gut, was die Gesundheit ihrer Kinder angeht. Sarah: Mir wäre lieber, Nils würde die anderen Kinder nicht so oft fragen, was sie essen. Ich möchte nicht, dass er durch unsere Ernährungsweise als anders wahrgenommen wird. Wobei, was heisst schon anders? Es gibt doch zig Eigenschaften, die den einen vom anderen unterscheiden. Wir zwingen unseren Kindern nichts auf: Wenn sie an ein Geburtstagsfest gehen, sollen sie vom Kuchen essen dürfen – ganz egal, was dieser enthält.

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Salamibrötchen und Würstchen haben in der Znünibox nichts verloren.

>>> nitrathaltigem Pökelsalz konserviert. Diese Verbindungen wandelt unser Körper in Nitrosamine um, die als höchst krebserregend gelten. Dass verarbeitetes Fleisch auf gleicher Gefahrenstufe rangiert wie Zigaretten, heisst laut WHO, dass in beiden Fällen ein klarer statistischer Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor und dem Auftreten von Krebserkrankungen besteht – aber nicht, dass von Wurst das gleiche Risiko ausgeht wie von Zigaretten. So gehen laut WHO jedes Jahr 34 000 Krebstodesfälle – dabei steht 26

Dickdarmkrebs im Vordergrund – weltweit auf verarbeitetes Fleisch zurück. Im gleichen Zeitraum sterben eine Million Menschen weltweit infolge Rauchens an Krebs. Forscher der Universität Zürich untersuchten bereits vor der WHO den Zusammenhang zwischen dem Konsum von verarbeitetem Fleisch und dem Risiko für Krebs und HerzKreislauf-Erkrankungen. Ihr Fazit: Die kritische Grenze liegt bei 40 Gramm. Diese Menge ist rasch erreicht, mahnt Studien-Mitautorin Sabine Rohrmann: «Eine durchschnittliche Scheibe Schinken oder Salami wiegt schon 20 bis 30 Gramm.» Was bedeuten diese Befunde für Eltern? In Panik sollten sie uns nicht versetzen – wohl aber zur Mässigung anhalten: Wir können weiterhin bräteln gehen – in der kindlichen Znünibox haben Würstchen und Salamibrötchen aber nichts verloren. November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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5. «Rotes Fleisch ist ungesund» Auch rotes Fleisch hat einen rampo­ nierten Ruf, nachdem es die WHO zum gleichen Zeitpunkt, wie sie vor Würsten warnte, auf Gefahrenstufe 2a setzte. Konkret bedeutet dies, dass rotes Fleisch aufgrund der aktuellen Datenlage «wahrschein­ lich krebserregend» ist, möglicher­ weise aber weitere Faktoren hinein­ spielen. Im Vordergrund steht wieder das Darmkrebsrisiko, das durch verschiedene Faktoren be­­ stimmt wird. Im Verdacht stehen hohe Men­ gen an Eisen und schädliche Sub­ stanzen, die beim Braten, Kochen und besonders beim Grillieren und Räuchern von Fleisch entstehen. Laut WHO könnte pro 100 Gramm roten Fleischs, die jemand täglich

verzehrt, das Darmkrebs­risiko um 18 Prozent steigen – falls sich rotes Fleisch tatsächlich als krebserregend erweist. Die WHO betont, dass das Risiko für den Einzelnen klein sei – der Befund aber relevant für eine Gesellschaft, in der viele Menschen grosse Mengen an Fleisch ässen.

Die Gesellschaft für Ernährung empfiehlt Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren, höchstens fünfmal pro Woche Fleisch zu essen.

Weniger ist mehr

Die Eidgenössische Ernährungs­ kommission reagierte auf die For­ schungslage und spricht sich generell für eine Reduktion des Fleischkon­ sums aus, besonders von rotem und vor allem von verarbeitetem Fleisch. Die SGE empfiehlt Erwachsenen, nicht mehr als zwei- bis dreimal pro Woche Fleisch zu essen, für Kinder von zehn bis zwölf Jahren sollen es höchstens fünfmal pro Woche sein. Jugendmediziner Josef Laimbacher sagt, auch Kinder seien mit >>>

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Kinder: Das sind die wichtigsten Handy-Regeln, die man kennen muss

«Die Vorbildrolle der Eltern ist eminent wichtig» Jeder zweite Primarschüler in der Schweiz besitzt ein eigenes Handy. Wie regelt man den digitalen Konsum bei Kindern? Medienkompetenz-Experte Michael In Albon beantwortet die wichtigsten Fragen. Michael In Albon ist Jugendmedienschutz-Beauftragter bei Swisscom und Experte für Medienkompetenz.

Herr In Albon, ist ein Handy für Primarschüler sinnvoll? Dient es lediglich zur Unterhaltung, empfiehlt es sich nicht. Wenn das Kind erreichbar sein soll, etwa nach dem Fussballtraining, oder wenn es einen langen Schulweg hat, hingegen schon. Denn es gibt dem Kind die Möglichkeit, seine Umgebung selbstständig zu erkunden.

Wie behalten Eltern die Kosten im Griff? Am einfachsten sind sicherlich Prepaid-Lösungen. Das Kind kann nur so viele Dienste nutzen, wie es der Betrag erlaubt. Mit einem Prepaid-Abo kann man sich nicht verschulden. Wie wichtig ist ein «HandyAufklärungsgespräch»? Sehr wichtig. Kinder sollten verstehen, zu welchem Zweck sie ein Handy bekommen und dass es ungeeignete Inhalte im Netz gibt. Vor allem brauchen sie Begleitung und Regeln.

nur Geschichten hören oder auch Videos anschauen? Wenn ja, zuerst um Erlaubnis fragen. Das Festlegen der Regeln signalisiert dem Kind von Anfang an, dass es nicht alles mit diesem Gerät anstellen darf. Darf das Handy am Abend mit ins Kinderzimmer? Das Handy sollte nicht die ganze Zeit in Reichweite des Kindes sein. Ausserdem haben digitale Geräte, wie Tageslicht, einen hohen Anteil an «Blaulicht», das die Produktion des Schlafhormons Melatonin hemmt. Als Faustregel gilt: Eine Stunde vor dem Schlafengehen keine Handys oder Fernseher, im Idealfall zwei Stunden.

fragt. Eltern haben teilweise selber Mühe, das Handy wegzulegen. Dabei ist die Vorbildrolle der Eltern eminent wichtig! Es ist erstaunlich, wie wenig Eltern bereit sind, ihr eigenes Konsumverhalten zu Gunsten des Kindes zu ändern. Welche Vorteile hat es für Eltern, wenn ihr Kind ein Handy hat? Der Alltag ist einfacher zu organisieren. Das Kind kann anrufen, wenn es abgeholt werden soll oder wenn es sich verspätet. Dass das Kind erreichbar ist, wenn es allein unterwegs ist, gibt Eltern eine gewisse Ruhe.

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Kann man ein Handy kindergerecht Das beruhigende Gefühl, nur einstellen? einen Anruf entfernt zu sein Das Internet lässt sich grundsätzlich Mit inOne mobile prepaid kids sperren. Allerdings funktionieren dann kann Ihr Kind bis zu 5 Swisscomauch Apps wie etwa der SBB-FahrNummern im Inland kostenlos Welche? plan, WhatsApp oder die Synchronianrufen und sich so jederzeit bei Ganz wichtig: Die Zeit limitieren. Das sation des Familienkalenders nicht. Ihnen melden. Mehr Infos zum Je nach Anbieter gibt es spezielle Handy soll nicht den ganzen Tag zur Angebot und zum Engagement Besteht die Gefahr, dass sich Verfügung stehen. Apps ebenfalls liKindersicherungen oder Kindermodi. von Swisscom im Bereich Medienmitieren. Und: Auch wenn es sich um ein Kind nur noch für sein Handy Dort können Eltern einstellen, worinteressiert? kostenlose handelt, keine Apps ohne auf die Kinder Zugriff haben oder wie kompetenz: Ja. Wenn ein Kind immer häufiger zum lange sie surfen dürfen. Auf Youtube Erlaubnis herunterladen. Regeln Sie www.swisscom.ch/prepaidkids Das Schweizer Fritz+Fränzi  2017 27 Gerät greift, sind Alternativen gedenNovember Youtube-Umgang: Darf mein Kind findet man vieleElternMagazin Video-Tutorials.


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«Das Familienmodell, mit dem ich aufwuchs, ist mir ein Vorbild», sagt Tochter Silva (l.).

Enger Zusammenhalt dank Selbstversorgung Als junge Eltern realisierten Sabine und Markus Lanfranchi in Verdabbio GR ihren Traum vom Leben als Selbstversorger. Silva, 26, Lüzza, 13, und ihre Eltern erzählen, wie dieses Lebensmodell die Familie eng zusammenschweisste. Markus: Selbstversorger zu sein, ist für mich eine politische Entscheidung. Einkaufen ist wie abstimmen: Mit jedem Franken, den ich ausgebe, erhält irgendein Unternehmen meine Stimme. Sabine: Wir bewirtschaften acht Hektaren Land, die sich übers ganze Dorf verteilen. Wir halten 35 Schafe, 2 Esel, 2 Schweine, Hühner und Enten sowie 5 bis 10 Bienenvölker. Unseren Lebensunterhalt verdienen wir mit Schafmilchprodukten, Lammfleisch, Honig und Grappa. Markus: Sabine und ich lernten uns mit 19 kennen. Sie arbeitete in der Werbung, ich als Metallkonstrukteur. Wir wollten mehr vom Leben. Sabine: Unsere ersten bäuerlichen Versuche starteten wir 1986 im Engadin, drei Jahre später gingen wir als frischgebackene Eltern von Dylan nach Neuseeland. Dort kam 1991 Silva zur Welt. Später machte ein Erdbeben unsere ganze Aufbauarbeit zunichte. Wir zogen zurück in die Schweiz. Markus: 1993, gerade war Selina geboren, kauften wir an diesem Steilhügel einen ersten kleinen Landstreifen. Sabine: Wir nahmen unser Leben als Selbstversorger und Biobauern in Angriff.

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Markus: Im Dorf begegnete man unserem Ansinnen nicht gerade freundlich. Die meisten Bauern hatten ihren Beruf an den Nagel gehängt, weil sie von der Landwirtschaft nicht leben konnten. Und da kamen wir, zwei naive Junge, die meinten, es besser zu können. Aber wir hatten Narrenfreiheit, und die geniessen wir bis heute. Was wir auch machen, es ist da: dieses Vertrauen, dass alles gut kommt. Sabine: Für unsere Kinder – als viertes kam 1997 Rubina dazu – war unser Familienleben nicht immer leicht. Damit etwas auf den Tisch kam, mussten sie täglich mitanpacken. Silva: Mir hat das nicht geschadet. Ich wusste früh, was Arbeiten bedeutet, das hat mir nur Vorteile gebracht. Lüzza: Ich habe es heute viel einfacher: Im Sommer muss ich beim Heuen helfen, sonst hält sich der Aufwand in Grenzen. Ich kümmere mich um die Enten und die Hühner. Ich finde es super, dass in unserem Garten leckeres Essen wächst: Man gibt die Pasta in den Topf und holt den Rest vor der Haustür. Trotzdem möchte ich später nicht als Selbstversorger leben. Silva: Mich freut es, dass Lüzza so beliebt ist in der Schule. Wir waren damals Aussenseiter und mussten uns immer beweisen. Lüzza: Ich bin kein Underdog, ich habe mich schnell mit Älteren angefreundet. Und ich zeige mit guten Schulnoten, dass ich etwas draufhabe. Silva: Wir Älteren sagen manchmal: Werd bloss kein Bully, Lüzza! Wir wissen nur zu gut, wie sich Mobbing anfühlt. Markus: Die Ablehnung durch die anderen hat uns aber auch zu einer verschworenen Gemeinschaft gemacht. Silva: Das stimmt, wir haben ein starkes Familiengefühl. Ich möchte zwar nicht als Selbstversorgerin leben, aber das Familienmodell, mit dem ich aufwuchs, ist mir ein Vorbild. Und meinem Mann übrigens auch.

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Junge Frauen, die täglich mehr als einmal rotes Fleisch essen, haben ein 22 Prozent höheres Brustkrebsrisiko. >>> zwei bis drei Fleischportionen pro Woche gut bedient: «Sie brauchen nicht mehr.» Er resümiert: «Fleisch als Nährstoffquelle richtig zu nutzen, bedeutet vor allem, die Menge im Auge zu behalten.»

6. «Weisses Fleisch ist besser» Junge Menschen seien besonders gefährdet durch etwaige Schadstoffe in ihrer Nahrung, sagt Ernährungswissenschaftler Walter Willett: «Dies

zeigt sich eindrücklich in Bezug auf weibliche Jugendliche und ihr späteres Risiko für Brustkrebs.» In der Langzeitstudie «Nurses’ Health Study» analysierten Willett und seine Kollegen unter anderem den Zusammenhang von Ernährung und Brustkrebs. Dabei habe man sich lange auf die Ernährungsgewohnheiten von Frauen mittleren und älteren Alters konzentriert. Entsprechende Studien, so Willett, hätten keinen Zusammenhang zwischen Brustkrebs und dem Konsum von rotem Fleisch nahegelegt. Ein anderes Bild präsentierte sich den Forschern, als sie mithilfe alter Fragebögen die Ernährungsgewohnheiten von über 44 000 Frauen zum Zeitpunkt ihrer Adoleszenz rekonstruierten: Junge Frauen, die während Pubertät und Adoleszenz täglich mehr als einmal rotes Fleisch

essen, haben ein 22 Prozent höheres Risiko, an Brustkrebs zu erkranken. Aus den Daten leiteten die Forscher eine interessante Prognose ab: Würden junge Frauen eine tägliche Portion rotes Fleisch durch Hülsenfrüchte, Nüsse, Geflügel oder Fisch ersetzen, würde ihr Brustkrebsrisiko um 14 Prozent sinken. Trotzdem bleibt offen, ob weisses Fleisch tatsächlich gesünder ist als rotes. Aber gebe es auch keine epidemiologische Studie, die einen Zusammenhang von weissem Fleisch und Krebs festgestellt hätte, so Ernährungswissenschaftler Willett. Derweil rät er den Eltern, auf Poulet und Fisch als tierische Proteinlieferanten zu setzen.

7. «Alles bio, alles gut» Lebensmittel mit dem Knospen-Siegel sind keine Nischenpro- >>>

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 29


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>>> dukte mehr. Tierfreunde set­ zen auf Bio, weil das Label für bessere Bedingungen für Nutztiere sorgt. Auch ein anderes Argument fällt bei Konsumenten ins Gewicht: Sie kaufen Bioprodukte, weil sie sich davon gesundheitliche Vorteile ver­ sprechen. Schliesslich dürfen Bio­ bauern weder synthetische Pestizide verwenden noch Tiere mit hormon­ belastetem Leistungsfutter pushen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Sind Bioprodukte also gesünder als Lebensmittel aus konventioneller Landwirtschaft? Von gesunden Pro­ dukten zu sprechen, sei wenig sinn­ voll, sagt Urs Niggli, Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau in Frick: «Für unseren Ge­­ sundheitszustand sind nicht einzel­ ne Lebensmittel ausschlaggebend: Es ist die Art und Weise, wie wir uns ernähren.» Wer sich an die gängigen Empfehlungen halte, wenig Zucker, Fett und Fleisch sowie viel Früchte und Gemüse konsumiere, könne seinen Speiseplan als gesund betrachten, sagt der Agrarwissen­ schaftler. Bioprodukte seien also keine Gesundheitsgaranten, ebenso wenig könnten sie Auswirkungen einer schlechten Ernährung kom­ pensieren. «Aber die Forschung zeigt», sagt Niggli, «dass sie einen Zusatznutzen bieten.» Das Tüpfelchen auf dem i

Dazu gehört ein «massiv höherer» Gehalt an sekundären Pflanzenstof­ fen, wie Niggli sagt. Pflanzen bilden diese bioaktiven Stoffe, um sich vor schädlichen Umwelteinflüssen zu schützen. Biopflanzen produzieren naturgemäss mehr davon, weil sie keine Schützenhilfe von Pflanzen­ schutzmitteln erhalten. Die meisten sekundären Pflanzenstoffe wirken als sogenannte Antioxidantien, von denen die Forschung annimmt, dass sie helfen, Alterserscheinungen oder gewissen Krankheiten vorzubeugen. «Ein Bioapfel enthält die Antioxi­ dantien von anderthalb konventio­ nellen Äpfeln», sagt Niggli. 30

Auch Biofleisch und -milch punkten mit solchen Extras. «Im Vergleich zu Produkten aus konventioneller Landwirtschaft haben sie einen höheren Anteil an günstigen Fett­ säuren», sagt Niggli. Biokühe ernäh­ ren sich zu mindestens 90 Prozent von Gras oder Heu. Aus dem lang­ faserigen Raufutter bilden sie ande­ re Moleküle als aus Kraftfutter. Weil Biolandwirten der vorbeugende Einsatz von Antibiotika oder Hor­ monen verboten ist, entfällt für den Konsumenten zudem das Risiko von solcherlei Überbleibseln in Fleisch und Milch. Bei Gemüse und Früchte zeigt sich zudem, dass Produkte mit Bio­ label einen bis zu viermal niedrige­ ren Gehalt an Pestizidrückständen aufweisen. Auch die Konzentration von anderen Umweltgiften ist in Biogewächsen deutlich niedriger. Niggli betont aber, dass die gesetzli­ chen Grenzwerte für solche Sub­­ stanzen in der Schweiz so gewählt seien, dass konventionell produzier­ te Früchte und Gemüse bedenkenlos gegessen werden könnten. Forscher der ETH hätten Hochrechnungen in Bezug auf Umweltgifte in konven­ tionell produzierten Feldfrüchten angestellt – und seien der Auffas­ sung, dass das von ihnen ausgehen­ de Risiko ein Menschenleben um höchstens eine Woche verkürze. «Bio ist für eine gesunde Ernährung also kein Muss», sagt Urs Niggli, «aber sozusagen das Tüpfelchen auf dem i. Ich möchte deshalb nicht dar­ auf verzichten.»

Bio ist für eine gesunde Ernährung kein Muss, aber sozusagen das Tüpfelchen auf dem i.

Wissenschaft nicht als Bevormun­ dung zu sehen, sondern sie als das zu betrachten, was sie ist: ein Ver­ such, den menschlichen Körper und das, was wir ihm zuführen, besser zu verstehen. Mit ihren Erkenntnissen habe ich mich nun wochenlang beschäftigt – um nicht zu sagen: herumgeschla­ gen. Die Lektüre war zäh. Mich per­ sönlich hat sie dennoch motiviert, Allgemeinplätze infrage zu stellen, selbst wenn Antworten fehlen. Dar­ um schliesse ich hier auch nicht mit dem beliebten Credo, dass wir alles essen sollten, bloss mit Mass. Viel­ mehr glaube ich, dass wir da und dort ruhig umdenken dürfen, auch wenn es uns etwas geistige Flexibili­ tät abverlangt. Schliesslich geht es um die Wurst: um unsere Gesund­ heit und die unserer Kinder. >>>

Alles, aber mit Mass? Die Frage, was eine gesunde Ernäh­ rung ausmacht, lässt sich nie ab­ schliessend beantworten. Ständig kommen neue Erkenntnisse dazu; für den Normalverbraucher sind sie nicht immer ein Segen. Den Über­ blick zu behalten, kann kaum unser Anspruch sein. Aber mir scheint, es wäre sinnvoll, dem Thema Ernäh­ rung zumindest ohne Scheuklappen zu begegnen. Das fängt damit an,

Virginia Nolan

ist freie Autorin und Mutter einer 3-jährigen Tochter. Sie war ein Milch-Kind, wie es im Buche steht. Nach dieser Recherche war sie baff, wie sehr wir die gesundheitlichen Vorteile des Lebensmittels überschätzen.

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 31


Dossier

«Essen sollte frei von Druck sein» Wir können Kindern beibringen, gesundes Essen zu mögen, meint Ernährungspsychologin Katja Kröller. Das funktioniert aber nicht mit Brechstange und Gemüsequoten, sondern durch sinnliches Experimentieren – und mit der Macht der Gewohnheit. Text: Virginia Nolan

Frau Kröller, was ist der schlimmste Fehler beim Versuch, Kinder für eine gesunde Ernährung zu begeistern?

Vermutlich die Betonung des Gesun­ den. Essen sollte frei von Druck sein. Es hilft, wenn gerade heikle Esser es als zwanglose, eher nebensächliche Angelegenheit wahrnehmen. Eltern sollten ihre Bemühungen darauf len­ ken, Kindern vielfältige Geschmacks­ welten zu eröffnen, statt sich mit der Frage herumzuplagen, wie sie ihnen Gemüse unterjubeln können. Was prägt den Geschmack unserer Kinder?

Seine ersten Geschmackserfahrun­ gen macht das Kind während Schwangerschaft und Stillzeit. Wir wissen, dass Kinder, die möglichst früh eine Vielzahl von Geschmä­ ckern kennenlernen, aufgeschlosse­ nere Esser werden. Das gilt ganz besonders für die Zeit, in der wir sie ans Essen gewöhnen. In weiten Tei­ len der Welt essen bereits die Kleins­ ten, was die Grossen mögen. Wir können Kindern also beibringen, gesundes Essen zu mögen?

Wenn wir Kindern Geschmackser­ lebnisse vorenthalten, ist es nicht erstaunlich, dass sie schwierige Esser werden. Geschmackspräferenzen

lassen sich trainieren. Dies zeigt ein­ drücklich ein Forschungsprojekt, das ich begleitet habe. Dabei erhoben wir regelmässig die Gemüsevorlieben von 300 Kindergartenkindern und leiteten daraus eine Art Ranking ab. Wir untersuchten, ob sich diese Prä­ ferenzen durch sensorisches Trai­ ning verändern liessen. Kohlrabi zum Beispiel erwies sich als eher unbeliebt. Die Kinder bekamen sie nun vier bis acht Wochen lang drei­ mal die Woche zu essen. Was passierte?

Kohlrabi kletterte im Ranking nach oben, und zwar deutlich. Die Präfe­ renz für ein Lebensmittel hängt also stark davon ab, wie gut wir es ken­ nen. Wir mögen, was wir uns ge­ wohnt sind. Wenn ich täglich ange­ boten bekomme, was ich nicht mag, werde ich irgendwann anfangen, es zu akzeptieren. Kein besonders motivierender Ansatz.

So soll ja auch nicht die Ansage ans Kind lauten. Wenn unser Kind etwas verschmäht, sollte uns das als Eltern aber nicht daran hindern, das Lebensmittel weiterhin regelmässig auf den Tisch zu bringen, ganz ohne Aufheben. Das Kind muss es nicht essen, bleibt aber in Kontakt damit.

«Studien zeigen, dass allein schon das Reden über den Geschmack eines Lebensmittels die Akzeptanz beim Kind fördert.» 32

Allein damit brachten Sie Kinder dazu, Kohlrabi zu mögen?

Nicht nur. Auch der sinnliche und haptische Kontakt zu Gemüse – Rie­ chen, Schmecken, Anfassen – beein­ flusst das Geschmacksempfinden. Wir bereiteten gemeinsam Gemü­ sesnacks zu, dachten uns Geschich­ ten zu den lustigen Knollen aus, liessen die Kinder Gemüse malen oder mit verbundenen Aromen pro­ bieren. Diese Ratespiele offenbarten, dass Kinder unglaublich kreativ dar­ in sind, Geschmäcker zu benennen. Das könnten sich Eltern zunutze machen. Inwiefern?

Wir wollen von den Kindern nur wissen, ob es schmeckt. Wir könnten sie stattdessen einmal fragen, wie es schmeckt. Unsere Studie zeigte, dass allein schon Reden über den Ge­ schmack eines Lebensmittels dessen Akzeptanz beim Kind fördert. Inte­ ressanterweise hatte selbst der Aus­ tausch über die geschmacklichen Nachteile eines Gemüses dazu bei­ getragen, dass die Kinder es am Ende lieber mochten als vorher. Dass Gemüse etwas Gesundes mit vielen Vitaminen ist, war in unserem Pro­ jekt übrigens mehr eine beiläufige Information, aber nicht die zentrale Botschaft. Was machen Eltern, wenn Teenager Gemüse und Salat verweigern?

Auch hier gilt: geduldig bleiben, abwarten, gemeinsame Mahlzeiten anbieten. Die müssen je nach Alter nicht mehr täglich stattfinden, da lohnen sich Absprachen. Es kann November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


wiederum helfen, gesundes Essen so anzubieten, dass Jugendliche es als beiläufig wahrnehmen. Ich denke da an Früchte oder Snackgemüse, von dem sich alle bedienen dürfen, während der Mahlzeit oder zwischendurch. Gelegentlich sind auch aufgepeppte Sandwiches oder das Lieblingsessen des Jugendlichen ein guter Kompromiss für die Familienmahlzeit. Es lohnt sich, wenn der Wochenspeiseplan von allen Familienmitgliedern mitbestimmt werden darf. Starre Vorgaben führen nur dazu, dass Jugendliche ihren Essensbedarf am Kiosk decken. Der Hang zu ungesundem Essen ist bei Jugendlichen meist ausgeprägt. Wächst sich das aus?

Das tut es. Studien zeigen, dass die Ernährungsweise, die Eltern zu Hause vorleben, ihre Kinder im Erwachsenenalter massgeblich prägt. Also keine Sorge: Da bleibt was hängen. Bloss dauert es eben, bis dieser Effekt greift. Bis dahin mögen Jugendliche Gemüse komplett ablehnen – sie nehmen dadurch keinen Schaden. «Fünf am Tag» heisst die Botschaft der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung, wenn es um Gemüse und Früchte geht. Wie ist das mit Kindern zu schaffen?

Gar nicht, vermutlich. Ich halte nicht viel davon, weil sie Eltern unter Druck setzt. Sehen sich Eltern auf-

gefordert, Quoten einzuhalten, erschwert ihnen das einen lustvollen Zugang zum Gemüse. Für Kinder ist der aber ausschlaggebend. Es ist schon viel getan, wenn wir versuchen, einmal am Tag Obst und einmal Gemüse zu essen. Es kann auch Tage geben, an denen das gerade nicht passt oder das Kind sich wehrt. Das ist nicht schlimm. Probieren ist Pflicht – wie halten Sie es damit?

Zum Probieren kann man ein Kind höchstens ermuntern. Druck ist unangebracht. Kinder legen in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen grossen Wert auf eigenständige Entscheidungen, und sie wissen auch, dass sie beim Essen die stärksten Einflussmöglichkeiten haben: Wir können Kinder zu vielem zwingen, aber wenn sie das Essen verweigern, sind wir machtlos. Wenn ein Kind nicht probieren will, sollten Eltern das akzeptieren. Wir können ihm aber gleichzeitig erklären, dass sich Geschmäcker durchaus ändern und ein weiterer Anlauf sich lohnen kann.

«Wenn ein Kind nicht probieren will, sollten Eltern das akzeptieren.»

dass Broccoli-Essen eine ganz schön harte Angelegenheit ist, die nach Entschädigung verlangt. Belohnung mit Essen kann funktionieren, wenn die Handlung, die wir damit loben wollen, tatsächlich negativ besetzt ist – denken Sie etwa an die Glace nach überstandenem Arzttermin. Wir sollten aber auch diese Art der Belohnung sehr sparsam einsetzen. Essen soll nicht zum Trostpflaster werden.

Sollten wir Essen als Belohnung einsetzen?

Es kommt darauf an. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir dem Kind einen Nachtisch in Aussicht stellen, falls es den Broccoli aufisst. Durch die Belohnung bestätigen wir ihm,

Zur Person

Katja Kröller ist Professorin für Ernährungspsychologie an der Hochschule Anhalt in Bernburg (D). Der Fokus ihrer Forschung liegt auf psychologischen Ansätzen für individuelle Verhaltensänderungen und der dazu geeigneten Gesprächsführung.

Im nächsten Heft:

Bild: iStockphoto

Generation Sandwich Sie sind eingeklemmt zwischen der Verantwortung für die eigenen Kinder und jener für ihre Eltern: Immer mehr Menschen müssen neben Familie und Beruf noch die Angehörigenpflege unter einen Hut bekommen. Unser Dossier im Dezember.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 33


Monatsinterview

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


« Eltern sollten die Mutmacher ihrer Kinder werden» Acht Prozent der Schulkinder sind übermässig schüchtern, und das über eine lange Zeit. Aus der ständigen Angst heraus, schlecht beurteilt zu werden, verhalten sie sich im Unterricht meist passiv – mit fatalen Folgen, sagt Georg Stöckli. Der Erziehungswissenschaftler über stumme Beobachter, überbehütende Eltern und besonders hartnäckige Hemmzwerge. Interview: Evelin Hartmann Bilder: Daniel Winkler / 13 Photo

Ein ständiges Wispern und Klappern erfüllt den grossen Saal, Studenten unterhalten sich, bestellen Kaffee und Gipfeli. «Oh, das habe ich mir anders vorgestellt», sagt Georg Stöckli, der den Lichthof der Universität Zürich als Ort für dieses Interview vorgeschlagen hatte. «Ansonsten stehen hier immer Tische und Stühle.» Heute jedoch wird hier für einen Stehapèro aufgetischt. Erziehungswissenschaftler und Journalistin wissen sich zu helfen, belegen einen der herumstehenden Bistro-Stehtische und führen das Gespräch im Stehen. Herr Stöckli, viele Kinder sind schüchtern. Stellt dieses Persönlichkeitsmerkmal überhaupt ein Problem dar?

Es kommt darauf an, wie ausgeprägt das schüchterne Verhalten ist. Unter Schüchternheit versteht man grund­ sätzlich die Ängstlichkeit eines Men­ Alte schen beim Knüpfen zwischen­ Wirkungsstätte: mens ch­­l icher B eziehungen. Georg Stöckli Schüch­ternheit ist, solange sie kein war Leiter der Leiden verursacht, keine psychische Forschungsstelle Störung, sondern ein Ausdruck des Kind und Schule Temperaments eines Menschen. Vie­ an der Uni Zürich. le, besonders jüngere Kinder verhal­

ten sich in unbekannten Situationen zurückhaltend, insbesondere, wenn ein Kind in den Kindergarten oder die Schule kommt. Das geht meist vorüber, wenn es sich an die zunächst neue Lehrerin und den Klassenraum gewöhnt hat. Wann ist ein Kind zu schüchtern?

Wenn der Erstklässler, um bei die­ sem Beispiel zu bleiben, obwohl er gerne Freundschaften schliessen

«Solange sie kein Leiden verursacht, ist Schüchternheit keine Störung.» würde, sich auch nach Wochen zurückhält und selten den Kontakt zu seinen Mitschülern sucht und sich im Unterricht kaum bis gar nicht mündlich beteiligt. Wissenschaftlich ausgedrückt: Wenn sein Vermei­ dungsverhalten ausgeprägter ist als sein Annäherungsverhalten. >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 35


Monatsinterview

>>> Warum verhalten sich Kinder denn auf diese Art und Weise? Übermässig schüchterne Buben und Mädchen haben Angst, negativ be­­ wertet, ausgelacht und lächerlich gemacht zu werden. Sie haben Angst, nicht zu genügen und den Erwar­ tungen anderer nicht gerecht zu wer­ den. «Ich genüge nicht als Person.» Diese Angst führt dazu, dass sich schüchterne Kinder in Gegenwart anderer unbehaglich fühlen, ange­ spannt sind und Hemmungen haben, sich beispielsweise in ein Spiel einzubringen. Sie bleiben in der Rolle des stummen Beobachters. Was steckt hinter dieser Angst?

Ein stark angeschlagenes Selbstver­ trauen. Die Vermeidung von sozia­ len Kontakten ist die Folge, ebenso wie eine mangelhafte Unterrichtsbe­ teiligung. Diese Kinder machen sich klein, sprechen, wenn überhaupt, nur ganz leise, haben keinen wirklich spürbaren Händedruck, meiden den Blickkontakt, und auf Fragen ant­ worten sie schulterzuckend mit «ich weiss nicht». Was von Aussenstehen­ den oft negativ bewertet wird. Nach dem Motto: «Wo nichts rauskommt, ist auch nichts drin.»

Schüchternen fehlt aber nicht ein­ fach nur das richtige Skript für die sozialen Auftritte; das Problem liegt im Grunde tiefer. Oft kennen sie die passenden Dialoge und das, was man sagen könnte, sehr wohl, aber sie verzichten darauf, die Sätze und Bemerkungen auszusprechen, weil sie sich nicht dazu berechtigt und zu unbedeutend fühlen, ihre Meinung in eine Situation einzubringen. Oder sie fürchten, dass man ihnen wider­ spricht, was sie sofort beschämen würde. Aber gibt es nicht auch schüchterne Menschen, die ihre Hemmungen gekonnt überspielen?

Das ist richtig. Viele Schauspieler sind eigentlich extrem schüchterne Menschen, obwohl sie täglich vor Publikum auf der Bühne stehen. Aber dort spielen sie lediglich ihre Rolle. Extravertiertes Verhalten kön­ 36

nen sich Schüchterne mit zuneh­ mendem Alter aneignen. Auch der Klassenclown hat letztlich nur eine Möglichkeit gefunden, sich vor anderen zu präsentieren. Er geht damit aber keine ernsthaften Kon­ takte ein. Können diese Kinder keine Freundschaften schliessen?

Sagen wir, es fällt ihnen sehr schwer, da ihr soziales Misstrauen so stark ausgeprägt ist. Das kleinste Anzei­ chen von Abneigung oder Zurück­ weisung von dem oder der Auser­ wählten wird als Ablehnung ge­­deutet und führt zum Rückzug. Deshalb haben schüchterne Kinder meist wenige Freunde, die ihnen sehr wichtig sind und von denen sie extrem viel erwarten.

«Wer im Jugendalter den Anschluss nicht findet, bleibt auch als Erwachsener isoliert.» Von wie vielen Kindern, denen es so ergeht, sprechen wir?

Im Kindergarten ist anfänglich ein Drittel der Buben und Mädchen auf­ fällig schüchtern. In der Primarschu­ le werden dann etwa 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs als schüchtern wahrge­ nommen. Mädchen und Buben sind dabei übrigens gleich oft betroffen. Diese Schüchternheit nimmt bei vie­ len Betroffenen mit der Zeit ab. Bei rund 8 Prozent bleiben die Hem­ mungen und die Angst vor Zurück­ weisung allerdings erhalten. Wenn diese Kinder im Jugendalter den Anschluss immer noch nicht finden, isoliert bleiben, dann stabilisiert sich ihre Schüchternheit. Dann bleibt man mit grosser Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener isoliert.

Wird Schüchternheit vererbt?

Während meiner Forschungstätig­ keit habe ich beobachtet, dass in den meisten Fällen schon die Eltern schüchtern waren. Das war auch die Aussage der Mütter und Väter in unseren Kursen: «Ich war früher genauso.» Lassen Sie mich den Zusammenhang so erklären: Es gibt ein Hemmungs- und ein Annähe­ rungssystem, und je nachdem, wie die Einschätzungen sind, wird ent­ weder das eine oder das andere akti­ viert. Bei Schüchternen ist die Schwelle tiefer und die Hemmungen werden früher aktiviert. Wie muss man das verstehen?

Der Amerikaner und Entwicklungs­ psychologe Jerome Kagan hat in den 80er-Jahren Babys Mobiles vorgehal­ ten. Die einen waren interessiert, haben mit Greifen und Glucksen freudig reagiert, während sich ande­ re weinend weggedreht haben. Für sie waren diese Reize zu viel. Diese Kinder haben eine so niedrige Reiz­ schwelle, dass sie von Reizen, die von aussen kommen, recht schnell über­ fordert werden. Und diese niedrige Reizschwelle ist die genetische Komponente?

Ja, sie wird von den Eltern vererbt. Wie sich gezeigt hat, neigen beson­ ders Kinder, die gegenüber fremden Personen eine tiefere Reizschwelle haben, zu späterer Schüchternheit. Ob es so weit kommt, hängt stark von der Erziehungsumgebung ab. Eltern, die früher selber schüchtern waren, reagieren häufig ängstlich und überbehütend und verstärken so die Hemmungstendenzen beim Kind. Schüchternheit kann gleich­ zeitig vererbt und anerzogen sein. Was gelingt Kindern mit einer höheren Reizschwelle besser?

Es muss viel mehr passieren, um diese Kinder aus der Ruhe zu brin­ gen. Sie können ihr Handeln besser strukturieren und ausrichten auf das, was wirklich passiert, während Kin­ der mit einer niedrigen Reizschwel­ le (vorschnell) auf Signale reagieren. Für Schüchterne ist es so, dass der

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«Schüchterne Kinder bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück», sagt Georg Stöckli.

«Blick des anderen» primär Beurtei­ lung und damit Bedrohung signali­ siert – nicht etwa Interesse und Wohlwollen. Haben Schüchterne auch Stärken – die weniger schüchternen Menschen fehlen?

Schüchterne Menschen werden oft als sehr empathisch beschrieben, sie sind gute Zuhörer und Beobachter. Und verstehen Sie mich nicht falsch, auch Hemmungen sind nicht nur negativ zu bewerten. Wenn es mehr Hemmungen gäbe, wäre unsere Welt sicher um einige Konflikte ärmer. Das Problem ist nur, dass diese Hem­ mungen in Situationen auftreten, die für das persönliche «Vorankom­ men» der schüchternen Person ent­ scheidend wären. So bleiben schüchterne Menschen hinter ihren Möglichkeiten zurück. Im

Hinblick auf die Schule ist ein solches Verhalten fatal.

Leider. Diese Kinder bleiben im Unterricht passiv, machen nicht mit und können somit nicht zeigen, was sie eigentlich im Stande sind zu leis­ ten. Ihre Noten sind schlechter, als sie ohne dieses schüchterne Verhal­ ten wären. Viele Lehrpersonen re­­ agieren genervt auf diese Kinder, die sich nicht äussern. Andere Kinder und Jugendliche haben feine Anten­ nen für eine solche Stimmung: «Er oder sie ist anders als wir.» In einem ungünstigen Umfeld kann dies bis zu Mobbing führen. Sie sprechen in Ihren Büchern von den «vergessenen Kindern».

Damit Unterricht stattfinden kann, müssen erst einmal diejenigen Schü­ ler ruhiggestellt werden, die stören. Dabei gehen die stillen, zurückhal­

tenden Kinder unter – oder sind sogar in ihrem passiven Verhalten erwünscht. Sie machen keinen Kla­ mauk, sind ruhig. Das führt dazu, dass die Probleme dieser Kinder nicht gesehen werden. Was Schüch­ terne brauchen, ist eine Umgebung der Vertrautheit. Anders als zu Hau­ se ist diese Vertrautheit in der Schu­ le nicht gegeben, und durch die Klassengrösse sind die Lehrerinnen und Lehrer nicht in der Lage, eine Vertrautheit zu schaffen. Dabei wäre es gerade in der Schule wichtig, dass es den Lehrpersonen gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Leider hören diese Kinder schon im Kindergarten von Lehrpersonen, dass sie sich besser beteiligen sollen, was nicht gerade zu einer Verbesse­ rung führt. Wenn die Eltern >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 37


Monatsinterview

>>> dann auch noch solche Signale aussenden, wird es ganz schlimm: «Mach doch, sei doch, tu doch.» Das heisst für das Kind: «So, wie du bist, bist du nicht gut». Und das ist natürlich eine fatale Botschaft. Was könnten Lehrpersonen stattdessen tun?

Es wäre wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer mit den Kindern besprechen, wie sie sich im Unterricht besser beteiligen können, und einen Weg finden, wie sie das Kind unterstützen. So könnten beispielsweise anstehende Vorträge gemeinsam vorbesprochen werden. Man sollte dem Kind zu verstehen geben, dass auch andere Ängste haben, vor der Klasse zu sprechen, und dass das ganz normal ist. Man sollte ihm vermitteln, dass man es in seinem Wesen akzeptiert, aber es Schritt für Schritt weiterbringen möchte. Eine zeitaufwendige Sache.

So zeitaufwendig ist das nicht. Zwei bis drei Mal pro Woche am Ende des Unterrichts kurz mit einem schüchternen Kind Aufträge durchsprechen, das können Lehrpersonen leisten. In Ihrer Funktion als Leiter der Forschungsstelle Kind und Schule an der Universität Zürich haben Sie das «Soziale Fitness-Training» entwickelt. Ein Programm, das schüchternen Kin-

dern helfen soll, sich in der Schule zu öffnen und ihre Hemmungen hinter sich zu lassen.

Während meiner Forschungszeit zu diesem Thema sind immer wieder Eltern mit der Frage auf mich zugekommen: «Was können wir nun gegen die Schüchternheit unseres

«Mein Wunsch ist, dass Fachpersonen regelmässig mit diesen Kindern an ihren Schulen arbeiten.» Sohnes, unserer Tochter tun?» Da habe ich gemerkt, dass es mit der reinen Forschung nicht getan ist – und dieses Programm entwickelt, in dem wir mit den Kindern bei uns an der Universität gearbeitet haben, damit sie den Erwartungen, die an sie gestellt werden, gerecht werden können. Es braucht ja eigentlich nicht viel: sich gelegentlich melden, sich einbringen, mitmachen, in der Pause nicht abseitsstehen, sondern mit anderen etwas gemeinsam

machen. Für diese Kurse sind Familien aus der gesamten Deutschschweiz zu uns gekommen. Leider werden Sie heute nicht mehr angeboten. Unter anderem aus diesem Grund haben Sie in diesem Frühjahr das Buch «Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen und Schüler» herausgegeben ...

... um es an Sozialarbeiter und Heilpädagogen an Schulen abzugeben. Mein Wunsch wäre es, dass diese Fachpersonen regelmässig mit schüchternen Kindern an ihrer Schule arbeiten.

Was kann ich als Vater oder Mutter eines schüchternen Kindes tun?

Erst einmal sollten Sie Ihrem Kind zuhören. Aussagen wie «alle anderen in der Klasse sind blöd» deuten schon darauf hin, dass etwas nicht stimmt. Denn das kann nicht sein. Eine Schulklasse ist im Grunde der beste Ort, um Freunde zu finden, da man über einen längeren Zeitraum immer wieder mit denselben Menschen Zeit verbringt. Sollte man sein Kind ermutigen, auf andere zuzugehen?

Es lohnt sich, als Mutter oder Vater eines betroffenen Kindes die Frage zu stellen: Wie distanziert bin ich

Die stellvertretende Chefredaktorin Evelin Hartmann im Gespräch mit Georg Stöckli.

Zur Person Prof. Dr. Georg Stöckli war von 2009 bis 2015 Leiter der Forschungsstelle Kind und Schule am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.

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Für Ihr Programm haben Sie den Mutmacher entwickelt, der dem schüchternen Kind hilft, gegen den sogenannten Hemmzwerg zu kämpfen.

Dieser Hemmzwerg ist ein sehr hart­ näckiger Zwerg (lacht). Es ging mir darum, die Schüchternheit von der

Person des Kindes zu trennen. Es ist der Hemmzwerg, der dem schüch­ ternen Kind das Leben schwermacht. Doch mithilfe des Mutmachers kann der Hemmzwerg be­kämpft werden. Eltern rate ich, die Mutmacher ihrer Kinder zu werden und mit ihnen Situationen zu erleben, nach denen sie sagen können: «Da warst du jetzt aber richtig mutig!» Und: «Du bist viel mutiger, als du denkst!» Und das kann dann ein Anschlusspunkt an die eigene Mutmacherei sein. >>>

eigentlich selbst anderen Menschen gegenüber? Wenn man seinem Kind sagt, dass es doch eigentlich ganz einfach ist, es aber selbst nicht prak­ tiziert, dann ist das ein Widerspruch, den das Kind durchschaut. Natürlich gehört es dazu, hin und wieder ein anderes Kind zu sich nach Hause einzuladen, gemeinsam zu essen und dem eigenen Kind zu zeigen, dass man in diesen Situationen auch ent­ spannt sein kann. Solche Tischsitua­ tionen eignen sich dafür sehr gut: Das Kind ist anwesend, muss aber nicht aktiv handeln. Das ist ein guter Anfang.

«Mutmacher gegen Hemmzwerg» Georg Stöckli entwickelte ein Trainingsprogramm, das schüchterne Kinder darin unterstützt, ihre Hemmungen und Ängste zu überwinden. Das Programm wurde mit Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten Klassen erprobt. Die abschliessende Auswertung zeigte, dass sich diese Kinder nach dem Training mutiger fühlten als zuvor. In zehn Trainingseinheiten werden Übungen angeboten, die den Kindern zum einen ermöglichen, ihre eigenen Hemmungen zu erkennen. Mithilfe der Figur des Hemmzwergs können Kinder über die Ursachen ihrer Probleme nachdenken. Zum anderen werden die Kinder aufgefordert, ihre Passivität zu überwinden und Eigeninitiative zu zeigen. Ein persönlicher Mutmacher hilft den Kindern dabei. Georg Stöckli: Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen und Schüler. Lehrmittelverlag Zürich, 2016. www.lmz.ch

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Psychologie & Gesellschaft

Buben lernen anders als Mädchen Damit beide Geschlechter in der Familie und in der Schule auf die Rechnung kommen, braucht es ein Bewusstsein dafür, dass es Unterschiede zwischen Mädchen und Buben gibt. Text: Susan Edthofer

S

chule als Institution und Buben harmonieren nicht immer miteinander. Mädchen scheinen besser in dieses Konzept zu passen. Buben und Mädchen entwickeln sich unterschiedlich, und auch ihre Bedürfnisse, Vorlieben und Befindlichkeiten sind anders. Dies bedeutet, dass beim Thema Chancengleichheit nicht nur die soziale Herkunft, sondern auch das Geschlecht eine Rolle spielt. Mädchen sind eine Nasenlänge voraus

Bereits beim Schuleintritt haben die Mädchen die Nase vorn. Bei der Einschulung beträgt der Entwicklungsvorsprung etwa ein bis drei Jahre, ein Unterschied, der sich erst im Laufe der Schulzeit ausgleicht. Nicht verwunderlich also, dass der Unterricht für die Buben womöglich zum Stressfaktor wird. In einem Artikel von «Focus Schule» aus dem Jahr 2009 steht: «Mädchen sind nicht schlauer, aber ‹schulklüger›.» Diese Aussage bringt es auf den Punkt. Beispielsweise entwickeln sich Feinmotorik und Grobmotorik bei Mädchen und Buben in unterschiedlichen Zeitfenstern. Das erklärt, warum Buben oft Mühe haben, still zu sitzen, schön zu schreiben und geduldig auszumalen. Hinzu kommt, dass die Art und Weise, wie Inhalte vermittelt werden, Buben eher langweilt. Auch wenn bei Mädchen der Bewegungsdrang ebenfalls hoch ist, können sie besser damit umgehen, dass Wissen oft durch Reden weitergegeben wird. Beiden Geschlechtern gerecht werden

Immer wieder ist die Frage zu hören, ob getrennte Klassen beiden Geschlechtern mehr entsprechen würden. Mittlerweile sprechen sich viele Fachleute für eine zeitweilige Trennung aus. Schulen, die diese Lösung praktizieren, stellen fest, dass den Bedürfnissen von Buben und Mädchen besser entsprochen werden kann. Entgegen der gängigen Meinung schneiden Mädchen beispielsweise in Mathematik bis zehn Jahre ungefähr gleich gut ab. Erst nachher überholen die Jungs sie. Scheinbar liegt es also nicht an den Fähigkeiten, dass sich Mädchen in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern in gemischten Klassen eher zurückhalten. Auch Buben könnten ihre kommunikativen Stärken besser zeigen, 40

«Mädchen scheinen besser ins Konzept Schule zu passen.»

wenn die Klassen im Sprachunterricht teilweise getrennt wären. Deutliche Unterschiede bestehen im Susan Edthofer ist Redaktorin Denken und Handeln: Mädchen macht im Bereich Kommunikation von Pro Juventute. es keine Mühe, Vorgaben zu folgen. Buben hingegen möchten Dinge ausprobieren und erst nachher ihre Schlüsse ziehen. Auch das Selbstwertgefühl der beiden Geschlechter entwickelt sich unterschiedlich: Mädchen versuchen sich vor allem über die Leistung zu definieren und dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Für Buben hängt die Stellung in der Gruppe stark mit ihrem Selbstwertgefühl zusammen. Eltern und Lehrpersonen, die Kinder mit diesem Wissen unterrichten und erziehen, tragen dazu bei, das Lernen zu vereinfachen.

Was Eltern tun können – vier Tipps • Um beiden Geschlechtern gerecht zu werden, hilft es, sich der Unterschiede im Verhalten von Mädchen und Buben zu vergewissern. Wenn Sie die Stärken Ihres Kindes kennen, fällt es Ihnen leichter, seine schwächeren Seiten zu fördern. • Geben Sie Ihrem Sohn Gelegenheit, das Lernen durch Bewegung aufzulockern. Kopfrechnen kann man beispielsweise beim Treppensteigen, und Wörter lassen sich hüpfend lernen. • Fördern Sie im Gespräch mit Ihrem Sohn und anhand von Bildern und Situationen gezielt seine emotionalen Kompetenzen. • Mädchen fühlen sich schnell minderwertig. Stärken Sie das Selbstvertrauen Ihrer Tochter und achten Sie beispielsweise darauf, dass nicht bloss die Männer für handwerkliche Belange zuständig sind. Ermuntern Sie Ihre Tochter, in sogenannte Männerdomänen vorzustossen.

Pro Juventute Elternberatung Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online (www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag, zu Erziehung und Schule stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen keine Kosten an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern ­Informationen für den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch

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Kolumne

Wenn Kinder das Familienbett belagern Was tun, wenn Kinder nachts auf Wanderschaft gehen, Betten getauscht werden und Eltern nicht zur Ruhe kommen? Dann braucht es eine klare Botschaft und elterliche Führung, sagt Jesper Juul.

Jesper Juul ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

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Wir wollen nicht, dass unser Sohn sich fürchtet, möchten aber auch nicht nachts ständig geweckt werden – was tun?

derzimmer. Oder er schläft zusam­ men mit unserer gemeinsamen Tochter im Doppelbett und ich mit meinem Sohn auf der Matratze im Kinderzimmer. Die Kinder lieben diese Aufteilung. Mein Mann und ich nicht. Wir sind sogar ziemlich frustriert davon. Da der Grössere früher Angst hatte, alleine zu schlafen, kam er immer zu uns ins Bett. Mit der Zeit wurde dies zu einem Platzproblem. Aus diesem Grund fanden wir die beschriebene Lösung. Nun wacht unsere Kleine in der Nacht aber immer wieder auf, und mein Sohn wird dadurch in seinem Schlaf gestört. Mittlerweile sind wir alle sehr müde. Wir wollen nicht, dass unser Gros­ser sich fürchtet, aber auch nicht, dass wir ständig in der Nacht von einem Fünfjährigen aufgeweckt werden. Ich habe einfach nicht mehr die Kraft für dieses Chaos. Antwort von Jesper Juul Was für ein Durcheinander! Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie und Ihr Mann frustriert sind. Sie müssen die unterschiedlichsten Bedürfnisse und Wünsche vieler Familienmit­ glieder unter einen Hut bringen – auch Ihre eigenen. So wie Sie die Entwicklung beschreiben, müssen Sie das Gefühl haben, dass Sie mit Ihren Bestrebun­ gen gescheitert sind, vor allem

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Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

E

ine Leserin schreibt: Ich finde mich immer wie­ der in Situationen, in denen es mir schwerfällt, herauszufinden, was für die Kinder gut ist und was nicht. Im Dschungel der vielen Ratgeber und der mehr oder weniger schlauen Bücher über Kinder fühle ich mich verloren. Sie helfen mir nicht. Hier unser Problem: Die Nächte sind für uns Erwachsene sehr unan­ genehm, aber ich weiss wirklich nicht, wie wir das ändern sollen. Wir sind eine Patchworkfamilie: mein Mann, mein fünfjähriger Sohn und unsere gemeinsame, zehn Monate alte Tochter und ich. Jedes zweite Wochenende ist mein Sohn bei sei­ nem Vater. An manchen Wochen­ enden sind auch die älteren Kinder meines Mannes bei uns. Die eigent­ lichen Schwierigkeiten erleben wir aber in den Nächten unter der Woche. Die beiden Kinder schlafen dann bei mir im Doppelbett, mein Mann schläft auf einer Matratze im Kin­


nachts. Dabei sind Ihre Kinder auf sich selbst gestellt, weil es ihren Eltern nicht gelingt, die eigenen Bedürfnisse zu stillen, weil Sie sich mehr oder weniger für die Bedürfnisse Ihrer Kinder aufgeben. Ihre Kinder haben offensichtlich unterschiedliche Schlafwünsche. Doch was sie brauchen, ist nicht die Erfüllung ihrer Wünsche, sondern eine klare Botschaft von Ihnen als Eltern. Jetzt braucht es sozusagen die elterliche Führung. Konzentrieren Sie sich dabei auf Ihr Wissen über die Bedürfnisse Ihrer Kinder und Ihre Fähigkeit, ihnen Ihre Grenzen zu zeigen. In Ihrer speziellen Situation als Patchworkfamilie sollte keines der Kinder bis auf Ihre gemeinsame kleine Tochter bei Ihnen im Bett schlafen. Der fünfjährige Sohn hat vermutlich keine Angst, er ist es einfach nicht gewohnt, alleine zu schlafen. Es wird schon einige abendliche «Besuche» an seinem Bett brauchen, bis er tatsächlich alleine ein- und auch durchschläft. Zuerst müssen Sie und Ihr Mann sich gemeinsam klar darüber werden, was Sie wollen. Sobald Sie das wissen, berufen Sie ein Familientreffen ein, an dem alle Mitglieder teilnehmen. Zuerst erzählen Sie, wie frustriert und erschöpft Sie sind und dass Sie die Verantwortung dafür übernehmen. Dann teilen Sie den Kindern Ihre Entscheidung mit und erlauben Ihnen, darauf zu reagieren. Aber diskutieren Sie nicht zu lange darüber! Die Entscheidung ist gefallen, und dabei bleibt es. Falls Sie jetzt denken, dass das ein zu hartes Vorgehen ist – keine Sorge. Sie haben schon sehr lange jeden möglichen Respekt für die Bedürfnisse der Kinder gezeigt. Sie haben eine wunderbare Komfortzone für alle geschaffen und die Beteiligten liebevoll umsorgt. Nun ist es an Ihnen, Prioritäten zu setzen. Fast die Hälfte aller einbis fünfjährigen Kinder dieser Welt schläft in der Nacht unruhig und

Es wird einige abendliche Besuche neben dem Bett Ihres Sohnes brauchen, bis er alleine ein- und durchschläft.

unregelmässig. Auch viele Ratgeber und Bücher zum Thema können das nicht ändern. Selbst jene nicht, die sich ausschliesslich auf die Bedürfnisse der Kinder, deren Eigenarten und schlechten Gewohnheiten konzentrieren. Der Grund ist einfach: In diesem turbulenten Alter können die besten Eltern der Welt keine Ordnung und Harmonie in die inneren Zustände ihrer Sprösslinge bringen. Was Sie aber machen können, ist, verlässliche und sichere Rahmenbedingungen zu schaffen.

Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul, die er persönlich beantworten soll? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an redaktion@fritzundfraenzi.ch oder einen Brief an: Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 43


Kolumne

F***** im Club

S

«Ich geh heut mit meinen Fotzen in’ Club Wir kommen rein und jedes Opfer hier kuckt Dieser Scheiss fickt deine Boxen kaputt denn ich bin heut mit meinen Fotzen im Club» Hm. Als Erstes sah ich mich um, ob meine Kinder mithörten. Sie wissen nämlich, dass ich aggressiven und vulgären Deutschrap nicht ausstehen kann. Weil ich das Glück habe, mit einer Tochter gesegnet zu sein, die Musik ebenfalls liebt und deren Musikgeschmack sich mit meinem überschneidet, war dies noch nie ein Problem. Nun war mir klar, was hier aus den Boxen kam, war einigermassen prekär. F***** – in keinem anderen Kontext würde ich den Ausdruck in meinem Haushalt dulden. Aber ich konnte mir nicht helfen, ich mochte den Song. Irgendwie war das Punk oder eine vulgärfeministische Variante davon. Und wenn es sexistisch war, warum gefiel es mir dann irgendwie? War das jetzt vielleicht Zeichen einer Midlife-Crisis? Dann hörte ich den Track noch einmal an – laut. Meine Tochter ist 16 Jahre alt, und das Letzte, was man sich in diesem Alter wünscht, ist eine vulgäre Mutter. Deshalb bemühe ich mich, mit allem diskret zu sein, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Deshalb zeigte ich meiner Tochter den Track nicht. Bis wir eines Abends miteinander in Streit gerieten. Sie zog sich beleidigt ins Zimmer zurück – und wenig später bretterte «F***** im Club» aus ihrem Zimmer. Offensichtlich versuchte sie, mich zu provozieren. Aber ich fand es nur lustig. Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist. Ob ich mir Sorgen machen soll, dass sie solche Musik hört, oder darüber, dass sie mich damit nicht einmal provozieren kann. Weil ich es selbst höre. Aber eines ist klar: Spotify ist wirklich eine segensreiche Erfindung.

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Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Michèle Binswanger Die studierte Philosophin ist Journalistin und Buchautorin. Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder und lebt in Basel.

potify ist eine segensreiche Erfindung. Sich für Musik zu interessieren war nie so einfach wie heute. Als Teenager in den Achtzigerjahren war dies eine weitaus kompliziertere Angelegenheit, denn um überhaupt an neue Musik heranzukommen, brauchte man zunächst weniger musikalische als soziale Fähigkeiten. Man musste an die Menschen herankommen, die einem neue Musik zeigen konnten, und das waren allesamt Nerds. Oder Kerle, die ich nicht verstand, wie der Wizard vom einzig coolen Plattenladen in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs. An Samstagnachmittagen lungerte ich vor dem Plattenladen herum und kaum je wagte ich es, den Wizard persönlich anzusprechen, der mich vielleicht in die Geheimnisse neuer Musik eingeweiht hätte. Heute ist das anders. Dank Spotify brauche ich nicht mehr bis am Samstagnachmittag zu warten und ich brauche auch keine Nerds mehr. Alles, was ich wissen muss, sagt mir der Algorithmus, der immer neue Empfehlungen macht und auch immer wieder für Überraschungen sorgt. So war das neulich, als plötzlich dieser Track durch meine Boxen bretterte. Er hatte ordentlich Druck und eine interessante Story: Ein paar Mädels erzählen, wie sie sich für den Ausgang aufbrezeln und dann grölend durch die Strassen ziehen. Ich hörte interessiert und angetan zu, bis der Refrain kam, mit süssen Stimmchen über wummerndem Bass:

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Öpfelfarm Honig, Steinbrunn Dass dieser Honig besonders raffiniert schmeckt, liegt nicht zuletzt auch daran, dass ganze 24 Bienenvölker daran arbeiten.

Bündner Honig, Brusio Die Blütenpracht der Bündner Wiesen kann man bei einem Spaziergang geniessen. Oder als Honig auf dem Brot.

Miel du Jura Suisse Ein Honig aus einer wilden Region, der auf dem Brot aber ganz sanft und ausgewogen schmeckt.

Don Mario, Camignolo Fast noch besser fürs Gemüt als die Tessiner Sonne ist dieses süsse Meisterwerk der Tessiner Bienen.

Waldhonig Region Wasserschloss, Rüfenach Anders als das Wasserschloss ist der Honig dieser Region vor allem eine Attraktion für den Gaumen.

Miel genevois Im eigentlich so diplomatischen Genf gibt es – ganz undiplomatisch ausgedrückt – einen der besten Honige überhaupt.

Kündig Waldhonig, Matzwil Nicht nur auf sportliche Wanderer, sondern auch auf aktive Bienen stösst man am Frienisberg.

Blütenhonig aus dem ZH-Oberland, Grüt Besonders schnelle Zürcher Bienen machen diesen Honig, dem eine besonders entschleunigende Wirkung nachgesagt wird.


Ein Hund nach Mass für Joel Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus – auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt. Joels Mutter ist alleinerziehend, vor fünf Jahren erkrankte sie an Krebs. Hier erzählt sie ihre Geschichte und bittet Sie, liebe Leserin, lieber Leser, um Ihre Unterstützung. Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo


Erziehung & Schule

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 47


Erziehung & Schule

Autisten sind oft unfähig, sich auf eine veränderte Situation einzulassen.

Joel sitzt auf dem Boden. Ein Flugzeug am Himmel hat ihn «gereizt». Er reagiert mit einem Wutanfall.

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J

etzt ist es so. Ich bettle. Inzwischen kümmert es mich nicht mehr, was andere denken. Ich bin einfach nur froh, wenn ich Hilfe erhalte. Für Joel. Er ist inzwischen 7-jährig. Als er vor eineinhalb Jahren die Diagnose Asperger-Autismus erhielt, wusste ich, was auf mich zukommt. Krebs ist heilbar, Autismus nicht

Auch Joels 14-jähriger Bruder ist autistisch. Mit ihm habe ich alles

durchlebt, was Eltern autistischer Kinder durchleben können: die anfängliche Ratlosigkeit, die Abklärungen und vor allem die verzweifelte Suche nach Unterstützung. Sie führte uns durch einen Dschungel aus stationärer Psychiatrie, Pflege­ familie, Psychiatriespitex, auf­ suchendem Psychiater und Sonderschule. Autismus wurde zu meinem Hauptfach in dieser Lebensschule: Ich suchte Hilfe in etlichen Weiterbildungen und Büchern. Daneben wollte ich aber auch meiner Tochter eine gute Mutter sein. Sie ist heute zwölf. Mitten in diesem Prozess steckte ich also, als Joel zweijährig ähnliche Anzeichen zu zeigen begann wie sein Bruder. Er wurde zunehmend überaktiver, eigensinniger und liess sich nicht mehr lenken. Zu viele Reize führten zu Ausrastern. Dann schrie er, hielt sich die Ohren zu,

warf Dinge um sich, verkroch sich verzweifelt im Zimmer unter seiner Bettdecke und liess niemanden mehr an sich heran. Eine Abklärung zögerte ich hinaus. Vor fünf Jahren erkrankte ich an Krebs. Zusätzlich waren mein Mann und ich in Trennung. Das erschöpfte mich. Eine weitere Autismus-Diagnose hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht verkraftet. Inzwischen hat sich manches eingependelt: Die Krebsbehandlung ist abgeschlossen. Für meinen älteren Sohn habe ich eine tolle Pflegefamilie in der Nachbarschaft gefunden. Drei Tage die Woche verbringt er dort. Inzwischen geht er auch wieder in die öffentliche Schule. Mein Ex-Mann unterstützt mich an einem Abend unter der Woche und an den Wochenenden in der Kinderbetreuung. So auch meine Eltern. Sie leben im selben Haus. Mittags essen wir

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meist gemeinsam. Darüber bin ich froh, denn es kommt immer wieder zu Zwischenfällen. Es braucht nur wenig – zum Beispiel ein Salatblatt, das den Reis berührt. Schon fliegt der Teller. Ich versuche alles, um Joels Leid klein zu halten: immer dieselben Tagesabläufe, klare Struk­ turen, visuelle Anleitungen, wo immer möglich die Reize reduzie­ ren. Und doch kann ich ihn nur beschränkt vor den Anfällen schüt­ zen. In den eigenen vier Wänden fällt die Fassade zusammen

Seit Joel in die Schule geht, ist es noch schwieriger. Im Moment be­ sucht er die Regelschule mit vier Stunden integrativer Förderung. Das ist für ihn eine grosse Herausforde­ rung, oft eine Überforderung. Es kommt mir vor, als habe er ein gewis­ ses Kontingent an Reizen, die er täg­ lich verarbeiten kann. Viele davon begegnen ihm schon auf dem Schul­ weg. Ein Flugzeug am Himmel, ein Auto, das er noch nie gesehen hat, die Geräusche der Klassenkamera­ den – das alles strengt ihn sehr an. In der Schule sucht er Kontakt zu seinen Gspändli und stösst doch immer wieder an seine Grenzen, weil er Emotionen nicht lesen kann, Aussagen wortwörtlich versteht und nicht adäquat reagiert. Die Heilpäd­ agogin hat die Eltern und somit die Klasse über Autismus aufgeklärt. Das war mir wichtig: Ich will, dass die Leute wissen: Es ist angeboren. Es ist nicht heilbar. Es ist kein Erzie­ hungsfehler. Manchmal gelingt es Joel gut, sich in der Schule anzupassen. Dar­ in ist er ein Spezialist – wie sein Bru­ der. Aber das kostet ihn unglaublich viel Energie. Zu Hause fällt die Fas­ sade zusammen. Er verliert die Kon­ trolle und erträgt nichts mehr. Zu­­ erst ist da der Tunnelblick, die Verzweiflung, und dann rennt er da­­von. Folge ich ihm, wird es nur schlimmer. Es kam schon vor, dass er in solchen Situationen Autos zer­

kratzte und Pfosten umschlug. Das erschöpft ihn. Und mich ebenso. Autismus ist eine ständige Aus­ ein­­andersetzung mit sich und ande­ ren. Manchmal mag ich nichts mehr davon hören. Lasst mich in Ruhe damit, möchte ich dann am liebsten rufen. An anderen Tagen geht es gut. Aber Zeit für mich selbst habe ich kaum mehr. Oft holt mich Joel schon morgens um halb sechs aus dem Bett. Bis zum Abend bin ich pausen­ los mit den Kindern beschäftigt. Sind alle drei anwesend, ist es nur noch ein Chaos. Manchmal würde ich gerne wieder meinen Hobbys oder meinem Beruf als Pflegefach­ frau nachgehen. Im Moment arbeite ich drei Stunden die Woche im Büro meines Vaters. Immer am Dienstag­ abend, wenn mein Ex-Mann die Kinder ins Bett bringt. Das Angebot reicht nicht für alle

Dass ein Hund eine beruhigende Wirkung auf Joel hat, merkte ich erstmals dank Sweetie – unserem kleinen Mops. Joel schläft besser, wenn Sweetie bei ihm im Zimmer ist. Das ist verständlich: Hunde sind leichter zu verstehen. Sie erwarten nichts. Dass aber Hunde bei Autisten tatsächlich therapeutisch eingesetzt werden, erfuhr ich erst vor Kurzem am Welt-Autismus-Tag. Da waren Familien mit Autismusbegleithun­ den dabei. Mir wurde bewusst: Genau das würde uns entlasten. Wir gehen alle drei Wochen zu einer Kin­ der- und Jugendpsychiaterin, erhal­ ten zwei Stunden die Woche Hilfe von einer Familienbegleiterin und Joel besucht seit einem Jahr die Figu­ renspieltherapie. Der Hund könnte das unterstützende Angebot ergän­ zen und Joel im Alltag Sicherheit bieten. So ging das Rösslispiel von vorne los: suchen, reden, abklären. Eigent­ lich versuchte ich, Joel vorerst aus dem Hundethema rauszuhalten, um keine Hoffnungen zu schüren. Aber wie Autisten sind: Sie merken alles. Wir fassten zuerst eine An­­ >>>

So können Sie helfen:

Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins, will der Familie Bettschen bei der Beschaffung und Finanzierung eines Autismusbegleithundes für Joel helfen. Die Kosten betragen rund 30 000 Euro; 4000 Euro hat die Familie selber zusammengetragen. Es fehlen 26 000 Euro – rund 30 000 Franken. Jede Spende ist willkommen: Stiftung Elternsein Seehofstrasse 6 8008 Zürich Postkonto 88-508005-9 IBAN: CH96 0900 0000 8850 8005 9 Vermerk: Joel Oder: www.elternsein.ch Button «Jetzt spenden» anklicken Bemerkungen: Joel Die Stiftung Elternsein hofft auf Ihre Unterstützung. Wir informieren in der Dezember-Ausgabe, auf unserer Website www.fritzundfraenzi.ch und via Facebook und Twitter über den Spendenstand. Herzlichen Dank!

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Erziehung & Schule

>>> bieterin in Allschwil bei Basel ins Auge. Die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde. Seit 2012 bildet sie Autismusbegleithunde aus. Sie war mir sofort sympathisch. Joel durfte mit einem Hund spazieren gehen und war hell begeistert. Das Problem ist: Die Stiftung wird überrannt von Anfragen, kann aber nur etwa acht Hunde pro Jahr anbieten. Einmal pro Halbjahr darf man an einer Auslosung teilnehmen. Vier bis fünf maximal zehnjährige Kinder werden gewählt

und kommen auf die Warteliste. Von da an dauert es ungefähr zwei Jahre, bis man den Hund erhält. So lange kann ich nicht warten. Wir brauchen die Entlastung jetzt. Ich erweiterte die Suche über die Landesgrenze hinaus und stiess auf den deutschen Verein PatronusAssistenzhunde. Er führt keine Wartelisten, sondern trifft die Auswahl seiner Kunden nach einer sorgfältigen Prüfung der Bewerbung und einem persönlichen Kennenlernen. Ausserdem hat er keine Altersbe-

«Ein Hund für alle Fälle» Autismusbegleithunde bieten autistischen Kindern Sicherheit und ihren Eltern Entlastung. Die grosse Nachfrage verlängert jedoch die Wartezeit. Mit Unterstützung des deutschen gemeinnützigen Vereins Patronus-Assistenzhunde kommen Familien schneller zu ihrem Hund. Interview: Sarah King

Herr Gross, der Verein Patronus-Assistenzhunde will mit der Ausbildung von Assistenz­ hunden Herzenswünsche erfüllen. Was unterscheidet Sie von anderen Anbietern? Wir können auf einen grossen Pool von Hundezüchtern und -trainern zurückgreifen. Das macht uns unabhängig und hat Vorteile für Familien. Zum einen können wir individuell den besten Trainer für ihr Kind aussuchen. Darauf legen wir grossen Wert. Zum anderen erlaubt uns der Pool, mehr Hunde auszubilden – im Moment etwa 20 bis 25 pro Jahr, ab nächstem Jahr dank zusätzlichen Trainern gar 50. Das verringert die Wartezeit. Etwa neun Monate nach dem Erstkontakt kann die Familie den Hund in Empfang nehmen. Wie sieht die Ausbildung eines Autismus­ begleithundes aus? Die Ausbildung beginnt mit der Welpenauswahl: Die Trainer erkennen schon nach einer

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grenzung. So ergab das eine das andere. Im Frühling lernte ich Thomas Gross an einer Messe in Karlsruhe kennen. Er ist Vorsitzender des Vereins Patronus-Assistenzhunde. Im Sommer lud er uns für drei Tage nach Rostock ein, damit er Joel kennenlernen und sich ein Bild von seinen Anfällen machen konnte. Herr Gross entschied sich, mit uns zu arbeiten. Ende Jahr könnte Joel seinen Hund kriegen – sofern ich bis dahin die Finanzierung sichern kann. >>>

Woche anhand der Rudelstellung das Poten­ zial der Welpen. Nach neun Monaten Sozialisierung in einer Patenfamilie beginnt die einjährige Grundausbildung beim Assistenz­ hundetrainer. Die ist für alle Hunde dieselbe. Die anschliessende Spezialausbildung richtet sich nach den Bedürfnissen der künftigen Besitzer. Gemeinsam legen wir fest, welche speziellen Fähigkeiten dem Hund antrainiert werden sollen. Die Dauer dieser Ausbildung variiert je nach Hund zwischen zehn und zwölf Monaten. Werden die Hunde «trocken» ausgebildet oder am Autisten selbst? Während der Grundausbildung verbringen die Hunde drei Tage die Woche in Psychiatrien, Altersheimen und Sonderschulen. Kommen die Hunde zur Familie, gibt es keine Krankheit, die sie noch nicht kennen. Am Ende der Grundausbildung kommt es zum ersten Kontakt mit dem autistischen Kind. Meist trifft der Hundetrainer anhand von zugeschickten Videos eine Vorauswahl und stellt dem Kind mögliche Hunde vor. Die Harmonie ist uns wichtig: Der Hund muss das Kind lieben und das Kind den Hund. Schliesslich gehen die beiden eine gut dreizehnjährige Beziehung ein. Betreuen Sie die Familien nach der Über­ gabe des Hundes weiter? Die Betreuung setzen wir ein Hundeleben lang fort. In den ersten drei Monaten nach der Übergabe findet zwei Mal eine Woche Schulung vor Ort statt. Reicht das nicht aus, setzen wir die Schulung fort: Wir müssen die Eltern

und die betroffenen Kinder befähigen, mit dem Hund zu leben und mit ihm zu arbeiten. Danach können die Familien einmal im Jahr eine Nachschulung bei uns machen. Wie muss ein Autismusbegleithund beschaffen sein? Was für eine Rasse hat er? Was für einen Charakter? Wir arbeiten in der Regel mit den Rassen La­brador und Golden Retriever. Wichtiger als die Rasse ist der Charakter des Hundes: Autismus­begleithunde sollten ruhig, ausgeglichen, wachsam, wendig und leicht führbar sein. Sie müssen aber auch die Kraft haben, sich einem Kind in den Weg zu stellen oder in der Lage sein, ein Kind zu suchen. Wie geht eine Familie vor, die über den Verein Patronus-Assistenzhunde einen Hund erwerben möchte? Die Familie bewirbt sich mit einem Bewerbungsschreiben und einem Anamnesebogen. Nach einem persönlichen Kennenlernen entscheiden wir, ob wir mit dieser Familie arbeiten wollen. Fotos und Videos des autistischen Kindes geben Aufschluss darüber, mit welchem Hundetrainer wir in Kontakt treten. Dieser trifft die Auswahl der Hunde. Danach suchen wir gemeinsam nach Wegen der Finanzierung. Ein Autismusbegleithund kostet bis zu 30 000 Euro. Der Betrag umfasst neben der Anschaffung des Hundes die Tierarztkosten und 350 Stunden Ausbildung. Einberechnet sind weiter das Geschirr, die vierzehn Tage Zusammenschulung, Reise- und Übernachtungskosten sowie die Vor- und Nachbereitungszeit. Wir

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«In der Schweiz dauert es zwei Jahre, bis man einen Begleithund erhält», sagt Miriam Bettschen. «So lange kann ich nicht warten. Wir brauchen die Entlastung jetzt.» Alleinerziehend, an Krebs erkrankt, Mutter von zwei autistischen Kindern: Miriam Bettschen ist erschöpft.

finanzieren uns durch Spenden und sind den Familien auch behilflich bei der Suche nach Stiftungen und Sponsoren. Gibt es Studien, welche die Wirksamkeit eines Autismusbegleithundes nachweisen? Studien wurden vor allem in den USA durchgeführt. In Deutschland gibt es zum Beispiel eine Studie, die zeigt, dass sich 76 Prozent der Kinder mehr zu einem Hund als zu einem Therapeuten oder einem Spielzeug hingezogen fühlen. Nach dem Spielen mit dem Hund senken sich die Vitalfunktionen wie Puls und Blutdruck. Die Kinder werden ruhiger, ausgeglichener und die Anzahl der Anfälle geht zurück. Das entspricht auch unserer Erfahrung.

Zur Person Thomas Gross ist zweiter Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins PatronusAssistenzhunde mit Sitz im deutschen Mönchhagen. Er ist verantwortlich für Marketing, Sponsoring und Fundraising und koordiniert den Prozess vom ersten Kennenlernen über die Hundeübergabe bis hin zur Nachbetreuung. www.patronus-assistenzhunde.de


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>>> 30 000 Euro kostet der Hund. 2000 kann ich selbst beisteuern. Für den Rest brauche ich Unterstützung. Lion-Clubs, Rotary-Clubs, Bekannte, Verwandte und über zwanzig Stiftungen habe ich bisher angeschrieben – mit mässigem Er­­ folg. Es fehlen immer noch 26 000 Euro. Dann las ich im ElternMagazin den Artikel über Autismus und fasste mir ein Herz. Darum stehe ich nun da und bitte um Ihre Unterstützung.

«Ein Autismusbegleithund wird nicht alle Probleme lösen. Aber er hilft mir, wo ich mit Joel allein nicht mehr klarkomme», sagt die Mutter.

Eine individuell angepasste Ausbildung

Joel besucht die Regelschule mit vier Stunden integrativer Förderung.

det ihn dann nach unseren Bedürfnissen aus. Nach der Übergabe erhalten wir eine einwöchige Schulung bei uns zu Hause. Der Hundetrainer begleitet uns durch die verschiedenen Alltagssituationen und zeigt uns, wie wir mit dem Hund arbeiten müssen. Da Autismusbegleithunde in Le­­ bensmittelgeschäften erlaubt sind, redet der Trainer mit den Geschäftsführenden und trainiert mit dem Hund die einzelnen Wege. Vielleicht kann Joel den Hund an speziellen Tagen auch in die Schule mitnehmen. Zum Beispiel bei Prüfungen oder ausserordentlichen Veranstaltungen. Was ich mir erhoffe? Nach Erfahrung der Fachleute kann ein Autismusbegleithund die Anfälle des Autisten um 50 Prozent reduzieren. Schon mit 10 Prozent weniger wäre ich erleichtert. Vielleicht können sogar die Ge­­­s­chwister vom Hund profitieren. Und ich. Ein Hund, der einem ab und zu seine Schnauze auf das Bein legt – tut das nicht jedem gut?

Irgendwann kommt in fast jedem Kinderleben der Wunsch auf, den Gspänli in einen Verein zu folgen. Sei es ein Fussballclub, Ballettstunden oder die Pfadi. Doch was, wenn es dem Kind da nicht gefällt? Damit ein Kind herausfinden kann, welche Sportarten ihm gefallen, geht es nicht ohne ausprobieren. Einerseits tun die Kleinen das im Sportunterricht in der Schule. In der Freizeit jedoch sind auch die Eltern gefragt: Diese können viel Unterstützung bieten, wenn es um die liebste Freizeitbeschäftigung ihrer Söhne und Töchter geht. Im Ratgeber «Bewegung, Spiel und Spass in der ganzen Familie» erfahren Sie, wie Sie Ihr Kind durch eine bewegte Kindheit begleiten können – und dabei auch selber davon profitieren! Den Ratgeber «Bewegung, Spiel und Spass in der ganzen Familie» der EGK-Gesundheitskasse erhalten Sie unter: www.egk.ch/spiel-und-spass

>>>

Die letzten Jahre befreiten mich von Illusionen. Autismus ist nicht heilbar. Auch ein Hund wird nicht alle Probleme lösen. Aber ein Hund hilft mir da, wo ich alleine nicht klarkomme: Er sucht Joel, wenn er wegrennt, verlangsamt ihn im Strassenverkehr oder spurt ihm den Weg durch Menschenansammlungen. Es wird zwar Joels Hund sein, aber die Befehle gebe ich. Einen wichtigen kenne ich schon: «Ponte». Wenn sich Joel in einem Anfall unter die Bettdecke verkriecht und niemanden an sich heranlässt, wird sich der Hund auf diesen Befehl hin sachte auf Joel legen. Zuerst nur auf seine Beine, dann auf seinen ganzen Körper. Es ist bekannt, dass sich Autisten in solchen Anfällen nicht mehr spüren. Sie brauchen Widerstand. Der sanfte Druck des Hundes kann sie beruhigen. Der Hund sucht im Alltag immer wieder Kontakt zum Kind und holt es so aus seiner Welt raus. Wofür wir den Hund alles brauchen und welche Fähigkeiten er haben muss, bestimmen Joel und ich gemeinsam. Der Hundetrainer bil-

Fussball mag ich! Oder nicht?

Sarah King arbeitet in einer psychiatrischen Klinik in Bern. Sie ist freie Journalistin und Autorin des Autismus-Dossiers der August-Ausgabe von Fritz+Fränzi.

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Lukas Zahner Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel


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Eine Frage der Perspektive Erwachsene sollten öfter mal den Blickwinkel wechseln und die Dinge aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen betrachten. Insbesondere, wenn es um Schule und Beruf geht. Text: Bruno Rupp

«Auch ich habe mich immer wieder zur Aussage ‹Das ist doch nicht normal!› verleiten lassen.» Bruno Rupp ist Primarlehrer, Schulleiter, Mitglied der Leitungskonferenz Bildung Bern und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung. Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern.

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ie kennen doch bestimmt das Spiel «Ich sehe was, was du nicht siehst», das Kinder oft auf langen Fahr­ ten im Zug oder im Auto spielen. Es ist mehr als ein Zeitver­ treib. Das Kind und der erwachsene Mitspieler versuchen, die Welt oder zumindest einen kleinen Teil der Welt mit den Augen des anderen zu sehen. Beide versuchen, durch die­

Es lohnt sich, die Perspektive zu wechseln, Dinge mit einer anderen Brille anzuschauen – mit der des Kindes. 54

selbe Brille zu schauen. Beide kom­ munizieren auf derselben Ebene miteinander. Wie oft hören Kinder oder Jugendliche von den Eltern Sätze wie «Das sehe ich aber anders», «Wie kannst du nur!», «Das ist doch nicht normal!». In solchen Momen­ ten und Situationen sehen beide «die Welt» mit verschiedenen Augen. Erwachsene müssen Wege in die Selbständigkeit aufzeigen

Als Vater von drei heute erwachse­ nen Kindern habe auch ich mich immer wieder zur Aussage «Das ist doch nicht normal!» verleiten lassen. Eine Aussage, die jungen Menschen die Botschaft vermittelt, dass ich als Erwachsener und Vater selbstredend weiss, was «normal» ist. Aus meiner Sicht eben. Wie sieht es aber aus Sicht des Jugendlichen aus? Kenne ich seine Sichtweise und Begründung für sein «abnormales» Verhalten? Könnte es sein, dass sein Verhalten aus seiner Sicht vielleicht gar nicht so abnor­ mal ist? Sollte es mich nicht interes­ sieren, aus welchen Gründen, Erfah­ rungen oder mit welcher Absicht der Jugendliche eine andere Vorstel­ lung von «normal» und «abnormal», von «richtig» oder «falsch» hat? Als Eltern und Lehrpersonen ist es unsere Pflicht, Kindern und Jugendlichen Wege in die Selbstän­ digkeit zu zeigen, sie auf dem Weg zur Mündigkeit zu unterstützen und

zu begleiten. Wir haben hier eine Vorbildfunktion. Was vermitteln wir denn für Werte und Haltungen, wenn wir diese einfach unreflektiert aufgrund unserer Stärke als Erwach­ sene den Jungen überstülpen? Aufgrund meiner langen Erfah­ rung als Vater, Erzieher und Lehrer bin ich überzeugt, dass es sich immer wieder lohnt, die Perspektive zu wechseln und die Dinge mit einer anderen Brille anzuschauen: mit der Brille des Kindes respektive des Jugendlichen. Die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, ist wichtig und hilfreich. Eine Situation aus einer anderen Richtung oder Perspektive zu sehen, bedeutet, die eigene Blick­ richtung zu verändern und sich in die Situation des anderen zu verset­ zen und hineinzudenken. Einfühlungsvermögen oder Empathie ist die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Ge­­ danken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer an­deren Person zu erkennen und zu ver­­­s tehen. Zur Konfliktlösung kommt dieser Fähigkeit eine wich­ tige Bedeutung zu. Perspektiven­ wechsel verbunden mit Einfüh­ lungsvermögen und Empathie öffnet den Weg für ein anderes Ver­ ständnis und für neue, andere Ideen. Als Schulleiter habe ich immer wieder die Aufgabe, Gespräche zwi­ schen Eltern und Lehrpersonen zu moderieren. Gespräche, in welchen die Teilnehmenden unterschiedliche

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Ansichten zu einem Problem und verschiedene Erwartungen und Vorstellungen von dessen Lösung haben. Oftmals geht es um unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen einer Schülerin oder eines Schülers und seiner Eltern an die Schule. Eines von vielen klassischen Beispielen ist der Übertrittsentscheid von der Primarstufe in die Sekundarstufe. Die Eltern möchten, dass ihr Kind die Schullaufbahn unbedingt in der Sekundarschule weiterführt und im Anschluss das Gymnasium besuchen kann. Begründung der Eltern: Dem Jugendlichen stehen nach der Realschule weniger Chancen und Möglichkeiten offen. Der Abschluss der Matura steht nicht zur Verfügung. Die Matura «in der Tasche» zu haben, ist sowieso besser, als eine (Berufs-)Lehre zu machen. Erfahrungen lassen sich nicht übertragen

Als Erwachsener kann ich solche Überlegungen nachvollziehen. Ein Jugendlicher sieht das möglicherweise aber ganz anders. Vielleicht hat er andere Interessen. Vielleicht waren seine Leistungen in der Primarschule nicht so brillant; er gehörte vielleicht meistens zu den so­­ genannt schlechteren Schülern. Er­­folgserlebnisse blieben vielfach aus. Seine Interessen liegen vielleicht in anderen Gebieten. Er möchte vielleicht eine handwerkliche oder eine künstlerische Laufbahn einschlagen. Er möchte einmal erfolgreich und glücklich sein können. Er möchte vielleicht ... Fragen über Fragen, die ich besprochen und beantwortet haben möchte. Antworten, die ich benötige, um die Sichtweise des Jugendlichen und seiner Eltern zu verstehen und sie bei der Entscheidfindung beraten und unterstützen zu können Einen Entscheid über einen anderen Menschen zu fällen, ohne seine Perspektive und Sichtweise zu

Eltern sollten vermeiden, ihre Wunschvorstellungen und Ziele auf das eigene Kind zu übertragen. kennen, ist meistens nicht zielführend und erfolgreich. Man kann als Erwachsener nicht einfach seine persön­lichen Ziele und Wunsch­ vorstel­lungen auf das Kind oder den Jugendlichen übertragen. Als Eltern sehen wir uns immer wieder mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten mit unseren Kindern und Jugendlichen konfrontiert. Wir sind immer wieder herausgefordert – das ist auch anstrengend und verleitet auch einmal dazu, eine Lösung zu diktieren. Wir sprechen ja aus Erfahrung. Es stimmt: Wir haben in unserem Leben schon viele Erfahrungen gemacht. Aus Erfahrungen kann man zwar lernen, man kann sie sich zu Nutze machen. Man kann sie aber niemals auf einen anderen Menschen übertragen und ihm damit ersparen, sie selbst zu machen. Wir können uns jedoch mit jungen Menschen über ihre und unsere Erfahrungen in ähnlichen und vergleichbaren Situationen austauschen. Nehmen wir uns die Zeit dazu. Zeigen wir Interesse und Empathie. Es fühlt sich unbestritten gut an, sich von anderen Menschen verstanden zu fühlen. Voraussetzung für gegenseitiges Verständnis ist ein Perspektivenwechsel; die Bereitschaft und das Interesse, die Welt auch aus der Sicht des Mitmenschen sehen und verstehen zu wollen. Nehmen wir doch diese Vorbildfunktion wahr. Es lohnt sich!

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In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post

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R_CH_SCHR_IB_NG:

So macht sie Spass!

Um die Orthografie in den Griff zu bekommen, brauchen Kinder Motivation zum Dranbleiben. Das Motto ist: Lernen durch Anwenden! Drei Praxistipps. Text: Johanna Oeschger

Geheimschrift Zuerst wird das Alphabet in Geheimschrift codiert: Für jeden (oder die häufigsten) Buchstaben steht ein Symbol oder eine Zahl – damit verschlüsselt der Schreiber eine Nachricht. Der Empfänger versucht, den Code zu knacken. So prägen sich Wörter mit kniffliger Schreibweise besser im Gedächtnis ein. Galgenmännchen Ein Spieler denkt sich ein Wort aus und zeichnet für jeden Buchstaben einen Strich auf das Blatt. Der andere Spieler errät nun Buchstabe für Buchstabe das Wort. Kommt der Buchstabe im Wort vor, wird er beim entsprechenden Strich eingetragen. Liegt der Ratende falsch, wird in zehn Schritten ein Galgen (oder eine Blume, ein Tier, ein Haus usw.) gezeichnet.

Ein Spieler schreibt einen Buchstaben oder ein Wort auf den Rücken des anderen Spielers, dieser muss das Geschriebene erraten. Buchstabenentdecker nehmen dabei bewusst die typischen Linien und Kurven der Buchstaben wahr.

Wort-Zauberer

Die Rechtschreibung entwickelt sich in Phasen: Kinder ab etwa drei Jahren schreiben Wörter noch aus dem Gedächtnis. Mit fünf bis sieben Jahren beginnen sie, Laute in Buchstaben zu übersetzen. Ab der 2. oder 3. Klasse lernen sie, Rechtschreibregeln anzuwenden. Korrekturen sind also nur sinnvoll, wenn die Kinder sie nachvollziehen können: Jüngeren Kindern kann man z. B. beim Vorschreiben Laut für Laut vorlesen und so zeigen, wie sich Buchstaben und Laute aufeinander beziehen. Fortgeschrittene Schreiber kann man auf Regelmässigkeiten hinweisen, wie dass man für einen langen i-Laut meistens ie schreibt. Für Kinder, die bereits etwas mit der Schrift vertraut sind, können Schreibspiele auf motivierende Art das Augenmerk auf die Schreibweise von Wörtern lenken.

App-Tipp

Diese App verwandelt Buchstaben in Laute: Die Kinder bilden eigene Wörter und lassen sie vom «Wort-Zauberer» vorlesen oder sie fügen Buchstaben zu Wörtern zusammen, die ihnen diktiert werden. Für iPhone/iPad erhältlich. Kosten: Fr. 3.–.

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Johanna Oeschger

ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, unterrichtet Deutsch und Englisch auf der Sekundarstufe II und arbeitet als Mediendidaktikerin bei LerNetz.

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Bild: iStockphoto

Buchstaben fühlen


Stiftung Elternsein

Bauchfrei durch den Winter

Ellen Ringier über Erziehungsmethoden ihrer Mutter und warum sie ihre Töchter nicht davon abhielt, im Winter in Turnschuhen aus dem Haus zu gehen.

Bild: Maurice Haas / 13 Photo

Dr. Ellen Ringier präsidiert die Stiftung Elternsein. Sie ist Mutter zweier Töchter.

In der zweiten Primarklasse schickte mich Lehrer Halder eines Tages um 10 Uhr wieder nach Hause. Zuvor hatte er mich vor der ganzen Klasse lächerlich gemacht. Es war ein Wintertag, ich trug Knie­socken. Dieser Umstand hatte ihn so erbost, dass er es angemessen fand, mir vor meinen Mitschülerinnen und Mitschülern Folgendes an meine Eltern mitzugeben: Falls ich im Winter je wieder mit Kniesocken in der Schule erscheine, werde er die Vormundschaftsbehörde benachrichtigen. Meine Mutter hatte trotzdem nicht nachgegeben: Strumpfhosen zog sie mir weiter nur an, wenn es schneite und wenn wir Ski fahren gingen. Die Aufsichtsbehörde ist zum Glück trotzdem nie bei uns vorstellig geworden. Jahre später sprach ich meine Mutter auf den Vorfall mit Lehrer Halder an. Sie fragte zurück: Bist du in deiner Schulzeit je krank gewesen? In der Tat: Ich konnte mich nicht daran erinnern, je gefehlt zu haben – ausgenommen für eine Mandeloperation. Nun, Erziehung ist etwas Individuelles, und es ist für Aussenstehende nicht immer leicht zu erkennen, ob die gewählten Methoden gerade noch akzeptabel oder schon schädlich sind. Bei meiner Mutter galt das Credo: Kinder darf man niemals «verweichlichen»! Egal, ob es Bindfäden regnete oder Vorhänge schneite: Wir mussten bei jedem Wetter raus. Und die Fenster im Schlafzimmer standen in der Nacht zu jeder Jahreszeit speerangelweit offen. Schien uns drei Kindern die Raumtemperatur zu frisch, hiess es, wir sollten einen Pullover anziehen. Im Erwachsenenleben ist mir diese «Abhärtung» immer wieder zugutegekommen. Bei keinem Arbeitgeber war ich je länger als einen halben Tag krankheitshalber abwesend. Und ich war mein Leben lang – anders als die meisten Kolleginnen und Kollegen – frei von der ständigen Selbstbeobachtung, ob mir gerade zu heiss oder zu kalt ist. Es ist einfach, wie es ist. Meine Kinder machten das Fenster jeweils zu, sobald

ich die Türe des Kinderzimmers zugemacht hatte. Frischluftzufuhr war definitiv nicht ihr Ding. Mehr als nur einmal ertappte ich eine meiner Töchter dabei, wie sie vor dem Zubettgehen die Bettwäsche föhnte. Ich glaube, es wäre ihr grösster Wunsch gewesen, einen Heizofen direkt neben dem Bett stehen zu haben. Trotzdem trugen sie zu Teenagerzeiten bauchfrei. Dazu zu jeder Jahreszeit Turnschuhe – zumindest sahen sie für mich immer danach aus –, was mit Stulpen über den Wollstrümpfen ausgeglichen wurde, die bei Regen und Schnee zusammen mit den Turnschuhen pflotschnass wurden. Übereinander angezogene Sweatshirts mit Kapuzen (Hoodies genannt) machten offenbar den zu meinen Zeiten gängigen und daher spiessigen Regen- oder Wintermantel wett. Es ist meine Überzeugung, dass man als Eltern nicht nur die psychische Resilienz, sondern auch die physische Robustheit fördern kann und muss. Gleichzeitig bin ich aber auch überzeugt, dass das Diktat der Peergroup in modischen Belangen bis zu einem gewissen Grad beachtet werden muss: Jugendliche wollen in der Regel das tragen, was die andern tragen. Es geht ums Selbstwertgefühl. Und dieses zu stärken, schien mir ebenso wichtig – wichtig genug jedenfalls, um den einen oder anderen Schnupfen in Kauf zu nehmen.

STIFTUNG ELTERNSEIN «Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten, Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschs­prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 57


Elterncoaching

Wer sind eigentlich diese Leute in meinem Haus? Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd – das gilt auch für unsere engsten Beziehungen.

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 38-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 5, und einer Tochter, 2. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg. www.mit-kindern-lernen.ch www.biber-blog.com

Manchmal ist es gerade die enge Beziehung zum Kind, die es uns schwer macht, bestimmte Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen. 58

lebt haben. Dabei kann uns gerade unsere gemeinsame Geschichte zum Verhängnis werden. Gemeinsame Geschichte kann uns verbinden, aber auch entfremden

Wenn uns mit einem Menschen vie­ le Jahre und eine gemeinsame Ge­ schichte verbinden, gehen wir davon aus, dass wir ihn dadurch umso bes­ ser kennen. Wir wissen, woher er kam, was er erlebt und was ihn ge­ prägt hat. Wir können auf gemein­ same Erfahrungen und viele Gesprä­ che zurückblicken. Das ist etwas Wertvolles und Wunderbares, das uns verbinden kann. Es kann jedoch auch verhindern, dass wir die andere Person so sehen, wie sie ist. Wir haben uns ein Bild dieses Menschen gemacht, und es fällt uns entsprechend schwerer, zu sehen, was an ihm neu und anders ist. Wir können blind werden für Entwicklungen, die für Aussenste­ hende offensichtlich sind. Besonders eindrücklich beschreibt dies der Schriftsteller Daniel Pennac in sei­ nem Buch «Schulkummer». Inzwi­ schen einer der bekanntesten Auto­ ren Frankreichs, war er in seiner Schulzeit ein schlechter Schüler, um den sich seine Mutter zeitlebens Sor­ gen machte. Pennac schildert im Epilog eine Szene, in der er mit seinem Bruder und seiner Mutter im Wohnzimmer

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Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Z

u Beginn einer Bezie­ hung können wir ein­ ander gar nicht genug erzählen. Wir wollen die Gedanken, Träume und Ängste des Partners oder der Partnerin kennenlernen, die letzten Winkel seiner respektive ihrer Per­ sönlichkeit ausloten. Alles ist neu und interessant, und wir befinden uns auf einer Entdeckungsreise. Mit den Jahren holt uns der Alltag ein. Die Beziehung läuft gut, doch man redet weniger miteinander. Die Gespräche werden flacher, und sobald Kinder dazukommen, geht es bald vorwiegend um Organisatori­ sches: Wer ist wann zu Hause? Wer fährt die Kinder wann wohin? Rou­ tine breitet sich aus. Gefangen im Alltag kann es uns passieren, dass wir Veränderungen nicht mehr mit­ bekommen, unser Bild des Gegen­ übers nicht mehr aktualisieren, die gemeinsame Entwicklung ins Sto­ cken gerät – bis wir eines Tages fest­ stellen, dass wir uns auseinanderge­


sitzt und sich einen Film über sein schriftstellerisches Werk anschaut: «Mama schaut sich also diesen Film an, neben ihr mein Bruder Bernard, der ihn für sie aufgenommen hat. Sie schaut sich den Film an, von der ers­ ten bis zur letzten Minute, mit un­­ verwandtem Blick, reglos in ihrem Sessel, mucksmäuschenstill, wäh­ rend es draussen Abend wird. Ende des Films. Abspann. Stille. Dann, während sie sich langsam zu Bernard hindreht: ‹Glaubst du, dass er es eines Tages schafft?›» Vielleicht haben Sie mit Ihren Eltern weniger drastische, aber ähn­ liche Erfahrungen gemacht und hät­ ten bei Besuchen im Erwachsenen­ alter manchmal am liebsten gesagt: «Du behandelst mich, als wäre ich noch immer sechzehn!» Phasen, die intensiv waren und in denen wir viel Zeit miteinander ver­ bracht haben, prägen unsere Wahr­ nehmung. Vielleicht hilft uns dieser Gedanke dabei, bei Besuchen nach­ sichtiger mit unseren Eltern zu sein. Das Bewusstsein um die Macht der Erinnerungen kann uns aber auch dabei helfen, uns selbst mehr zu öff­ nen und uns immer wieder vorzu­ nehmen, genau hinzuschauen und hinzuhören, damit wir wichtige Ent­ wicklungen bei anderen mitbekom­ men. Erinnerungen sind aber nicht die einzige Hürde, wenn es darum geht, uns auf Nahestehende einzulassen. Wir haben es doch gut!

Als seine Frau die Scheidung einlei­ tete, meinte ein Bekannter zu mir: «Aber wir hatten es doch immer gut miteinander!» Davon war er felsen­ fest überzeugt. Doch seine Frau sah das anders, und zwar seit Jahren. Bezeichnend ist das «Wir» in sei­ nem Satz. Studien zeigen, dass wir in engen Beziehungen dazu neigen, unsere Gefühle auf andere zu über­ tragen. Das passiert uns auch bei unseren Kindern, wie Dr. Belén López-Pérez von der Plymouth Uni­ versity zeigen konnte. Sie liess Eltern

einschätzen, wie glücklich ihre Kin­ der sind. Dabei zeigte sich: Die Ein­ schätzung der Eltern stimmte nicht besonders gut mit der Einschätzung der Kinder und Jugendlichen über­ ein, dafür mit der Selbsteinschät­ zung der Eltern. Glückliche Eltern überschätzten das Glück ihrer Kin­ der, während unzufriedene es unter­ schätzten. Die unbewusste Annah­ me, dass es unserer Familie in etwa so geht wie uns, verstellt uns den Blick. Wünsche verzerren unsere Wahrnehmung

Zu guter Letzt stehen uns auch unse­ re Wünsche im Weg. Die meisten Eltern überschätzen ihre Kinder sys­ tematisch. Sie halten sie für leis­ tungsfähiger, intelligenter, musika­ lischer oder sportlicher, als sie es tatsächlich sind. Bis zu einem gewis­ sen Grad ist das auch nicht schädlich. Wie eine Studie von Eddie Brum­ melman zeigt, überschätzen einige Eltern – besonders diejenigen, die sich selbst als etwas Besonderes sehen – ihre Kinder jedoch sehr stark. Das kann zu Problemen füh­ ren, weil sie in der Folge erwarten, dass ihr Kind aus der Menge heraus­ sticht und Grosses leistet. Warnun­ gen anderer Bezugspersonen, z. B. der Lehrpersonen, dass die Eltern ihr Kind überfordern, führen bei diesen Eltern meist nur zu Ärger und Unglauben. Zu hohe Erwartun­ gen können ein Kind unter Druck setzen, den viele Eltern wiederum nicht wahrnehmen. Eine Vielzahl von Studien zeigt: Kindern und Jugendlichen geht es heute im Allgemeinen gut. Sie sind mit ihrem Leben zufrieden und kommen mit den Anforderungen zurecht. Es gibt jedoch auch Kinder und Jugendliche, die hohen Belas­ tungen ausgesetzt sind und von denen mehr erwartet wird, als sie leisten können. In diesem Zusam­ menhang fand ich eine Studie von Holger Ziegler der Universität Bie­ lefeld bedrückend. Er untersuchte

Glückliche Eltern überschätzen das Glück ihrer Kindern, während unzufriedene es unterschätzen.

über tausend Kinder und ihre Eltern und mass dabei den Stresslevel der Kinder. Bei den besonders belaste­ ten Kindern liess er die Eltern den Stress der Kinder einschätzen. Dabei zeigte sich: 87 Prozent der Eltern nahmen den Druck der Kinder nicht wahr, obwohl diese deutliche Sym­ ptome zeigten. Ein Grossteil dieser Eltern glaubte sogar, das eigene Kind nicht genug zu fördern. Ich kenne mein Kind immer noch am besten!

In vielerlei Hinsicht stimmt der Satz «die Eltern kennen ihr Kind am bes­ ten». Aber manchmal ist es gerade die enge Beziehung zum Kind, die es uns schwer macht, bestimmte Dinge zu sehen oder an uns heran­ zulassen. Was von unseren Vorstel­ lungen, unserem eigenen Empfinden oder unseren Wünschen abweicht, nehmen wir als Eltern teilweise weniger wahr als Aussenstehende. Das Wissen darum kann uns dazu verhelfen, neugierig und offen zu bleiben und uns darum zu bemü­ hen, unsere Kinder und unseren Partner, unsere Partnerin immer wieder neu kennenzulernen.

In der nächsten Ausgabe: Unterschiedliche Erziehungstile – Problem oder Chance?

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 59


Erziehung & Schule

Aggressive Kinder – was ist normal?

W

elche Form von aggressivem Verhalten bei Kindern auf­ tritt, ist stark altersabhängig. Bereits Säuglinge ab rund sechs Monaten können Ärger ausdrücken, sie verfolgen jedoch keine Schädigungsabsicht. Im zwei­

60

ten und dritten Lebensjahr hingegen sind Wutanfälle und aggressives Verhalten nicht ungewöhnlich und richten sich oft gezielt gegen Er­­ wachsene und andere Kinder. Ab dem Grundschulalter sind ge­­ schlechtstypische Muster bei der Ag­­­g ressionsäusserung sichtbar: Buben scheinen eher offene und

körperliche Formen von Aggression zu zeigen. Bei Mädchen hingegen kommen häufiger verdeckte sowie verbale Formen vor. Beispiele sind Lügen und die Verbreitung von Gerüchten, etwa um einer Person zu schaden oder sie auszuschliessen. Aggressives Verhalten im Kin­ des- und Jugendalter wurde in gross November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bild: Adam Burn / 13 Photo

Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen – wer Kinder erzieht, kennt diese Ausbrüche. Was aber, wenn die Aggression extrem wird? Text: Jacqueline Esslinger


angelegten Studien wie beispielswei­ se der KiGGS/BELLA-Studie bei bis zu acht Prozent der unter 17-Jähri­ gen festgestellt. Es zeigt sich nicht nur in physischen Angriffen, son­ dern auch in verbaler Gewalt, Mob­ bing und Diebstählen. In der Adoleszenz ist aggressives Verhalten in der Regel weniger häu­ fig zu beobachten. Im Gegensatz zu kleinen Kindern, die Emotionen oder Impulse direkt ausdrücken, werden im Laufe der Jahre Selbst­ kontrolle und hemmende Mecha­ nismen gelernt. Allerdings fällt das aggressive Verhalten oft heftiger aus als im Kleinkindalter, bedingt durch zunehmende körperliche Kraft, mehr Freiheiten ausser Haus und grössere finanzielle Ressourcen. Entsprechend tritt die höchste Fre­ quenz von aggressivem Verhalten im Vorschulalter auf, die gravie­ rendsten Ausprägungen jedoch in

Im Vorschulalter ist die höchste Frequenz von Aggression zu beobachten, in der Adoleszenz die gravierendste Ausprägung. der Jugendzeit und im frühen Erwachsenenalter. Unter oppositionellem Trotzver­ halten wird wiederholt trotziges, ungehorsames und verweigerndes sowie feindseliges Verhalten gegen­ über Autoritätspersonen zusam­ mengefasst. Auch dies zählt zu aggressivem Verhalten, da opposi­ tionelle Kinder schnell wütend reagieren und ausrasten und sich Regeln widersetzen. In Abgrenzung dazu tendieren Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens zu Ein­ schüchterungen, Körperverletzung, Waffengebrauch und Tierquälerei.

Von Kindern, die stark oppositionell auffällig sind, entwickelt rund die Hälfte eine Störung des Sozialver­ haltens. Zeigt ein Kind schon sehr jung Muster von Aggressivität, behält es diese oft bei und läuft Gefahr, delinquent zu werden. Tritt das strafrechtlich auffällige Verhal­ ten schon früh auf, etwa im Alter von 14 Jahren, steigt die Wahr­ scheinlichkeit für dauerhaftes krimi­ nelles Verhalten. Oppositionelles Verhalten ist jedoch ein typisches Merkmal der frühen Kindheit (Trotzalter) und der Adoleszenz. Eine Diagnose im Sinne einer >>>


Erziehung & Schule

Oppositionelles Verhalten ist ein typisches Merkmal der frühen Kindheit und der Adoleszenz.

>>> Verhaltens­störung wird des­ halb erst in Betracht gezogen, wenn Aggression häufiger sowie mit schwerwiegenderen Folgen auftritt als bei anderen Kindern und es für die Entwicklungsstufe des Kindes angemessen wäre. Das Verhalten muss über einen Zeitraum von sechs Monaten auftreten und familiäre, soziale oder schulische Bereiche drastisch beeinträchtigen. Für aggressives Verhalten bei Kindern gibt es vielfältige Ursachen. Diese müssen unbedingt im Einzel­ fall untersucht werden. Die klassi­ sche Absicht der Aggression wird als egoistische Durchsetzung eigener Bedürfnisse und bewusste Schädi­ gung und Verletzung anderer beschrieben. Aggressives Verhalten kann jedoch auch Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein. Diese Kinder fühlen sich schneller bedroht und angegriffen als andere. Sie han­ deln aus einer eigenen Abwehrhal­

tung, bedingt durch soziale Un­­ sicherheit, heraus. So nehmen diese Kinder Bedrohungen vermehrt wahr und reagieren übersensibel. Zweifel an der Zuneigung

Bedrohliche Situationen lösen ein inneres Spannungsgefühl aus, ein Wutausbruch soll diese Spannung wieder abbauen. Betroffene Kinder scheinen an der Zuneigung ihres Umfelds zu zweifeln und erwarten nicht selten übermässige soziale Anerkennung. Aggressives Verhal­ ten wird so zum Mittel, um sich Respekt zu verschaffen. Dies funk­ tioniert besonders gut, wenn das Umfeld mit Respekt, Angst oder sogar Unterwürfigkeit antwortet. Je öfter dann soziale Angst mit aggres­ sivem Verhalten gelöst wird, desto stabiler wird das Muster, auch in Zukunft aggressiv zu handeln. Ein weiterer möglicher Auslöser von aggressivem Verhalten kann eine Krise im sozialen Umfeld des Kindes sein, beispielsweise Konflik­ te in der Paarbeziehung der Eltern oder Stress in der Familie. Dies bedeutet nicht, dass alle partner­ schaftlichen Konflikte oder Stress dazu führen, dass ein Kind aggressiv wird. Es wurde aber festgestellt, dass Kinder in Familienkrisen eher zu aggressivem Verhalten neigen. Familien in Belastungssituationen sind besonders gefährdet, da schwe­ re Belastungen das Erziehungsver­

halten und die Kapazität der Eltern beeinflussen. Zeigen die Eltern selbst manchmal aggressives Verhal­ ten, wird dies zu einer hohen Wahr­ scheinlichkeit vom Kind übernom­ men, auch wenn die Situationen verschieden sind oder sich die Aggression nicht gegen das Kind, sondern gegen Erwachsene richtet. Weitere Ursachen sind Vernach­ lässigung und Misshandlung, manchmal jedoch auch eine Verän­ derung der Lebenssituation wie zum Beispiel ein Umzug in eine neue Stadt und ein Schulwechsel. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Kinder mit aggressivem Verhalten weisen meist eine man­ gelnde Impulskontrolle und niedri­ ge Frustrationstoleranz auf. Kinder mit ADHS haben ein höheres Risiko für oppositionelles Trotzverhalten. So zeigen zwei von drei Kindern mit hyperkinetischer Störung auch aggressives Verhalten. Darüber hin­ aus scheinen impulsive Jugendliche weniger schnell aus ihren Erfahrun­ gen zu lernen und Konsequenzen schlechter abschätzen zu können. Das Kind wird schnell zum Stör­ element seines sozialen Umfeldes, es wird als aggressiv und unkontrol­ lierbar erlebt. Nicht selten ist das Kind deshalb weniger beliebt und wird selbst Opfer aggressiver Hand­ lungen. Es kann ein Teufelskreis der Aggression und Unbeliebtheit ent­ stehen.

Kinder und Jugendliche gesucht! Eine neue Studie (7 Tage) der Universität Freiburg möchte den Zusammenhang zwischen Regulations­ schwierigkeiten und der Konzentration von Stress­ hormonen im Körper untersuchen. Dazu sammeln wir Speichelproben (kurz auf einer Watterolle kauen, anonymes Senden ins Labor) von vielen Kindern. Die Proben werden ergänzt durch Fragen über das momentane Befinden von Eltern(teil) und Kind. Mitmachen können alle Familien mit Kindern und

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Jugendlichen zwischen 8 und 15 Jahren! Besonders aufrufen möchten wir Eltern von Kindern mit ADHS oder aggressivem Verhalten. Alle anderen Kinder werden für den Vergleich gesucht. Machen auch Sie mit! Mit Ihrer Teilnahme leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur Forschung über Regulierungsschwierigkeiten. Sie erhalten Studienergebnisse sowie 50 Franken (Gutschein) für Ihr Kind. – Kontakt: lama@unifr.ch oder über die Website fns.unifr.ch/lama

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


verhindert dadurch die Ausbildung der Fähigkeit, ein Problem konfliktfrei zu lösen. Es wird empfohlen, extremes Verhalten so früh wie möglich mit einer Fachperson zu besprechen. Aggressive Kinder haben ein hohes Risiko, von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden, sowie für schulischen Misserfolg. Oft kann eine aussenstehende Person helfen – ein Berater oder eine Psychologin sowie andere Fachspezialisten können den Teufelskreis durchblicken und helfen, sich im Falle von Provokationen richtig zu verhalten. Sprechen Sie zudem mit der Lehrperson Ihres Kindes! Sie sieht es einen Grossteil des Tages und kann wichtige Informationen geben über Situationen, in denen das Verhalten auftritt, oder über vermutete Einflussfaktoren. Es ist wichtig, dass Eltern mit dem Kind üben, wie es Konflikte

anders lösen kann. Hierbei ist konsequentes Reagieren und Intervenieren bedeutsam. Die Hilfestellung für alternative Umgangsweisen und Lob dafür sowie die eigene Vorbildhaltung sind erfolgversprechend, denn auch die Kinder sind oft mit ihrer eigenen Reaktion nicht wirklich glücklich. Das Kind zu fragen, was es braucht und zugrunde liegende Probleme zu ermitteln, gibt Aufschluss über mögliche Lösungen. Deshalb muss das Kind unbedingt miteinbezogen werden. >>>

Aus der Perspektive der Kinder sind meistens die Eltern, die Lehrer, die anderen Kinder Schuld für ihre Reaktion. Häufig beurteilen sie selbst ihr Verhalten als nicht aggressiv. Mütter und Väter finden es jedoch herausfordernd, mit diesen Kindern Zeit zu verbringen, ebenso wie eine positive Beziehung zu ihnen aufzubauen. Ein weiterer Teufelskreis: Intensive Kinder mit beanspruchendem Verhalten sorgen für gestresste und/oder überanstrengte Eltern. Ist dieser Punkt erreicht, wird es schwierig, sensibel auf das Kind einzugehen, immer angemessen zu reagieren und emotional verfügbar zu bleiben. Kinder spüren solche Veränderungen. Oft versuchen sie, emotionale Aufmerksamkeit durch Provokation zu erlangen. Langfristig bewirkt aggressives Verhalten bei Kindern eine Einschränkung ihres Verhaltens und

Jacqueline Esslinger ist Psychologin und Doktorandin an der Universität Freiburg. Sie leitet eine neue Studie zur Regulation bei Kindern mit ADHS und aggressivem Verhalten.

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Erziehung & Schule

Wie Mathematik Freude macht

A

chten Sie einmal ge­­ nau auf die Rutsch­ bahnen in Ihrem Quartier. Wie viele Stufen haben sie? Auf die wievielte Stufe muss Ihre Tochter steigen, damit sie gleich gross ist wie Mama? Warum rutscht man auf der nassen Fläche schneller als auf der trockenen? Warum ist eine Rutsch­ bahn schnell und die andere lang­ 64

Mathematik beibringen? Ohne Druck und aus Erfahrungen lernt sichs besser. Leiterspiel im Kindergarten.

sam? Wenn Sie solche Fragen im geeigneten Moment des Spielens und der Freude an den Bewegungen einstreuen, dann wird Ihr Kinder die eine oder andere aufgreifen – weil es erkennt, dass seine Interessen wirklich ernst genommen werden. Auch Abzählverse können Kin­ der dazu animieren, die Zahlen zu verwenden und auf neue Situatio­ nen zu übertragen: «Eins, zwei, drei,

Der vierjährige Junge konnte nur bis zwei zählen. In seinem Lieblingsspiel wusste er jedoch genau, wie viel sechs Kühe sind. November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bild: S. Meyer

Der Ansatz der «befreienden Pädagogik» zielt darauf ab, Kinder in ihrer Lebenswelt abzuholen. Das weckt Freude am Lernen und Lehren – mit überraschenden Erfolgen. Text: Stefan Meyer


vier, fünf, sechs, sieben, Rutschbahn runter, du kannst fliegen.» Lehrpersonen berichten, dass der freudvolle Umgang mit der Rutschbahn Kindergarten- und Unterstufenkinder beseelt habe – und sie selber auch. Hand aufs Herz: Ziehen Sie selbst nicht auch freudvolles Lernen der Belehrung und dem Ab­­arbeiten von Stoff vor? Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire fand heraus, dass das Vermitteln von Stoff durch Druck und die Meinung, dass Bildung Belehrung bedeute, Hauptfaktoren dafür sind, dass Interessen und Bedürfnisse der Lernenden unterdrückt werden. Das demotiviert und kann schlimme Folgen haben: von innerer Kündigung bis hin zu schweren Lernstörungen. Kinder reden dann zwar, aber immer mit dem Gefühl, dass das, was sie sagen, keine Bedeu-

tung hat. Informationen werden nicht abgespeichert: Sie gehen zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Diese Mechanismen wirken auch auf Erziehende und Lehrpersonen destruktiv. Der Psychologe Paul Watzlawick nannte solche existenziellen Situationen «Spiel ohne Ende» – ein Teufelskreis, der entsteht, wenn Menschen nicht wissen, wie negative Mechanismen und Geschehnisse gestoppt werden können. Lesen und Schreiben in acht Wochen

Auf diesen Erkenntnissen basierend hat Paulo Freire Methoden für die Alphabetisierung entwickelt, von denen Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer profitieren konnten. Als Erstes erforschte er die Interessen und die Lebenserfahrungen >>>

Das flexible Interview Die gleichnamige Website der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH lädt dazu ein, mit der Methode des flexiblen Interviews zu arbeiten und zu forschen. Es werden bewährte Gesellschaftsspiele beschrieben, bei denen die Methode angewandt werden kann, und es wird gezeigt, wie Geldwerte oder Bruchzahlen besprochen werden können. Die Website informiert auch über die Methode «Empathie und Verstehen» von Nicola Cuomo. Ebenso wird auf ein Entwicklungsprojekt verwiesen, bei dem Kinder mit den Methoden von Paulo Freire Deutsch als Zweitsprache lernten. Zahlreiche Beobachtungen zeigen, wie freie Konversationen und auch das Freispiel den Unterricht positiv beeinflussen. www.interview.hfh.ch

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Erziehung & Schule

>>> der Lernenden, ganz nach dem Motto: «Erst forschen, dann lehren.» Nach einer Analyse integrierte er die gesammelten Themen in Lese- und Schreibprojekte. Diese waren so erfolgreich, dass die Personen nach rund acht Wochen lesen und schreiben konnten. Ein weiterer wichtiger Aspekt seiner Methode ist der Dialog. Ein echter Dialog verändert die Beziehungen und die Emotionen der beteiligten Personen, während Belehrung einfach das «Spiel ohne Ende» fortsetzt. «Erst forschen, dann lehren» wurde auch zum Motto in der Ausbildung von Schulischen Heilpäd­ agoginnen und Heilpädagogen an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH. Dabei gingen die Dozierenden von einer Forschungsmethode aus, welche der Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen Mitarbeiterinnen entwickelt hat. Er nannte sie kritische Methode, später wurde sie auch flexibles Interview genannt (siehe Box Seite 65). Dabei gilt es, die Denkprozesse eines Kindes bestmöglich zur Sprache zu bringen, indem es auch zum Han-

Wenn wir lernen wollen, wie man konkrete Probleme meistert, braucht es neue, kreative Methoden. 66

deln motiviert wird. In einer freundschaftlichen Konversation werden die Bedeutungen von Gedanken und Handlungen fortlaufend besprochen und weiterentwickelt. Mit der Zeit konnte diese Methode immer besser in die Lehre der HfH und die Schulpraxis integriert werden. Lehren aus dem Bauernhof

Wie funktioniert das genau? Lassen Sie mich zwei Fallbeispiele nennen: In Mathematikstunden im Kindergarten wurde bei einem vierjährigen Jungen festgestellt, dass er die Zahlen erst bis zwei kannte. Man befürchtete, dass er geistig entwicklungsverzögert sein könnte. Bei flexiblen Interviews entdeckte die Heilpädagogin, dass der Junge in seinem Lieblingsspiel mit dem Bauernhof sehr wohl wusste, wie viel sechs Kühe sind. Diese Entdeckung hatte Auswirkungen auf die Lehre: Der Junge und andere Kinder bekamen die Gelegenheit, Mathematik und Geometrie ausgehend vom Bauernhof oder anderen Lieblingsspielen zu lernen. Die Lehrpersonen hatten den Druck von Belehrung und Stofffülle überwunden, weil sie den Bauernhof als Sachthema für die mathematische Bildung erforscht hatten. Gleichzeitig hatten sie eingesehen, wie relativ belehrende Didaktik und deren Vorurteile sind, wenn Ressourcen der Kinder miteinbezogen werden. Das zweite Beispiel handelt von Erfahrungen, die Eltern und Lehrpersonen in Spiel- und Hausauf­ gabensituationen gesammelt haben. Sie lernten in einem Workshop, mit dem flexiblen Interview das Belehren zu überwinden und Gesellschaftsspiele für Kinder mit Behinderungen zugänglich zu machen. Dadurch wurden die Dialoge mit den Kindern sachlicher und freudvoller. Das Können hatte sich frei und wirkungsvoll entwickelt. Die Beispiele deuten an, dass Psychologen, Erziehende oder Lehrpersonen mit Kindern und Jugendli-

chen umgehen, als würden sie mit Freunden sprechen. Dabei lösen sie Probleme, mit denen ein Kind konfrontiert ist, und arbeiten gleichzeitig mit Materialien (oder Spiel­ sachen) sowie mit Notizen. Die Richtigkeit der Resultate ist ein Nebenprodukt. Das freundschaftliche Klima ist reicher an sozialen Beziehungen und Emotionen als das Klima der Belehrung. Die Selbstbestimmung des Kindes ist angemessen integriert und nicht ausgeschlossen. So gelingt es in kürzester Zeit, Lebenserfahrungen und Interessen zu erforschen und für die Pädagogik nutzbar zu machen. Eine komplexe und schwierige Aufgabe steht an, wenn Fachpersonen, Lehrpersonen, Eltern und Lernende wahrnehmen, dass die Inte­ gration von Kindern, die anders sind als der Durchschnitt, nicht recht gelingen will. Betrachten wir die Aussage der Mutter eines Sohnes mit Trisomie 21. Sie blickte in einem Podiumsgespräch zufrieden auf die schulische Integration ihres Kindes zurück. Dass sie ihren Jungen jedoch vier Mal jeden Tag holen und bringen musste, belastete sie sehr. Wie wäre es, wenn Fachpersonen in ähnlichen Fällen nach Ressourcen im Quartier oder in der Gemeinde forschen würden? Wären andere Eltern oder ein Restaurant bereit, einer Familie mit einem Kind mit Behinderung zu helfen, auch wenn es nur um den Schulweg oder das Mittagessen geht? Paul Watzlawick betonte in einem Vortrag, dass der Ausweg aus dem «Spiel ohne Ende» über einfache Handlungen ge­­schieht. Die Entwicklung von integrativer Bildung und Erziehung erfordert neue Methoden (siehe Box S. 67). Das beginnt bei der Diagnose der Ressourcen der Kinder, der Eltern, der Grosseltern, in der Schule und im Quartier. Es ist einfacher, Defizite zu diagnostizieren und diese isoliert zu behandeln. Gemeinhin denkt man dann, dass das Kind oder die Jugendlichen mit Behandlungen

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Unkonventionelle Methoden

Wenn wir lernen wollen, wie man konkrete Probleme meistert, braucht es neue, kreative, dialogische und unkonventionelle Methoden. Das Interesse an der Sache, an den Kom­ petenzen, an Beziehungen und an der Selbstbestimmung steht dabei im Zentrum. Wenn in Besprechun­ gen oder Supervisionen festgestellt wird, dass eine Entwicklung aus­ bleibt und Freude oder das Gefühl von Freiheit fehlen, müssen die Pro­ jekte, die Ziele, die Beziehungen und die Methoden nochmals überarbei­ tet werden. Dieses Vorgehen lehnt sich an das Integrationskonzept «Empathie und Verstehen» des Bolo­ gneser Pädagogen Nicola Cuomo an.

Zurück zur Mathematik: Georg Can­ tor, der Begründer der Mengenlehre, schrieb einmal: «Das Wesen der Mathematik liegt gerade in ihrer Freiheit.» Er hätte sich über den Anblick einer Kindergartengruppe gefreut, die auf einem Platz Zahlen­ felder zu einem riesigen Hüpfspiel aufgemalt hatte, das bis zu einer Mil­ lion reichte. Solche Aktionen sind Sternstunden der befreienden Päd­ agogik. >>>

«versorgt» seien und sich die Sach­ lage verbessern werde. Doch häufig ist das ein Trugschluss.

Stefan Meyer

lic. phil., ist Dozent im Masterstudiengang Sonderpädagogik SHP, Schwerpunkt Pädagogik bei Schulschwierigkeiten, an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik. Eine Liste mit empfohlener Literatur und Links kann angefordert werden über: Stefan.Meyer@hfh.ch.

Das MKT-Testsystem Ausgehend von den Prinzipien der befreienden Pädagogik, des flexiblen Interviews und des Integrationskonzepts Empathie und Verstehen wurde auch ein Testsystem für die Diagnose und Förderung in Mathematik von der 1. bis zur 9. Klasse entwickelt und normiert. Im Kern befassen sich die verschiedenen Testmethoden nicht nur mit kognitiven Fachkompetenzen, sondern mit der Empathie und dem Verstehen von Mathematik im Bildungssystem. www.hfh.ch > Unser Service > Shop

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«Wir halten an alten Lernvorstellungen fest» Dossier

«Bei Pflegekindern ist das Thema Autismus sehr wichtig»

Das andere Kin leben mit Autismd – us

Digital & Medial Medial & Medial Digital & Digital

Eine Störung für die einen, eine Wesensar und eine Herausfor t für die anderen derung für alle. Jedes hundertst e Kind in der Schweiz Das ist Autismus. Was heisst das ist davon betroffen für das Kind? . Was für seine Eltern? Und vor allem: Wer hilft? Text: Sarah King Bilder: Daniel

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August 2017

Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi

August 2017

Auf der Mauer

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Der 9-jährige Emilio hat Autismus. Rituale bestimmen sein Leben. Mehrmals am Tag geht er in den Wäscheraum und beobachtet die drehenden Trommeln.

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(Dossier «Autismus», Heft 8/2017) Unsere Fachstelle hat gerade heute wieder Ihr tolles Magazin erhalten. Vielen Dank! Wir legen Ihr Heft gerne auf und verteilen es auch gezielt an Eltern, die vom aktuellen Thema direkt betroffen sind. Gerade bei Pflegekindern ist dieses Thema sehr wichtig. Cécile Manser, Pflegekinder-Aktion, St. Gallen (via Mail)

«Erziehung zur Menschlichkeit!»

«Schule und Elternhaus müssen zusammen Lösungen suchen»

«Wenn es wehtut, lache ich »

und bedrohliche Chat, beleidigende Rauswurf aus dem hinterlässt keine blauen Textnachrichten: Cybermobbing und bei betroffenen Kindern Flecken, richtet aber der 14-jährigen Laila*. Leid an. So auch bei Jugendlichen viel Renata Weiss* beschreiben, Sie lässt ihre Mutter wie sehr Eltern mitleiden. Aufgezeichnet: Sarah

Rappo King Bilder: Stephan

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September 2017

Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin

September 2017

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(Thema Mobbing: «Wenn es weh tut, lache ich», 9/2017) Das Beste ist, wenn Schule und Elternhaus gemeinsam Lösungswege suchen und gehen! Weder nur Schule noch nur Elternhaus können alleine genug Schutz bieten. Karin Holzherr-Widmer (via Facebook)

(Dossier «Autismus», Heft 8/2017) Sie geben einen sehr guten Einblick in die Welt von autistischen Menschen. Wie beim Thema Depression (mein Lebensthema) ist es wichtig, die Gesellschaft umfassend zu informieren. Am besten durch Kontakte mit Beziehungspersonen und – soweit das möglich ist – mit Betroffenen. Und möglichst früh. Schon im Kindergarten – eben auf kindgerechte und nicht überfordernde Weise: Erziehung zur Menschlichkeit!

Dossier Dossier

Die digitale Schule

Schon bald benötigen aller Berufe digitale wir in 90 Prozent Kompetenzen. Wie bereiten die Schweizer Schulen unsere Kinder auf diese Berufswe Warum ist es lt vor? so schwierig, digitales Lernen einzuführ en? Und lernt man Tablet besser als mit dem Schulhef am Eine Spurensu t? che.

Text: Bianca Fritz, Virginia Bilder: Rita Palanikumar Nolan (Porträts) / 13 Photo

Programmierend e Primarschüler? An der Bläsi-Schule Basel ist das bereits Realität.

«Der Artikel macht mir Mut»

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(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017)

Photo

Reinhard (auf www.fritzundfraenzi.ch)

Das Schweizer ElternMagazin

Bild: Christian

Oktober 2017

Aeberhard / 13

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Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi

Oktober 2017

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Danke. Unsere Tochter hat seit gestern ihr eigenes Handy, und der Artikel macht mir Mut...

Info-Abend

Irene (auf www.fritzundfraenzi.ch)

Mittwoch, 8. November, 18 Uhr

Gymnasium | Sekundarschule A Mittelschulvorbereitung > www.nsz.ch

...von der 1. Sek bis zur Matura 68

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Leserbriefe

«Wir haben uns die Zähne ausgebissen» (Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017) Digitale Kompetenz umfasst unterschiedliche Bereiche. Der Umgang mit sozialen Medien ist nur ein Aspekt. Was ist beispielsweise mit der Organisation sämtlicher technischer Geräte inklusive Foto- und Musikverwaltung in einem Haushalt mit mehreren Desktops? Bei diesem Thema haben wir Eltern uns schon die Zähne ausgebissen. Zum guten Glück haben wir etwas Ahnung. Dennoch bin ich der Meinung, dass dies dringend ins Fach ICT gehört. Wir haben immer mehr Daten, die wir auch privat verwalten müssen. In der Schweiz haben wir zudem einen Mangel an ausgewiesenen Programmierern. Die Zukunft hat begonnen und wird noch digitaler. Ich danke Ihnen für diese Ausgabe von Fritz+Fränzi und den Anstoss. Es muss sich dringend etwas tun! Gabriela Fust (via Facebook)

«Freue mich darauf, Erkenntnisse aus der Lektüre umzusetzen» («Spielen statt üben», Heft 10/2017)

Erziehung & Schule

Spielen statt üben!

diesen Wunsch, mieten Die Eltern unterstützen Instrument lernen. Bald folgt die Ernüchterung: Ein Kind möchte ein der Musikschule an. kleine melden das Kind bei erklingt, brauchen ein Instrument und Musik statt Streit üben. Damit zu Hause Dubs und Bilder: Sibylle das Kind will nicht Unterstützung. Text Anfänger die richtige

Sonja, Zürich (per Mail)

(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017) Anzeige

Das Magazin der Reformierten

Christian Hügli-Sassones (via LinkedIn)

Schreiben Sie uns! Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017

besser.

Ich möchte mich bedanken bei euch. Eigentlich lese ich keine Erziehungsratgeber, aber Ihr greift so vielseitige Themen auf, da ist immer mindestens ein Artikel dabei, der mich brennend interessiert und mich auch zum Nachdenken und Umdenken anregt. Ich bin sowohl beruflich als auch persönlich begeistert vom Schweizer ElternMagazin. Auch dass es so breit gestreut wird in Schulen und Institutionen, finde ich toll. Aus der aktuellen Oktober-Ausgabe konnte ich etwas mitnehmen zum Thema Medienerziehung und Musik spielen. Freue mich darauf, es umzusetzen. Macht unbedingt so weiter.

«Mir kam ‹Entschulung der Gesellschaft› in den Sinn»

Danke für die unaufgeregten Aussagen von Philippe Wampfler. Seine Aussage «Auch die Wandtafel ist ein Medium» sagt vieles aus, wie Medien für den Unterricht sinnvoll genutzt werden können. Beim Lesen kam mir Ivan Illichs Buch «Entschulung der Gesellschaft» in den Sinn: «Einzurichten sind netzartige Strukturen, auch Beziehungsstrukturen, die allen freien Zugang zu allem ermöglichen, was für formales Lernen genutzt werden kann (Dinge, Orte, Prozesse, Verfahren, Ereignisse und Informationen). Die Pädagogen begleiten die Schülerinnen und Schüler dabei als ‹primus inter pares› auf schwierigen intellektuellen Erkundungsreisen.» (Zusammenfassung aus Ivan Illichs «Entschulung der Gesellschaft», eine Streitschrift (6. Auflage). München: C.H. Beck. (Im Original erschienen 1971: Deschooling Society).

Wo die Familie zusammenkommt, musiziert sichs

www.brefmagazin.ch


Rubrik

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

Unser Leben mit Maél Erziehung & Schule

Der achtjährige Maél kann sich nicht alleine waschen oder anziehen, trägt Windeln und muss ständig überwacht werden – er kam mit Downsyndrom auf die Welt. Seine Mutter erzählt vom Alltag mit ihrem behinderten Kind und dessen gesundem Bruder Elias und wie Maél es immer wieder schafft, ihre Sorgen und Zweifel zu zerstreuen. Text: Barbara Stotz Würgler Bilder: Samuel Trümpy / 13 Photo

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 71


Erziehung & Schule

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um dritten Mal habe ich Maél an diesem Morgen aufgefordert, sich die Schuhe anzuziehen und für die Schule bereit zu machen. Sein Schulbus hält jeden Tag pünktlich um 7.45 Uhr vor unserem Haus. Maél besucht die dritte Klasse der heilpädagogischen Schule in einem Nachbardorf. Endlich setzt er sich auf den Stuhl bei der Garderobe und nimmt einen Schuh in die Hand. Als er fertig ist, stelle ich fest: Der linke Schuh sitzt am rechten Fuss – und umgekehrt. Auf meine Frage, ob er das extra gemacht habe, setzt Maél ein schelmisches Lächeln auf. Wenige Minuten später eilen wir – die Schuhe habe ich ihm inzwischen richtig an die Füsse gesteckt – nach draussen, der Bus steht mit laufendem Motor da. Ich helfe Maél beim Einsteigen und gurte ihn an. Durch das Fenster werfen wir uns Kusshände zu. Maél strahlt. Entweder am Mittag oder am späteren Nachmittag wird er wieder nach Hause zurückkehren. Das verflixte 47. Chromosom

«Alles Glück», sagt mein Sohn manchmal zu mir und drückt mir einen dicken, nassen Kuss auf die Backe. Ein unbeschreibliches Gefühl. Für mich stecken in diesem Satz und in dieser Geste so viel Dankbarkeit, Liebe und auch Bestätigung dafür, dass wir Eltern vieles richtig machen mit unserem «besonderen» Kind. Dass unser älterer Sohn mit 47 Chromosomen anstatt mit 46 (siehe Box Seite 77) ausgestattet ist, wirkt sich auf sein Aussehen sowie seine geistige und körperliche Entwicklung aus. Er gleicht anderen Knaben mit dem Downsyndrom mehr, als dass er seinem sechsjährigen Bruder Elias oder uns Eltern ähnelt. Sein Kopfumfang ist kleiner, seine Nase flach. Die typische Lidfalte an den Augen verleiht ihm einen leicht asiatischen Einschlag. Seine Muskeln sind weniger stark als bei 72

normalen Kindern. Diese sogenannte Muskelhypotonie ist auch der Grund dafür, dass Maél erst mit knapp drei Jahren laufen lernte. Grobmotorisch ist unser Sohn gut aufgestellt: Er liebt Spielplätze mit Kletteranlagen, Seilbahnen, Rutschbahnen und Schaukeln. Als Vierjähriger lernte er mit dem Micro Scooter zu fahren. Später entdeckte er das Laufrad, und seit etwa eineinhalb Jahren ist er mit seinem Fahrrad unterwegs – wenn auch noch mit Stützrädern. Dies ermöglicht es uns als Familie, kleinere Ausfahrten in der nahen Umgebung zu machen. Ein turbulenter Start für alle

Im feinmotorischen Bereich ist der Entwicklungsrückstand im Vergleich zu Kindern ohne Trisomie 21 bedeutend grösser: Einen Stift richtig zu halten oder mit der Schere zu schneiden, sind Dinge, die Maél schwerfallen und die er auch so gut wie möglich meidet. Dafür bedient er das Tablet mit seinen Spielen und Apps mit Leichtigkeit. Nach einer problemlosen Schwangerschaft kam Maél am 1.  April 2009 um 13 Uhr zur Welt. Wegen abfallender Herztöne musste er per Notfallkaiserschnitt auf die Welt geholt werden. Nachdem ich mein Baby begrüsst hatte, stand ein Kinderarzt nervös neben mir: Maél war etwas blau angelaufen, musste genauer untersucht werden. Noch erwähnte niemand die Diagnose Trisomie 21. Dann die Mitteilung: Maél muss in die Neonatologie eines grösseren Spitals verlegt werden. Es dauerte über 24 Stunden, bis auch ich in dasselbe Spital gebracht wurde. Endlich standen mein Mann und ich neben dem Brutkasten. Nackt, mit Magensonde und Sauerstoffschlauch versehen sowie einem Neugeborenen-Ausschlag, sah unser Baby ganz schön ramponiert aus. Wegen Anpassungsstörungen musste Maél für längere Zeit hospitalisiert bleiben. >>>

Auf meine Frage, ob er die Schuhe extra falsch angezogen habe, antwortet Maél mit einem schelmischen Lächeln.

Trisomie 21 – Infos und Buchtipps Der Verein Insieme 21 setzt sich für Menschen mit Trisomie 21 und deren Angehörige ein. Er ist die erste Anlaufstelle für neubetroffene Familien und unterhält in der ganzen Schweiz Regionalgruppen: www.insieme21.ch www.ds-infocenter.de (Deutschland) www.down-syndrom.at (Österreich) Etta Wilken: «Menschen mit Down-Syndrom in Familie, Schule und Gesellschaft» Etta Wilken ist Professorin für Behinderten­ pädagogik und befasst sich seit vielen Jahren intensiv mit Trisomie 21. Sie hat auch Bücher über Sprachförderung und Kommunikation bei Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 herausgegeben. André Frank Zimpel: «Trisomie 21. Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können» André Frank Zimpel, Professor für Erziehungs­ wissenschaft, befasst sich mit dem Lern­verhalten von Menschen mit Trisomie 21. In seinem Buch fasst er die Ergebnisse und Erkenntnisse einer Studie mit über tausend Personen mit Trisomie 21 zusammen. Informationen über pränatale Diagnostik Insieme Schweiz hat diesen Sommer ein neues Online-Tool lanciert. Dieses bietet werdenden Eltern einen Überblick über vorgeburtliche Tests. Die kompakten, leicht verständlichen Infos sowie eine Vielzahl von weiterführenden Fach- und Beratungs­ stellen sind unter www.vorgeburtliche-tests.ch zu finden. In Zusammenarbeit mit der PH Bern entwickelte Insieme Schweiz das Ideenset «Vielfalt begegnen» mit dem Ziel, Schülerinnen und Schülern Einblicke in die Lebenswelt von Menschen mit einer Beeinträchtigung zu ermöglichen. www.phbern.ch/ideenset-vielfalt-begegnen

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Maél und sein jüngerer Bruder Elias sind ein gutes Gespann – besonders wenn es darum geht, die Eltern zu ärgern.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 73


Erziehung & Schule

>>> Die Diagnose Trisomie 21 traf uns wie ein Blitz. Während ich mit Traurigkeit und Verzweiflung reagierte, wurde mein Mann wütend. In der Schwangerschaft hatte ich mich zwar mit dem Thema Downsyndrom auseinandergesetzt. Doch der Ersttrimestertest, der ein Risiko von 1:1600 auswies, gab keinen Anlass für weitere vorgeburtliche Abklärungen. Auch die Nackenfalte schien im Ultraschall unauffällig. Und jetzt war ich auf einen Schlag Mutter eines Babys mit Trisomie 21 geworden. Das sass. Oft stellte ich mir in den folgenden Monaten die Frage, ob es besser gewesen wäre, wenn wir schon während der Schwangerschaft Bescheid gewusst hätten. Eine Frage, die sehr schwer zu beantworten ist. Und für uns bald keine Rolle mehr spielte – Maél war ja jetzt da, und wir arrangierten uns nach und nach mit der Situation. Die Nachricht, Eltern eines behinderten Kindes geworden zu sein, löste in uns zahlreiche Fragen aus. Werden wir mit der Pflege und Betreuung unseres Kindes zurechtkommen? Wie entwickelt sich ein Kind mit Downsyndrom? Wie reagieren die Freunde und Bekannten, die sich mit uns auf unser Baby gefreut hatten? Das Gedankenkarussell drehte unablässig. Ich fand keinen Schlaf, war weinerlich und dünnhäutig. Grosses Glück mit der Gesundheit – und doch Stammgast in der Klinik

Die ersten Monate zu Hause mit Maél waren geprägt davon, dass er sehr schlecht trank. Als er drei Monate alt war, durfte ich mit ihm eine Physiotherapie machen. Als er ein halbes Jahr alt war, begann die Heilpädagogische Früherziehung: Jede Woche besuchte uns ein Heilpädagoge zu Hause und förderte Maéls Fähigkeiten. Die Früherziehung dauerte bis zum Eintritt in den Kindergarten. Das Aufgleisen der Therapien gab 74

uns Eltern das Gefühl, endlich etwas für unser Kind tun zu können. Nach und nach fiel uns aber auf, dass Maél vermehrt schrie. Das Trinken verweigerte er nun vollends. Als wir mit der gepackten Tasche bei unserer Kinderärztin im Behandlungszimmer sassen, meldete sie uns im Spital an – wo Maél notfallmässig aufgenommen und über eine Magensonde ernährt werden musste. Seine Speiseröhre war komplett entzündet, er hatte die Refluxkrankheit entwickelt. Noch heute bekommt Maél täglich Magensäureblocker. Ansonsten haben wir grosses Glück, dass Maél organisch gesund ist. Oftmals leiden Kinder mit Trisomie 21 an Herzfehlern oder >>>

Die Diagnose Trisomie 21 traf uns wie ein Blitz. Ich reagierte mit Verzweiflung, mein Mann mit Wut.

«Es ist schön, mit ihm Zeit zu verbringen», sagt Maéls Mutter. «Er gibt uns sehr viel zurück.»

«Kinder mit Trisomie 21 können uns die Augen öffnen» Der Mediziner Urs Zimmermann sagt, dass die Gesellschaft von Kindern mit Trisomie 21 profitieren kann. Trotzdem sieht er grosse Vorteile in der Möglichkeit, dass der Gendefekt heute sehr früh festgestellt werden kann. Interview: Barbara Stotz Würgler

Herr Zimmermann, wie hat sich die Zahl der Geburten mit Trisomie 21 in den letzten Jahren in der Schweiz entwickelt? Zuverlässige Zahlen sind schwierig zu bekommen. Wir können davon ausgehen, dass in der Schweiz pro Jahr zwischen 70 und 90 Kinder mit Downsyndrom zur Welt kommen. Diese Zahlen sind in den letzten Jahren konstant geblieben. Mit dem vor fünf Jahren eingeführten nichtinvasiven Praena-Test kann Trisomie

21 in einem sehr frühen Stadium der Schwangerschaft festgestellt werden. Warum sind die Geburten mit Trisomie 21 dennoch nicht stärker rückläufig? Es hängt damit zusammen, dass die Trisomie-21-Schwangerschaften insgesamt enorm zugenommen haben. In der Schweiz sammelt einzig der Kanton Waadt diese Daten systematisch, um sie in eine europäische Studie einzuspeisen. Hier haben sich die Schwangerschaften mit Trisomie 21 im Zeitraum zwischen 1989 bis 2012 verdreifacht. Dies hat damit zu tun, dass heutzutage viele Frauen erst im höheren Alter schwanger werden oder die Familienplanung erst im höheren Alter abschliessen. Wie viele Frauen behalten ihr Kind, wenn sie von der Diagnose erfahren? Wir müssen davon ausgehen, dass in Europa neun von zehn Frauen ihr ungeborenes Kind abtreiben, wenn sie erfahren, dass es das Downsyndrom hat. Sehen Sie auch einen Vorteil darin, dass man heute Trisomie 21 schon so früh beim ungeborenen Kind nachweisen kann? Grundsätzlich ist es eine riesige Chance, um sich mit diesem Thema früh auseinanderzu-

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Rubrik

setzen. Oftmals wird diese aber verpasst, da es offenbar immer noch für viele eine Selbstverständlichkeit ist, ein Kind abzutreiben, wenn irgendetwas nicht stimmt. Dabei wäre es so wertvoll, sich Gedanken zu machen über mögliche Behinderungen oder Andersartigkeiten beim Kind. Denn letztlich kann einem Kind immer etwas zustossen, das zu einer Behinderung führt, beziehungsweise das Kind kann sich anders entwickeln, als man es sich gewünscht hat. Was dann? Einen anderen Vorteil der frühen Diagnose sehe ich darin, dass sich Familien bewusst entscheiden, ein Leben mit einem Kind mit Trisomie 21 zu führen. Diese Eltern stehen mit einem neuen Selbstbewusstsein hinter ihren Kindern. Die Lebensqualität der Kinder mit Downsyndrom ist in den letzten Jahren deutlich besser geworden. Warum? Es hat eine klare Haltungsänderung stattgefunden. Früher hat man bei einem Kind mit Downsyndrom überlegt, ob es sich überhaupt lohnt, einen Herzfehler zu operieren oder eine Chemotherapie zu machen. Heute ist es keine Frage mehr, man geht proaktiv vor, sucht gezielt nach

Risikofaktoren und interveniert so schnell wie möglich. Daneben wird heute auch versucht, Kinder mit Trisomie 21 maximal zu fördern und zu integrieren. Was geben Sie werdenden Eltern mit auf den Weg, die erfahren haben, dass ihr ungeborenes Kind Trisomie 21 hat? Zum einen geht es darum, die vielen Informationen verständlich zu machen und den Eltern eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie ihr Leben mit einem Kind mit Trisomie 21 aussehen könnte. Daneben rege ich dazu an, die eigenen Werte zu ergründen, aber auch die gemeinsamen Werte als Paar – und falls bereits vorhanden mit dem Rest der Familie. Was bedeutet es für uns, Kinder zu haben? Welche Werte wollen wir ihm mit auf den Weg geben? Dann wird oft schnell klar, ob ein Kind mit Downsyndrom Platz in dieser Familie hat. Diese «Wertearbeit» empfehle ich übrigens allen Eltern, und zwar bereits bevor sie das erste Kind bekommen. Was können wir Ihrer Meinung nach von Kindern mit Trisomie 21 lernen? Diese Kinder zwingen uns, sie in ihrer maximalen Individualität zu erkennen und zu fördern. Andere Kinder würden genauso

profitieren, wenn man ihnen so unvoreingenommen und individuell begegnen würde. Kinder mit Trisomie 21 können uns die Augen öffnen, wie man grundsätzlich mit Kindern umgehen sollte. Wenn unsere Schulen so individuell und offen gestaltet wären, dass auch Trisomie-21-Kinder sie besuchen könnten, hätte man zum Beispiel weniger Kinder, die Ritalin nehmen.

Zur Person

Urs Zimmermann, 52, ist seit fünf Jahren Chefarzt Neonatologie und Kinder- und Jugendmedizin am Spital Bülach. Vor seiner Tätigkeit in Bülach war er mehr als zehn Jahre Leiter der Klinik für Neonatologie und Chefarzt im Departement Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur. Er lebt in Bülach und ist Vater von drei erwachsenen Kindern.

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Erziehung & Schule

>>> Missbildungen im Darmtrakt. In den ersten vier Lebensjahren war Maél dennoch ständiger Gast in der Kinderklinik. Er litt zum Teil unter heftigen Atemwegsinfekten, benötigte Sauerstoff und musste künstlich ernährt werden. Die traumatische Erfahrung mit dem Reflux hatte dazu geführt, dass er bei jedem Infekt die Nahrungsaufnahme verweigerte. Nebst den vielen Spitalaufenthalten waren die ersten Jahre bis zum Kindergarteneintritt von seinem Therapieplan bestimmt. Nebst der Früherziehung und der Physiotherapie kam ab etwa drei Jahren zwei Mal wöchentlich Logopädie hinzu. Maél erhielt mit 14 Monaten erstmals Paukenröhrchen ins Trommelfell. Auf diese Weise sind seine Ohren besser belüftet und er hört besser. Mit zwei Jahren wurde er zum Brillenträger, was ihn glücklicherweise nicht stört. Probleme mit Augen und Ohren sind häufig bei Kindern mit dem Downsyndrom. Unterschätzte Intelligenz

Maél war als Kleinkind schwierig zu lesen respektive zu verstehen. Er konnte Hunger, Schmerz oder Müdigkeit nicht ausdrücken, es war für uns ein ständiges Rätselraten. Noch mit zwei Jahren sprach er kein Wort. Wir hatten aber den Eindruck, dass er gut versteht, was wir zu ihm sagen. Von unseren Heilpädagogen erfuhren wir von der Gebärdensammlung «Wenn mir die Worte fehlen» für kognitiv beeinträchtigte Menschen von der Schweizer Heilpädagogin Anita Portmann. Die Gebärden für Essen, Schlafen, Spie-

Maél hat die Angewohnheit auszubüxen. Er trägt deshalb eine Plakette mit Name und Telefonnummer auf sich. 76

len, Nach-draussen-Gehen sowie für sämtliche Bauernhoftiere waren die ersten Begriffe, die wir Maél im Alter von zweieinhalb Jahren beibrachten. Die Bewegungen mit den Händen auszuführen, bereitete ihm zu Beginn noch Mühe. Aber er konnte endlich kommunizieren! Im zweiten Kindergartenjahr lernte Maél mit Unterstützung von Piktogrammen, in Zwei- und DreiWort-Sätzen zu sprechen. Heute drückt er sich ohne Hilfsmittel aus. Kinder mit Downsyndrom haben oftmals eine überlange Zunge und einen schmalen Mundraum. Beides ist nicht gerade förderlich für die Aussprache, erschwerend kommt eine schlaffe Mundmuskulatur hinzu. Maéls Wortschatz ist um ein Vielfaches grösser, als er in der Lage ist, sich verbal auszudrücken. Seine Intelligenz wird deshalb häufig unterschätzt. «Mittelgradig hilflos»

Im Alltag benötigt Maél in vielen Bereichen Unterstützung. Die Invalidenversicherung stuft ihn als «mittelgradig hilflos» ein und entrichtet Hilflosenentschädigung, seit er zwei Jahre alt ist. Eine Person gilt als hilflos, «wenn sie wegen Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf». Die Höhe der Leistung hängt vom Grad der Unterstützung ab und ist in leicht, mittel und hoch abgestuft. Der Alltag mit Maél erfordert von uns Eltern, aber auch von allen weiteren Bezugspersonen permanente Präsenz. Maél ist noch nicht in der Lage, selbständig auf die Toilette zu gehen, zu duschen, sich in einer sinnvollen Zeitspanne ganz – und richtig – an- oder auszuziehen. Besonders auf Spiel- oder anderen öffentlichen Plätzen muss er stets im Auge behalten werden. Leider verhält er sich gegenüber anderen Kindern oftmals aggressiv. Weil er sich nach wie vor weigert, feste Nahrung

zu essen, müssen wir alle Mahlzeiten pürieren oder speziell für ihn zubereiten. Es dauerte Jahre, bis er so weit war, selber seinen Brei oder sein Müesli zu löffeln. Und Maél hat die Angewohnheit auszubüxen. Wenn wir Glück haben zu Fuss, wenn wir Pech haben mit dem Velo oder Trottinett. Kürzlich hat er es zum ersten Mal geschafft, den Schlüssel im Schloss der Haustüre zu drehen. Nun trägt er am Handgelenk eine Silberkette mit einer Plakette, auf der sein Name und unsere Telefonnummern eingraviert sind. Von Anfang an besuchte ich mit Maél das Familienzentrum unseres Wohnortes. Bis zu drei Mal wöchentlich hatte er dort Kontakt mit anderen, «normalen» Kindern. Auch für mich als Mutter, die immer wieder von Verzweiflung und Zukunftsängsten heimgesucht wurde, war der Treff eine gute Möglichkeit, unter die Leute zu kommen. Vor der Einschulung wägten wir die Vor- und Nachteile einer Inte­ gration in die Regelschule und einer Sonderschulung ab. Für uns stand immer nur unser Sohn im Zentrum. Schliesslich meldeten wir ihn für die heilpädagogische Schule an. Unsere Entscheidung haben wir noch keinen Tag bereut; die Schule ist zu seinem zweiten Zuhause geworden. Langjährige Bekannte ziehen sich zurück

Als wir nach Maéls Geburt unser Umfeld über die Behinderung unseres Kindes ins Bild setzten, fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. Viele wussten schlichtweg nicht, wie man auf eine solche Nachricht reagiert. Ob man zum Beispiel gratulieren soll (ja, man soll). Einige langjährige Bekannte zogen sich zurück. Auch heute noch ist die meistgestellte Frage: «Habt ihr es vorher gewusst?» Wenn wir mit Maél unterwegs sind, fallen die Reaktionen fast ausschliesslich positiv aus. Besonders

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Als ein Kind auf dem Spielplatz sagte, Maél sei komisch, erwiderte Bruder Elias: «Dä Maél isch halt eifach de Maél.» mern. Dabei achten wir fest darauf, dass unser Jüngster ja nicht zu kurz kommt. Wann immer möglich machen wir ein getrenntes Pro­ gramm. Kein Kind gleich wie das andere

Wichtig zu wissen, war und ist für mich als Mutter, dass sich Kinder mit Trisomie 21 noch viel weniger mit­ einander vergleichen lassen als soge­ nannt normale Kinder: Die Hetero­ genität von Menschen mit Trisomie 21 ist enorm. Einige lernen schon als Kind fast normal sprechen, andere finden ein Leben lang nicht zur Laut­ sprache. Einige entwickeln eine hohe Selbständigkeit, andere brauchen ein Leben lang Unterstützung. Wie kommt es bei unserem Sohn heraus? Da Maél, im Grunde ein ausgeglichenes Kind, immer häufi­ ger Phasen mit sehr herausfordern­ dem Verhalten hat, lassen wir ihn zur Zeit gerade durch einen Kinder­ psychiater abklären. Wenn ich mit Maél zusammen bin, kann ich sol­ che und andere Probleme aber gut beiseite schieben und mit ihm den Moment geniessen, er gibt uns Eltern sehr viel zurück. Wir setzen uns keine unerreich­ baren Ziele. Was aber auch nicht bedeutet, dass wir nichts von ihm erwarten. Wir freuen uns über jeden noch so kleinen Schritt, den es vor­ wärtsgeht. Wenn Maél ein neues Wort aussprechen kann. Wenn er die Schuhe endlich richtig anzieht. Maél macht seinen Weg, einfach auf seine Weise und in seinem Tempo. «Alles Glück», sagt Maél. Und wischt einmal mehr alle meine Zweifel und Sorgen beiseite.

>>>

Kinder reagieren gut auf ihn. Er­­ wachsene dagegen können auch mal ganz schön nerven. Indem sie star­ ren und flüstern. Zum Glück kommt dies selten vor. Oder vielleicht neh­ me ich es gar nicht mehr so wahr. Etwas salopp ausgedrückt hat Triso­ mie 21 den Vorteil, dass man den betroffenen Menschen ihr Handicap auf den ersten Blick ansieht. Als unser zweiter Sohn Elias am 20. April 2011 zur Welt kam, war unser Glück perfekt. Natürlich stand schon früh die Frage im Raum, was denn wäre, wenn auch unser zweites Kind mit einem Handicap zur Welt käme. Da es sich bei Maél aber um keine erblich bedingte Chromoso­ menveränderung handelt, war das Risiko, nochmals ein Baby mit Tri­ somie 21 zu bekommen, nicht er­­ höht. Anfangs war Maél ziemlich eifer­ süchtig auf das neue Familienmit­ glied. Er traktierte den kleinen Bru­ der oft und riss ihm die Haare büschelweise aus. Aber wie so vieles legte sich auch diese Phase. Die Brü­ der gewöhnten sich nach und nach aneinander. Elias lernte bald, sich zu wehren. Rasend schnell überholte er seinen älteren Bruder in der Ent­ wicklung, sprach mit eineinhalb Jahren bereits in ganzen Sätzen. Die zwei fanden Wege, miteinander zu kommunizieren, zu spielen, es lustig zu haben. Ein besonders gutes Ge­­ spann sind sie, wenn sie gemeinsam uns Eltern ärgern wollen. Elias macht gerne mit seinen Kol­ legen ab. Wir haben ein offenes Haus, die Kinder dürfen zu uns zum Spielen kommen, wann immer wir da sind und Zeit haben. Die meisten nehmen zur Kenntnis, dass Elias’ Bruder speziell ist. Elias kann dies schon gut erklären. Als einmal ein Kind auf einem Spielplatz sagte, Maél sei «komisch», erwiderte Elias: «Dä Maél isch halt eifach de Maél.» Er war da etwa vier­ jährig. Ihn stört es höchstens, wenn wir Eltern uns seiner Meinung nach zu intensiv um seinen Bruder küm­

Was ist Trisomie 21? Ungefähr jedes 700. Kind kommt mit Trisomie 21 zur Welt. Der Name rührt daher, dass bei den betroffenen Menschen das Chromosom 21 nicht wie gewöhnlich zwei Mal, sondern drei Mal vorhanden ist. Dieses zusätzliche Chromosom – insgesamt 47 statt 46 – hat zur Folge, dass sich ein betroffenes Kind deutlich anders entwickelt als ein Kind mit der gewöhnlichen Anzahl Chromosomen. Häufig leiden Menschen mit Trisomie 21 an angeborenen Herzfehlern oder einer Missbildung des Magen-Darm-Trakts. Typisch sind auch der schwache Muskeltonus, eine verzögerte sprachliche Entwicklung und eine kognitive Beeinträchtigung. Per 1. März 2016 hat der Bund die Trisomie 21 in die Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen. Somit übernimmt die Invalidenversicherung alle nötigen medizinischen Behandlungen, welche damit einhergehen, und setzt sich für die gesellschaftliche Eingliederung ein. Der ebenfalls häufig verwendete Ausdruck Downsyndrom geht auf den Arzt John Langdon Down zurück, der die Trisomie 21 im Jahre 1866 erstmals ausführlich erforschte und beschrieb.

Zur Person

Barbara Stotz Würgler, 42, ist Journalistin und Präsidentin des Elternforums der Heilpädagogischen Schule Bezirk Bülach. Bei ihren vielen Kontakten zu Eltern mit Kindern mit den verschiedensten Behinderungen stellt sie immer wieder fest, wie anspruchsvoll das Leben mit Kindern mit Handicap ist – aber auch, wie bereichernd es sein kann.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 77


Ernährung & Gesundheit

Generation kurzsichtig Statt draussen zu spielen, verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit in geschlossenen Räumen an Smartphone, Spielkonsole und Co. Das hat auch Auswirkungen auf die Augen. Was Eltern beachten sollten. Text: Anja Lang

Kurzsichtigkeit hat zwischen 2000 und 2010 weltweit um fast 30 Prozent zugenommen.

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ara liest für ihr Leben gern, aber was in der Schule vorne an der Tafel steht, kann sie nur schwer entziffern. Wenn sie die Augen zusammenkneift, geht es etwas besser, aber das ist anstrengend, denn Lara ist kurzsichtig. Das heisst: In die Nähe sieht die Primarschülerin gut, weiter entfernte Dinge kann sie dagegen nur unscharf erkennen.

Wie Lara geht es immer mehr Kindern und Jugendlichen. «Von 2000 bis 2010 wurde eine weltweite Zunahme von Kurzsichtigkeit um fast 30 Prozent festgestellt», weiss Dr. Vera Schmit-Eilenberger, Fachärztin für Augenheilkunde mit Schwerpunkt Kinderophthalmologie und Netz­hauterkrankungen aus Dübendorf im Kanton Zürich. Vor allem in einigen Ländern Asiens und Südostasiens hat Kurz-

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


sichtigkeit, fachsprachlich Myopie genannt, inzwischen nahezu epidemische Ausmasse angenommen. «In Teilen Chinas, Singapurs oder Taiwans sind bereits bis zu 90 Prozent der jungen Erwachsenen kurzsichtig», sagt Vera Schmit-Eilenberger. Jeder zweite «Digital Native» ist kurzsichtig

Vor rund 60 Jahren lag der Anteil der Kurzsichtigen in der Bevölkerung hier noch bei etwa 10 bis 20 Prozent. Aber auch in Europa und den USA nimmt Myopie immer stärker zu. In den USA ist die Zahl der Kurzsichtigen in den letzten 30 Jahren um 66 Prozent angestiegen. In Europa zeigt sich gemäss einer 2015 vorgestellten Studie des European Eye Epidemiology Consortium ein ähnlicher Trend: In der Altersklasse der 25- bis 29-Jährigen – also der «Digital Natives» – ist bereits fast jeder Zweite kurzsichtig.

Bild: iStockphoto

Je höher die Bildung, desto mehr Kurzsichtige gibt es

Lange Zeit dachte man, dass vor allem die Vererbung bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit entscheidend ist. «Bis heute sind etwa zwei bis drei Dutzend Genorte gefunden worden, die für Myopie verantwort-

lich sind», sagt Vera Schmit-Eilenberger. «Damit ist nachweislich eine genetische Disposition gegeben, wenn Mutter oder Vater kurzsichtig sind.» Dennoch: Die explosionsartige Zunahme von Kurzsichtigkeit innerhalb weniger Jahrzehnte kann nicht darauf zurückzuführen sein. Studien haben untersucht, welchen Einfluss Umweltfaktoren auf die Ausbildung einer Kurzsichtigkeit haben. «Dabei hat sich herauskristallisiert, dass besonders langanhaltende AugenNaharbeit sowie zu wenig Tageslicht die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit fördern», erklärt die Fachärztin. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die Gutenberg-Gesundheitsstudie für Deutschland von 2015. Demnach steigt die Zahl der Kurzsichtigen mit der Anzahl der Bildungsjahre. Immer öfter fehlt der Weitblick

Erste Symptome einer beginnenden Kurzsichtigkeit treten häufig bereits in der Kindheit auf. «Bis Ende der Kindergartenzeit sind die meisten Kinder noch normalsichtig», so Vera Schmit-Eilenberger. «Das ändert sich oft in der Primarschule. Man spricht deshalb von der sogenannten Schulmyopie, die typischerweise im

Wenig Tageslicht und lange Augen-Naharbeit fördern Kurzsichtigkeit.

Alter von 8 bis 15 Jahren auftritt.» Also genau in der Altersphase, in der Kinder durch Schulzeit und Hausaufgaben viel Zeit in geschlossenen Räumen mit Lesen, Schreiben und Lernen – also Augen-Naharbeit – verbringen. Dazu kommt die in dieser Altersklasse besonders beliebte Nutzung elektronischer Medien in der Freizeit. Das führt dazu, dass viele Kinder und Jugendliche hierzulande täglich bis zu acht Stunden und mehr bei Kunstlicht im Nahsichtmodus verbringen. «Wenn das Auge überwiegend Sehangebote bekommt, die nur wenige Zentimeter entfernt sind, reagiert es irgendwann mit Längenwachstum», betont Kinderaugenärztin. Schmit-Eilenberger. «Dies passiert umso >>>

vormals Lichter der Welt

25.-26.11.17 Zürich Hallenstadion

24.-25.03.18 Basel St. Jakobshalle

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 79

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Ernährung & Gesundheit

Tageslicht hat schützende Wirkung

Ausserdem weiss man inzwischen auch, dass der Mangel an Tageslicht eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Kurzsichtigkeit spielt. «Kürzlich veröffentlichte Studien haben ‹Outdoor activity› als eine Schlüssel-Umwelt-Determinante für die Myopie-Entwicklung identifiziert», erklärt Schmit-Eilenberger. Wie genau Tageslicht vor Kurzsichtigkeit schützt, ist noch nicht eindeutig geklärt. Allerdings ist Tageslicht bis zu 100 Mal intensiver als künstliches Licht, und intensives Licht fördert die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin in der Netzhaut. In Tieruntersuchungen an Hühnern konnte ein Zusammenhang zwischen Dopamin und dem Längenwachstum des Augapfels beobachtet werden, weshalb man davon ausgeht, dass die Dopamin-Ausschüttung durch Tageslicht das zu starke Längenwachstum des Augapfels bremst. Ist das Auge einmal länger ge­­ wachsen und damit kurzsichtig, lässt sich dieser Schritt nicht wieder umkehren. Deshalb ist es wichtig, Umweltfaktoren, die nachweislich das Längenwachstum des Auges fördern, frühzeitig zu meiden. «Dazu gehört, dass sich Kinder und Jugendliche möglichst viel im Freien aufhalten, damit der Körper genügend schützendes Tageslicht abbekommt», rät die Dübendorfer Augenärztin. «Bei der Augen-Naharbeit sollten ausserdem regelmässig Pausen eingelegt werden. Dabei den Blick ruhig auch mal in die Ferne schweifen lassen.» Hilfreich ist auch, den Leseabstand nicht zu kurz zu halten. «Mindestens 30 Zentimeter sollten es sein, besser mehr», betont Vera Schmit-Eilenberger. Hier kann zum Beispiel schon ein grösserer Monitor helfen. «Jedes Kind ab dem dritten Lebensjahr sollte ausserdem augenfachärztlich untersucht wer80

den, um versteckte Sehfehler zu erkennen, die unbehandelt nach dem siebten Lebensjahr zu bleibenden Sehschwächen führen können», appelliert die Kinderaugenärztin. «Dasselbe gilt für Kinder kurz vor der Einschulung und natürlich, wenn erste Anzeichen von Kurzsichtigkeit auftreten.» Unterkorrektur hilft nicht

Da Kurzsichtigkeit typischerweise voranschreitet, wird meist in regelmässigen Abständen eine neue Sehhilfe benötigt. Diese sollte die Kurzsichtigkeit immer maximal gut korrigieren. «Der Mythos, dass ein Fortschreiten der Myopie durch eine Unterkorrektion von Brille oder Kontaktlinsen verhindert werden kann, hält sich leider immer noch hartnäckig», beklagt Vera SchmitEilenberger. «Prospektive klinische Studien zeigen jedoch, dass eine Unterkorrektion der Myopie das Voranschreiten nicht verhindern, ja im Gegenteil sogar anheizen kann.» Eine relativ neue Therapie zur Behandlung von Kurzsichtigkeit ist die Gabe von niedrig dosierten Atropin-Tropfen. Sie sollen helfen, das vermehrte Längenwachstum des Augapfels zu bremsen. «In grossen Studien konnte durch die Behandlung mit Atropin tatsächlich eine Reduktion des Voranschreitens der Kurzsichtigkeit um etwa eine Dioptrie pro Jahr gemessen werden», weiss die Augenexpertin. «Nach dem Ende der Behandlung bildete sich der positive Erfolg allerdings wieder zurück.» Eine andere Möglichkeit für die Verlangsamung der Myopie sind sogenannte Ortho-K-Linsen. Diese Kontaktlinsen werden nur über Nacht getragen und sollen eine zeitlich begrenzte Abflachung der zen­ tralen Hornhaut bewirken, um die Sehschärfe tagsüber zu normali­ sieren. «Diese Methode wird vor allem von Augenoptikern befürwortet», sagt Vera Schmit-Eilenberger. «Augenärzte bemängeln jedoch

Viele Kinder verbringen bis zu acht Stunden im Nahsichtmodus.

hohe Kosten und das Infektionsrisiko. Auch fehlt bislang eine aussagekräftige, kontrollierte Langzeit­ studie, die den positiven Effekt bestätigen würde.» >>>

>>> stärker, je länger die Nahfixation dauert und je näher sich das fixierte Objekt befindet.»

Kurzsichtigkeit – was ist das? Kurzsichtigkeit ist die häufigste Art der Fehlsichtigkeit. Sie wird in den meisten Fällen durch ein zu starkes Längenwachstum des Auges verursacht. Der Brennpunkt, also das schärfste Bild, entsteht dann nicht mehr direkt auf der Netzhaut, sondern kurz davor, so dass weiter entfernte Objekte entsprechend unscharf wahrgenommen werden. Nah gelegene Objekte werden dagegen einwandfrei gesehen. Ist der Augapfel nur einen Millimeter zu lang, beträgt die Höhe der Kurzsichtigkeit bereits rund drei Dioptrien. Damit sieht der Kurzsichtige Objekte nur noch bis zu einer Entfernung von rund 30 Zentimetern scharf. Typisch für Kurzsichtigkeit ist ausserdem ein Voranschreiten bis etwa zum 30. Lebensjahr.

Erste Anzeichen früh erkennen Folgende Symptome können auf eine beginnende Kurzsichtigkeit hinweisen: • Häufiges Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen, um weiter entfernte Gegenstände zu fokussieren • Klagen über schlechtes Sehen von weiter entfernten Objekten, z. B. schlechte Sicht an die Tafel • Nahes Heranrutschen an den Fernseher, um besser zu sehen • Wiederkehrende Kopfschmerzen und Ermüdungs­erscheinungen

Anja Lang

ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern. Das Problem mit der zunehmenden Nutzung elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen kennt sie selbst nur zu gut.

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Mehr erfahren? Weitere Informationen und Tipps bei Unverträglichkeiten unter www.swissmilk.ch/ unvertraeglichkeiten Dank dem breiten Angebot an Schweizer Milchprodukten findet sich für jedes Bedürfnis etwas Passendes.

Das Beste für Eltern und Kinder Für echte Milch gibt’s keinen Ersatz Milch ist ein nährstoffreiches, gesundes Grundnahrungsmittel für alle, besonders aber für Kinder. Glücklicherweise gibt es auch bei Laktoseintoleranz passende Lösungen, denn auf Milchprodukte zu verzichten ist keine gute Idee. Eltern wollen für ihre Kinder natürlich das Beste. Wenn sie vermuten, dass ihr Kind bestimmte Lebensmittel nicht verträgt, streichen sie diese oft in guter Absicht vom Menüplan oder ersetzen sie durch Alternativen. Das ist aber nicht immer eine gute Lösung. Fragen Sie Ihren Arzt Klagt ein Kind häufig über Bauchweh, liegt die Vermutung nahe, dass ein Lebensmittel schuld ist. Oft folgen dann Selbstdiagnosen und individuelle Ernährungsexperimente. Diese können aber Nährstoffmängel nach sich ziehen und führen meist nur kurzfristig zu einer Besserung. Sinnvoller ist es, die Beschwerden durch eine Fachperson abklären zu lassen, denn die Gründe können vielfältig sein. Wenn tatsächlich eine Laktoseintoleranz vorliegt – die bei Kindern jedoch nur äusserst selten vorkommt –, dann sollten Milchprodukte nicht gestrichen, sondern gezielt ausgewählt werden. Es gibt ein grosses Angebot an passenden, fermentierten Milchprodukten. Gut verträglich sind Hart- und Halbhartkäse wie etwa Emmentaler oder Tilsiter sowie alle Jogurtsorten. Pflanzendrinks sind kein Milchersatz Keine gute Lösung ist es, Milch durch Pflanzendrinks zu ersetzen. Die Ernährungswissenschaft zeigt immer wieder, dass insbesondere Kinder von Milch profitieren. Drei Milchportionen täglich unterstützen den AufbauFritz+Fränzi  und die Entwicklung von Das Schweizer ElternMagazin November 2017

Knochen und Muskeln. Zudem liefern sie generell viele Nährstoffe in idealem Verhältnis zueinander, was für ein gesundes Wachstum äusserst vorteilhaft ist. Niemand kann heute abschätzen, wie sich der Ersatz von Kuhmilch durch Pflanzendrinks langfristig auf die Gesundheit von Kindern auswirken wird. Es gibt dafür weder Langzeitstudien noch genügend Erfahrung. Ernährungsfachpersonen und Kinderärzte schätzen das Risiko eines Nährstoffmangels mit Folgen für die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder als hoch ein. Denn Pflanzendrinks sind nährstoffarm und enthalten keine Baustoffe für das Wachstum.

! Milchprodukte bei Laktoseintoleranz Milch liefert ein reichhaltiges Spektrum an Inhaltsstoffen. Davon profitieren Personen jeden Alters, insbesondere aber Kinder. Milchprodukte tragen viel zu einer gesunden Ernährung bei. Deshalb sollten sie auch bei Laktoseintoleranz auf dem Menüplan zu finden sein. Welche Milchprodukte besonders geeignet sind, erfahren Sie unter www.swissmilk.ch/unvertraeglichkeiten > Laktoseintoleranz > verträgliche Milchprodukte.

Wer von einer Laktoseintoleranz betroffen ist, wählt am besten gereiften Käse. Auch Jogurt wird häufig gut vertragen.

Schweizer Milch ist ein Naturprodukt, sie wird standortgerecht auf Familienbetrieben produziert und braucht nur kurze Transportwege.

Milch liefert Eiweiss, Kalzium, Vitamine und Fette für den Aufbau von Muskeln und Knochen. Drei Portionen am Tag sind genau richtig.


Digital & Medial

Anderen beim Spielen zuschauen Sogenannte Let’s Player sind bei Teenagern voll im Trend. Nur: Was finden Jugendliche daran, anderen beim Videospielen zuzuschauen? Und was heisst das für die Eltern? Text: Stephan Petersen

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aniels Mutter ist ge­­ nervt. Gerade erst hat sie ihren 13-jäh­ rigen Sohn von der Spielkonsole loseisen können. Jetzt sitzt er am Smart­ phone. «Was machst du denn da?», fragt sie ihn. «Ich schaue mir nur schnell dieses Video an.» Sie blickt über seine Schulter: «Ist das ein Video über ein Computerspiel?» – «Ja, ein Let’s Play!», lautet die Ant­ wort. «Du hast doch gerade erst gespielt! Und das sieht nicht so aus, als ob es ein Spiel für Dreizehnjäh­ rige wäre. Mach jetzt dein Natel aus!» Daniel seufzt extra laut und legt das Smartphone zur Seite. Schreckensschreie und zusammengebissene Zähne live

So wie Daniel schauen Millionen Jugendliche sogenannte Let’s Plays.

Bei Let’s play wird live gespielt. Das heisst: Der Spieler hat das Game vorher noch nie gespielt. 82

Let’s Play bedeutet «Lass uns spie­ len». Es sind Videos, in denen Games vorgeführt und kommentiert wer­ den. Man schaut anderen Spielern beim Spielen zu. Vorläufer dieses Trends waren die 2006 von Spielern im Forum der US-amerikanischen Webseite «Something Awful» ver­ öffentlichten Bilder aus von ihnen gespielten Games. Die anderen Forumsteilnehmer konnten direkt darauf antworten und Anregungen geben, wie die Spieler weiter agieren sollten. Mit der zunehmenden Ver­ breitung des Videoportals Youtube entstand die Idee, den kompletten Spielverlauf beim Gamen zu filmen und zu kommentieren. Heute filmen die Spieler sich meist noch zusätzlich selbst. So hören die Zuschauer nicht nur die Kommentare, sondern sehen auch die Reaktionen des Spielers auf das Geschehen: zusammengebissene Zähne in kniffligen Szenen und kur­ ze Schreckensschreie, wenn Unvor­ hergesehenes geschieht. Das Beson­ dere an Let’s Plays: Es wird live gespielt. Das bedeutet hier: Der Spieler hat das Game vorher noch nie gezockt und erlebt gemeinsam

mit dem Zuschauer sämtliche Situa­ tionen zum ersten Mal. Was als kleiner Spass für ein paar Dutzend Zuschauer begann, ist in den vergangenen Jahren zu einem Millionen-Trend insbesondere bei Teenagern geworden. 50 Prozent aller Let’s-Play-Zuschauer sind zwi­ schen 13 und 17 Jahre alt. Mit rund 30 Prozent machen junge Erwach­ sene zwischen 18 und 25 Jahren die zweitgrösste Gruppe aus. Das Pu­bli­ kum ist also jung. Und noch etwas fällt auf: Je nach Schätzungen und Umfragen sind 70 bis 80 Prozent der Zuschauer männlich. Let’s play als Entscheidungshilfe

Eltern zeigen sich besorgt über den Trend. Die meisten stehen Games an sich schon skeptisch gegenüber. Nun fragen sie sich: Ist es sinnvoll, dass mein Kind passiv Videos über Com­ puterspiele konsumiert, anstatt wenigstens selbst aktiv zu sein und kreative Lösungsstrategien in einem Game zu finden? «In den seltensten Fällen werden Let’s Plays nur ange­ schaut, ohne dass man selbst gamt», relativiert Isabel Willemse, Medien­ psychologin an der Zürcher Hoch­

November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Rubrik

Die Hälfte der Zuschauer sind unter 18, ein Drittel ist zwischen 18 und 26. Die meisten sind männlich.

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schule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Weiter führt sie aus: «Meist dienen sie als Entscheidungshilfe, ob man sich das Game besorgen soll, oder man lernt hier Tricks und Kniffe kennen.» Die Aussage deckt sich mit Umfragen unter jugendlichen Let’s-Play-Zuschauern. Andere Gründe für den Konsum der Videospiele können fehlende Zeit oder auch zu wenig Taschengeld für das neueste Game sein. Die Zuschauer ziehen aus dem passiven Zuschauen genauso viel Freude wie aus der aktiven Handlung. Interpassivität (also delegiertes Geniessen) ist bei Erwachsenen ebenfalls sehr gut bekannt. Zum Beispiel schauen ja viele ein Fussballspiel im Fernsehen an, >>> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017

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Digital & Medial

>>> anstatt selbst über den grünen Rasen zu rennen. Problematisch wird es allerdings, wenn die Kids sich Videos über Games ansehen, die nicht ihrem Alter entsprechen. «Es ist unmöglich, die etwa 400 Stunden Videomaterial, die jede Minute auf Youtube hochgeladen werden, auf Altersfreigaben zu überprüfen. Daher ist der Jugendschutz von Anbieterseite (Youtube) nicht gewährleistet. Umso mehr sind die Eltern gefordert», erläutert Isabel Willemse. Doch

Problematisch wird es, wenn sich Kids Videos über Games ansehen, die nicht ihrem Alter entsprechen.

Tipps für Eltern • Die Altersbeschränkung für Youtube liegt bei 13 Jahren. Eine kindgerechte Alternative ist die App YouTube Kids. • Auf der Youtube-Website in den Einstellungen «Eingeschränkter Modus» aktivieren. Dieser sperrt für Kinder unangemessene Inhalte. Achtung: Der Filter bietet keine hundertprozentige Sicherheit. • Kinder möglichst nicht mit Youtube allein lassen, da immer sofort das nächste Video abgespielt wird und sie auf diese Weise rasch bei nicht kindgerechten Inhalten landen. • Mit den Kindern und Jugendlichen besprechen, was sie auf Youtube schauen. • Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln, damit sie mit den gesehenen Inhalten richtig umgehen können. Die Aussagen und Moralvorstellungen ihrer Lieblings-Let’s-Player kritisch beleuchten. • Gemeinsam über die Einnahmequellen des Lieblings-Let’sPlayers diskutieren und die Objektivität der Let’s Player hinterfragen. Gute Alternativen für Spielebesprechungen sind klassische Videospiel-Magazine. • Kids, die selbst Let’s Plays erstellen möchten, über Urheberrechte (Games und Musik) aufklären.

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nicht nur die Games, sondern auch der Einfluss der Let’s Player – also der Spieler selbst – können problematisch sein. So fiel etwa PewDiePie, der weltweit mit 57 Millionen Abonnenten auf Youtube beliebteste Let’s Player, in jüngster Zeit mit rassistischen Kommentaren auf. Immer gut drauf und leicht überdreht – aber unabhängig?

Ein nicht zu unterschätzender Grund für den Erfolg eines Let’s Plays ist die Persönlichkeit des Let’s Players. «Die Videos müssen witzig sein», findet Daniel. Tatsächlich ähneln sich die erfolgreichsten Let’s Player in ihrer Moderationsweise. Sie sind immer gut drauf, leicht überdreht, reden viel und machen lustige Kommentare und Grimassen. Bei den Jugendlichen kommt das sehr gut an. Um die erfolgreichsten Let’s Player hat sich deshalb ein regelrechter Starkult entwickelt. Umfragen zeigen, dass rund 75 Prozent der Follower davon überzeugt sind, dass Let’s Player ihre eigene, unabhängige Meinung äussern. Das ist bei unbekannten Let’s Playern wohl meistens der Fall. Bei den beliebtesten Let’s Playern, die mit den Videos ihr Geld verdienen, darf man jedoch skeptisch sein. Denn längst haben Game-Hersteller die Kanäle der meistgesehenen Youtuber als hervorragende Werbemöglichkeit erkannt. Es gibt kostenlose Spiele und Hardware, Product Placement, PR-Aktionen und Werbeverträge. Wie unabhängig werden

Die beliebtesten Let’s Player • In der Schweiz: Diablox9 mit ­1,7 ­Millionen Abonnenten (viele davon aus Frankreich) • Im deutschsprachigen Raum: Gronkh mit 4,6 ­Millionen Abonnenten • Weltweit: PewDiePie mit 57 Millionen Abonnenten

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des Urheberrechts ist bei Musik geboten. Einige Youtuber sahen sich schon mit Abmahnungskosten konfrontiert, weil sie für ihre selbst er­­ stellten Videos Songs ihrer Mu­­ sikstars genutzt hatten. Im Zweifel gilt immer: Lieber einmal zu oft bei Herstellern nachfragen. >>>

diese Let’s Player wohl noch sein? Let’s Player sind Vorbilder, viele Jugendliche eifern ihnen nach. Neben dem passiven Schauen möchten viele Kids selbst eigene Let’s Plays erstellen. Auf diese Weise teilen sie ihre Erlebnisse mit Gleichgesinnten, agieren als Experten zu ihrem Lieblingsspiel und sind Teil einer Community, von der es im Idealfall viele «Likes» als Bestätigung gibt. Aber wie sieht das rechtlich aus? Zurzeit dulden die meisten Spiele­ hersteller die Nutzung ihrer Games für Let’s Plays, da sie den Nutzen des Werbeeffekts als hoch einstufen. Aber die Games und die bewegten Bilder bleiben ihr Eigentum. Let’s Player befinden sich in einer rechtlichen Grauzone, wenn sie Spielmaterial aufnehmen oder gar verändern. Besondere Vorsicht bezüglich

Wie sieht so ein Let’s play e die aus? Starten Si i-App nz rä +F itz aktuelle Fr rem se un e Si en lg und fo o de Vi Link zu einem . kh on von Gr

Stephan Petersen ist studierter Historiker und freier Journalist. Zu seinen Themen gehören unter anderem Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.

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Digital & Medial

Gesundheits-Apps sind die neuen Medizinratgeber, Ernährungsberater und Bewegungstrainer – für Erwachsene. Sind sie auch für Kinder und Jugendliche geeignet? Text: Michael In Albon

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ehntausende Gesundheits-Apps tummeln sich in den Stores von Android und Apple. Verführerisch. Doch Apps können nur unterstützen und keine eine eindeutige Diagnose liefern. Ich habe einige nützliche Apps für Eltern, Kinder und Teenager herausgesucht und nenne Ihnen am Schluss des Beitrags drei Prüfmerkmale für Apps. Zweiteiler für junge Familien

Die App «Baby & Essen» bietet El­ tern einen Essensfahrplan und nennt die Entwicklungsschritte im ersten Le­bensjahr mit Tipps für den Alltag. Stillende Mütter erhalten Ernährungstipps und Informationen zur Allergievorbeugung. Die Fortsetzung «Kind & Essen» unterstützt mit Ratschlägen zu gesunder Ernährung und gesundem Aufwachsen von eins bis drei. Den App-Zweiteiler gibt es kostenlos für iOS und Android.

Bild: dolgachov

Gesundheitsbewusst? App-solut!

krankheiten und Verletzungen sowie ein Globuli-Glossar. Die App gibt es für iOS als Lite-Version gratis, die Vollversion für vier Franken.   Lern-App Anatomie

Die preisgekrönte App «Der menschliche Körper» ermöglicht mit einfach gehaltenen, animierten Bildern anatomische Einblicke in sechs Themengebiete: Skelett, Muskeln, Nerven, Kreislauf, Atmung und Verdauung. Textfelder mit entsprechenden In­­ forma­tionen kann man sich einblenden lassen. Ausserdem gibt es interaktive Module zu Herz, Gehirn und Auge. Die App ist für iOS erhältlich, als Lite-Version kostenlos, als Vollversion für vier Franken. Bewegung und Ernährung

Die App «Gorilla Schweiz» gibt Jugendlichen Tipps für mehr Bewegung, ausgewogene Ernährung und nachhaltigen Konsum. Freestyle-­ Profis zeigen in kurzen Filmen Basics und Tricks in den Sportarten SlalomMedizinratgeber boarden, Streetskaten, Breakdance, Die App «Homöopathie für Kinder» Bike, Frisbee, Freeski und Footbag. ist ein Nachschlagewerk. Die Und Kochvideos unterstützen TeenSchnelldiagnose hilft, eine passende ager beim Zubereiten von leckeren homöopathische Auswahl zu treffen. Gerichten. Die App gibt es kostenlos Dafür berücksichtigt die Medizin-­ für iOS und Android. App typische Kinderbeschwerden wie Schnupfen, Husten oder Fieber. Navigation im App-Wald Sie bietet zudem Erste-Hilfe-Infor- Beim Entscheid, ob eine App etwas mationen bei ansteckenden Kinder- taugt, hilft Medienkompetenz. Und 86

da sind einmal mehr die Eltern als Vorbilder und Wegbereiter gefragt. Längst nicht alle Gesundheits-Apps wurden von Fachleuten erstellt. Deshalb empfehle ich, vor dem Download ein wenig nachzuforschen. Und zwar so: In den App-Stores von An­­ droid oder Apple finden Sie und Ihre Teenager kurze Angaben zur App und einen Link auf die Website des Anbieters. Prüfen Sie hier folgende drei Merkmale. 1. Klicken Sie ins Impressum: Wer steckt hinter der App? 2. Suchen Sie die Quellenangaben: Von welcher Organisation oder aus welchem Kreis von Fachleuten stammen die Informationen und Empfehlungen? 3. Datenschutz: Welche persönlichen Daten von Ihnen werden gespeichert?

Michael In Albon

ist Beauftragter Jugendmedienschutz und Experte Medienkompetenz von Swisscom.

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive Lernmodule für den kompetenten Umgang mit digitalen Medien im Familienalltag. swisscom.ch/medienstark

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Verlag Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich, Tel. 044 277 72 62, info@fritzundfraenzi.ch, verlag@fritzundfraenzi.ch, www.fritzundfraenzi.ch Anzeigenverkauf Corina Sarasin, Tel. 044 277 72 67, c.sarasin@fritzundfraenzi.ch Jacqueline Zygmont, Tel. 044 277 72 65, j.zygmont@fritzundfraenzi.ch Anzeigenadministration Dominique Binder, Tel. 044 277 72 62, d.binder@fritzundfraenzi.ch, Art Direction/Produktion Partner & Partner, Winterthur Bildredaktion 13 Photo AG, Zürich

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Stiftungspartner Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule Zürich / Elternbildung CH / Marie-MeierhoferInstitut für das Kind / Schule und Elternhaus Schweiz / Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV / Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband Kinderbetreuung Schweiz

24 Stunden Hilfe und Beratung für Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen Bei: > Erziehungsproblemen > Überforderung > Kindesgefährdung

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Buchtipps

Der beste Papa der Welt kann sogar auf Giraffen reiten.

Christian Tielmann: Der Tag, an dem wir Papa umprogrammierten Statt des sicherheitsfana­tischen Vaters kümmert sich plötzlich ein Roboter um Carlo und seine Schwester – und den kann man so umprogrammieren, dass er alles erlaubt! Ein Lesespass mit vielen Slapstick-Momenten. dtv junior 2017, Fr. 16.90, ab 7 Jahren

Als Rollenvorbilder haben (vor)lesende Väter in der Lesesozialisation ihrer Söhne eine wichtige Funktion. Zum Vorlesen eignen sich alle Bücher, die beiden gefallen – trotzdem präsentieren wir Ihnen hier Geschichten über spezielle, verrückte und besonders enge Vater-Sohn-Teams.

Wenn der Vater mit dem Sohne

Bilder:ZVG

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n der Scheune wohnt ein Rudel Tiger, auf dem Müllhaufen eine Giraffe, die gerne Betten frisst, und im Wald der Urahne, dem Masarin, Loranga und Dartanjang zu Weihnachten ein paar Körnchen hinstreuen. Im Schwimmbecken schwimmen Hechte, und ab und zu schaut Gustav, der Gefängnisinsasse, auf eine Tasse Kaffee vorbei. Und es geht noch verrückter: Denn der Junge Masarin ist der vernünftigste Bewohner des kleinen Idylls in Schweden. Sein Papa Loranga trägt gerne einen Teewärmer auf dem Kopf, hört laut Popmusik und ändert die Spielregeln stets zu seinen Gunsten. Grossvater Dartanjang hält sich mal für einen

India­nerhäuptling, mal für einen Hund und trägt den lieben langen Tag Zahlen in erdachte Tabellen ein. Gegessen wird Schokoladenpudding mit Rahm, und arbeiten muss hier niemand («Und wer soll bitte schön Popmusik hören, wenn ich nicht zu Hause bin? Ich frag ja nur.»). Herrlich verdreht sind die Loranga-Geschichten von Barbro Lind­ gren. Dass sie in den Siebzigerjahren entstanden sind, erkennt man an der fröhlichen Lust, mit der Autoritäten ignoriert und Machtverhältnisse umgekehrt werden. Jetzt sind die zwei Bände in einem Buch neu übersetzt auf Deutsch erschienen. Ein Vorlese­ spass für wilde Väter und brave Söhne – oder umgekehrt.

Britta Nonnast: Michi und Papa – 10 wunderwarme MutmachAbenteuer Der fünfjährige Michi und sein Papa erleben in diesen warmherzigen Vorlesegeschichten die ganz normalen Abenteuer des Alltags. Und wenn Michi nachts böse Träume quälen, weiss sein aufmerksamer Papa immer einen Rat. Gulliver 2017, Fr. 14.90, ab 5 Jahren

Barbro Lindgren: Loranga: Der beste Papa der Welt. Woow Books 2017, Fr. 21.90, ab 7 Jahren

Gudrun Skretting: Mein Vater, das Kondom und andere nicht ganz dichte Sachen Anton ist überzeugt: Sein Vater braucht eine neue Frau. Da kommt es nicht nur im Strickkurs zu Verwicklungen, und eine urkomische Szene reiht sich in diesem kurzweiligen Jugendroman an die nächste. Carlsen 2016, Fr. 21.90, ab 12 Jahren Verfasst von Elisabeth Eggenberger, Mitarbeiterin des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind weitere ­B­uch­empfehlungen zu finden.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  November 2017 89


Eine Frage – drei Meinungen

Unsere Söhne sind im Fussballverein. Der Elfjährige seit ein paar Jahren, der Neunjährige seit einigen Monaten – mit grossem Erfolg. Der Kleine scheint ein Naturtalent zu sein und wird vom Trainer ständig gelobt. Das setzt dem Älteren zu. Wir wollen uns natürlich mit unserem jüngeren Sohn freuen – ohne den älteren zu verletzen. Wie machen wir das am besten? Klaus, 39, Olten SO

Nicole Althaus

Es ist wohl eine der härtesten Lektionen, die der Mensch im Leben zu lernen hat: Es gibt immer jemanden, der etwas besser kann als man selbst. Und nicht jeder ist in jedem Fach begabt. Aber jeder hat irgendwo Stärken. Freuen Sie sich mit dem Jüngeren über seinen Erfolg. Und loben Sie den Grossen in einem Feld, in dem er den Kleinen übertrumpft. Es findet sich ganz bestimmt eines.

Tonia von Gunten

Freuen Sie sich mit dem Jüngeren, doch stärken Sie das Selbstwertgefühl des Älteren und sagen Sie: «Wie ist das für dich, wenn dein Bruder vom Trainer so gelobt wird und du nicht? Ist sicher enttäuschend für dich, du spielst ja schon viel länger Fussball.» Trösten Sie ihn nicht damit, indem Sie seine andern Fähigkeiten aufzählen: «Dafür bist du gut in Mathe!», sondern finden Sie zusammen heraus, ob er sich noch fürs Fussballspielen begeistert oder nicht. Es ist schön, wenn Kinder sich in der Freizeit mit Dingen beschäftigen dürfen, die ihnen Spass machen.

Peter Schneider

Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger. ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei Kindern, 16 und 12. Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein Programm, das frische Energie in die Familien bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern, 11 und 8. Peter Schneider, 59, ist praktizierender Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent für klinische Psychologie an der Uni Zürich und ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines erwachsenen Sohnes. Haben Sie auch eine Frage? Schreiben Sie eine E-Mail an: redaktion@fritzundfraenzi.ch

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November 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO

Die Erfahrung, dass der Jüngste besser tschuttet, werden Sie dem Älteren nicht ersparen können. Das merkt er schliesslich auch selber. Freuen Sie sich mit dem Jüngeren und freuen Sie sich – bei anderer Gelegenheit – auch mit dem Älteren, und haben Sie Verständnis dafür, dass ihm der Erfolg des Bruders Bauchschmerzen bereitet; aber machen Sie keine Aktionen der Ausgewogenheit daraus. Denn das wäre für den Älteren eine Herablassung.


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