Fritz+Fränzi 08-17: Autismus

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Fr. 7.50 8/August 2017

Fabian Grolimund «Das Kinderzimmer ist ein denkbar schlechter Ort zum Lernen»

Leben in einer eigenen Welt

Mariam Tazi-Preve «Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung»

Autismus


Graubünden Vollmilch, Engadin Als Bergbewohner grasen die Kühe hier oft am Hang. Und wie man vom Wein weiss, haben Hanglagen ein besonders gutes Aroma.

Bio Regio Ostschweiz Vollmilch, Bischofszell Frische Kräuter und Gras, duftiges Heu – Milch mit der Bio-Knospe stammt von Kühen, die man als Gourmets bezeichnen darf.

Bio Regio Vollmilch, Schlatthof Diese Milch wird direkt nach dem Melken abgefüllt und nicht standardisiert. Kenner behaupten, sie könnten die einzelne Kuh rausschmecken.

Valait lait entier de montagne, Sierre Die Walliser gelten als selbstkritisch. Der Vorteil dieser Einstellung: eine Bergmilch, an der es wirklich nichts zu kritisieren gibt.

Davoser Vollmilch Die Davoser Milchkühe werden auf den Alpen gesömmert. Wo andere Sommerbesucher Ferien machen, sind sie bei der Arbeit.

Diemtigtaler Alpmilch Mit dieser zertifizierten Alpmilch aus dem Naturpark Diemtigtal geniesst man die Natur gern in vollen Zügen.

Bio Regio Napf Vollmilch, Hergiswil Beruhigend, sanft und 100% Natur. Diese Milch steht ihrer Region in nichts nach.

Bio Regio Nordwestschweiz Vollmilch, Frenkendorf Diese Milch aus dem Baselbiet ist der feinste Weg, die etwas harten Basler Leckerli gleich noch geniessbarer zu machen.


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Bild: Geri Born

Auf den ersten Blick sieht der Bub auf unserem Cover ganz gewöhnlich aus. Blaues Hemd, Hosenträger und Crocks, wacher Blick, interessiert an Technik. Spätestens aber wenn der Junge am Boden liegt und schreit, weil sein Verständnis von Ordnung durcheinandergerät, wird klar: Emilio ist anders. Emilio ist Autist, er leidet an einer Entwicklungsstörung, die seine sozialen Kommunikationsfähigkeiten stark einschränkt.

Nik Niethammer Chefredaktor

Unsere Autorin Sarah King erzählt die Geschichte von Emilio und seiner Erkrankung auf wunderbar einfühlsame Weise. Sie erklärt uns, warum der Bub mehrmals am Tag in die Waschküche huscht und das Drehen der Trommeln beobachtet. Sie zeigt auf, wie sehr Eltern von autistischen Kindern an ihre Grenzen stossen. Und wie sie entlastet werden können. Schliesslich nimmt uns Sarah King mit nach Tel Aviv ins weltweit führende Autismuszentrum «Mifne». Leben mit Autismus – ab Seite 10.

Wussten Sie, dass etwa fünf Prozent aller Kinder im Vorschulalter eine Phase des unflüssigen Sprechens durchlaufen und die Sprechprobleme etwa bei einem Prozent aller Menschen über die Pubertät hinaus bestehen bleiben? Die Autorin Vivian Pasquet gehört zu dieser Minderheit. Sie kämpft seit ihrem fünften Lebensjahr gegen den drohenden Bruch in «Man muss die Erfolge ihrem Redefluss. Bei uns erzählt sie ihre Geschichte. Und zählen, die man im Leben wie sie gelernt hat, mit ihrem Handicap umzugehen. erzielt hat. Und dann die Mein Stottern und ich – ab Seite 58.

Träume, die man noch hat. Wenn man mehr Träume als Erfolge hat, ist man jung.»

Unser April-Dossier «Hausaufgaben – sinnvoll oder ungerecht?» hat für viel Gesprächsstoff gesorgt. Befürworter und Gegner haben sich auf diversen Kanälen gleichermassen pointiert und engagiert zu Wort gemeldet. Nun möchten wir die Schimon Peres, israelischer Politiker und Diskussion weiterführen. Bei einer Podiumsveranstaltung Friedensnobelpreisträger (1923–2016) in Zürich. Mit diesen hochkarätigen Gästen: • Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsforschung, Zürich • Samuel Zingg, Seklehrer, Mitglied der LCH-Geschäftsleitung, Glarus • Gabriel Romano, Dozent an der Pädagogischen Hochschule, Bern • Claudia Landolt, leitende Autorin F+F, Mutter von vier Buben, Aarau Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen. Wo: Kulturpark, Hamasil-Stiftung, Pfingstweidstrasse 16, 8005 Zürich Wann: Montag, 18. September 2017, Einlass 17.30 Uhr, Diskussion 18 bis 19 Uhr, anschl. Apéro. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Informationen/Anmeldung unter: www.fritzundfraenzi.ch/veranstaltung Ich freue mich auf Sie! Herzlichst – Ihr Nik Niethammer

850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org


Inhalt Ausgabe 8 / August 2017

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf fritzundfraenzi.ch und

Psychologie & Gesellschaft 38 Gespensterstunde Viele Kinder plagt in der Nacht die Angst vor Monstern und Gespenstern. Wie Eltern ihnen diese nehmen können.

facebook.com/fritzundfraenzi. Augmented Reality

Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und Zusatzinformationen zu den Artikeln.

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Dossier: Autismus as andere Kind D Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist von Autismus betroffen. Was heisst das für den Familienalltag? Eine Annäherung.

28 «Ich wurde als Kind angespuckt» Matthias Huber hilft Autisten. Er ist Psychologe und hat selber das Asperger-Syndrom. Wie geht das? 30 So wichtig sind die Eltern Der Mifne-Ansatz setzt auf eine spezielle Frühförderung von autistischen Kindern. Ein Besuch im weltweit führenden Autismuszentrum in Tel Aviv.

Bild: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Cover Emilio, 9, hat Autismus. Er geht jeden Tag in die Waschküche, schaut zu, wie die Trommeln sich drehen. Das Ritual beruhigt ihn. 4

Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Martin Mischkulnig / 13 Photo, iStockphoto, Olaf Blecker

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Mariam Irene Tazi-Preve, warum sollten Mütter besser auf sich achten?

Ohne Musik lernt es sich doch besser! Oder etwa nicht?

Autorin Vivian Pasquet hat sich im Moment ihres Stotterns fotografieren lassen.

Erziehung & Schule

Digital & Medial

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72 D as überwachte Kind Es gibt viele technische Möglichkeiten, den Medienkonsum des eigenen Kindes im Blick zu haben.

56 Stiftung Elternsein Ellen Ringier über die Frage, wie weit sich der Staat in die Ernährungsgewohnheiten mündiger Bürger einmischen darf.

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ernmythen L Gerade sitzen, keine Ablenkung und bloss nicht zu später Stunde – welche Vorstellungen rund ums Lernen stimmen? ie Sache mit den Fehlern D Was Kindern mit Lese- und Rechtschreibschwäche hilft.

50 Mehrsprachige Erziehung Als Kind mit mehreren Sprachen aufzuwachsen, ist eine Chance – wenn die Eltern einige Regeln befolgen.

76 « Kind, ärgere dich nicht!» Verlieren will gelernt sein. Eine Anleitung.

Rubriken 03 Editorial 06

Entdecken

57 Leserbriefe 67 Mikael Krogerus Über eine wichtige Frage seiner Tochter: «Was mache ich, wenn ich traurig bin?» 82 Eine Frage – drei Meinungen Was tun, wenn Geschwister ständig streiten?

54 «Was ich mir wünsche» Die Lehrperson Marion Heidelberger übernimmt nach den Ferien eine 1. Klasse – und richtet sich in einem offenen Brief an die Eltern.

32 M onatsinterview Das Ideal von der Kleinfamilie treibt Mütter in die völlige Erschöpfung, sagt die Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve.

Service

58 Mein Stottern und ich Die Autorin Vivian Pasquet kämpft seit ihrem 5. Lebensjahr mit den Worten – ihre bewegende Geschichte.

40 Jesper Juul Eine Mutter versteht nicht, warum ihr neunjähriger Sohn in letzter Zeit so wenig kooperiert – und bittet den Familientherapeuten um Rat.

78 Unser Wochenende im … … «Heidiland»

Ernährung & Gesundheit 68 W inkelfehlsichtigkeit Verstecktes Schielen ist nicht krankhaft – je nach Fall sollten Ärzte die Betroffenen aber doch behandeln.

48 Fabian Grolimund Was sollen Eltern tun, wenn sich ihr Kind ständig vergleicht?

39 Abo 74 Verlosung

80 Sponsoren/Impressum 81 Buchtipps

Die nächste Ausgabe erscheint am 12. September 2017.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 5


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Kirchenmann und Comic-Held Kennen Sie Ulrich Zwingli? Den Mann mit den grossen Ideen, der mit seinen wortstarken Predigten die Kirche veränderte und spaltete? Von ihm erzählt der Comic «Zwingli – Ein Glaube versetzt Berge», der junge Leser in die Zeit der Reformation führt. 36 ComicSeiten mit starken Bildern und vielen Infokästen. Ein Lesespass für die ganze Familie. «Zwingli – Ein Glaube versetzt Berge», Fr. 5.80 Zu bestellen auf www.tut.ch

3 FRAGEN an Caroline Morel, Geschäftsleiterin von Swissaid

«Kinder sind sehr engagiert» Seit beinahe 70 Jahren gehen jedes Jahr rund 25 000 Schulkinder schweizweit auf die Strasse und von Haus zu Haus, um für das NonProfit-Hilfswerk Swissaid handgemachte Holzfiguren, Döschen und andere Alltagshelfer zu verkaufen. Der Erlös geht an Not leidende Familien im Süden. Geschäftsleiterin Caroline Morel über eine bewährte Tradition.

Vor

100 Jahren litt nur etwa 1 Prozent

der Bevölkerung an einer Pollenallergie, heute sind es

15 bis 20 Prozent. (Quelle: Mirgos-Magazin)

Caroline Morel, vor 70 Jahren war es noch üblicher als heute, über einen Bauchladen Geld zu verdienen, oder? Das ist richtig. Uns ging es aber schon immer darum, über das Spendensammeln hinaus Aufklärungsarbeit an Schulen zu leisten. So erhalten Lehrer Unterrichtsmaterial über Entwicklungshilfe im Allgemeinen und unsere Arbeit im Speziellen – und die Schüler eine Möglichkeit, selbst einen Beitrag zu leisten gegen die Ungerechtigkeiten auf der Welt. Wie wird die Aktion von Lehrpersonen und Schülern aufgenommen? Sehr gut. Das Prinzip ist einfach. Die Abzeichen können bei uns bestellt und nicht verkaufte Exemplare einfach zurückgeschickt werden. Kinder zwischen 10 und 15 Jahre, unsere Zielgruppe bei dieser Aktion, sind sehr engagiert und wollen sich für eine gerechtere Welt einsetzen. Gibt es Pläne, das «Vertriebssystem» zu modernisieren? Einen Abzeichenverkauf übers Internet? Auf keinen Fall! Dafür bekommen wir zu viele positive Rückmeldungen. Für unseren Jubiläumsverkauf haben wir die schönsten Abzeichen der letzten Jahre zusammengestellt.

Der Hase wird gemobbt

www.swissaid.ch/de/abzeichen

www.mit-kindern-lernen.ch

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Der kleine Hase geht nicht mehr in die Schule, zu viel Angst hat er vor seinen Klassenkameraden, die ihn schikanieren. Zum Glück weiss der Lehrer, Herr Dachs, Rat. Wie kann eine Klasse für das Thema Mobbing sensibilisiert werden? Und wie können Regeln in einer Klasse eingeführt werden, damit die Schülerinnen und Schüler diese eher einhalten? Diesen und weiteren Fragen gehen die Psychologen Fabian Grolimund, Stefanie Rietzler und Nora Völker in der Kurzfilmserie «Gemeinsam sind wir Klasse» auf den Starten Sie Grund. Auch die Episode die aktuelle pp, «Mobbing in der Schulklasse Fritz+Fränzi-A e Seite es di e Si n auflösen» richtet sich direkt an ne scan e, wie und erleben Si Kinder und soll Lehrpersonen kleinen m de s Herr Dach unterstützen. Hasen hilft.

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bilder:ZVG

Interview: Evelin Hartmann


Publireportage

Mehr erfahren? Weitere Informationen und Tipps bei Laktoseintoleranz unter www.swissmilk.ch/ unvertraeglichkeiten Milchprodukte sind gesunde und hochwertige Grundnahrungsmittel.

Laktoseintoleranz Geniessen statt vermeiden Probleme mit der Milch? Dann ist es wahrscheinlich eine Milchzuckerunverträglichkeit. Auf Milchprodukte zu verzichten, ist dennoch nicht nötig. Die Palette an gut verträglichen Milchprodukten ist gross. Wer eine Laktoseintoleranz hat, kann den Milchzucker nicht genügend gut abbauen. Die Folge sind unangenehme Beschwerden. Zum Glück gibt es schmackhafte und individuell gut durchführbare Lösungen. Alltagstauglich Wer laktosehaltige Milchprodukte nicht verträgt, kann sie ganz einfach durch die laktosefreie Variante ersetzen: Milch, Jogurt, Quark und Hüttenkäse gibt es auch laktosefrei. Hart-, Halbhart- und Weichkäse sind von Natur aus laktosefrei und verursachen somit keine Verdauungsbeschwerden. Butter enthält kaum Milchzucker, und weil sie nur in geringen Mengen konsumiert wird, ist sie ebenfalls gut verträglich. Nicht so einfach ist es mit verarbeiteten Produkten, denen oft Milchzucker zugesetzt ist. Wie viel es ist, steht meist nicht auf der Zutatenliste. Hier hilft nur ausprobieren oder verzichten.

Zu wenig Laktase, zu viel Laktose Babys starten ins Leben mit einer guten Produktion des milchzuckerspaltenden Enzyms Laktase. Das ist notwendig, denn sonst würden sie die Muttermilch nicht vertragen. Doch im Laufe des Lebens produziert der Körper weniger Laktase. Er kann dann auf zu viel Milchzucker überempfindlich reagieren. Dies zeigt sich in Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall. Eine Laktoseintoleranz kann aber auch als «Nebenerscheinung» eines Darmleidens auftreten und vergeht wieder, sobald dieses abgeklungen ist.

! Hier gibt es Hilfe Ohne gesundheitliche Gründe auf Milch zu verzichten, kann dazu führen, dass man zu wenige Nährstoffe aufnimmt. Insbesondere Eiweiss, Kalzium, Fettsäuren, Jod sowie die Vitamine A, B und E sind kritisch. Wer glaubt, an einer Laktoseintoleranz zu leiden, lässt dies am besten von einer spezialisierten Fachperson abklären. Informationen und Beratung: aha! Allergiezentrum Schweiz www.aha.ch oder 031 359 90 50

Milchprodukte gehören in die tägliche Ernährung, weil sie nährstoffreich sind und wesentlich zum ausgewogenen Essen beitragen. Drei Portionen sind genau richtig.

Das vielfältige Angebot an laktosearmen Produkten bietet genügend Auswahl bei Milchzuckerunverträglichkeit. Käse ist von Natur aus laktosefrei.

Milchprodukte sind eine genussvolle Bereicherung jeder Mahlzeit. Zusammen mit anderen Lebensmitteln ist der Milchzucker besser verdaulich.

Milchzucker ist besser verträglich, wenn er über den Tag verteilt und zusammen mit einer Mahlzeit konsumiert wird. Denn kleine Mengen Milchzucker aufs Mal und «eingepackt» in einer Mahlzeit, strömen langsam in den Verdauungstrakt. Das gibt dem Darm ausreichend Zeit, das Verdauungsenzym Laktase zu 2017 7 bilden. Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August


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Was macht eigentlich ein Bauer? Ferien auf dem Bauernhof haben Ihre Kinder immer gemocht? Sehr gut, dann könnten sie in ihren nächsten Ferien bei der Hofarbeit mal kräftig mit anpacken. Der gemeinnützige Verein Agriviva vermittelt Jugendlichen ab 14 Jahren einen Aufenthalt bei Schweizer Bauernfamilien. Ziel ist es, die Entwicklung der Jugendlichen zu fördern sowie einen schonenden Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen durch Erlebnisse rund um Boden, Pflanzen und Tiere zu vermitteln. www.agriviva.ch

Von Prinzen und Piratinnen Mädchen mögen Rosa, Buben Blau.

Buben sind laut, Mädchen können ganz schön zickig sein. Wirklich? Oder verhält es sich manchmal nicht auch genau andersherum? Spielt das Geschlecht überhaupt eine Rolle – und wenn ja, inwiefern? Diesen Fragen geht die Ausstellung «Mädchen oder Junge – spielt das eine Rolle?» in der Pestalozzi-Bibliothek Altstadt, Zürich, auf den Grund. In 15 Schatztruhen können Besucher vom 1. September bis 21. Oktober ein Universum erkunden, in dem Mädchen und Buben mehr sind als Prinzessinnen und Piraten. Veranstalter ist die Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich. Alle Infos auf www.stadt-zuerich.ch/gleichstellung > Weiterbildung & Veranstaltungen

(Quelle: Remo Largo in einem Interview auf www.luzernerzeitung.ch)

Remo Largo leitete 30 Jahre lang die Abteilung Wachstum und Entwicklung am Zürcher Kinderspital. Seine Werke wie «Babyjahre», «Kinderjahre» oder «Schülerjahre» sind Standardwerke und Longseller.

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Manege frei! Schöne Frauen, die auf Pferden durch die Manege reiten, Löwen, die durch brennende Reifen springen, und Seehunde, die einen Ball auf der Schnauze balancieren? Fehlanzeige. Auf die altbekannten Zirkusnummern wartet man bei einem Circus-Monti-Besuch vergebens, und sogar der Clown sieht hier ein bisschen anders aus. Dabei stolpert die tragisch-komische Figur auch in dieser Tournee durch das mit Weltklasseartisten besetzte Stück Dreambox. Ein zauberhafter Zirkusbesuch voller Magie, Jonglage und Artistik ist garantiert. Traumhaft schön! Alle Termine und Preise auf www.circus-monti.ch

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bilder: ZVG, Tanja Demarmels / 13 Photo

«Ich habe in meinem Berufsleben Tausende Kinder kennengelernt, die mir zugewiesen wurden, weil sie von der ‹Norm› abwichen. Das eigentliche Problem dieser Kinder war, dass sie, weil sie den Normvorstellungen nicht entsprachen, nicht ‹sie selbst› sein durften.»


Š UBS 2017. Alle Rechte vorbehalten.

Es geht um viel mehr als den Sieg. Grosse Emotionen am UBS Kids Cup erleben. ubs.com/kidscup


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Dossier

Das andere Kind – leben mit Autismus Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen und eine Herausforderung für alle. Das ist Autismus. Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen. Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern? Und vor allem: Wer hilft? Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Der 9-jährige Emilio hat Autismus. Rituale bestimmen sein Leben. Mehrmals am Tag geht er in den Wäscheraum und beobachtet die drehenden Trommeln.

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Dossier

Autisten nehmen die Welt anders wahr. Mit all ihren Sinnen sind sie stets auf Empfang, unfähig, unwichtige Reize auszublenden.

ist in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen. Erhielten sie in den 70er-Jahren noch etwa 5 von 10 000 Personen, so sind es heute gut 20 Mal mehr. Verschiedene Ursachen werden für den Anstieg angenommen: bessere Diagnoseinstrumente, die Einführung der Diagnose Asperger-Syndrom in den 90ern und eine grössere Aufmerksamkeit vonseiten der Fachpersonen und Eltern zum Beispiel. Was ist denn nun Autismus? Und wie sieht der Alltag von autistischen Kindern und ihren Eltern aus? Ein vielfältiges Spektrum

E Bruna Rausa über Emilio: «Sind wir getrennt, vermisse ich ihn schon nach einer Stunde.»

in Lama summt, den Ton langgezogen, ein G vielleicht, schön im Takt, bei jedem vierten Schritt. Nach einer Weile stimmt eine Quint höher eine leise Stimme ein: «I ghöre äs Glöggli, das lütet so nätt (…)». Die Stimme gehört dem 9-jährigen Emilio. Er zeigt kein Interesse an den Tieren, die heute statt auf der Alp im Garten der Blindenschule Zollikofen ihre Runden drehen. Auch nicht am Lama an seiner Seite. Ohne es anzuschauen, geht er neben ihm her und singt. Das harmonische Duett erstaunt – vor allem Emilio, wie er jeden Ton und jedes Wort so präzise trifft. Derselbe Junge ist sonst still. Oder er wiederholt die immer selben drei, vier Wörter. Emilio ist Autist. Einer von bis zu 80 000 in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es hierzulande nicht. Internationalen Schätzungen zufolge ist jedoch gegen 1 Prozent der Bevölkerung von Autismus betroffen, was auch für die Schweiz gilt, wie Ronnie Gundelfinger sagt. Er ist leitender Arzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Zürich. Die Anzahl Diagnosen

Autismus ist vieles. Für manche eine Störung, für andere eine Wesensart, für wieder andere eine Zeiterscheinung. Medizinisch handelt es sich um eine vorwiegend genetisch verursachte Entwicklungsstörung, die mit einer Beeinträchtigung der sozia­len Kommunikation und Interaktion einhergeht sowie mit wiederholenden Verhaltensmustern und restriktiven Interessen (siehe Box Seite 26). Autisten nehmen die Welt anders wahr als «Neurotypische» (Nichtautisten). Mit all ihren Sinnen sind sie auf Empfang – je nach Schweregrad unfähig, unwichtige Reize auszublenden und den Blick vom Detail auf das Ganze zu lenken. Das kann so grossen Stress verursachen, dass sie sich von der Aussenwelt abkapseln. Autismus kann sich so klischeehaft zeigen wie der Charakter im Film «Rain Man», der in ein paar Minuten ein ganzes Telefonbuch auswendig lernt. Oder er ist ein einzelnes Symptom, wie es der Psychia­ ter Eugen Bleuler 1911 der Schizophrenie zugeschrieben hat: ein In-sich-gekehrt- und Von-der-Weltabgewandt-Sein. Selbst wenn wir von Bleulers Auffassung absehen und uns auf die kindliche Entwicklungsstörung be­­ schränken, wie sie ab 1943 von den Ärzten Leo Kanner (früh- >>>

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Dossier

>>> kindlicher Autismus) und Hans Asperger (Asperger-Syndrom) beschrieben wurde, füllt Autismus ein Spektrum mit so vielen Ausprägungen, wie es autistische Menschen gibt. Unter anderem deshalb setzt sich in der Schweiz der im angelsächsischen Klassifikationssystem DSM 5 eingeführte Begriff «Autismus-Spektrum-Störung» (ASS) zunehmend durch. Farbige Socken und Wasch­maschinen

Emilio bewegt sich am «schweren Ende» dieses Spektrums. Er hat einen frühkindlichen Autismus. Fremde sehen vorerst einen normalen 9-Jährigen. Ein hübsches Kind mit hellbraunen Locken. Ein bisschen verträumt mutet es an, wenn Emilio über die Wiese spaziert und jedes Ästchen eingehend betrachtet. Pflichtbewusst wirkt er, wenn er den Weg zurückgeht, um ein offenstehendes Gartentor zu schliessen, frech, wenn er Fremde darauf hinweist, dass sie zwei verschiedenfarbige Socken tragen und darauf be­harrt, dass sie dieses Versehen ändern. Spätestens wenn er am Boden liegt und schreit, weil sein Verständnis von Ordnung durchein­ andergerät, wird klar: Emilio ist anders. Er hat eine tiefgreifende Verhaltens- und Wahrnehmungs­ störung. Neben anderem sind sein Spracherwerb und seine Eigenmoti-

vation eingeschränkt. Er braucht 24 Stunden Betreuung. Nachts hält er seine Mutter Bruna Rausa wach, tags beschäftigt er mehrere Betreuungspersonen. Schon als Baby zeigte Emilio Auffälligkeiten, wie seine Mutter sagt: «Er versteifte sich, wenn ihn jemand in die Arme nahm, und blickte Menschen nicht ins Gesicht.» Das Blickverhalten ist eines der deutlichsten Zeichen der ASS. «Forschung mit autistischen Kindern hat gezeigt, dass sie auf einem Bildschirm geometrische Figuren oft interessanter finden als Menschen», sagt Autismusexperte Ronnie Gundelfinger. Emilio faszinierten zuerst die Räder des Kinderwagens. Heute sind es Waschmaschinen. Während andere Kinder auf den Pausenhof strömen, huscht er in den Wäscheraum und beobachtet die drehenden Trommeln. Manchmal wiederholt er dazu fast singend die immer gleichen Wörter, die er Minuten, Stunden oder Tage zuvor irgendwo aufgeschnappt hat: «Het mi öppe öpper gärn? Het mi öppe öpper gärn?» Asperger – die schweigende Mehrheit

Nicht alle sind so schwer betroffen wie Emilio. Kinder mit dem Asperger-Syndrom sind vor allem im sprachlichen und kognitiven Bereich weniger eingeschränkt. Aber die sozialen Kommunikations- >>>

Der Weg in die Schule ist eine Herausforderung. Ein Cola-Deckelchen am Boden, ein offenes Gartentor – Emilio will sofort Ordnung schaffen. 14


Dossier

Emilio geht in die Blindenschule. Dort werden auch Autisten unterrichtet. Neben dem Einzelunterricht besucht er zur Förderung seiner sozialen Fähigkeiten die Oberstufenklasse.

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August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier

Emilio ist einer von rund 80 000 Autisten in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht.

>>> probleme wiegen auch bei ihnen schwer, wie der Psychologe Matthias Huber weiss. Er hat selbst ein Asperger-Syndrom (siehe Seite 28). Es brauche mehr Fachpersonen, die vermitteln und übersetzen. Übersetzen gehört zu Claudia Leupolds Alltag. Sie sitzt mit ihrem Mann und vier von sieben Kindern am Frühstückstisch. Die beiden

Immer wieder erklären Der 9-jährige Emilio hat Autismus. Waschmaschinen, Pouletaufschnitt und stets dieselben Wege sind für ihn unverzichtbar. Wie der Alltag mit einem autistischen Kind aussieht, beschreibt Emilios Mutter Bruna Rausa. Aufgezeichnet: Sarah King

Der Tag beginnt mit einem Kuss. Mal um 6 Uhr, mal mitten in der Nacht. Emilios Nächte sind kurz. Somit auch meine. Vor dem Frühstück folgt der Kontrollgang: Leuchten alle Lämpchen im Zimmer? Funktioniert der Kühlschrank? Das ist ein zeitaufwendiges Unterfangen. Auch das morgendliche Waschritual braucht viel Zeit. Alleine die Zahnpflege dauert je nach Stimmung 20 Minuten. Saubere Zähne sind wichtig, denn Emilio verweigert den Zahnarzt. Das Ankleiden geht nicht schneller. Hier zwitschert ein Vogel, da zieht eine Wolke vorbei. Manchmal wiederhole ich meine Anweisungen zehn Mal. Das erfordert eine Ruhepause, denn der Weg in die Schule ist die nächste Herausforderung: Ob ein Cola-Deckelchen am Boden oder zwei ungleiche Socken bei einem Passanten – Emilio will Ordnung schaffen. Ich mahne ihn jeweils: Egal, was du siehst, wir müssen weiter. Emilio besucht die Blindenschule. Sie unterrichtet auch Autisten. Neben dem Einzelunterricht besucht er zur Förderung seiner sozialen Fähigkeiten die Oberstufenklasse. Dort ist er das Nesthäkchen und wird umsorgt. Das Mittagessen nimmt er in der Schule mit anderen Kindern ein und einmal pro Woche übernachtet er in einer Wohngruppe. Er muss lernen, ohne mich zu sein. Ich bin trotzdem stets auf Abruf bereit, falls seine Stimmung umschlägt. Das kann von einer Minute auf die andere geschehen. Das Abendessen nehmen wir immer bei meinen Eltern ein, in der Regel früh, damit genug Zeit bleibt für den allabendlichen Einkauf. Darauf besteht Emilio. Zum Glück hat

Jüngsten – Quirin und Elea – plaudern über den bevorstehenden Schultag. Der 14-jährige Julian zieht sich wortlos in sein Zimmer zurück. «Besuch verändert die gewohnte Struktur. Das irritiert ihn», erklärt Claudia Leupold. Julian hat ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom. So auch seine 12-jährige Schwester Mia. Sie streicht ihr Brot – >>>

der Laden um die Ecke bis 20 Uhr geöffnet. Notfalls weichen wir auf Geschäfte im Bahnhof aus. Auf Emilios Einkaufsliste stehen gluten- und laktosefreie Produkte. Und Pouletaufschnitt. Egal, ob er Hunger hat oder nicht. Fällt der Einkauf aus, bereitet das Emilio seelischen Schmerz. Dann schreit er. Im Laden folgt Emilio den Linien am Boden. Immer in derselben Reihenfolge, begonnen bei der Milch. Die Probleme beginnen, sobald Kunden Waren ins falsche Regal zurückstellen. Er räumt es um und fordert von den Kunden denselben Ordnungssinn, manchmal vehement. Bei den Selbstbedienungskassen fasziniert ihn der technische Aufbau, und zwar von jeder einzelnen Kasse. Das gibt jeweils Ärger. Die Leute sehen ihm den Autismus nicht an. Da ist einfach ein frecher 9-jähriger Bub mit einer Mutter, die in der Erziehung versagt. Immer wieder muss ich erklären, warum Emilio so ist, wie er ist. Autismus kann undankbar sein. Von Emilios Vater lebe ich getrennt. Manchmal verbringt Emilio das Wochenende bei ihm. Ich schaffe das alles nur dank familiärer Hilfe. Oft wünsche ich mir aber mehr Unterstützung für die Familie. Alles in meinem Leben dreht sich nur noch um das Kind. Manchmal bin ich verzweifelt. Das Abklären und Organisieren hört nie auf und stellt mich immer wieder vor neue Herausforderungen. Ich kam ja nicht als Mutter eines Autisten zur Welt. Ich brauchte viel Zeit, bis ich Autismus als Lebenseinstellung akzeptierte. Das heisst eben auch, all die Rituale zu akzeptieren. Wenn wir abends nach Hause kommen, ist es das Waschmaschinenritual. Emilio prüft, ob die Lüftung funktioniert und der Tumbler gereinigt ist. Oft schaut er auch nur zu, wie die Waschtrommeln drehen. Hört er aus der Wohnung, dass sich in der Waschküche etwas regt, kann ich ihn manchmal nicht vor einem weiteren Kontrollgang abhalten. Seine Leidenschaft erfordert viel Verständnis von den Nachbarn. Mit dem Schlafritual endet der Tag. Hat er Angst, schläft er in meinem Bett. Ist seine Angst gross, legt er sich auf meinen Rücken. So verhindert er, dass ich plötzlich davongehe. Wie könnte ich nur? Er ist ein so liebes Kind. Sind wir getrennt, vermisse ich ihn schon nach einer Stunde.

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Claudia Leupold ist Mutter von sieben Kindern. Der 14-jährige Julian und seine 12-jährige Schwester Mia (im Bild) leiden am AspergerSyndrom.

>>> scheinbar unbeteiligt, aber doch wachsam: Kommt die Rede auf das Drohnenfliegen, diskutiert sie mit. Die Leidenschaft für Technik und Computer teilt Mia mit ihrem Vater René Leupold. Er ist Software­ architekt und -entwickler. Wie er zwischen Würstchen und Rührei über digitale Transformation und Sensoren spricht, kommt der Ge­­ danke auf, dass auch er ein Asperger ist. Naheliegend ist es, denn laut Ronnie Gundelfinger spielt die Genetik neben allfälligen Umwelt­ einflüssen während der Schwanger­ schaft die Hauptrolle beim Autis­ mus. «Abklären liess ich mich nicht», sagt René Leupold, «aber wahrscheinlich ist es so.» Sei­ne Frau zweifelt nicht daran: Gefühle könne er nicht gut ausdrücken. «Er ist die schweigende Mehrheit.» Auch Mia verbirgt ihre Gefühle hinter einem maskenhaften Gesicht. Claudia Leupold lernte sie zu lesen. «Geht es ihr nicht gut, rutscht sie langsam unter den Tisch». Als Mäd­ chen gehört Mia zur Minderheit unter autistischen Kindern. «Buben sind anfälliger für Entwicklungsstö­ rungen und deshalb häufiger von Autismus betroffen», sagt Ronnie Gundelfinger. «Bei Mädchen wird die Diagnose aber manchmal ver­ passt oder verspätet gestellt. Sie fal­ len weniger auf und versuchen sich mehr anzupassen.» Das trifft >>>

Bei Mädchen wird die Diagnose Autismus oft verpasst oder verspätet gestellt. Mädchen fallen weniger auf und versuchen sich eher anzupassen. Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 19


Dossier


Dossier

«Wie sollen Julian und Mia eine Lehrstelle finden?», fragt die Mutter. «Wir erkennen das Potenzial unserer Kinder. Aber sie können keine Noten vorweisen.» >>> auf Mia zu. Über Eigenheiten blickten die Eltern hinweg: So liess sich Mia nicht gerne frisieren oder sie bestand auf wenige, vertraute Kleidungsstücke. Selbst wenn sie abgetragen waren. Erst mit dem Klassenwechsel in die Mittelstufe wurden die Probleme deutlich: Zunehmend verweigerte Mia die Schule, bis sie 11-jährig gar nicht mehr hinging. Eine Abklärung bestätigte die Vermutung der Eltern. Ein Alltag voller Herausforderungen

«Besuche verändern die gewohnte Struktur. Das irritiert Julian», sagt seine Mutter.

Für Claudia und René Leupold war es eine schwierige Zeit. Ihre Erziehungsmethoden wurden in Frage gestellt. Lehnten sie Therapien ab, galten sie als renitente Eltern. Neben Mobbing, Querelen und wachen Nächten gehörten runde Tische, langwierige Therapien und Finanzierungsfragen zum Familienalltag. Kanton und Gemeinden unterstützen zwar finanziell in pädagogischen Belangen und die IV in medizinischen – doch bis dahin braucht es einen langen Atem, wie Claudias Beispiel zeigt: Sie stellte für Julian und Mia ein Gesuch bei der IV um die Kostenübernahme der medizinischen Massnahmen. Wie von der IV gefordert konnte sie nachweisen, dass bis zum vollendeten fünften Lebensjahr vom Arzt dokumentierte Anzeichen einer ASS vorhanden waren. Die Gesuche wurden dennoch abgelehnt. Claudia erhob Einsprache. Mit Erfolg zwar, aber auf Kosten der eigenen Kräfte. «Wir haben nur noch funktioniert.» Auch heute funktioniert die Familie – oft

Starten Sie die aktuelle pp, itz Fr +Fränzi-A Seite e es scannen Sie di h sic e Si n und lasse ulich ha sc an us m Autis erklären.

im positiven Sinn. Über dem Tisch hängt ein detaillierter Tagesplan. «Die Kinder wissen genau, was auf sie zukommt», sagt Claudia. Braucht sie Unterstützung, wendet sie sich an die Beratungsstelle der Nathalie Stiftung in Gümligen BE. Sie war es auch, die Mia in Zusammenarbeit mit dem Kinderund Jugendpsychiatrischen Dienst Bern auf Autismus abklärte. Bald wird Claudia wieder froh sein um Beratung. Für Julian rückt das Thema Ausbildung näher. Davor hat Claudia wie viele andere Eltern Re­­ spekt. Zu wenige Ausbildner und Arbeitgeber wissen um die Fähigkeiten autistischer Menschen. Sie liegen nicht nur, aber oft im technischen Bereich. Das entgeht Informatikdienstleistern nicht. In Zürich und neu auch in Bern bietet die Stiftung Informatik für Autisten eine Ausbildung im IT-Bereich an. In Bern kümmert sich ausserdem die Stiftung Autismuslink um die berufliche Integration, so auch die Pädagogische Hochschule Bern mit ihrem Service für unterstützte Berufsbildung (SUB). Jugendliche und Erwachsene mit einer ASS erhalten zum Beispiel ein IV-vermitteltes Coaching. Trotzdem: «Betroffene und Angehörige fühlen sich zu wenig unterstützt. Das Angebot deckt den Bedarf nicht ab», weiss Fabienne Serna von der Beratungsstelle «autismus deutsche schweiz». Der Verein unterstützt und vernetzt Eltern von autistischen Kindern, Selbstbetroffene und Fachpersonen. «Es fehlt an autismusspezifi- >>>

Nützliche Links • autismus deutsche schweiz: www.autismus.ch Verein für Angehörige, Betroffene und Fachleute. Bietet u. a. Informationen und Unterstützung zu Diagnose- und Beratungsstellen, Therapie-, Schul- und Wohnmöglichkeiten sowie weiteren Massnahmen. (Als Pendant dazu: autisme suisse romande, www.autisme.ch und autismo svizzera italiana, www.autismo.ch) • Stiftung autismuslink: www.autismuslink.ch Ein Kompetenzzentrum zum Thema Autismus, das ein vielfältiges Leistungsangebot bietet und primär auf die berufliche Integration zielt. • Stiftung Informatik für Autisten: www.informatik-und-autismus.ch Bietet Autisten eine Ausbildung im Bereich IT. Standorte in Dietikon und Bern. • Autismus Forum Schweiz: autismusforumschweiz.ch In diesem Forum können sich Betroffene, Angehörige und Fachpersonen untereinander austauschen. • Amazing Things Happen: amazingthingshappen.tv Der Kurzfilm von Regisseur Alex Amelines hat das Ziel, Autismus einfach und anschaulich zu erklären, um die Öffentlichkeit für die Thematik zu sensibilisieren. Der Film wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

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Für Kinder mit frühkindlichem Autismus braucht es mehr Plätze in autismusspezifischen Einrichtungen. Kinder mit Asperger-Syndrom dagegen profitieren von integrativer Beschulung.

>>> schen Angeboten und Arbeitsplätzen.» Ein interessegeleiteter Schullehrplan

Daran mag Claudia noch nicht denken. «Wie sollen Mia und Julian eine Lehrstelle finden? Wir erkennen das Potenzial unserer Kinder. Aber sie können keine Noten vorweisen.» Seit einem Jahr gehen sie nicht mehr zur Schule. Mia verlässt das Haus überhaupt nur noch in Begleitung der Eltern. Claudia unterrichtet ihre Kinder nun selbst. Zusätzlich kommt an zwei Vormittagen pro Woche die mobile Schule für je zwei Lektionen ins Haus. «Homeschooling» nennt sich das Angebot der Blindenschule Zollikofen. «Können Kinder trotz Lernbegleitung nicht mehr in die Regelschule integriert werden, setzt eine Heilpädagogin die schulische Arbeit im Elternhaus fort mit dem Ziel, Anschluss zu finden an ein Setting in einer Volks- oder Sonderschule», erklärt Christian Niederhauser, Direktor der Stiftung für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Ab Sommer bietet die Blindenschule im Auftrag des Kantons zusätzlich eine Lernumgebung für sechs autistische, nicht blinde Kinder an: Sie arbeiten in Gruppen, um ihren Gemeinschaftssinn zu för22

dern. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, einzeln in einem separaten Raum mit den Kindern zu arbeiten. Neben der Blindenschule Zollikofen erarbeiten schweizweit zunehmend mehr Schulen autismusspezifische Angebote. Damit handeln sie bedarfsgerecht, wie Andreas Eckert, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, in mehreren Studien nachweist. Für Kinder mit frühkindlichem Autismus brauche es mehr Plätze in autismusspezifischen Einrichtungen. Kinder mit dem Asperger-Syndrom hingegen würden von integrativer Beschulung profitieren. Ob Regel- oder Sonderschule – die schulische Arbeit mit autistischen Kindern stellt eine Herausforderung dar. «Lernen loszulassen», empfiehlt Christian Niederhauser seinen Angestellten. «Die Kunst ist, dass sich die Lehrkraft nicht verpflichtet fühlt für ein Bildungsziel, das nicht realisierbar ist, sondern dort ansetzt, wo das Kind Interesse zeigt.» Psychotherapie statt Delfinschwimmen

Ein Blick in Emilios Schulstube macht sein Interesse deutlich: Er liegt auf einem Sitzwürfel. «Sibe chugelrundi Söi, liged näbenand im Höi. Si tüend grunze, si tüend schmatze … », erklingt ein Lied aus den Lautsprechern. Emilios Aufmerksamkeitsphasen seien kurz, sagt seine Lehrerin Melanie Radalewski. Die Psychologin unterrichtet Emilio vormittags im Einzelsetting. In den Liederpausen sammelt Emilio Energie für die nächste Lerneinheit. Heute ist er konzentriert: Auf Anweisung seiner Lehrerin schreibt er Buch­ stabe für Buchstabe das Wort Sonne an die Tafel. Diese Fähigkeit verdankt er auch einer intensiven Therapie: Drei mal drei Stunden Ver­ haltenstherapie erhält er in der Woche. Die geeignete Therapie zu finden, ist eine Herausforderung. Das >>>

Mia legt ihr Handy kaum aus der Hand. Die Welt der Technik gibt ihr Sicherheit.


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>>> Angebot reicht von psychotherapeutischen Massnahmen über spezielle Diäten bis hin zu Delfintherapien oder Medikamenten. Vom Schwimmen mit Delfinen hält Ronnie Gundelfinger nichts. Auch das heilende Medikament gebe es nicht. «Medikamentös behandelt werden die Begleitsymptome.» So würden zum Beispiel viele autistische Kinder ADHS-Symptome aufweisen und von Ritalin profitieren. Für den Experten ist aber klar: «Die einzigen Ansätze, von denen man bis jetzt weiss, dass sie etwas bringen, sind spezifisch für Autismus entwickelte Therapieprogramme. Am besten untersucht sind verhaltenstherapeutische. Dabei spielen der frühe Beginn und die hohe Intensität der Behandlung eine entscheidende Rolle.» Einzelne Aspekte der autistischen Störung können durch Ergotherapie oder Logopädie behandelt werden. Daneben arbeiten in der Schweiz viele heilpädagogische Schulen mit der TEACCH-Methode (Treatment and Education for Autis­ tic and related Communication handicapped Children). Intensivere Therapien stützen oft auf den verhaltenstherapeutischen Ansatz ABA (Applied Behavior Analysis). Letzteren kennt Emilio gut. Soeben sitzt er mit seiner ABA-Therapeutin Jessica Stauffacher über Aufgaben gebeugt, die seine sprach-

Mia geht seit einem Jahr nicht mehr zur Schule. Ihre Mutter unterrichtet sie.

lichen, kognitiven, motorischen und sozialen Fertigkeiten fördern. Der Raum ist abgedunkelt. Emilio ist sehr lichtempfindlich. «Wofür willst du arbeiten», fragt die Psychologin, «für einen Sirup oder für den Zottelbären?» Für seine gewünschte «Zoggubär»-Pause muss Emilio zuerst Kärtchen einer Bildergeschichte in die richtige Reihenfolge bringen. Danach setzt er sich aufs Sofa und sieht zu, wie der Bär durch den Raum segelt, um schliesslich auf seinem Bauch zu landen. Begeistert gibt sich Emilio dem Spiel hin. Dann steht die nächste Aufgabe an. Und die nächste Belohnung. Ein bisschen erinnert das Ganze an einen Dressurakt. «Das ist die häufigste Kritik», sagt Jessica Stauffacher. Emilio spreche jedoch gut auf diesen Ansatz an. «Er bleibt länger sitzen als früher, löst manche Aufgaben leichter und zeigt ausserdem kaum mehr aggressive Verhaltensweisen.» Je früher, desto besser

Emilio begann seine Therapie mit vier Jahren. Der Trend heute ist ein anderer: Studien weisen auf den Nutzen eines möglichst frühen Therapiebeginns hin. In der Schweiz existieren sechs Frühinterven­ tionszentren – zum Beispiel das FIAS in Basel, das 2010 aus dem israelischen Mifne-Ansatz hervor- >>>

Mia verbirgt ihre Gefühle hinter einem maskenhaften Gesicht. Geht es ihr nicht gut, rutscht sie langsam unter den Tisch. Buch und Film • Louis. Brot. Von Res Brandenberger (2014). Landverlag, Langnau. Roman über Louis, einen autistischen Jungen, der sich von seinem Heimatdorf Trubschachen aus auf eine lange Reise in eine neue Welt begibt. • Autismus mal anders. Einfach, Authentisch, Autistisch. Von Aleksander Knauerhase (2016). Books on Demand GmbH, Norderstedt. Der Autor ist selbst Autist und beschreibt sein zum Teil herausforderndes Leben mit einer Autismus-Spektrum-Störung. • Schattenspringer. Wie es ist, anders zu sein. Von Daniela Schreiter (2014). Panini Verlag. Die Autorin beschreibt in einer Art gezeichnetem Tagebuch, wie sie ihre Kindheit und Jugend als Asperger-Autistin erlebte. Ein zweiter Band «Schattenspringer 2» erschien 2015. • Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz. Lebenssituation und fachliche Begleitung. Von Andreas Eckert (2015). Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Bern. Auf der Grundlage einer Elternbefragung zeigt der Autor in diesem Forschungsbericht Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich Autismus-Spektrum-Störungen auf. • Sesame Street (amerikanische Version der Kinderserie «Sesamstrasse»). Hat seit April 2016 die 4-jährige autistische Julia als neuen Charakter. Mit dieser Initiative sollen die Kleinsten in der Gesellschaft für Autismus sensibilisiert und autistische Kinder besser integriert werden. • Life Animated. Von Ron Suskind (2016). Der Spielfilm zeigt, wie sich der stumme, autistische Owen Suskind mithilfe von Disney­ figuren Zugang zur Aussenwelt verschafft.

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Die Storen im Therapieraum sind nicht gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig behebt Emilio den Mangel. >>> ging (siehe Seite 30) und Kinder zwischen 1,5- und 4-jährig aufnimmt. Die Frühinterventionen sind im Moment jedoch nicht allen autistischen Kindern zugänglich. Für manche Eltern ist der Aufwand zu gross – sei es wegen der Reise oder wegen der Kosten. Zwar finanziert die IV pauschal 45 000 Franken für die Intensivbehandlung von frühkindlichem Autismus in einem der

Begriffserklärungen Autismus (aus dem Griechischen: selbstbezogenes Handeln, auf sich selbst bezogen sein) ist eine schwerwiegende Störung der kindlichen Entwicklung. Bis anhin gelten die Definitionen aus zwei Klassifikationssystemen. Das internatio­ ­nale Klassifikationssystem ICD-10 der WHO unterteilt Autismus in verschiedene Subtypen. Die geläufigsten sind: • Frühkindlicher Autismus, auch Kanner-Autismus (nach Leo Kanner): manifestiert sich in den ersten drei Lebensjahren, häufig stark einge­ schränkte Sprachentwicklung und kognitive Beeinträchtigung. • Asperger-Syndrom (nach Hans Asperger): keine Sprachentwick­ lungsverzögerung, mindestens durch­ schnittliche Intelligenz, oft motorische Auffälligkeiten, manchmal erst in der Interaktion mit anderen erkennbar – in der Primarschule oder später. • Atypischer Autismus: Symptome des frühkindlichen Autismus sind unvoll­

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sechs Frühinterventionszentren. Der Betrag deckt jedoch die Gesamtkosten nicht. Im FIAS zum Beispiel kostet die 3-wöchige Intensivbehandlung mit 2-jähriger Nachsorge 90 000 Franken. Oft werden Diagnosen für eine Frühintervention auch zu spät gestellt. «Vor 4-jährig ist es kompliziert, eine Diagnose zu erhalten», sagt Emilios Mutter Bruna Rausa. «Ich erkannte von Anfang an, dass mit meinem Baby etwas nicht stimmt. Aber Kinderärzte erkennen die frühen Anzeichen zum Teil nicht.» Emilio war schliesslich 3-jährig, als seine ASS ärztlich bestätigt wurde. Ronnie Gundelfinger vergibt die Autismusdiagnose in der Regel ab 2,5-jährig. Manchmal seien die

ständig oder in milder Form vorhanden, manifestiert sich oft nach dem dritten Lebensjahr. Da die einzelnen Subtypen nicht immer einfach zu unterscheiden sind, wurde 2013 der Begriff Autismus-SpektrumStörung (ASS) ins angloamerikanische Klassifikationssystem DSM 5 aufge­ nommen. Er ersetzt zunehmend oben­ genannte Diagnosen. Die ASS umfasst ein Kontinuum von Störungen mit unter­ schiedlichem Schweregrad – je nachdem, wie viel Unterstützung das Kind braucht. Weiter wird spezifiziert, ob eine Störung in der intellektuellen Entwicklung und im Gebrauch der Sprache vorliegt. Gemeinsam sind Autistinnen und Autisten Auffälligkeiten in folgenden beiden Bereichen: • Soziale Kommunikation: z.B. kaum Augenkontakt, kaum oder ungewöhn­ liche Reaktion auf Mitmenschen, kaum Kontakt mit Gleichaltrigen, fehlende Mimik und Gestik und/oder Mühe, Gestik und Mimik von anderen zu ver­ stehen, verzögerte bis fehlende Sprach­

entwicklung oder aussergewöhnlicher Gebrauch von Sprache, z. B. repetitive Verwendung von Sprache, Wortneu­ schöpfungen, altkluges Sprechen. • Begrenzte, stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten: übermässig fokussierte Interessen und beharrliche Beschäftigung mit einem Thema (z. B. meteorologische Daten), stereotype Handlungen (z. B. mit Ober­ körper schaukeln). Die Begriffe High Functioning Autism und Low Functioning Autism beziehen sich auf das kognitive Level. Während Low Functioning mit einem unterdurchschnitt­ lichen IQ einhergeht, weisen Kinder mit High Functioning einen normalen bis überdurchschnittlichen IQ auf. Das heisst: Kinder können die Kriterien für frühkind­ lichen Autismus erfüllen, eine verzögerte Sprachentwicklung zeigen und einen überdurchschnittlichen IQ haben. Ist die Rede von autistischen Zügen, dann sind gewisse Charakteristika des Störungsbildes vorhanden, jedoch zu wenig ausgeprägt für eine Diagnose.

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lio? Der geht nochmals zurück in den Therapieraum. Die Storen sind nicht alle gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig behebt er den Mangel, vertieft in seinen leisen Singsang: «I gaa itz, tschüüss. I gaa itz, tschüüss.»

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Anzeichen schon früher deutlich. «Die Behandlung eines 1-jährigen Kindes finanziert aber niemand.» Es sei auch fraglich, Frühdiagnosen zu pushen. «Das Angebot für Früh­ interventionen stagniert in der Schweiz.» Es hat also zu wenig Plätze. «Für jeden Kanton sollte sichergestellt werden, dass mindestens ein Autismuskompetenzzentrum mit bedarfsdeckenden Kapazitäten zur Verfügung steht.» Unter anderem das empfahl der Bundesrat 2015 als Antwort auf ein Postulat von Claude Hêche, um die Lage autistischer Kinder und deren Umfeld zu verbessern. Die Ideen sind vorhanden. Die Umsetzung braucht Zeit. Emilio nimmt sie sich. Seine Therapie ist zu Ende. Die Mutter wartet. Die Therapeutin wartet. Und Emi-

Sarah King Dr. phil. Linguistik und MSc Psychologie, arbeitet in einer psychiatrischen Klinik im Kanton Bern. Sie ist freie Journalistin und Autorin. Ihre beruflichen Interessen gelten der nonverbalen und verbalen Synchronisation in der sozialen Interaktion, ihre privaten der Sprache und Musik.


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«Ich wurde als Kind gemobbt» Kann ein Autist Autisten helfen? Matthias Huber zeigt, dass es geht. Seit zwölf Jahren arbeitet der Psychologe an der Autismusfachstelle der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern UPD. Das Aussergewöhnliche: Er ist selbst «Asperger» und weiss, wie autistische Kinder die Welt wahrnehmen. Interview: Sarah King

Herr Huber, beim Betreten Ihrer Praxis erspäht man als Erstes viele kleine Plastiktierchen im Wandregal. Mögen Autisten Tiere?

Es kommt vor, dass Autisten Tiere gerne haben. Das Verhalten von Tieren ist oft einfacher einzuordnen als dasjenige von Menschen. Freut sich zum Beispiel ein Hund, wedelt er mit dem Schwanz. Ein Mensch drückt seine Freude mal mit Lachen aus, mal anders. Er nutzt subtilere Ausdrucksformen. Das ist für Menschen im Autismus-Spektrum schwierig. Sie sind oft eingeschränkt im Verstehen von Mimik und Gestik des Gegenübers. Nun haben Sie selbst ein AspergerSyndrom und das Einordnen von Verhalten und Gefühlen anderer gehört zu Ihrem Beruf. Erleben Sie diesbezüglich Einschränkungen?

Im Gegenteil. Für mich ist es einfacher, Autisten einzuschätzen, da ich

«Ich kann Sprache so einsetzen, dass das Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert und redet.» 28

eine ähnliche Art habe, wie ich die Welt betrachte, wie ich sie analysiere und die Sprache verwende und decodiere. Ich kann Sprache so einsetzen, dass das Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit auf mich reagiert und redet. Zum Beispiel?

Offene Fragen erzeugen Stress. Darum formuliere ich meine Fragen sehr präzise und detailliert. Zum Beispiel: «Wenn du Gitarre übst, schaust du auf die Saiten oder geradeaus oder an einen Ort, den ich nicht genannt habe?» Autisten sind Detailmenschen – sowohl im Denken wie auch in der Wahrnehmung. Ein Dialog mit genauen Fragen ist für sie inter­ essant und sie können besser antworten. Kinder ohne Autismus erleben ihn als seltsam. «Spinnt der?», fragte mal ein Jugendlicher. Meine Fragen waren ihm zu detailliert. Mit wem und wie führen Sie Autismusabklärungen durch?

Zu uns kommen Kinder mit der Verdachtsdiagnose ASS, Asperger-Syndrom, frühkindlicher Autismus oder atypischer Autismus. Die Diagnose wird immer im Team durch medizinische und psychologische Fachpersonen gestellt. Mit den Eltern zusammen erheben wir eine Familien- und Entwicklungsanamnese, holen Informationen von Lehrper-

sonen und Heilpädagoginnen ein und führen Wahrnehmungs-, IQsowie autismusspezifische Tests durch. Ein wichtiger Teil bildet das klinische Gespräch. Dabei geben Inhalt und Form der Antwort wie auch das nonverbale Verhalten Aufschluss. Frage ich zum Beispiel ein autistisches Kind, ob es eine Lieblingsfarbe hat, dann antwortet es oft mit «Ja». Ein Kind ohne Autismus nennt die Farbe und erwähnt vielleicht noch sein Fahrrad, das dieselbe Farbe hat. Wie hoch ist das Durchschnittsalter der Kinder, die Sie untersuchen?

Sie können zwischen 1,5- und 18-jährig sein. Im Durchschnitt sind sie etwa 11-jährig. Oft kommen Jugendliche, die zuvor andere Dia­ gnosen erhielten, die nicht alle Auffälligkeiten oder Besonderheiten erklärten. Wie äusserte sich das AspergerSyndrom bei Ihnen, als Sie ein Kind waren?

Ich redete kaum. Fragen beantwortete ich nur, wenn ich die Antwort zu 100 Prozent wusste. Es gelang mir auch nicht, Gedanken sprechend zu entwickeln und in Sätze umzuformen. So antwortete ich oft erst, wenn das Thema schon vorbei war. Ich schaute ausserdem meist weg, wenn jemand redete. Sonst wurde ich zu

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stark abgelenkt von visuellen Reizen und hörte nur wuwuh, wuwuh. Zudem erkannte ich früher Ironie oft nicht. Das ist typisch für Autisten. Das kann zu zwischenmenschlichen Problemen führen. Können und wollen autistische Kinder Freundschaften eingehen?

Ich kenne viele, die keine Freunde haben. Sie wünschen sich das eigentlich, können aber nicht so leicht Kontakt knüpfen. Oft sind andere Kinder irritiert: Der starrt ja nur oder schaut einen nicht an. Sie wissen nicht, dass sich auch jemand mit Autismus einen besten Freund wünscht und mal an einen Geburtstag eingeladen werden möchte. Viele autistische Kinder haben ausserdem Angst vor Mobbing. Sprechen Sie aus Erfahrung?

Ich wurde als Kind angespuckt und geschlagen, weil ich nicht der Norm entsprechend kommunizierte. Oft mobben Kinder aus Hilflosigkeit. Sie wissen zu wenig über Autismus. Das heisst: Wer Autisten plagt, der braucht mehr Informationen. Die Hilflosigkeit ist im ganzen Umfeld spürbar. Wo erhalten zum Beispiel Eltern Informationen und Unterstützung?

Sie erhalten von spezialisierten Beratungsstellen Unterstützung (siehe Box Seite 21). Mit mehr Aufklärung und Verständnis erübrigt sich zum Teil auch eine Therapie. Ich erlebe oft, dass bereits die Diagnose alleine Erleichterung schafft. Betroffene erkennen, dass sie nicht komisch sind. Dass ihnen ihre Art der Wahrnehmung und des Denkens neue Perspektiven eröffnet. Welche Perspektiven hat Ihnen Ihre Art des Denkens eröffnet?

Ich hatte viele Spezialinteressen: neben Paläontologie oder Rauchmeldern auch das menschliche Denken, was mich in die Psychologie führte. Da ich kein sozial perfektes Profil aufweise, hatte ich nach dem Studium vorerst Mühe, eine Stelle zu finden, bis ich schliesslich vor 12 Jahren vom damaligen Direktor der

«Andere Kinder wissen nicht, dass sich auch jemand mit Autismus einen besten Freund wünscht.»

KJP Bern, Herrn Prof. W. Felder, das Angebot erhielt, klinische Gespräche mit Kindern mit Verdacht auf Autismus durchzuführen, um herauszufinden, wie sie denken, fühlen und wahrnehmen. Daraus entwickelte sich über die Jahre hinweg eine 70Prozent-Anstellung. Ich beschränke mich in meiner Tätigkeit auf Autismus. In diesem Bereich fühle ich mich sehr sicher, auch wenn ich immer wieder Neues lerne. Das führt zur letzten Frage: Autistische Menschen sind angewiesen auf vertraute Situationen und Abläufe. Wie war es nun für Sie, Fragen zu beantworten, die Sie vor dem Gespräch nicht kannten?

Generell sind unvorhergesehene Fragen zu fremden Themen schwieriger. In diesem Fall war es kein Problem, weil die Fragen alle den Autismus betrafen. Ich öffnete einen Speicher mit sämtlichen Fragen, die mir in den letzten 12 Jahren gestellt wurden, und suchte nach Ähnlichkeiten. So konnte ich auf bestehende Antworten zurückgreifen.

Zur Person Matthias Huber, 49, lic. phil., ist Psychologe an der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der UPD Bern. Er arbeitet im Spezialbereich Autismus in der Diagnostik, Beratung und Therapie. Die Zuweisung erfolgt über Ärztinnen und Ärzte sowie über Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten an die jeweiligen Zweigstellen der KJP im Kanton Bern. Kontakt: info.kjpp@upd.ch, www.upd.ch

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Die Eltern sind die wichtigsten Ressourcen des Kindes Eine spezielle Frühintervention unterstützt bei autistischen Kindern eine normale Entwicklung. Mifne heisst der Ansatz. Ein Besuch bei der Mitbegründerin Hanna Alonim in Israel gibt Einblick in eine Therapie, bei der Eltern die Experten sind. Text: Sarah King

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orbei an Orangenbäumen und Lavendel führt eine Strasse steil durch die kleine israelische Ortschaft Rosh Pina hinauf. Da, wo sie endet, soll für Eltern mit autistischen Kindern ein neues Leben beginnen. Das zumindest verspricht der Name des Mifne-Zentrums. Mifne heisst übersetzt «der Wendepunkt». Das grosse Backsteinhaus ruht erhaben auf dem Hügel. In der Ferne erstreckt sich die Chulaebene, hinter ihr die Golanhöhen. Das einzige Geräusch erklingt von einem hölzernen Windspiel. Das ist die Kulisse eines intensiven Therapieprogramms: 3 Wochen, 7 Tage die Woche, 8 Stunden am Tag arbeiten hier Eltern mit ihren autistischen Kleinkindern und therapeutischen Fachpersonen. Dafür reisen sie oft von weit her an und zahlen 25 000 US-Dollar. Was ist die Besonderheit des Mifne-Ansatzes? Warum nehmen Eltern diesen Aufwand auf sich? Eine Besonderheit offenbart sich auf dem Schreibtisch der Autismusexpertin und Direktorin des MifneZentrums, Dr. Hanna Alonim. In

einem kleinen Fernseher läuft die Life-Aufnahme aus dem Therapieraum. Der 35-jährige Diego Barbosa* aus Brasilien ist mit seinem Sohn Rafael* ins Spiel vertieft. Rafael ist 1,5 Jahre. Zeichen lassen sich früh erkennen

«Das Alter ist zentral», sagt Hanna Alonim. «Wir nehmen nur Kleinkinder bis 2-jährig.» Das war nicht immer so. Als die Psychologin 1987 das Mifne-Zentrum in Israel mitbegründete, nahm sie auch ältere Kinder in Therapie. In ihrer 30-jährigen Arbeit mit autistischen Kindern und ihren Familien hat sich jedoch die Autismuslandschaft stark verändert – nicht zuletzt das Diagnosealter. «Wir geben die Diagnose auch 1- bis 1,5-jährigen Kleinkindern», sagt Hanna Alonim. «Manche sagen, ein Kind so früh zu ‹etikettieren›, sei unverantwortlich. Wir wissen aber aus unseren Studien, dass 89 Prozent von 110 autistischen Kindern bereits im ersten Lebensjahr Frühzeichen aufgewiesen hatten. Und 2016 konnten wir mit einer Folgestudie nachweisen, dass bei einer Frühintervention in den ersten 24 Monaten ein

Essprobleme gehören zu den acht Frühzeichen bei autistischen Störungen. 30

Grossteil der Kinder eine altersentsprechende Entwicklung zeigt.» Hanna Alonim untermauert ihre Beobachtungen mit Studien aus der Hirnforschung. «Bis zum zweiten Lebensjahr wird das neuronale Netzwerk ausgebildet, auf dessen Grundlage sich die Persönlichkeit, die Lernfähigkeit und der IQ entwickeln. In dieser Zeit können wir am meisten Einfluss nehmen.» Die USamerikanische Autismusforscherin Geraldine Dawson spricht im Zu­­ sammenhang mit Frühintervention gar von einer «präventiven Massnahme». Eltern als Experten

Zurück in den Therapieraum. Im Beisein der Therapeutin Veronica Jacubson nehmen Vater und Sohn das Mittagessen ein. Rafael verharrt still mit einem gefüllten Löffel in der Hand. «Er weigert sich, das Essen zu berühren.» Das sagt Giora Shayngesicht. Hinter einer spiegelverglasten Wand beobachtet er die Szene. Essprobleme gehören zu den acht Frühzeichen bei autistischen Störungen (siehe Box Seite 31). «Der Vater reagiert typisch: Er übernimmt die Fütterung.» «Was würde geschehen, wenn Sie einen Moment warten, bevor Sie den Löffel zum Mund Ihres Sohnes führen?», fragt der Therapeut in der Nachbesprechung. «Ich sehe, was Eltern tun, aber nicht, was sie denken. Sie sollen ein vertieftes VerAugust 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ständnis für die besonderen Bedürfnisse ihres Kindes entwickeln und gleichzeitig die Gründe für ihr eigenes Handeln verstehen. So gewinnen die Eltern mehr Selbstwert und Vertrauen, was die Interaktion zwischen ihnen und dem Kind verbessert.» Das ist eine weitere Besonderheit des Mifne-Ansatzes: Mutter wie Vater werden als die wichtigste Ressource des Kindes betrachtet und sind deshalb beide in der Therapie anwesend. «Sie sind es, die handeln müssen, wenn das Kind schreit oder nicht isst. Ich könnte die beste Therapeutin auf der Welt sein und hätte doch keinen Einfluss auf das Kind», sagt Hanna Alonim. «Zu Beginn sind die Eltern aber oft in einer Krise und brauchen Hilfe.» Manche Eltern verdrängen die Auffälligkeiten. Andere haben schon etliche Abklärungen hinter sich. Das Kind im Zentrum

So auch Diego Barbosa. Das Nichtwissen ist für ihn schwierig. «Ich bin Wissenschaftler», sagt er am Tag der Ankunft. «Ich brauche Fakten.» Hanna Alonim nickt. «Wir arbeiten aber mit Ihrem Kind, nicht mit Fakten.» Diese Haltung vertritt auch Giora Shayngesicht. «Manchmal hinterfragen Leute, ob die Frühzei-

chen wirklich durch eine autistische Störung bedingt sind. Die Gewissheit haben wir nicht. Lindert jedoch die Therapie das Leid der Familie, spielt die Diagnose letztlich keine Rolle.» Liegt aber eine Diagnose vor, besteht die Chance auf einen Beitrag an die Therapiekosten durch die öffentliche Hand. Auch die Stiftung Mifne Schweiz mit Sitz in Zürich unterstützt bei Bedarf. Hanna Alonim und das Mifne-Team sind darüber hinaus bestrebt, ihr Konzept auch in anderen Ländern bekannt zu machen. So ging beispielsweise 2010 in Basel aus dem Mifne-Ansatz das FIAS-Zentrum hervor. Die Be­­ handlung im eigenen Land erleichtert die Nachbetreuung. Bis zur Integra­tion des Kindes in den Kin­­ dergarten wird die Familie von Mifne-Therapeuten weiterbegleitet. So weit ist Rafael noch nicht. Noch lebt er in sein Inneres zurückgezogen, angewiesen auf Eltern, die das Chaos aus Reizen in der Aussenwelt für ihn ordnen. Im Moment macht die Familie Pause. In Rosh Pina herrscht Mittagsruhe. Selbst das Windspiel ist verklungen. * Namen der Redaktion bekannt Weitere Informationen: www.mifne-autism.com

Manche Eltern verdrängen die Auffälligkeiten. Andere haben etliche Abklärungen hinter sich.

Frühwarnzeichen im 1. Lebensjahr Die israelische Autismusexpertin Hanna Alonim und ihr Team entwickelten 2007 das Diagnose­ ­tool ESPASI (Early signs of pre-autism scale for infants). Es hilft Eltern und Fachleuten, erste Anzeichen von Autismus beim Kind innerhalb des ersten Lebensjahres zu erkennen. Geordnet nach Signifikanz sind dies: 1. übermässige Passivität (kein Weinen, kaum Bewegung, wenig Interesse an der Umgebung) 2. kaum direkter Augenkontakt mit Menschen 3. kaum Reaktion auf die Stimme oder die Präsenz der Eltern 4. übermässige Aktivität (kontinuierliches Weinen, fehlende Ruhe) 5. verweigert zu essen 6. lehnt elterliche Berührung ab 7. verzögerte motorische Entwicklung 8. beschleunigtes Wachstum des Kopfumfangs

Im nächsten Heft:

Bild: iStockphoto

Resilienz

Eltern wollen ihren Kindern ein möglichst schönes und behütetes Leben bieten – doch wie geht man mit Schicksalsschlägen um? Und wie gehen Kinder aus Krisensituationen gestärkt hervor? Unser Dossier-Thema im September.

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Monatsinterview

« Ich will den Müttern das schlechte Gewissen nehmen» Das heutige Mutterbild treibt die Frauen in die Erschöpfung, sagt die österreichische Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve. Schuld sei das vermeintliche Ideal der Kleinfamilie. Text: Claudia Landolt Bilder: Martin Mischkulnig / 13 Photo

Grosse Ehrfurcht. Ich treffe Mariam Irene Tazi-Preve, die Retterin der Frauen. Die österreichische Politikwissenschaftlerin, die als Erste die Vereinbarkeitslüge publik gemacht hat, sitzt im Café Sacher in Innsbruck, ihrer Geburtsstadt. Lüster glitzern, das Holz ist poliert, die Sessel laden in rotem Plüsch. An den Wänden Bilder aus der kaiserlich-­ königlichen Zeit Österreichs. Die Männer tragen Kaiser-Wilhelm-­ Schnäuze, die Frauen rauschende Roben. Eine Kulisse, die besser nicht passen könnte zu Mariam Irene Tazi-Preve, einer Frau, welche die Lebensumstände von Müttern und Vätern erforscht. Ein Gespräch mit vielen Doppelmokkas und zwei Stück Sachertorte. Frau Tazi-Preve, warum sind Mütter oft müde?

Die in Innsbruck geborene Mariam IreneTazi-Preve ist Professorin in den USA.

Können Sie das erklären?

Die Kleinfamilie ist falsch aufgesetzt. Familie ist ein weiterer Begriff, er umfasst Geschwister, Onkel, Tanten. Doch in der Politik, den Medien, der Gesellschaft ist stets von der Kleinfamilie die Rede. Was ist daran falsch?

Die Kleinfamilie ist ein winzig kleines, sehr fragiles Konstrukt, das sich

«Die Kleinfamilie muss sich immer wieder emotional selbst aufladen.»

Sie sind müde vom Dauerspagat zwischen Job und Familie, Haushalt und den vielen Tausend anderen Dingen, um die sie sich kümmern. Doch das ist nicht ihre Schuld.

permanent emotional selbst aufladen muss. In diese isolierte Einheit, die die Politik gern die kleinste Zelle des Staates nennt, sperrt man zwei Dinge zusammen und behauptet, das müsse so sein.

Die Schuld trägt unser Lebensmodell, die Kleinfamilie. Sie ist der Quell unseres Unglücks.

Erstens die lebenslange romantische Beziehung und zweitens das sichere Aufziehen von Kindern. Nun gibt es

Wessen Schuld ist es dann?

Welche beiden Dinge?

die lebenslange romantische Zweierbeziehung nur in Ausnahmefällen. Suggeriert wird aber, sie sei die Normalität. Die ewige Liebe existiert nicht?

Nein. Die Statistik zeigt es ja. Die Hälfte aller Ehen wird geschieden. Die Paare, die im Konkubinat leben und sich trennen, werden statistisch gar nicht erfasst. Trennungen und Scheidungen aber werden noch immer moralisch sanktioniert. Die Politik spricht von einem Verfall der Werte. Oder man beschuldigt die Frau, die sich anmasst, arbeiten zu gehen. Trotzdem sehnen wir uns alle nach romantischer Zweisamkeit.

Das muss uns nicht verwundern. Uns wird ununterbrochen suggeriert, dass die romantische, legitimierte Liebe, die ein Leben lang hält, die anzustrebende Norm sei. Und dass jene, die daran scheiterten, selber schuld seien. Die Ironie dabei ist: Die romantische Idee von der Ehe ist historisch erst spät aufgekommen. Schon die Römer, die das juristische Fundament für die Ehe- und Familiengesetze legten, haben sich überhaupt keine Illusionen darüber gemacht, was sie für die Men- >>>

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Monatsinterview

>>> schen bedeutet. Sie haben offen gesagt, dass die Ehe eine «Quel­ le des Verdrusses» für die Beteiligten sei, aber dass sie «Bürgerpflicht» sei

«Schon die Römer sagten, die Ehe sei eine Quelle des Verdrusses für alle Beteiligten.» und man sie für das Funktionieren von Politik und Gesellschaft eben brauche. Damit wird klar, dass das Wohl zweier Menschen nie im Vor­ dergrund gestanden hat, wenn es um Heirat ging. Trotzdem sind wir der Idee bis heute verfallen. Romantische Liebe ist eine Illusion?

Ja. Dabei sollten wir erkennen, dass sie die Ausnahme ist. Das Perfide daran ist, dass man es heute als Norm darstellt. Das finde ich den jungen Menschen gegenüber besonders pro­ blematisch. Warum?

Weil man ihnen eintrichtert, dass ihr Lebensglück mit einem anderen Menschen verknüpft ist. Wir glau­ ben, dass es irgendwo da draussen einen Menschen gibt, der perfekt zu uns passt. Mit dem es keinen Streit, keine Konflikte gibt. In den USA sagt man: «It wasn’t the right one.» Das heisst, man stellt den Menschen in Frage, nicht das Ideal, dem man auf­ sitzt. Die Menschen suchen etwas, das es nicht gibt, und verzweifeln an der Realität. Nun gibt es wenig Alternativen zur Ehe oder Lebensgemeinschaft.

Die Partnerschaft wird häufig als Ersatz für fehlende emotionale Zuwendung durch die Herkunfts­ familie gelebt. Das heisst, dass der Mangel an lebbaren Alternativen zum Glauben an die Paarbildung als einzige Glücksverheissung führt. 34

Und die Kleinfamilie gilt als unumstössliches Idyll.

Ja, und darunter leiden Männer wie Frauen. Und hier kommen wir zur zweiten Problematik, die ich ange­ sprochen habe, nämlich der, dass Kinder in der Familie über 10 bis 20 Jahre lang sicher aufwachsen sollen. Das kann aber gar nicht gelingen, weil zwei Personen einfach nicht genug dafür sind. Im Grunde sind alle Beteiligten überfordert. Sie haben die Vereinbarkeitsdebatte geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Wunsch und Wirklichkeit liegen so weit voneinander entfernt. Hier sol­ len zwei per se divergierende sozia­ le Systeme – das des Arbeitsmarkts und das der Familie – klaglos mitein­ ander vereinbart werden. Wie ist das zu verstehen?

Der kontinuierlichen Fürsorge, emotionalen Zuwendung und Betreuung von Familienangehöri­ gen, also dem Familienbereich, steht eine auf Flexibilität, Leistung und Effizienz abgestimmte Arbeitswelt gegenüber. Wie kamen Sie auf das Thema der Mütter in Ihrer Forschung?

Dazu zu forschen begann ich, als ich feststellte, dass der Leidensdruck der Mütter enorm ist. Das habe ich über die Jahre auch bei den Reaktionen auf meine Vorträge bestätigt bekom­ men. Irgendwann habe ich begriffen, dass das Leiden strukturell bedingt ist. Dem wollte ich nachgehen und den Müttern ihr schlechtes Gewissen nehmen. Die Schuldgefühle von Müttern sind systembedingt?

Ich lebe in den USA, und hier gibt es mittlerweile den Ausdruck der «mummy wars». Er beschreibt die Konkurrenz zwischen Frauen um die noch bessere Mutterschaft. Man muss das Kind heute von klein auf fördern, in alle möglichen Kurse schicken. Das ist die neue, moderne Form des Drucks auf Mütter. Der Ruf, eine schlechte Mutter zu sein, war immer schon eine sehr wirksa­ me Sanktionsandrohung. Keine Frau

will eine schlechte Mutter sein – das hat auch der Feminismus nicht geän­ dert. Und die Frau wird alles tun, um dieser Drohung zu entgehen. Das Pendant des schlechten Vaters gibt es nicht?

Zumindest nicht in dieser Form. Die Mütter sind immer schuld. Sie wer­ den als Schuldige identifiziert, wenn sie durch Überforderung bei der Erziehung ihrer Kinder – in mancher Hinsicht – versagen, zum Beispiel bei Essstörungen oder Schulproble­ men. Väter können etwa als Manager am Ende ihrer Karriere immer noch sagen: Ich habe meine Kinder wegen des Berufs kaum gesehen. Man stel­ le sich vor, eine Frau sage, sie habe sich leider nicht um ihre Kinder kümmern können. Trotzdem wird Frauen heute suggeriert, sie könnten alles haben. Mütter müssen sexy, erfolgreich und immer für die Kin­ der da sein. Das hat eine totale Erschöpfung zur Folge. Ich nenne das die «Vereinbarkeitslüge». Ob als Hausfrau, Teilzeit- oder Vollzeitbe­ rufstätige, immer stolpert sie in die «Mutterfalle», weil Mutterschaft und Existenzsicherung einander aus­ schliessen. Und auch, weil Männer immer noch weit mehr verdienen.

«Frauen wird suggeriert, sie könnten alles haben. Das hat eine totale Erschöpfung zur Folge.» Mütter bleiben als Hausfrauen ab­­ hängig, als Teilzeitberufstätige sind sie auf weitere Einkommen durch den Staat oder den Ehemann ange­ wiesen und als Vollzeitberufstätige dauererschöpft. Manche leben sich im Mutterdasein aus.

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Viele Frauen definieren sich tatsächlich über Mutterschaft, weil sie sowieso kaum in die obersten Etagen kommen. Das liegt aber auch daran, dass sie ihr Leben um die Kinder herum planen. Das ist eine Wechselwirkung. Karriere bedeutet oft, allzeit verfügbar zu sein, und das wollen Frauen selten. Deshalb komme ich beim Thema Familie immer wieder auf den Arbeitsmarkt zu sprechen. Dort müssen sich die Regeln ändern. Denn auch die Männer geraten unter die Räder des Patriarchats. Am Leben ihrer Kinder sehr beteiligte Väter berichten, dass sie sich aktiv gegen die Forderung nach ständiger Verfügbarkeit im Job stellen müssen. Sie müssen bewusst die Karriere hinten anstellen und zum Beispiel klar sagen, dass sie nach vier Uhr nicht an Sitzungen teilnehmen können, weil ihr Kind aus der Schule kommt. Diese bewussten Väter sind noch immer in der Minderheit. Wie ginge es denn besser?

Wichtig ist, dass man ein stabiles Netz hat, auf das man sich stützen kann. Kinder und Mütter vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, ist für beide gesundheitsschädlich. Wir wissen auch, dass manche Frauen und Männer als Mütter und Väter nicht oder nur wenig geeignet sind, oder sie können zeitweise ausfallen. Es gibt aber häufig keine oder nur sehr wenige andere Ansprechpartner für Kinder. Dazu kommt, dass die Familie nach wie vor der grösste Gewaltschauplatz gegen Frauen und Kinder ist – auch entgegen allen Mythen, in denen die Familie als Sehnsuchtsort dargestellt wird. Wie können Mütter entlastet werden?

Sie müssen zuallererst aufhören, ein schlechtes Gewissen zu haben, und verstehen, dass das «Mutterelend» gesellschaftliche und historische Gründe hat. Zweitens müssen sie aufhören zu glauben, dass die Kleinfamilie der ideale Ort sei, um Kinder aufzuziehen. Drittens sollten Frauen beginnen, Familie als matrilinear (lateinisch: in der Linie der >>>

Kinder und Mütter von der Gesellschaft zu isolieren, sei schädlich, sagt Tazi-Preve.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 35


Monatsinterview

>>> Mutter) zu verstehen. Familie so verstanden bedeutet Verwandtschaft über die Mutter, nicht über Heirat oder einen teilweise oder oft abwesenden Vater. Denn mit Männern ist aufgrund ihres Eingebundenseins in das herrschende System, das die Berufstätigkeit vor die Bedürfnisse der Familie reiht, kaum zu rechnen. Auch gibt es immer wieder Ansätze für andere Wohn- und Lebensformen, in denen man sich gewisse Bereiche teilt, die Kinderbetreuung, Mahlzeitenzubereitung, Haushalt. Und viertens?

Viertens braucht es generell eine Kultur des Teilens von Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Familien­ management, da wir sonst nicht weiterkommen. Und fünftens müssen wir uns vom Irrglauben verabschieden, dass Arbeit frei und glücklich macht.

Wirtschaftsvertreter setzen sich für Frauenförderung ein.

Das Interesse an der weiblichen oder mütterlichen Arbeitskraft hat nichts mit Gleichstellung zu tun. Auch steht

«Das Interesse an der mütterlichen Arbeitskraft hat nichts mit Gleichstellung zu tun.» nicht das Wohl der Kinder im Vordergrund. Im gegenwärtigen neo­ liberalen Wirtschafts- und Politiksystem geht es einzig darum, den Profit des Unternehmens oder das

Wirtschaftswachstum des Landes zu vergrössern. Es will, dass die «Menschenproduktion», also die Be­­­­reit­ stellung von Arbeitskräften und Konsumentinnen und Konsumenten, klaglos funktioniert. Sie sprechen davon, dass es das «Private» nicht gibt.

Ja. Innerhalb des Systems geht es immer um Macht, Geld oder Moral. Das widerspricht allen Bedürfnissen nach Empathie und Sicherheit in einem Familienleben. Die meisten Menschen sind auf Arbeit zur Existenzsicherung angewiesen. Beruf und Familie sind zusammen aber eine unzumutbare Belastung, die Mütter, Väter und Kinder überfordert. Analysen zu Vereinbarkeitsfragen zeigen diese Überforderung und das Leiden am System, was sich in Krankheitssymptomen wie Stress, Burnout und Depressionen äussert. Deshalb sollten Frauen aufhören, an

Zur Person Mariam Irene Tazi-Preve ist Professorin an der University of New Orleans. Sie war an den Universitäten Wien und Innsbruck wissenschaftlich tätig und ist Zivilisationstheoretikerin. Die gebürtige Österreicherin hat zahlreiche Werke (wie etwa «Die Vereinbarkeitslüge») zu den Schwerpunkten Geschlechterfragen, Mutter- und Vaterschaft sowie Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik publiziert. Im April 2017 ist ihr Buch «Vom Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat» erschienen. Sie ist Mutter eines erwachsenen Sohnes. Die Zivilisationstheoretikerin und Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve (rechts) im Gespräch mit Fritz+Fränzi-Autorin Claudia Landolt. Das Treffen fand im legendären Café Sacher in Innsbruck statt, der Heimat von Tazi-Preve, wo sie zu Besuch weilte.

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August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Sie selbst haben erfahren, was es heisst, in patriarchalen Strukturen aufzuwachsen.

Meine Mutter wurde sehr jung mit mir schwanger, von einem älteren Mann anderer Nationalität, dem das Studium wichtiger war und der ein Jahr nach meiner Geburt das Land verliess. Damals war die Sozialfür­ sorge berüchtigt dafür, minderjäh­ rigen Müttern ihre Kinder wegzu­ nehmen. Meine Mutter musste sich daher dem Willen meiner Gross­ eltern unterwerfen, wo wir beide wohnten. Sie bekam nie das Sorge­ recht, das blieb beim Jugendamt, und sie erhielt auch keinerlei finanzielle Unterstützung. Auch ihre Schulbil­

dung konnte sie nicht abschliessen. Sie heiratete später, war damit nach aussen hin rehabilitiert, machte Abi­ tur und holte ihr Studium nach. Die Geschichte meines Familiennamens, die ich in meinem Buch schildere, zeigt die patriarchale Verfasstheit von Rechtsprechung und staatlicher Bürokratie, die letztlich unsere gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse widerspiegelt. >>>

das Märchen von Karriere und ein­ facher Vereinbarkeit zu glauben. Die Karrierefrau mit Kindern, die das mühelos schafft, ist eine Erfindung der Medien und der Wirtschaft.

Claudia Landolt

ist Mariam Irene Tazi-Preve echt dankbar. Endlich hat sie eine fundierte und schlüssige Erklärung für Müdigkeit, Erschöpfung und zeitweiligen Unmut über die Dreifachbelastung von so vielen Müttern (und Vätern!) gefunden.

Von Mariam Irene Tazi-Preve kurz erklärt Mütter: Frauen werden in unserem gesellschaftspolitischen System gezwungen, sich zwischen dem Verzicht auf Kinder, dem Verzicht auf Berufstätigkeit und der Dreifachbelastung bei propagierter Vereinbarkeit zu entscheiden. Väter: Männern wird suggeriert, die Gewinner zu sein, sie sind aber ebenso in die Vorgaben des Systems eingespannt. Ihnen wird somit verunmöglicht, den Preis zu erkennen, den sie für ihr persönliches Leben zahlen müssen. Kinder: Um das System aufrechtzuerhalten, erfolgt eine dementsprechende Sozialisation der Kinder. Ihnen wird somit die Möglichkeit genommen, als nächste Generation das System grundsätzlich in Frage zu stellen und zu verändern. Voraussetzung für die Erwerbspartizipation der Eltern ist das klaglose «Funktionieren» der Kinder.

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 37


Psychologie & Gesellschaft

Keine Angst vor Gruselmonstern! «Wer lernt, Ängste aktiv anzugehen, stärkt sein Selbstvertrauen.»

Beim Einschlafen plagt viele Kinder die Angst, dass sich Monster, Ungeheuer oder Gespenster im Zimmer eingenistet haben. Es hilft, wenn Eltern solche Ängste kreativ angehen und den Ungeheuern mit Fantasie begegnen. Text: Susan Edthofer

P

yjama anziehen, Zähne putzen und hopp ins Bett», ruft der Vater seiner Tochter zu. Weil Eva weiss, dass Papa noch eine Geschichte erzählt, geht alles relativ schnell und ohne Widerrede. Bloss gruselig darf die Geschichte nicht werden, denn das siebenjährige Mädchen hat seit einiger Zeit Mühe, einzuschlafen. Aus unerfindlichen Gründen ist es überzeugt, dass ein Gruselmonster bei ihm übernachtet. Deshalb wird das Einschlafen meist zur Prozedur. Dunkel darf es nicht sein im Zimmer, und die Türe muss offen bleiben. Aus Erfahrung wissen Evas Eltern, dass ihre Tochter noch ein paar Mal rufen wird: «Ich cha nöd ischlofe.» Obwohl das Monster eigentlich bereits vertrieben wurde. Immer wieder fragen sich Eltern, wie man gegen «Einschlaf-Ungeheuer» ankommt. Evas Eltern haben gelernt, die Ängste ihrer Tochter ernst zu nehmen und auf Kinderebene zu reagieren. Statt unter das Bett zu schauen und zu entgegnen, dass sich da unten nichts versteckt, überlegen Mama und Papa gemeinsam mit Eva, wie sich verhindern lässt, dass sich Monster überhaupt in ihrem Zimmer einnisten. Die Kunst, Monster in Schach zu halten

Mütter und Väter brauchen einen Reichtum an Ideen, wenn es darum geht, Ängste zu besiegen und ungebetene Gestalten aus den Zimmern ihrer Kinder zu vertreiben. Kinder besitzen viel Fantasie, was man anstellen muss, um angsteinflössende Gestalten in Schach zu halten. Eltern können sich diese Vorstellungskraft im Umgang mit Ungeheuern zunutze machen und Strategien auf Kinderebene entwickeln. So machte der neunjährige Tim eine Zeit lang abends Krach, damit das Monster aus Angst gar nicht erscheine. Die kleine Laura zähmte das Krokodil mit ihrem Lieblingspausenstengel. Und ihr Freund Elias überlistete das Gespenst und schlief nur ein, wenn noch etwas Licht brannte. Einzig 38

Susan Edthofer ist Redaktorin im Bereich Kommunikation von Pro Juventute.

wenn die Eltern nicht zu Hause waren, reichte diese Massnahme nicht aus. Dann baute er eine Gespensterfalle und spannte Fäden quer durch sein Zimmer. Kinder, die lernen, ihre Ängste aktiv anzugehen, stärken ihr Selbstvertrauen und entwickeln ein grösseres Selbstbewusstsein. Eltern können diese Entwicklung unterstützen und ihr Kind bestärken. In der Hoffnung, dass das Einschlafen bald wieder störungsfrei verläuft.

Was Eltern tun können – vier Tipps • Nehmen Sie die Angst Ihres Kindes ernst. Vielleicht hilft es, wenn beim Einschlafen noch ein Lichtschein zu sehen ist, die Türe offen bleibt, leise Musik erklingt oder ein Kuscheltier aufpasst und Wache hält. • Helfen Sie Ihrem Kind, Strategien zu entwickeln, um seine Angst zu überwinden. Es fördert das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen Ihres Kindes, wenn es lernt, seiner Angst aktiv zu begegnen und diese womöglich zu besiegen. • Suchen Sie zusammen mit Ihrem Kind nach Lösungen, um furchteinflössende Gestalten fernzuhalten, zu vertreiben oder zu besänftigen. • Manchmal helfen auch Symbole, beispielsweise ein Traumfänger, ein selbst gezeichnetes Monster-Stoppschild, ein Duftspray, den Ungeheuer scheusslich finden, Gefahren der Nacht und Ungeheuer fernzuhalten.

Pro Juventute Elternberatung Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online (www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag, zu Erziehung und Schule stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen keine Kosten an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern Informationen für den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Schulen & Institute

Raum und Zeit für Sinnlichkeit. Ein Weg zu mehr Liebe und glücklicher Lust, 27. – 29. Oktober Das Zwei mal Eins der Liebe. Emotionale Intimität in der Paarbeziehung, 4. – 5. November Das Geheimnis zufriedener Paare ist das gelungene Gespräch. Kommunikationskurs für Paare, 24. – 26. November Informationen und weitere Kurse: www.klosterkappel.ch Kloster Kappel, 8926 Kappel am Albis, Tel. 044 764 88 30

Unsere Mediadaten: www.fritzundfraenzi.ch Ausbildung

Kleinkinderbetreuung

Infos unter www.ibk-berufsbildung.ch

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Kolumne

« Der häufige Wechsel zwischen zwei Wohnorten verunsichert ein Kind»

I Jesper Juul ist Familientherapeut und Autor zahlreicher internationaler Bestseller zum Thema Erziehung und Familien. 1948 in Dänemark geboren, fuhr er nach dem Schulabschluss zur See, war später Betonarbeiter, Tellerwäscher und Barkeeper. Nach der Lehrerausbildung arbeitete er als Heimerzieher und Sozialarbeiter und bildete sich in den Niederlanden und den USA bei Walter Kempler zum Familientherapeuten weiter. Seit 2012 leidet Juul an einer Entzündung der Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im Rollstuhl. Jesper Juul hat einen erwachsenen Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter Ehe geschieden.

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ch lebe mit meinem neunjäh­ rigen Sohn Bela getrennt von seinem Vater. Wir haben uns getrennt, als unser Sohn vier alt war. Obwohl die Trennung sehr anstrengend verlief, waren wir uns in Bezug auf Bela meistens einig. Wir haben unsere Differenzen nicht über unseren Sohn ausgetragen. Ich arbeite selbständig, drei Tage pro Woche ist das Kind bei einer Tagesmutter. Jeden Dienstagabend geht Bela zu seinem Vater und kommt am Donnerstag zurück. Die Wochenenden teilen wir auf. Jeden zweiten Samstag wohnt er bis Sonn­ tag beim Vater. In den Ferien ver­ bringt er zwei bis drei Wochen bei ihm, den Rest bei mir oder bei Ver­ wandten. Bela ist ein kreatives, offenes und flexibles Kind und hat ganz tolle Sei­ ten. In der Schule bereiten ihm die Selbst­organisation und die Grafo­ motorik allerdings Schwierigkeiten, und es wurde bei ihm zudem eine Lese- und Schreibschwäche festge­ stellt. Seit einiger Zeit fordert mich Bela sehr. Erst hat er beim Zähneputzen komplett dichtgemacht und mir vor­

Ihre Liebe und Offenheit macht es dem Kind unmöglich, seine unbehaglichen Gefühle auszudrücken.

geworfen, ich sage immer, er sei noch zu klein und dumm und er dürfe nichts selbst machen. Was mich extrem erstaunt hat, da ich eher grosszügig bin und ihm viele Dinge zutraue. In anderen Bereichen behandle ich ihn tatsächlich wie ein Klein­ kind. Ich weiss nicht, wie oft ich ihn schon gebeten habe, seinen Ruck­ sack auszuräumen, die Schuhe nicht nass aufs Parkett zu stellen, die Hän­ de mit Seife zu waschen (ich bin immungeschwächt), die Toilette zu spülen, das Geschirr abzuräumen. Doch ihm scheinen diese Dinge komplett egal zu sein. In Gedanken ist er ganz woanders. Ich bestrafe ihn nicht dafür. Statt­ dessen renne ich hinter ihm her und predige. Das muss ihn unheimlich nerven. Mich nervt es auch. Über Konflikte und Gefühle zu reden, hasst er und versucht sich zu entzie­ hen. Irgendetwas mache ich dabei wohl falsch. Inzwischen haben wir ein ge­­ meinsames Gespräche vereinbart, einmal die Woche. Ich habe Bela gesagt, dass ich ihm gerne zuhören und von ihm gehört werden möchte. Das fand er viel überzeugender als «ich will mit dir reden». Wie kann ich unsere Beziehung und Situation ändern? Wie weiss ich, was ich ihm an Verantwortung übertragen kann, ohne ihn zu über­ fordern? Freundliche Grüsse, Frau K.

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Die Eltern des neunjährigen Bela teilen sich die elterliche Sorge. Das funktioniert gut. Doch seit einiger Zeit wirkt der Bub verträumt, unaufmerksam und unkooperativ. In einem Brief bittet die Mutter von Bela Jesper Juul um Rat.


Jesper Juul antwortet Liebe Frau K. Haben Sie vielen Dank für Ihr Ver­ trauen und die sehr gute Be­ ­ schreibung Ihrer Familiensituation. Es besteht kein Zweifel, dass Sie und Ihr Mann sich in Bezug auf Belas Leben und Wohlergehen grosse Mühe geben. Was also will Ihnen sein Verhalten sagen? Gegen Ende meiner Antwort werde ich Ihnen meine «Überset­ zung» seines Verhaltens geben. Ich schlage vor, dass Sie ihm diese bei Ihrem nächsten Treffen vorlesen. Seine Reaktion darauf ist die ultima­ tive Rückmeldung für uns alle. Wenn Eltern versuchen, das «Richtige» für ihr Kind zu tun, und dabei sehr offen sind, fühlt sich das Kind in diesem Moment wirklich geliebt und geschätzt. Gleichzeitig macht diese Erfahrung es dem Kind aber unmöglich, seine unbehagli­ chen Gefühle auszudrücken. Ich schätze, dass diese Erfahrung einen Teil von Belas unangenehmen Gefühlen ausmacht und diese Reak­ tion hervorruft, wenn Sie mit ihm über Emotionen und Konflikte reden möchten. Ein anderer Aspekt des Problems resultiert aus Ihrem Eifer und Ihrer Entschlossenheit, «Probleme» zu analysieren und zu lösen. Kinder denken und betrachten viel langsa­ mer als Erwachsene. Oft ist es besser zu sagen: «Hör zu, ich habe über XY von heute Morgen nachgedacht und möchte wissen, was du darüber denkst. Bitte lass es mich wissen, sobald du weisst, was du sagen möchtest. Solltest du es vergessen, werde ich dich in ein paar Tagen wieder danach fragen.» Von der Art und Weise, wie Sie Ihre momentane Familiensituation beschreiben, erhalte ich den Ein­ druck, dass Bela einen Zeitplan hat, der für ihn zu anspruchsvoll ist, um ihm folgen zu können. Meine Erfah­ rungen zeigen, dass die meisten

Kinder betrachten Dinge viel langsamer als wir Erwachsene. Oft ist es besser, ihnen ein paar Tage Zeit für eine Entscheidung zu geben. Kinder das Gefühl haben, eine Rege­ lung, bei der sich die Wohnorte nur wöchentlich wechseln (sieben Tage beim Vater, sieben bei der Mutter), sei das optimale Arrangement für sie. Dies gilt, bis sie in die Pubertät kommen und ihren Zeitplan besser ihren persönlichen Bedürfnissen anpassen können. Das Problem für Eltern besteht darin, dass Kinder zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Eltern nehmen, sich anpassen und deswegen dazu neigen, zu «lügen», wenn wir sie fragen. Ihren Sohn verstehe ich so: «Lie­ be Eltern, ich wünschte, ich könnte euch erzählen, wie hart es für mich ist, so zu leben, aber ich kann die Worte dafür nicht finden und ich habe Angst davor, dass ihr euch über mich ärgert, wenn ich es sage. Manchmal fühle ich mich wie ein viel kleineres Kind und benehme mich kindisch, und manchmal möchte ich einfach NEIN sagen und frech sein. Ich weiss, was ihr von mir erwartet, aber das ist zu viel. Ich bin erst neun Jahre alt.» Mein Vorschlag ist, dass Sie ihm erzählen, was Sie mir geschrieben haben, und ihn fragen, ob er hören beziehungsweise lesen möchte, was meiner Meinung nach in seinem Kopf vorgeht. Wenn Sie und er gewillt sind, das zu tun, gibt es zwei Möglichkeiten: • Meine Worte werden ihn bewe­ gen, und er wird Ihnen erzählen, was Sie wissen müssen. Sie und sein Vater müssen dann einen oder zwei alternative Zeitpläne erarbeiten und ihn bitten, zu wäh­ len. Bitten Sie aber NICHT ihn um alternative Vorschläge. Dies ist Ihr Job als Eltern. Erinnern Sie

sich immer daran, wie extrem loy­ al er Ihren Bedürfnissen gegen­ über ist. • Er widerspricht mir. In diesem Fall müssen Sie von diesem Punkt aus weitergehen und Ihre Kreati­ vität und Flexibilität nutzen, um die Bedürfnisse aller zu kombinie­ ren. Ich wünsche Ihnen viel Glück! Jesper Juul

Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul, die er persönlich beantworten soll? Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an redaktion@fritzundfraenzi.ch oder einen Brief an: Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen in Zusammenarbeit mit

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 41


Lernmythen auf dem Prüfstand Es gibt viele Vorstellungen und Ratschläge darüber, wie Kinder «richtig» lernen. Dabei zeigt die jüngste Forschung, dass wir unseren Kindern deutlich mehr Freiheiten lassen können als bisher angenommen. Eine Bestandsaufnahme. Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund

W

ie sieht «richtiges Lernen» aus? Dazu gibt es eine Menge Vorstellungen und Ratschläge, die seit Jahrzehnten weitergegeben werden. Lernt ein Kind oder Jugendlicher auf eine andere Art und Weise, wird er rasch dazu aufgefordert, sich beispielsweise «ordentlich hinzusetzen und nicht herumzuhampeln». Es wird ihm erklärt, dass man sich so «doch nicht konzentrieren kann» und er sich nicht wundern müsse, wenn am Ende nichts hängen bleibe. Doch dürfen wir den gängigen Lernratgebern trauen, wenn sie einen festen Arbeitsplatz und Ruhe verordnen und betonen, dass das Kind die Hausaufgaben in einer ordentlichen Arbeitshaltung alleine in seinem Zimmer machen soll? Die Forschung zeigt: Wir dürfen den Kindern und Jugendlichen guten Gewissens deutlich mehr Freiheiten lassen als bisher angenommen.

Mythos 1: Mach die Musik aus! So kannst du dich doch nicht konzentrieren!

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Bild: Salvatore Vinci /13 Photo

Dieser Ratschlag ist für viele Menschen hilfreich. Vor allem introvertierten Personen gelingt es besonders gut, sich zu fokussieren, wenn sie in Ruhe arbeiten können – das zeigt die Forschung eindrücklich. Es gibt jedoch auch Menschen, die das Arbeiten bei Stille als Qual August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

empfinden. Gerade bei leicht ablenkbaren Kindern wird oft emp­ fohlen, dass die Lernumgebung möglichst reizarm sein soll. Neuere Studien deuten jedoch darauf hin, dass dies kontraproduktiv ist. Die Stille führt bei unaufmerksamen Kindern dazu, dass sie innerlich unruhig werden und unbewusst nach Ablenkung suchen. In Studien machten diese Kinder beim Lösen von Mathematikaufgaben weniger Fehler, wenn sie dazu Musik hören durften. Sie konnten sich bei einem Gedächtnistest auch an mehr erin­ nern, wenn während der Lernphase moderate Hintergrundgeräusche zu hören waren. Viele Jugendliche berichten zu­­ dem, dass sie die richtige Musik in die nötige Stimmung versetze, um auch unliebsamen Aufgaben zu Lei­ be zu rücken. Neben der Konzen­ tration kann also auch die Motiva­ tion durch die passende Musik gefördert werden. Wenn Ihr Kind mit Musik arbei­ ten möchte, empfehlen wir Folgen­ des: Erstellen Sie gemeinsam eine Playlist mit Liedern, die sich zum Lernen eignen (eher ruhige Stücke ohne Text). Das Drücken der Play­ taste kann von diesem Moment an zum Startsignal werden und dem Kind helfen, anzufangen und in die Arbeit einzutauchen. Was jedoch stört, sind Geräu­ sche, die zum Hinhören und Mitma­ chen einladen – beispielsweise der Ton eines spannenden Films, der im Hintergrund läuft, eine Radioansage oder Gespräche von anderen. Zum Thema Musik gilt also: aus­ probieren! Wir Menschen reagieren unterschiedlich darauf. Für den einen ist sie eine Lernhilfe, für den anderen eine Belastung und Ablen­ kung.

Mythos 2: Kinder benötigen einen fixen Arbeitsplatz!

Wenn der Schuleintritt bevorsteht, haben die Möbelhäuser einmal mehr Hochkonjunktur. Scharen an enga­

gierten Müttern und Vätern pilgern mit dem Nachwuchs in die Büroab­ teilungen, um ergonomisch geform­ te Schreibtischstühle, höhenverstell­ bare Pulte und augenfreundliche Leselampen auf Herz und Nieren zu prüfen. Kurze Zeit später ist der opti­ male Arbeitsplatz im Kinderzimmer eingerichtet. So weit, so gut. Vieles spricht dafür, die Hausaufgaben stets im Kinderzimmer zu erledigen: das Kind kann sich zurückziehen, wird nicht von den Geschwistern bei der Arbeit unterbrochen und sollte nach und nach lernen, selbständig zu arbeiten. Für einen fixen Arbeitsort schei­ nen auch Konditionierungseffekte zu sprechen: Wird immer am glei­ chen Ort gearbeitet, verbindet das Gehirn diesen Ort nach und nach mit dieser Tätigkeit. Das kann sehr nützlich sein: Sobald Sie sich ins Büro setzen und den Computer hochfahren, fühlen Sie sich in Arbeitsstimmung versetzt. Zudem zeigen Studien aus der Gedächtnisforschung, dass man sich besser an Inhalte erinnert, wenn man diese mehrmals am gleichen Ort lernt und dort abruft. Zu diesem Thema wurden einige interessante Experimente durchgeführt. So konnten beispielsweise Taucher, die sich unter Wasser Listen mit Wör­ tern eingeprägt hatten, diese unter Wasser besser erinnern als an Land und umgekehrt. Diese Wirkung der Umgebung auf die Lern- und Abruf­ leistung wird als kontextabhängiges Erinnern bezeichnet. Genau diese beiden Effekte kön­ nen aber auch zur Falle werden. Der Mechanismus des kontextabhängi­ gen Erinnerns spricht nicht unbe­ dingt dafür, immer am gleichen Ort zu lernen. Prägt man sich den Stoff immer in derselben Umgebung ein, kann man sich dort zwar besser an das Gelernte erinnern – dafür wird es an allen anderen Orten schwieri­ ger. Wenn man also nicht die Chan­ ce hat, genau dort zu lernen, wo auch geprüft wird, kann man sich

Ein Kinderzimmer ist mit Freizeitstimmung assoziiert. Es ist ein denkbar schlechter Ort zum Lernen.

stärker auf Wissen verlassen, das man an unterschiedlichen Orten gelernt hat. Ähnlich verhält es sich mit Kon­ ditionierungseffekten: Macht ein Kind regelmässig sehr positive Erfahrungen beim Lernen, hilft ihm ein fixer Arbeitsort, in seine Arbeits­ stimmung zu kommen. Bei vielen Kindern, die das Lernen eher mit Frust und Mühsal verbinden, pas­ siert genau das Gegenteil. Kaum sitzen sie auf ihrem Bürostuhl am Pult, kann man zusehen, wie sie innerlich abschalten und körperlich erschlaffen. Das Gesicht schläft ein, der Blutdruck sinkt ab und sie beginnen zu gähnen. In diesem Fall kann ein Orts­ wechsel einen Neustart mit sich bringen und dem Kind dabei helfen, neue, positivere Erfahrungen mit dem Lernen zu verknüpfen. Konditionierungseffekte machen auch das eigene Zimmer für viele Kinder und Jugendliche zum un­­ günstigsten Lernort überhaupt. Denn was tut das Kind normaler­ weise in seinem Schlafzimmer? Spielen! Dieser Ort ist demnach mit Freizeitstimmung assoziiert. Kaum rollt Ihr Kind mit dem ergonomisch geformten Stuhl an den höhenver­ stellbaren Tisch, fallen ihm die spannenden Spielsachen ins Auge. Die Sehnsucht, aufzustehen und sich damit zu beschäftigen, wächst. Nun benötigt das Kind eine gros­ se Portion Selbstdisziplin, um seine Aufmerksamkeit weiterhin auf die Aufgaben zu lenken. Es sagt sich vielleicht: «Eigentlich wür­ >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 43


Lerntipps für Jugendliche

Die neue Filmserie mit Adi & Jess «Adi, du machst wirklich super Arbeit, aber wenn du den Lehrabschluss nicht schaffst, können wir dich hier im Betrieb nicht behalten!» Diese Ansage des Lehrmeisters hat gesessen. Zum Glück tritt die quirlige Jess in Adis Leben und hilft ihm, das Steuer herumzureissen. Erleben Sie in fünf Episoden, wie sich Adi in dieser turbulenten Zeit behauptet, gegen innere und äussere Hindernisse kämpft und Verantwortung für seine Zukunft übernimmt. Wird es Adi gelingen, im Wettlauf gegen die Zeit und seinen inneren Schweinehund zu triumphieren? Die erste Folge der neuen Serie finden Sie auf der Website www.fritzundfraenzi.ch unter der Rubrik Video.

Starten Sie die aktuelle pp, Fritz+Fränzi-A Seite – e es di e Si scannen Si n e die und schon sehe ene ieb oben beschr e. lg Fo e erst

>>> dest du am liebsten am Raum­ schiff weiterbauen, aber du musst jetzt Hausaufgaben machen. Wo war ich nochmal? (…) Ah ja, hier.» Sol­ che inneren Konflikte lenken ab und sind zermürbend. Hierzu ein kleines Beispiel aus der Erwachsenenwelt: Es ist vielleicht etwas ungünstig, sich zum Kaffee in einer Konditorei zu verabreden, wenn man gerade auf Diät ist. Wie lange braucht es wohl, bis der Blick zu den Rahmtorten wandert und man der süssen Ver­ führung nachgibt? Welche Plätze würden sich für Ihr Kind eignen? Kann es auch einmal in der Küche oder im Wohnzimmer lernen? Die Vokabelliste auf die Ter­ rasse, in die Badewanne oder in den Zug mitnehmen? Oder ist es schon älter und darf in der Schule oder in der Bibliothek arbeiten?

Mythos 3: Sitz jetzt still und konzentriere dich!

Manche Eltern werden ganz kribbe­ lig, wenn sie ihren Kindern beim Lernen oder Arbeiten zusehen. Wer auf dem Stuhl herumturnt, den Radiergummi von einer Hand in die andere wandern lässt oder sich am Boden mit dem Lesebuch in seltsame Positionen verknotet, kann doch nicht wirklich konzentriert sein, oder? Bei dieser Annahme handelt

Bewegung unterstützt das Gehirn dabei, Informationen im Kopf zu behalten. 44

es sich offenbar um einen Trug­ schluss. Forscher konnten nämlich nachweisen, dass Primarschüler sich bei Stillarbeiten mehr bewegen, sobald ihr Arbeitsgedächtnis bean­ sprucht wird. Mussten Kinder sich beispielsweise eine Fülle von Zahlen und Buchstaben merken und diese am Ende in eine Reihenfolge brin­ gen, also eine klassische Aufgabe für das Kurzzeitgedächtnis lösen, nahm ihre körperliche Unruhe zu. Bewegung unterstützt das Gehirn offenbar dabei, Informationen im Kopf zu behalten. Vielleicht ist Ihnen auch schon einmal aufgefal­ len, wie man – ohne gross darüber nachzudenken – aufsteht und im Zimmer umhergeht, wenn man sich die Inhalte für eine Präsentation ein­ prägen möchte oder fieberhaft nach Lösungen für ein Problem sucht. Schon im antiken Rom war der förderliche Effekt von Bewegung auf die Gedächtnisleistung bestens be­­ kannt. So prägten sich Profiredner wie der bekannte Politiker Marcus Tullius Cicero ihre ellenlangen Manuskripte am liebsten im Gehen ein. Vielleicht darf Ihr Kind das nächste Mal durch den Garten strei­ fen, wenn es ein Gedicht auswendig lernen muss, oder ein wenig Tram­ polin hüpfen, während Sie ihm Einmaleins-Rechnungen oder Vokabeln vorgeben?

Mythos 4: Lernen muss Spass machen!

Während die bisher beschriebenen Mythen bereits von unseren Eltern und Grosseltern geäussert wurden, ist die Überzeugung, dass Lernen nur dann effektiv ist, wenn es durch­ gehend Spass macht, erst seit Kur­ zem auf dem Vormarsch. In diesem Credo steckt viel Wahrheit, aber es lohnt sich auch hier, etwas genauer hinzusehen. Im Allgemeinen gilt: Freude, Neugier und Begeisterung machen es uns leichter, uns auf ein Themen­ gebiet einzulassen, neues Wissen aufzunehmen und unsere Fähigkei­ August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

ten weiterzuentwickeln. Es gibt jedoch mehrere Missverständnisse rund um die obige Aussage. Das eine Missverständnis besteht darin, dass wir davon ausgehen, dass Begeisterung beim Lernen automatisch zu besseren Leistungen führt. Es macht mehr Spass, Volleyball oder Fussball zu spielen, als an der Technik zu feilen. Es ist cooler, mit Freunden zu jammen als Stunden für Fingerübungen auf der Gitarre zu investieren. Es ist auch lustvoller, Buchstaben zu kneten und aus Sandpapier auszuschneiden als sie immer wieder zu schreiben. Aber ist der Lerneffekt deswegen auch höher? Wenn man dieser Logik folgt, müssten die Menschen, die beim Üben am meisten Spass haben, auch die beste Leistung erbringen. Interessanterweise aber empfinden die Profis das Üben auf einem Gebiet als unangenehmer und anstrengender als Amateure. Ein Grossteil der Schriftsteller berichtet, dass das Schrei­ben ihre grösste Leidenschaft sei und gleichzeitig eine zuverlässige Quelle von Anstrengung und Mühsal. Für Peter Bichsel bedeutet «eine Kolumne zu schreiben» beispielsweise «eine ganze Woche Leidenszeit». Und der bekannte Schriftsteller Philip Roth meint: «Es ist eine Qual. Wenn ich ein Kind hätte, das Schriftsteller werden wollte, würde ich versuchen, ihm das auszureden.» Im Grunde wissen wir es alle – wir hören es nur nicht gerne: Wenn wir in einem Bereich wirklich Fortschritte machen wollen, ist das anstrengend. Wenn wir uns in der Rechtschreibung verbessern möchten, sollten wir herausfinden, wo wir

die meisten Fehler machen – und dann beispielsweise zwei Monate lang jeden Tag während zehn Minuten die Gross- und Kleinschreibung üben. Wenn wir unsere Vortragskompetenzen erweitern möchten, wäre es wertvoll und unangenehm, sich dabei auf Video aufzunehmen, daraus spezifische Verbesserungsmöglichkeiten abzuleiten und mit Ausdauer daran zu feilen. Überall, wo die Leistung klar messbar ist – zum Beispiel im Sport oder in der klassischen Musik –, folgt das Üben einer gewissen Struktur. Übergeordnete Fertigkeiten werden in Teilfertigkeiten zerlegt, die jeweils intensiv geübt werden. Freude, spielerisches Entdecken, Kreativität und Begeisterung: All das soll in der Schule Platz haben und einen wichtigen Stellenwert besitzen. Bestimmte Grundfertigkeiten müssen aber einfach trainiert und automatisiert werden. Sonst sind kreative Leistungen nicht möglich. Wer beispielsweise ständig über die Rechtschreibung nachdenken und sich jedes Mal fragen muss, ob man ein Wort gross- oder kleinschreibt, kann schlecht die Handlung des Aufsatzes weiterspinnen. Wenn es um den Aufbau solcher Fertigkeiten geht, ist Üben notwendig und nicht altmodisch. Es ist spannend, dazu einen Blick in das Gehirn zu werfen. Dabei wird deutlich: Wenn wir etwas Neues lernen, wird vor allem der präfrontale Kortex, der Sitz unseres bewussten Denkens, aktiviert. Dieser Teil des Gehirns arbeitet seriell: Eins nach dem anderen. Wir können nicht gleichzeitig über zwei Sachen nachdenken.

Wenn wir etwas so lange üben, bis es automatisiert ist, übernehmen andere Bereiche des Gehirns diese Aufgabe. Ab dieser Stufe können wir die Aufgabe ohne bewusstes Nachdenken lösen. Der präfrontale Kortex wird entlastet und kann sich einer anderen, zusätzlichen Aufgabe zuwenden: Das Kind kann sich nun die Schuhe binden und gleichzeitig mit Ihnen plaudern. Es schreibt die Nomen gross, ohne sich bei jedem Wort zu fragen, ob man der/die/das davorsetzen kann – und kann sich stattdessen auf seine Geschichte konzentrieren. Es kann mit den Augen auf dem Notenblatt verweilen und das Stück interpretieren, anstatt andauernd auf die Klaviertasten zu schielen, um den richtigen Ton zu treffen. Halten wir also fest: Übung und Automatisierung sind keine Gegenspieler von Kreativität und Flexibilität, sondern deren Voraussetzung. Es ist erfreulich und kindgerecht, dass die Schule von unnötigem Drill weggekommen ist und dem spielerischen Lernen und Entdecken mehr Raum gibt. Aber wir sollten das Üben und Schleifen – dort, wo es notwendig ist – nicht verteufeln.

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Begeisterung beim Lernen führt nicht automatisch zu besseren Leistungen.

Stefanie Rietzler

Fabian Grolimund

sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren der Bücher «Mit Kindern lernen» und «Erfolgreich lernen mit ADHS». Weitere Tipps rund um das Thema Lernen finden Sie unter: www.mit-kindern-lernen.ch

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 45


In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post

«Nicht schon wieder schreiben»

Bild: Tim Leu

Für Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche ist das Lesen und Schreiben ein «Chnorz». Die Logopädin Andrea Weber-Hunziker über Anzeichen und Ursachen und wie das Lernen in der Schule trotzdem gelingen kann. Interview: Johanna Oeschger

Frau Weber-Hunziker, nach den ersten Schuljahren können die meisten Kinder flüssig lesen und kurze Texte schreiben. Für einige Kinder bleibt das Lesen und Schreiben ein Krampf. Warum? Wenn ein Kind grosse Mühe hat, lesen und schreiben zu lernen, könnte eine LRS, eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die Ursache sein. Im Volksmund nennt man LRS auch «Legasthenie». Ungefähr zwei bis vier Prozent der Kinder sind von einer LRS betroffen, Jungen etwa doppelt so häufig wie Mädchen.

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Wie erkennt man eine Lese- und Rechtschreibschwäche? Im Rahmen einer LRS-Abklärung überprüft man das Lesen und Schreiben und führt einen Intelligenztest durch. Ausserdem müssen Ursachen wie neurologische Störungen oder eine ungenügende Förderung im Unterricht ausgeschlossen werden können. Welche Schwierigkeiten treten beim Lesen und Schreiben konkret auf? Kinder mit einer LRS lesen oft ungenau, lassen Wortendungen weg oder lesen nur den Wortanfang und erraten den

Rest. Sie lesen relativ lange langsam und «abgehackt». Das kostet die Kinder so viel Anstrengung, dass es ihnen schwerfallen kann, den Sinn der Texte zu erfassen. Beim Schreiben fallen vor allem die vielen Rechtschreibfehler auf. Betroffene Kinder schreiben manchmal dasselbe Wort in einem Text in vier oder fünf verschiedenen Schreibweisen oder verwechseln Buchstaben. Es kann auch zu Umstellungen und Auslassungen von Buchstaben oder Wörtern kommen. Wie sollten Eltern vorgehen, wenn sie bei ihrem Kind eine LRS vermuten?

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

Bei Verdacht auf eine LRS sollten Eltern zunächst das Gespräch mit der Lehrperson und der Heilpädagogin suchen und dann, wenn angezeigt, eine Logopädin beziehungsweise einen Logopäden kontaktieren. Vor dem Lese- und Schreiberwerb gibt es also noch keine Anzeichen? Doch, die kann es geben. Bei Kindern mit einer LRS fällt auf Kindergartenstufe häufig auf, dass sie Mühe haben, bei gesprochenen Wörtern Reime oder einzelne Laute zu erkennen oder Silben zu klatschen. Die Kinder brauchen oft auch länger, um das Wort für Buchstaben oder Bilder abzurufen und auszusprechen. Daraus muss sich aber nicht zwingend eine LRS entwickeln. Was ist die Ursache für eine LRS? Diese Frage wird von Eltern häufig gestellt. Die Ursache von LRS kann aber nicht so einfach festgemacht werden. Es wirken unterschiedliche Faktoren zusammen. Die Erbanlage spielt eine wichtige Rolle, aber auch, wie Gehörtes und Gesehenes wahrgenommen und verarbeitet wird: Kinder mit einer LRS können z. B. Wortbilder weniger gut abspeichern und lesen deshalb Wörter nicht «automatisch», sondern müssen diese oft Buchstabe für Buchstabe oder Silbe für Silbe entziffern. Weiter kann eine LRS zusammen mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten wie einer Rechenschwäche, Schwierigkeiten bei der motorischen Koordination oder einer Sprachentwicklungsstörung auftreten. Fest steht, dass LRS nicht mit einer minderen Intelligenz zusammenhängt. Kinder mit LRS sind normal bis sehr gut begabt. Wie stark wirkt sich eine LRS auf die Schulleistung aus? Weil das Lesen und Schreiben praktisch in jedem Fach eine Rolle spielt, kann sich eine LRS auf fast alle Fächer auswirken. Für Kinder mit einer LRS kann es sehr frustrierend sein, wenn sie selbst in Mathematik bei den «Sätzchenrechnungen» oder in Musik einen Liedtext lesen müssen. Das drückt auf die Lernmotivation. Diese Erfahrungen können auch psychische und soziale Auswirkungen haben. Die Kinder nehmen sich als

anders wahr und fragen sich, warum die anderen bestimmte Dinge besser können. Manchmal versuchen sie auch, bestimmte Situationen zu vermeiden, wollen beispielsweise nicht an ein Geburtstagsfest gehen aus Angst, dass sie dort etwas lesen müssen oder als dumm wahrgenommen werden. Was hilft Kindern in dieser Situation? In der logopädischen Therapie bespreche und übe ich mit den Kindern und Jugendlichen verschiedene Strategien. Beim Schreiben kann es beispielsweise wichtig sein, sich erst einmal nur auf den Inhalt zu konzentrieren und erst dann das Geschriebene systematisch mit Regeln zu überprüfen. Zu wissen, dass die Rechtschreibung logisch nach Regeln hergeleitet werden kann, ist für jemanden mit einer LRS sehr entlastend. Auch das Lesen und die Wahrnehmung von Gehörtem und Gesehenem können gezielt trainiert werden. Daneben kann auch die Stärkung des Selbstvertrauens Inhalt der Therapie sein. Grosse Erleichterung schafft zudem der Nachteilsausgleich. Was ist ein Nachteilsausgleich? Betroffene Kinder und Jugendliche sind oft aufgrund ihrer LRS in der Bildung benachteiligt. Mit einem LRS-Attest haben sie deshalb für ihren gesamten Ausbildungsweg von Primarschule über Berufsfachschule oder Gymnasium bis zur Hochschule Anrecht auf einen Nachteilsausgleich. Wie dieser aussieht, hängt von der Schulstufe und von den Bedürfnissen der betroffenen Person ab. Die Lehrpersonen können zum Beispiel die Rechtschreibung bei Prüfungen weniger stark oder gar nicht bewerten. Schafft ein Kind dank Therapie und Nachteilsausgleich alles, was es auch ohne LRS erreicht hätte? Der Erfolg einer Therapie hängt stark von der Motivation des Kindes bzw. des Jugendlichen und der Unterstützung durch die Eltern ab. Kann eine logopädische Therapie erfolgreich stattfinden und wird der Nachteilsausgleich umgesetzt, stehen die Chancen gut, dass das Kind seinen Weg im Rahmen seiner persönlichen Möglichkeiten gehen kann.

LRS-Therapie: So können Eltern ihr Kind unterstützen • Regelmässig das Gespräch mit der Lehrperson und der Logopädin / dem Logopäden suchen. • Den Nachteilsausgleich geltend machen. • Bei den Hausaufgaben entlasten: einen ruhigen Arbeitsplatz bieten und Tipps aus der Therapie umsetzen (z. B. abwechselnd lesen, Texte mit Hilfsmitteln überprüfen). • Freude am Lesen und Schreiben wecken: Lese­material bereitstellen, das den Interessen und dem Niveau des Kindes entspricht. Gemeinsame Projekte entwickeln, bei denen die Kinder «nebenbei» lesen und schreiben, z. B. vor dem Ausflug gemeinsam den Fahrplan lesen. • Druck abbauen: Zusätzliches Üben kann sinnvoll sein. Dies sollte aber spielerisch und ohne Leistungsdruck stattfinden. • Vermeiden Sie Stresssituationen wie z. B. lautes Vorlesen vor Leuten.

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Zur Person

Andrea Weber-Hunziker ist diplomierte Logopädin EDK. In der Praxis für Logopädie Lautart (www.lautart.ch) in Bern führt sie Abklärungen und Therapien von Kindern und Jugendlichen im Alter von 3 bis 20 Jahren durch und bietet Beratungen für Eltern und Fachpersonen an.

Johanna Oeschger

ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin, unterrichtet Deutsch und Englisch auf der Sekundarstufe II und arbeitet als Mediendidaktikerin bei LerNetz.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 47


Elterncoaching

Wenn Kinder sich vergleichen

Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg. www.mit-kindern-lernen.ch www.biber-blog.com

I

m Frühling 1960 lieferten sich in einem Innenhof in St. Gal­ len zwei Kindergartenkinder das folgende hitzige Wortge­ fecht: «Meine Eltern haben das grösse­ re Auto als ihr!» – «Dafür haben wir ein Haus!» – «Aber ein altes! Wir haben eine neue Wohnung und mehr Geld!» Jetzt wurde es schwie­ rig für meinen Onkel: «Dafür hat mein Vater mehr Kinder!» – «Aber wir reisen dafür in den Ferien weiter weg!» Mein Onkel hörte sich fast verzweifelt an, als er seinen letzten Trumpf ausspielte: «Dafür hat mein Vater viel mehr Haare auf dem Bauch als deiner!» Mit dem haarigen Argument hatte mein Onkel, damals fünf Jahre alt, den Schlagabtausch gewonnen. Eltern fragen mich immer wie­ der, wie sie ihren Kindern das Ver­ gleichen abgewöhnen und sie darin bestärken können, mehr auf die eigenen Stärken und Fortschritte zu achten. Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich betonen, dass es zur

Bleiben Sie gelassen, wenn Kinder sich vergleichen. Kommentieren Sie so wenig wie möglich. Oft reicht ein «Hm» oder «Aha». 48

natürlichen Entwicklung eines Kin­ des gehört, sich mit anderen zu ver­ gleichen und zu messen. Sobald Kinder sich selbst und andere erforschen, beginnen sie, auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu achten. Kleineren Kindern fallen zunächst die gut sichtbaren äusseren Unterschiede auf – insbesondere diejenigen, die in der kindlichen Welt Bedeutung haben: Wer ist der Grösste, der Stärkste, die mit den längsten Haaren? Jüngere Kinder sind dabei meist noch sehr von sich selbst überzeugt. Und natürlich sind auch ihre Väter die Stärksten und Grössten, das Mami das Schönste. Nach und nach entdecken sie, dass andere in be­­ stimmten Dingen besser abschnei­ den. Erste Enttäuschungen schlei­ chen sich ein, und gleichzeitig wird das Bild von sich und anderen diffe­ renzierter: «Papa, der Papa von Marius ist grösser als du!» Im Grundschulalter, wenn die Gleichaltrigen wichtiger werden und die Kinder sich und andere immer besser einschätzen können, nimmt das Vergleichen meist zu. Dabei lernen wir uns mit unseren Stärken und Schwächen kennen. Das eigene Bild wird im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte nuancierter und realistischer. Wenn wir Glück haben, gelingt es uns in diesem Pro­ zess, uns selbst immer besser anzu­ nehmen, unsere starken Seiten zur

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Für unsere Entwicklung ist es wichtig, dass wir uns mit anderen messen. Was aber sollen Eltern tun, wenn das eigene Kind sich ständig vergleicht und daraus Enttäuschung und Frust entstehen?


Geltung zu bringen und uns mit unseren Defiziten und Schwächen auszusöhnen. Wie soll ich reagieren, wenn mein Kind sich mit anderen vergleicht?

Ganz allgemein würde ich dazu raten, mit Vergleichen unter Kin­ dern gelassen umzugehen. Vielleicht ist es gar nicht nötig, etwas dazu zu sagen ausser ein kleines «Hm» oder «Aha»? Wenn Kinder dabei schmerzhaf­ te Erfahrungen machen, können wir sie als Eltern begleiten – im Vertrau­ en darauf, dass Kinder auch mit gelegentlichen Enttäuschungen zu­­ rechtkommen. Als ich nach einem zusätzlichen Kindergartenjahr in die Schule kam, war ich noch immer auffallend lang­ sam und verträumt. Eine wunder­ bare Lehrerin und meine Eltern bestärkten mich und gaben mir das Gefühl, auf gutem Weg zu sein. Ende der ersten Klasse trug ich stolz mein Zeugnis nach Hause. Ich öff­ nete den Umschlag kurz vor unse­ rem Haus und betrachtete die zwei Vierer und den Viereinhalber, die in schöner Handschrift eingetragen waren. Mein bester Freund lief neben mir und schaute sich seines an. Als ich durch das Gartentor zu unserem Haus wollte, meinte er: «Zeig mal deines!» Er hielt die Zeugnisse ne­­ beneinander. Ich sah seine Fünfein­ halber und Sechser und er erklärte mir, dass meine Noten «schlecht» seien. Alle Beteuerungen meiner Eltern, dass eine Vier doch bedeute, dass ich «genügend» sei und sie sich darüber freuten, halfen wenig. Ich wusste nun, wo ich stand. Ich habe ein wenig geweint, mei­ ne Mutter hat mich in den Arm genommen und am nächsten Tag waren die Insekten im Garten wie­ der wichtiger als die Noten – schliesslich waren jetzt Sommer­ ferien! Dass meine Eltern gelassen geblieben sind und mir zugetraut haben, dass ich mit der Enttäu­

schung umgehen kann, hat ihr viel von ihrer Schwere genommen. In den letzten Jahren konnte ich oft beobachten: Je besser die Eltern eine Enttäuschung und negative Gefühle ihres Kindes aushalten kön­ nen, desto leichter fällt es dem Kind, damit umzugehen. Wir können beispielsweise gelas­ sener bleiben, wenn wir mehr auf die Gefühle des Kindes anstatt den Vergleich eingehen. Sagt das Kind, dass es dumm und alle anderen viel klüger seien, reagieren wir meist, indem wir das entschieden zurück­ weisen: «Du bist doch nicht dumm!» Meist treten wir damit eine Diskus­ sion los, in der sich das Kind auf seinen Standpunkt versteift. Wir können dieses Gefühl aber auch als Momentaufnahme verstehen und zeigen: Ich kenne das. Vielleicht sagen wir dann: «Du fühlst dich gerade richtig dumm. Das geht mir manchmal auch so. Dann kommt man sich richtig klein und doof vor.» Darauf kann man von einer eigenen Erfahrung erzählen oder fragen: «Was würde dir jetzt guttun?» Es ist beruhigend für ein Kind, wenn es sieht, dass seine Eltern solche Gefühle kennen, da sind und es dar­ in begleiten können. Wir können dem Kind auch direkt vermitteln, dass wir ihm zutrauen, mit der Situation umzuge­ hen. Beklagt sich beispielsweise der Sohn darüber, dass die Tochter in der Schule viel besser ist, antworten wir gerne mit einem Satz wie: «Dafür bist du viel besser im Sport.» Damit bleiben wir jedoch im Schema des Vergleichens und zeigen dem Kind indirekt: Es ist eben doch wichtig, besser zu sein. Unbewusst heizen wir das Ver­ gleichen damit an und reduzieren in diesem Beispiel vielleicht sogar die Motivation für die Schule, weil wir unseren Kindern fixe Rollen zutei­ len: der Sportler, die gute Schülern usw. Es kann sein, dass sich die Kin­ der in der Folge mehr und mehr auf den Bereich zurückziehen, in dem

Vertrauen Sie darauf, dass Ihr Kind stark genug ist, mit Enttäuschungen und Schwächen umzugehen.

sie glänzen können. Doch vielleicht hat das Kind ja eine Stärke, die ihm hilft, sich seiner tatsächlichen oder vermeintlichen Schwäche zu stellen: «Ja, deine Schwester hat es momen­ tan in der Schule leichter. Und weisst du was? Ich bin stolz auf dich, dass du dranbleibst und übst, auch wenn es dir schwerfällt. Du hattest schon immer ein Kämpferherz.» Kurztipps

• Vergleiche können schmerzhaft sein. Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie da sind und es diese Gefühle haben darf. • Falls sich Ihr Kind nur noch in­­ tensiver abwertet: Versuchen Sie etwas anderes, indem Sie es bei­ spielsweise fragen, was ihm gut­ tun würde, oder ihm erzählen, was Ihnen in solchen Momenten hilft. • Machen Sie Ihrem Kind bewusst, dass es stark genug ist, um mit ge­­ legentlichen Enttäuschungen und eigenen Schwächen umzugehen, anstatt es sofort davon abzulen­ ken.

In der nächsten Ausgabe: Beruf, Haushalt, Kinder: Es ist so viel – ich fühle mich ausgelaugt und überfordert.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 49


Erziehung & Schule

Immer mehr Mädchen und Buben in der Schweiz wachsen mehrsprachig auf. Sprachwissenschaftlern zufolge wirkt sich dies positiv auf die kognitive Entwicklung des jeweiligen Kindes aus. Vorausgesetzt, der Spracherwerb erfolgt kindgerecht und nach gewissen Regeln. Text: Jacqueline Esslinger

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August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bild: Fotolia

Grüezi, bonjour, bongiorno!


Kinder lernen schnell und mit hoher Motivation die Umgebungssprache, um Freunde zu finden.

N

athalie hat eine Deutschschweizer Mutter und einen französischsprachigen Vater aus der Romandie. In der Schweiz aufgewachsen, lernte sie sowohl Schweizerdeutsch als auch Französisch und spricht heute beides gleichermassen. Davon profitiere sie sehr, sagt die heute 24-Jährige, da sie ohne Sprachbarrieren leicht neue Freundschaften knüpfen könne. Zurzeit lässt sich Nathalie zur Lehrerin für die Sekundarstufe ausbilden. Sie möchte in Zukunft Deutsch, Englisch und Französisch als Fremdsprache unterrichten. Ihre zweisprachig ausgerichtete Erziehung be­­­einflusste auch ihre spätere Be­­ rufswahl: «Mein Interesse für Sprachen wurde so geweckt. Ich konnte nicht nur Deutsch und Französisch ohne Mühe in frühster Kindheit lernen, es fiel mir auch leichter, meine zusätzlichen Sprachen, Englisch und Italienisch, zu lernen.» Laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2015 sind fast 20 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz zweisprachig. Weitere 4 Prozent geben an, mehr als zwei Hauptsprachen zu beherrschen. Dies beinhaltet die Kompetenz, zwei oder mehr Schweizer Landessprachen als Hauptsprachen (fast) gleichwertig zu sprechen. Am häufigsten ist dabei die Kombination Deutsch/Französisch (10 Prozent) und Deutsch/ Italienisch (10 Prozent), gefolgt von Französisch/Italienisch (6 Prozent). Rätoromanisch als Muttersprache geht meistens einher mit dem flies­ senden Beherrschen von Deutsch

oder Italienisch oder beidem. Mehrsprachigkeit beinhaltet jedoch ebenso, neben einer der vier Landessprachen eine andere Muttersprache zu sprechen. Zu den meistgenannten zählen hier: Englisch, Portugiesisch, Albanisch, Serbisch, Kroatisch und Spanisch. Betrachtet man sowohl die Zeit zu Hause als auch jene am Arbeitsplatz, so sprechen 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung alltäglich zwei oder mehr Sprachen. Immer mehr junge Schweizer sind mehrsprachig

Bei der jüngeren Schweizer Wohnbevölkerung (15–24 Jahre) lebt über ein Drittel im Alltag mehrsprachig. Rund 12 Prozent sprechen sogar drei Sprachen und mehr – Tendenz steigend. So wachsen in der Schweiz immer mehr Kinder wie Nathalie mehrsprachig auf. Durch die Zunahme von interkulturellen Paarkon­ stellationen ergeben sich auch öfter mehrsprachige Eltern. Der häufigste Grund sind Wohnortswechsel. Bei Zuzügen aus dem Ausland kommt oft eine andere Herkunftssprache mit einer Schweizer Landessprache zusammen, oder bei einem Kantonswechsel kann es zu einer neuen Umgebungssprache kommen. Zieht ein französischsprachiges Paar mit Kindern nach Zürich, sprechen die Kinder zum Beispiel zu Hause Französisch, jedoch in der Schule Deutsch. Vielleicht gehen die Kinder aber auch in eine französischsprachige Schule, damit die Herkunftssprache neben der Umgebungssprache besser gefestigt werden kann. Generell lernen Kinder die Umgebungssprache schnell und mit hoher Motivation, um Freunde zu

finden und sich mit der Umwelt verständigen zu können. Im Einzelfall kann es jedoch zu ausserordentlich komplexen Konstellationen kommen: Eine Deutschschweizerin spricht Hochdeutsch mit ihrem Partner, welcher aus der Romandie stammt. Nun ziehen sie mit ihrem zweijährigen Sohn nach Norwegen. Das Kind wäre dadurch mit Hochdeutsch, Schweizerdeutsch, Französisch, Norwegisch und – wie oft in skandinavischen Ländern – mit Englisch konfrontiert. Welche Sprachen soll das Kind nun lernen und wie kann dies geschehen? Eine Person – eine Sprache

Auch bei weniger komplexen Sprachkonstellationen ist es lohnenswert, sich Gedanken über die Spracherziehung der Kinder zu machen. Eltern können beispielsweise gemeinsam überlegen, welche Sprachen sie weitergeben möchten und wie sie dies gestalten. Dafür gibt es scheinbar unendlich viele Kon­ stellationen und Modelle. Das populärste und erfolgversprechendste lautet «Eine Person – eine Sprache»; das bedeutet, dass das Kind mit einer Person immer dieselbe Sprache spricht und mit einer anderen Person eine andere Sprache. Die betreffende Person muss kein Elternteil sein, es kann sich dabei genauso gut um Betreuungspersonen, Lehrpersonen oder Grosseltern handeln. Das Konzept «Eine Person – eine Sprache» wurde bereits vielfach in der Praxis getestet und soll das Risiko verringern, dass Kinder Sprachen vermischen. Auch bei Nathalie wurde diese Regel umgesetzt. Die Mutter >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 51


Erziehung & Schule

>>> sprach mit ihr und ihren Geschwistern konsequent Schweizerdeutsch, der Vater hingegen Französisch. Untereinander sprachen die Eltern Französisch, und die Umgebungssprache war – bis auf ein Schuljahr – für Nathalie auch Französisch. Trotzdem erinnert sich Na­thalie nicht, dass ihre Mutter je von ihrer Regel abgewichen wäre. Autoren und Autorinnen wie Elke Montanari raten zur Einhaltung dieser Regel, auch bei Schwierigkeiten. Sie beschreibt, wie die Tochter einer italienischen Mutter es peinlich fand, dass die Mutter mit ihr in der (deutschsprachigen) Öffentlichkeit ausnahmslos Italienisch sprach. Sie wollte so sein wie alle anderen und wünschte sich, dass auch ihre Mutter dieselbe Sprache wie ihre Umgebung sprechen würde. Heute ist die Tochter jedoch froh über ihre zweisprachige Erziehung. Die Freude am Kommunizieren

Manchmal braucht es eine gewisse Gelassenheit, wenn das Kind sich weigert und eine Sprache nicht (mehr) sprechen möchte. Montanari schlägt für solche Situationen vor, spielerisch so zu tun, als verstehe man das Kind nicht in der anderen Sprache. Oder den Satz in der anderen Sprache «durchgehen zu lassen» (vor allem bei Kleinkindern), diesen aber in der eigenen Sprache zu wiederholen (siehe Buchtipp). Am Ende gelingt mehrsprachige Erziehung auch ohne das Modell «Eine Person – eine Sprache». Laut Forschungsergebnissen sind die Chancen jedoch höher, dass ein Kind eine Sprache beibehält und auf

Je mehr Sie mit ihrem Kind zusammen sind, desto intensiver kann der sprachliche Austausch gestaltet werden. 52

einem guten Niveau beherrscht. In manchen Familien braucht es auch eine gewisse Flexibilität und individuelle Lösungen: etwa bei häufigerer Abwesenheit einer der sprachprägenden Personen oder wenn ein Familienmitglied die Sprache nicht versteht und sich ausgeschlossen fühlt. Das Wichtigste bleibt aber die Freude am Kommunizieren! Reden wir viel mit unserem Kind? Oder sind wir zu viel unterwegs und das Kind spricht in unserer Abwesenheit (z. B. mit der Tagesmutter oder der Babysitterin) eine andere Sprache? Je mehr Sie mit Ihrem Kind zusammen sind und unternehmen, desto intensiver kann auch der sprachliche Austausch gestaltet werden. Muttersprachler verfügen über einen grösseren Wortschatz

Verliert mein Kind in der globalisierten Welt den Anschluss, wenn es nicht mehrsprachig aufwächst? Wenn die Umgebung Mehrsprachigkeit ermöglicht, ist es in jedem Fall zu empfehlen, diese Chancen auch zu nutzen – vorausgesetzt, es erfolgt nach gewissen Regeln und kindgerecht. Ein Kind soll ohne Druck und Überforderung verschiedene Sprachen mit Freude lernen dürfen. Lange war man überzeugt, eine mehrsprachige Erziehung überfordere Kinder und führe zu Defiziten in Spracherwerb und Entwicklung. Diese Meinung ist jedoch seit den 1970er-Jahren überholt: Kinder können gut zwei oder mehr Sprachen von Geburt an lernen, gewisse Studien deuten sogar auf einen kognitiven Vorteil mehrsprachiger Kinder im Schulalter hin. Wenn zwei Elternteile unterschiedliche Muttersprachen sprechen oder eine Familie umzieht und dadurch eine neue Umgebungssprache hinzukommt, dann bietet es sich an, diese Ressourcen weiterzugeben und zu verankern. Einem Kind eine Sprache beizubringen, die man selbst nicht perfekt

beherrscht, ist hingegen umstritten. Von grosser Bedeutung für einen fundierten und korrekten Sprach­ erwerb ist nämlich die Möglichkeit, die Sprache auch richtig hören zu können. Wenn Eltern sich in einer Fremdsprache abmühen, lernen Kinder vor allem eins: die grammatikalischen Fehler der Eltern. Muttersprachler verfügen über einen grösseren Wortschatz und verwenden verschiedene grammatikalische Zeiten müheloser. Für die Weiter­ gabe einer Sprache benötigt es deshalb nicht nur Konsistenz (Beständigkeit, wie die Mehrsprachigkeit umgesetzt wird), sondern auch Kompetenz. Eine Sprache sollte (fast) auf Muttersprachniveau be­­ herrscht werden, bevor man sich dazu entscheidet, diese auch dem Kind beizubringen. Kein Kind wird heutzutage an den häufigsten und wichtigsten Sprachen vorbeikommen. Dies kann man getrost Fachlehrpersonen überlassen, welche dazu ausgebildet wurden, Kindern eine neue Sprache mit Grammatik und Wortlaut kompetent und altersgerecht zu vermitteln. Als Familienmitglied kann man dies allerdings unterstützen. Kinder spielerisch an andere Sprachen heranzuführen, erleichtert den Zugang und weckt das Interesse für eine Sprache. Natürlich kann man einem Kind Farben, Zahlen oder Bezeichnungen

Buchtipp Elke Montanari: Mit zwei Sprachen gross werden: mehrsprachige Erziehung in Familie, Kindergarten und Schule. Kösel-Verlag, 2002, ca. Fr. 25.–

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Die Sprache des Ferienlandes

Nicht nur Medien in einer anderen Sprache sind interessant, sondern auch Besuche der entsprechenden Regionen. Ein Kind, welches sich jedes Jahr auf die Ferien in Italien oder im Tessin freut, wird mit höherer Motivation lernen, wie man auf Italienisch ein Glace bestellt und wie es mit anderen Kindern kommunizieren kann. Für Eltern mit einer Herkunftssprache, welche nicht Umgebungssprache ist, gibt es in manchen Regionen spezielle Spielgruppen für Kinder. Dort hören und

sprechen nicht nur die Kinder die entsprechende Sprache, sondern auch den Eltern wird die Gelegenheit geboten, sich in ihrer Muttersprache auszutauschen. Besteht ein (positiver) Bezug zur Sprache, ist ein guter Grundstein gelegt. Eltern sollten Fremdsprachen und deren Erwerb nicht abwerten («Bei uns in der Familie kann eh niemand Französisch, das brauchst du nie!»), sondern Kinder dazu ermutigen, neue Sprachen zu lernen («Du kannst ja schon fast besser Englisch als ich!»). Dies fördert die kognitiven Fähigkeiten der Kinder, das leichtere Aneignen weiterer Sprachen und ermöglicht so nicht nur künftige Vorteile in der Berufswelt, sondern auch Freundschaften über geografische Grenzen hinweg. >>>

für Tiere in einer anderen Sprache beibringen, auch ohne Muttersprachler(in) zu sein. Ergänzend eignen sich Bücher, Spiele, Filme in der Fremdsprache, um den Erwerb zu fördern.

Eine Sprache sollte (fast) auf Muttersprachniveau beherrscht werden, bevor man diese auch dem Kind beibringt.

Jacqueline Esslinger ist Psychologin und Doktorandin am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg.

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 53


Erziehung & Schule

Die Wünsche einer Lehrerin an die Eltern ihrer Erstklasskinder Unsere Autorin hat nach den Sommerferien eine erste Klasse übernommen. Als Lehrerin mit fast 30 Jahren Erfahrung hat sie klare Erwartungen an die Eltern ihrer Erstklasskinder. Diese gelten im Grundsatz für die Eltern aller Kinder, bis hin zur Oberstufe. Eine Wunschliste! Text: Marion Heidelberger

«Schulerfolg hat viel mit der Kooperation zwischen Elternhaus und Schule zu tun.» Marion Heidelberger ist Vizepräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) und Pädagogin mit Herzblut.

Für mich ist auch nach fast 30 Berufsjahren die Übernahme einer neuen Klasse ein Abenteuer geblie­ ben. So wie Kinder und vor allem Eltern Wünsche an mich haben, so habe ich einige an sie. Schulerfolg hat sehr viel mit der Kooperation zwischen Elternhaus und Schule zu tun. Ein Am-gleichen-Strick-Ziehen bietet die Grundlage, dass das Kind sich in der Schule wohl fühlt und sein ganzes Potenzial entfalten kann. Meine Wunschliste an die Eltern meiner neuen Erstklasskinder (die Wünsche gelten aber – leicht ange­ passt – auch für Eltern von älteren Kindern): Sorgen Sie für genügend Schlaf des Kindes

W

enn Sie diese Zeilen lesen, haben meine neuen Erst­ klasskinder die erste Schulwoche schon hinter sich. Ich habe mich sehr auf die Buben und Mädchen mit ihren viel zu gros­ sen Theks am Rücken gefreut. Ob ich allen gerecht werden kann? Ob mein Unterricht für alle passt? Ob mich die Schülerinnen und Schüler mögen? Ob ich mit allen Eltern klarkomme? Wie wohl die einzelnen Erwartungen und Wünsche sind?

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• Genügend Schlaf erhöht die Leis­ tungsfähigkeit. • Ihr Kind sollte auf jegliche Bild­ schirmnutzung ab 90 Minuten vor dem Zubettgehen verzichten. Achten Sie auf eine ausgewogene Ernährung

• Mit leerem Bauch lernt es sich schlecht. Achten Sie darauf, dass Ihr Kind sich am Morgen und während des Tages gesund und ausgewogen ernährt. Lassen Sie Ihr Kind den Schulweg alleine gehen

• Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind jeweils früh genug aus dem Haus kommt. Auf dem Schulweg pas­ sieren die wirklich wichtigen Din­

ge. Nirgends können Freund­ schaften besser gepflegt werden. Zudem verhindern Sie, dass Ihr Kind rennen muss und so den Verkehr zu wenig beachtet. • Seien Sie Vorbild, das ist die beste Verkehrserziehung. • Kinder lieben Schnee und Regen, es ist auch an garstigen Tagen nicht nötig, Ihr Kind mit dem Auto zur Schule zu fahren. Unterstützen Sie Ihr Kind dabei, Dinge selbst zu tun

• Das ist der wichtigste Grundsatz überhaupt. Nicht Sie packen Ihrem Kind den Turnsack und räumen ihm sein Zimmer auf – das soll es selbst erledigen. • Machen Sie einen Ämtliplan für einfache Arbeiten zu Hause (Tisch decken oder abräumen, Haustier füttern, Blumen giessen, Zimmer aufräumen). So trainieren Sie mit Ihrem Kind jeden Tag Selbstän­ digkeit, Pflichtbewusstsein und Eigenverantwortung, drei wichti­ ge Faktoren für Schulerfolg. • Übernehmen Sie nicht die Haus­ aufgaben für Ihr Kind! Sie sollten Sie auch nicht korrigieren, das ist mein Job. Aber Sie dürfen Ihr Kind ruhig fragen, was es zu tun hat und ob es die Aufgaben erle­ digt hat. Setzen Sie Regeln und Grenzen

• Lehren Sie Ihr Kind, Regeln zu respektieren. Kinder brauchen Grenzen und Leitlinien. Am bes­

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ten geht das, wenn es auch zu Hause ein paar Regeln gibt. Lieber nicht zu viele, dafür werden die wenigen konsequent durchge­ setzt. So helfen Sie Ihrem Kind, sich in einer Gruppe zu integrie­ ren. • Eine gute Sozialkompetenz ist eine Eigenschaft, die auch in einer Berufslehre einen hohen Stellen­ wert hat. Je früher ein Kind dies lernt, desto einfacher ist es. Dazu gehört auch, Sanktionen für das Nichtbefolgen von Regeln zu akzeptieren. Zeigen Sie Interesse an der Schule

• Fragen Sie bei Ihrem Kind nach, was es beschäftigt, was es in der Schule erlebt hat und was es gera­ de lernt. • Durch aktives Zuhören zeigen Sie Ihrem Kind, dass für Sie Schule wichtig ist. Bei diesem Nachfra­

gen werden Sie auch merken, wenn etwas nicht in Ordnung ist oder es Konflikte gibt. Vertrauen Sie auf Ihre Fähigkeiten und die Ihres Kindes

• Haben Sie eine positive Haltung der Schule und der Lehrperson gegenüber. Denn alle haben ein gemeinsames Ziel: das Beste für Ihr Kind. • Vertrauen Sie auf Ihre Erziehung und die Fähigkeiten Ihres Kindes. Das macht Ihr Kind stark. So unterstützen Sie Ihr Kind am bes­ ten und tragen damit viel zum Schulerfolg bei. Suchen Sie das Gespräch

• Zögern Sie nicht, die Lehrperson zu informieren, wenn sich zu Hause Veränderungen ergeben (Erwerbslosigkeit, Trennung, Ge­­ burt eines Geschwisters, Krank­

Vertrauen Sie auf Ihre Erziehung und die Fähigkeiten Ihres Kindes.

heit, Todesfall, Umzug, ein neues Haustier). • Fragen Sie unbedingt nach, wenn Sie etwas nicht verstehen oder Sie das Gefühl haben, Ihr Kind fühle sich nicht wohl. Dann kann man gemeinsam eine Lösung suchen. Oft genug sind es Missverständ­ nisse, die schnell geklärt werden können. • Eine gute Gesprächskultur zwi­ schen Schule und Elternhaus ist das A und O des Schulerfolges Ihres Kindes.

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Stiftung Elternsein

Böse Fette

Ellen Ringier über die Sorge, dass dereinst eine Lebensmittelpolizei den Inhalt unseres Kühlschranks kontrolliert.

Bild: Maurice Haas / 13 Photo

Dr. Ellen Ringier präsidiert die Stiftung Elternsein. Sie ist Mutter zweier Töchter.

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Als ich noch Kind war, also in den 50er-Jahren, mischten die Wasserwerke in Luzern dem Trinkwasser – so sagte man damals – Fluor bei. Damit wollte man die damals mehrheitlich miserable Zahnqualität in vielen Teilen der Bevölkerung verbessern und schon bei jungen Menschen vorbeugen. Ich erinnere mich, dass ich das als absolut übergriffig empfand, schliesslich gab uns meine Mutter doch morgens neben Lebertran auch Fluorpastillen zum Frühstück! Aus mir heute noch unbekanntem Grund fürchtete ich, dass meine Knochen infolge des vielen Fluors zu hart und brüchig werden würden … Wer mag mir wohl so eine Idee in den Kopf gesetzt haben? 50 Jahre später stelle ich fest: Meine Zähne sind gut, meine Knochen nicht brüchig, die von der Obrigkeit verordnete Massnahme war wohl zielführend. Dennoch stelle ich mir die Frage, ob Gesundheitspolitiker und -beamte in mein Leben bzw. in meine Gesundheit eingreifen dürfen, ohne dass ich sie dazu legitimiert habe. Lassen wir hier die Beschränkungen von Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum, medizinisch indizierte Beschränkungen von Nahrungsmitteln und dergleichen beiseite. Derzeit ist, wie das aktuelle Beispiel Deutschland zeigt, die Rede von Zucker, Salz und Fett, also von ganz alltäglichen Lebensmitteln. Der deutsche Ernährungsminister Christian Schmidt will «die Hersteller von Fertigwaren dazu bringen, weniger Salz, Zucker und Fett in ihren Produkten zu verwenden». Und das soll erst der Anfang einer nationalen Strategie sein, die die Lebensmittel gesünder machen möchte. Auch die EU bleibt nicht untätig: Bald soll es eine Obergrenze für die bösen Transfette in Pommes-Chips, Fertigprodukten und dergleichen geben. Damit und mit der bereits bestehenden Lebensmittel-Kennzeichnungspflicht sowie mit Aufklärung und weiteren Programmen will man Herz-Kreislauf-Krankheiten bekämpfen. Und verhindern, dass die Menschen immer dicker werden. Ich verstehe zwar, dass und auch warum die Obrigkeit sich Sorgen um die oft mehr als ungesunden Ernäh-

rungsgewohnheiten ihrer Bürger und die Folgen macht. Doch macht mir die Vorstellung Mühe, dass der Staat die Zusammensetzung meines Kühlschrankinhalts kennen und beeinflussen will! Und auf ungesunde Lebensmittel womöglich eine Strafsteuer erheben möchte. Wird es dereinst eine Lebensmittelpolizei geben, die das Gastgewerbe auf strafbare kalorienreiche Menüs auf der Speisekarte überprüft? Oder wird sich ein Beamter hinter mich stellen, wenn es danach aussieht, als wollte ich auch noch ein Dessert bestellen: «Frau Ringier, Sie sind bereits übergewichtig, lassen Sie auf der Stelle die Finger von Süssspeisen!» Wie sich der Mensch ernährt, hat wesentlich mit dem für Lebensmittel zur Verfügung stehenden Budget, aber auch mit Zeitmangel und mit dem Mangel an Wissen um die Schädlichkeit gewisser Lebensmittel zu tun. Darum soll neben der Kennzeichnungspflicht vor allem auch die Aufklärung über die Auswirkungen einer ungesunden Lebensweise, zu der neben ungesunder Ernährung auch Bewegungsmangel gehört, forciert werden. Wenn die Hälfte der Bevölkerung regelmässig zu Pizzas und Fertiggerichten greift, so beeinflusst das zweifellos das Ernährungsverhalten von Kindern massgeblich, weshalb Aufklärung schon in Kitas und Kindergärten angesagt ist. Am erfolgversprechendsten wäre jedoch eine Initiative der Wirtschaft zur Reduktion von Zucker, Fett und Salz in den Fertigprodukten. Zum Jahresende 2016 hat Nestlé jedenfalls angekündigt, seine Rezepturen in Bezug auf die verwendete Zuckermenge zu überprüfen. Leider schmeckt mir die kalorienarme dunkle Schokolade ganz und gar nicht!

STIFTUNG ELTERNSEIN «Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten, Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschs­prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Leserbriefe

t» te r e tw n e n e rd e w r e tt ü M «Die «Danke für den Schnuppertag»

In guten Händen

«Gute Erfahrungen»

Dossier

Sehr geehrter Herr Niethammer

In der Schweiz leben rund 15 000 Kinder in Pflegefamilien und Heimen. Wer sind Warum wachsen sie nicht bei Vater sie? auf? Und wie und Mutter fühlt sich das an: Eltern auf Eine Spurensu Zeit? che.

(Dossier «Pflegefamilien», Heft 6–7/2017)

Text: Bettina Leinenbach

Bilder: Gabi Vogt

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Wir haben gute Erfahrungen gesammelt und besonders oft positive Echos bekommen auf die Fotos von uns auf der Titelseite und im Heft zum Thema Pflegefamilien. Einfach nochmals ein DANKE an alle Verantwortlichen des ElternMagazins. 10

Juni/Juli 2017

Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi

Das Schweizer ElternMagazin

Fritz+Fränzi

Juni/Juli 2017

Vielen Dank nochmals für den tollen Schnuppertag, den meine Tochter Sarah vor zwei Jahren bei Ihnen erleben durfte. Sie blieb diesem Weg treu und freut sich nun sehr, dass sie zur Chefredaktorin der Schülerzeitung in ihrer Kantonsschule gewählt wurde. Wer weiss, vielleicht erhalten Sie in ein paar Jahren eine Bewerbung einer motivierten jungen Journalistin.

Weil sich ihr Sohn nach der Scheidung nicht um seine Tochter kümmern konnte, nahmen Ines und Edi Schmid ihr Enkelkind Siriwan in Pflege.

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Freundliche Grüsse Martina Bocek (per Mail)

Lilly Kahler, Roger Gyger, Shana und Fatima Walser (per Mail) Dossier

Dossier

Schreiben Sie uns!

bis he. Das glaubten aftler. Kinder sind Frauensac die meisten Wissensch zusehends vor Kurzem auch Jahren geraten sind Doch seit einigen Forscher. Väter den Fokus der ng die Männer in die Entwicklu wichtiger für offenbar viel vermutet. als lange Zeit eines Kindes Text: Jochen Metzger r / 13 Photo und Fabian Unternaehre

Bilder: Johan Bävman

«Warum werden die Väter verherrlicht?»

Väter 11

Bävman Bilder: Johan

(Dossier «Väter», Heft 5/2017)

Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich

ElternMagazin Das Schweizer

Fritz+Fränzi

Mai 2017

Ihr Beitrag zu den «Vätern» hat bei mir das Fass zum Überlaufen gebracht. Es kommt mir vor, als wären Väter das einzige Thema in den Medien! Woher kommt die Verherrlichung der Väter? Die Kernaussage des Artikels ist doch «Glückliche Paare haben glückliche Kinder». Und das ist ja eigentlich – auch wenn hier jede Menge Forschung bemüht wird – die trivialste und selbstverständlichste Aussage der Welt. Eine vollkommen intuitive Wahrheit, die wohl jeder mehr oder weniger anhand der eigenen Biografie bestätigen kann. Und obendrein eben eine sehr, sehr wichtige Wahrheit, welche es auch verdienen würde, korrekt dargestellt zu werden. Warum werden überall nur Väter abgebildet, während es wesentlich angemessener wäre, Eltern darzustellen, die liebevoll miteinander und mit den Kindern umgehen und sich gegenseitig in ihren unterschiedlichen Rollen respektieren und unterstützen? Es wird hier ein Kampf der Geschlechter geführt, obwohl es exakt darum gehen würde, sich auf die unterschiedlichen und sich ergänzenden Rollen von Vater und Mutter zu besinnen und auf die Wichtigkeit, als Paar zusammenzuhalten! Aktuell werden Mütter vollkommen entwertet. Dies ist kontraproduktiv. Mütter haben tatsächlich eine sehr wichtige Funktion für ihre Kinder. Eine andere als die Väter. Und das Kind braucht beide. Yvonne Kleinlogel (per Mail)

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017

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Erziehung & Schule

MEIN STOTTERN UND ICH Etwa 80 000 Menschen hierzulande stottern, oft so schwer, dass ihr Alltag leidet – und manchmal ihre Lebensplanung. Die Autorin Vivian Pasquet kämpft, seit sie fünf Jahre alt ist, gegen den drohenden Bruch in ihrem Redefluss. Hier erzählt sie ihre Geschichte. Text: Vivian Pasquet Bilder: Olaf Blecker

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wischen Tütensuppen und Trockenobst fasse ich Mut. Fast eine halbe Stunde bin ich durch den Supermarkt gelaufen. An allen Regalen mehrfach entlang, selbst bei Küchenrollen und Klopapier habe ich nachgeschaut. Mit einer Frage im Kopf, die ich mich nicht zu stellen traute. Schliesslich spreche ich eine Verkäuferin an. «Entschuldigung», sage ich und atme tief ein. «Wo finde ich die D-d-d …»

Das Wort steckt fest, zwischen vorderem Gaumen und Zungenspitze. Ich beginne zu schwitzen. Ich bin zum Abendessen eingeladen und habe versprochen, Datteln im Speckmantel vorzubereiten. Jetzt verfluche ich mich dafür. Warum habe ich nicht Hummus vorgeschlagen, Salat oder Wackelpudding? Egal was, Hauptsache nichts, das mit einem D anfängt und mehr als eine Silbe hat. Ich schliesse die Augen und presse die Zunge gegen den Gaumen.

«Die D-d-d-d … – Äpfel?» Die Mitarbeiterin führt mich zur Obstauslage, ich fülle eine Tüte mit Äpfeln, die ich nicht brauche. Als ich auf die Strasse trete, fühle ich mich wie eine Versagerin. ZWEI TAGE ZUVOR habe ich Ingrid Del Ferro angerufen. Als ich 16 Jahre alt war, hat die Sprechtrainerin mich aus meiner schlimmsten Stotterzeit befreit. In der Grundschule hatte ich in einem Theaterstück anderthalb Stunden am Bühnenrand gekauert und einen >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 59


Erziehung & Schule

>>> Stein gespielt – weil es die einzige Rolle ohne Text war. Im Gymnasium hatten mich die Lehrer kurz vor dem Pausenklingeln nicht mehr aufgerufen, weil ich für meine Antworten viel zu lange brauchte. In meinen Frankreichferien sollte ich zwei Baguettes kaufen und kam mit acht Stück zurück, der einzigen Zahl, die ich in der Bäckerei über die Lippen brachte. Jetzt, mit 32, erzähle ich Ingrid Del Ferro, dass ich dank des Sprachkurses in ihrem Institut als Journalistin arbeite; dass ich problemlos telefonieren und Interviews führen kann. Ich fühle Stolz. Von meinen Schwierigkeiten erzähle ich nichts. Stattdessen frage ich Ingrid Del Ferro, was aus den anderen Teilnehmern meines Kurses geworden ist. Sie erzählt von Anja, jahrelang stotterf­rei, doch jetzt: Rückfall. Sie wird den Kurs erneut besuchen, nach 16 Jahren. Anja war mir so entschlossen vorgekommen. Eine junge Frau, damals 26 Jahre alt, die als Köchin arbeitete, weil sie am Herd nicht sprechen musste. Die an einem der Kurstage vor Glück weinte, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben flies­­send erzählen konnte, wer sie war und wo sie herkam. Plötzlich fragt mich Ingrid Del Ferro: «Kann es sein, dass Sie selbst auch noch Probleme mit dem Sprechen haben?» «Warum?» «Sie setzen Pausen an Stellen, an denen keine sein sollten. Ich höre die vernuschelten Buchstaben. Die abgebrochenen Sätze, die halb beendeten Wörter. Sie sprechen nicht wirklich flüssig. Sie tricksen.» ETWA 16 000 WÖRTER spricht ein Mensch durchschnittlich am Tag, 99 Prozent der Erwachsenen gelingt das flüssig. Aber rund 800 000 Menschen in Deutschland (80 000 in der Schweiz) stottern. Nicht weil sie sich «verhaspeln» oder aufgeregt sind. Stotternde wis60

sen sehr genau, was sie sagen möchten. Doch es gelingt ihnen nicht. Was macht diese Unfähigkeit mit der Sprache eines Menschen? Die meisten Stotterer dehnen Laute endlos in die Länge oder wiederholen sie. Bei anderen blockiert die Sprache, manchmal mitten im Wort. Einige sprechen vollkommen flüssig, aber stopfen ihre Sätze mit «Ähs» und «Hms» voll, um sie voranzutreiben. Andere wiederholen ganze Wörter immer wieder, wie kaputte Schallplatten. All diese Stottertypen haben eines gemeinsam: Sie werden von ihrem Stottern nicht überrascht.

Noch ehe sie an einem Wort hängen bleiben, spüren sie, was ihnen bevorsteht. Nicht als Vorahnung, sondern als tiefe Gewissheit. Als nähere sich in der Nacht ein Auto mit aufgeblendetem Fernlicht. Man weiss, man wird geblendet, aber dieses Wissen ändert nichts. Sobald der Lichtstrahl die Augen trifft, kneift man sie zusammen. Es gibt nur eine Lösung: ganz woanders hinschauen. So machen es auch viele Stotternde: Sie sprechen in eine ganz andere Richtung. Sie vermeiden das Unaussprechbare. Sie sind virtuos darin, ein Wort durch andere Begriffe mit

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Stotternde Menschen sind virtuos darin, ein Wort durch andere Wörter mit gleicher Bedeutung zu ersetzen. gleicher Bedeutung zu ersetzen, Sätze während des Sprechens umzustellen, Buchstaben hinzuzuerfinden oder einfach wegzulassen. Die Wissenschaft nennt das «covert stuttering», verstecktes Stottern. Viele Stotternde sind darin Meister. Manche so sehr, dass ihre Umwelt sie nicht mehr als Stotternde wahrnimmt. Menschen wie ich. JA, ICH TRICKSE!, wollte ich Ingrid Del Ferro am Telefon entgegenrufen. Ich mache das schon mein ganzes Leben, und heute besser denn je. Meine Kollegen bemerken es nicht, wenn ich in einer Themenkonferenz «Kind mit Trisomie 21» statt «Downsyndrom» sage. Englische Interviewpartner sehen nicht, wie ich während eines Telefonats in einem Wörterbuch nach Synonymen für unaussprechbare Begriffe suche. Niemand weiss, dass ich beim Bäcker keine belegten Brötchen kaufe, weil ich nicht fragen kann, ob sie mit Mayonnaise bestrichen sind. Die ich auch deswegen nicht mag, weil sie mit M beginnt und zusätzlich ein Y in der Mitte trägt. Was Sie heute bei mir hören, Frau Del Ferro, wollte ich ihr zurufen, ist das Ergebnis Ihrer Therapie, ergänzt mit einer lebenslang perfektionierten Vermeidungsstrategie! Ich möchte, dass Sie meine Leistung anerkennen, anstatt mich nur darauf hinzuweisen, dass der Mangel immer noch hörbar ist! Aber natürlich war ich zum Pöbeln zu feige und schwieg. Ingrid Del Ferro fragte in die Stille hinein: «Was würden Sie davon halten, wenn auch Sie noch einmal einen Kurs bei mir belegen?»

DAS STOTTERN ist mein Lebensbegleiter. Meine früheste Erinnerung: Ich war fünf Jahre alt, als das H nicht mehr funktionierte. Also hörte ich auf, davon zu sprechen, dass ich mir einen Hund wünschte. Als das F zu haken begann, trank ich im Kindergarten keinen Früchtetee mehr. Als das J verschwand, wurde ich einmal zum Einzelkind; ich hatte auf die Frage einer Nachbarin, ob ich Geschwister habe, mit Nein statt mit Ja geantwortet. Mit jedem Buchstaben, der auf der Liste des Unaussprechbaren hinzukam, verlor ich Selbstverständlichkeiten: Dinge, die mir wichtig erschienen, Momente, Gelegenheiten. Und eine Zeit lang sogar ein Stück meines Selbst, weil mir das V abhandengekommen war. Ein Blick in die Autorenzeile dieses Textes genügt, um zu begreifen, weshalb ich mich im Alter von neun Jahren nur noch mit Nachnamen vorstellte. Doch irgendwann musste ich laut vor der Klasse vorlesen; und als alle Mitschüler den Schulbuchtext vor Augen hatten, konnte ich nicht einfach Sätze umbauen. Irgendwann wollte ich einen Witz erzählen und schaffte es nicht, die Worte zu verändern, ohne die Pointe zu verderben. Irgendwann sass ich in den ersten mündlichen Prüfungen, und die richtige Antwort fing mit D an. Oder F. Oder J. Oder B, H, W, M, R. Irgendwann konnte ich die Stotterwörter nicht mehr austauschen. Es wurden einfach zu viele. THERAPIEVERSUCHE, natürlich hat es die gegeben. Ein Logopäde forderte mich auf, absichtlich zu stottern, um mir die Anspannung

beim Sprechen zu nehmen. Ein Hypnotiseur redete mich in Trance. Eine Lehrerin horchte auf, als ich ihr erzählte, dass ich als kleines Mädchen – unbemerkt von meinem schlafenden Vater – fast die ganze Nacht auf dem Boden einer Flugzeugtoilette verbracht hatte; ich hatte die Tür nicht öffnen können und war zu schüchtern zum Klopfen gewesen. Das musste er gewesen sein, der traumatische Moment! Der dieses Sprechmalheur ausgelöst hat! Ein Psychologe suchte stattdessen die Gründe in der Trennung meiner Eltern. Ob mir zu Hause Gewalt angetan worden sei? Wenigstens ein kleines bisschen? Ich weiss nicht, weshalb niemand auf das Offensichtliche kam. Wieso sich meine Mutter Vorwürfe machte, anstatt nachzulesen. Warum sie, wie als Mantra, immer weiter fragte: Hätten wir das verhindern können? Nein, man hätte es nicht verhindern können. Mein Onkel stotterte. Einer meiner Cousins stottert. Stottern, das weiss man sicher aus verhaltensund molekulargenetischen Untersuchungen, ist erblich. Obwohl es nicht das eine «Stottergen» gibt, haben Forscher auf Chromosomen stotternder Menschen etliche Abschnitte gefunden, die mit der Sprechstörung zusammenhängen. 70 bis über 80 Prozent der erwachsenen Stotternden, so schätzen Wissenschaftler, haben ihr Stottern geerbt. Männer sind besonders häufig betroffen, bis zu viermal mehr als Frauen. Unter Kindern ist der Anteil von Stotternden generell höher als bei Erwachsenen, fünf Prozent statt einem. Weshalb sich das Stottern bei einem Teil von ihnen während des Heranwachsens einfach wieder verliert? Ebenfalls erblich. Traumatische Erlebnisse jedenfalls oder Verfehlungen der Eltern scheiden als Grund aus, da sind sich Forscher inzwischen sicher. Ich weiss nicht mehr, wann ich all >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 61


Erziehung & Schule

>>> das las und meiner Mutter davon erzählte. Aber ich erinnere mich an das gute Gefühl als Tochter, sie von ihrer vermeintlichen Schuld zu befreien. WILL DER MENSCH sprechen, müssen Millionen neuronaler Verbindungen im Gehirn die richtigen Signale senden; nur so steuern die Nerven alle Muskeln, die am Sprechen beteiligt sind, in der richtigen Reihenfolge an. Nur so gelingt das Zusammenspiel aus Atem, Kehlkopf, Zunge und Lippen, an dessen Ende ein fliessend gesprochener Satz steht. Schon Mitte der 1970er-Jahre wussten Mediziner, dass Hirnschädigungen diesen Sprachablauf empfindlich stören und zum Stottern führen können, etwa nach einem Unfall oder durch Blutungen (das sogenannte neurogene Stottern). Mitte der 1990er-Jahre trugen bildgebende Verfahren dazu bei, in die Gehirne jener Menschen zu sehen, die scheinbar ohne erkenntlichen Grund als Kind zu stottern begonnen hatten. Dabei offenbarten beispielsweise spezielle computerund magnettomografische Aufnahmen Muster, die man sonst von Schlaganfallpatienten kannte: Die Forscher sahen verminderte oder beschädigte Hirnsubstanz, vor allem im Bereich der Sprachzentren oder in jenen Hirnarealen, die Bewegungen der Gesichts- und Kehlkopfmuskeln koordinieren. Und je mehr ein Mensch stotterte, desto stärker waren diese Veränderungen im Gehirn. Zudem fanden die Mediziner überdurchschnittlich viel Hirnsubstanz in Teilen des Gehirns, die normalerweise eine untergeordnete Rolle beim Sprechen spielen – ein Hinweis darauf, dass sie die Aufgaben geschädigter Hirnareale übernehmen, um deren Ausfall zu kompensieren. Ähnlich wie ein Diabetes, der viele Abläufe im Körper stört, scheint das Stottern die Arbeit unterschiedlichster Bereiche des Gehirns zu beeinträchtigen: der 62

Basalganglien, des Hirnbalkens, der Stirn- oder Schläfenlappen und selbst des limbischen Systems, wo unsere Emotionen verarbeitet werden. Dies könnte erklären, weshalb sogar nur leicht stotternde Menschen oft eine unverhältnismässig grosse Angst vor dem Sprechen haben. Und weshalb ich es vorzog, den Supermarkt mit Äpfeln im Rucksack zu verlassen, anstatt der Verkäuferin weiter etwas vorzustottern. Zwar haben Wissenschaftler die Frage, welche Defekte im Gehirn die Ursache für das Stottern sind und wo das Gehirn nur auf das Stottern reagiert, teilweise beantwortet. Doch noch weiss man nicht genau genug, wie man therapeutisch im Gehirn ansetzen müsste, um das Stottern endgültig zu beenden. ICH WAR 16 JAHRE ALT, als mir Ingrid Del Ferro in Amsterdam ein blaues Büchlein in die Hand drückte. «Reden ist Gold» stand darauf geschrieben. Bis heute steht es in meinem Regal – als Erinnerung daran, wie ich, nach zehn Jahren erfolgloser Therapien, meine Sprache wiederfand. Nie wieder wurde mein Stottern so schlimm wie vor dem Besuch in Amsterdam, nie sprach ich freier als direkt danach. Doch manchmal, in ehrlichen Momenten, frage ich mich, wie lange ich tatsächlich «komplett stotterfrei» war – so wie es das Del Ferro Institut den Hilfesuchenden verspricht. Wann fing ich wieder an, über Wörter zu stolpern? Wann vermied ich schwierige Situationen, nicht aus gewohnter Angst vor dem Stottern, sondern weil es tatsächlich zurückgekehrt war? War es, als ich mich, drei Jahre nach dem Sprachkurs, beim Abitur freiwillig in meinem schlechtesten Fach, in Mathematik, mündlich prüfen liess – nur weil ich dabei stumm an der Tafel rechnen durfte, statt

Unter Kindern ist der Anteil von Stotternden generell höher als bei Erwachsenen, fünf Prozent statt einem. einen Vortrag halten zu müssen? War es, als ich fünf Jahre später die Trauerrede für meinen Grossvater schrieb und mir Synonyme für jedes Stotterwort notierte, nur zur Sicherheit? Oder als ich, längst erwachsen, in der Journalistenschule vorgab, auf die Toilette gehen zu müssen, und dort bis zum Ende einer Lehreinheit im Vorraum stehen blieb – weil wir Texte reihum laut vorlesen sollten? Wann begann es wieder, mich zu stören? Störte es mich überhaupt? Ich kann das nicht beantwor- >>>

«Jugendliche sollen lernen, möglichst souverän mit dem Stottern umzugehen» Um stotternden Menschen zu helfen, verfolgen Experten in der Schweiz einen auf die Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnittenen Ansatz, sagt Wolfgang G. Braun von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Interview: Evelin Hartmann

Herr Braun, wie viele Menschen stottern in der Schweiz? Studien belegen, dass etwa vier bis fünf Prozent der Bevölkerung eine Phase des unflüssigen Sprechens durchlaufen, meist im Vorschulalter. Bei etwa einem Prozent bleiben die Sprechprobleme über die Pubertät hinaus bestehen. Die Autorin des Beitrags «Mein Stottern und ich» ist für eine Therapie in die Niederlande gereist. Wie wird das Stottern in der Regel hierzulande behandelt?

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

Erst einmal: Die im Beitrag erwähnte Del-Ferro-Methode gilt in der Fachwelt als umstritten, da sie sich zu einseitig auf Atemtechnik fokussiert. In der Schweiz wird seit Jahren eine Methodenkombination verfolgt, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert. Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH führt seit Jahren ein Stottercamp für Jugendliche aus dem deutschsprachigen Raum durch. (Vgl. Fritz+Fränzi, September 2015.) Inwiefern findet dort eine Methodenkombination statt? In diesem Therapie-Setting kombinieren wir vor allem zwei Methoden: Der «Nicht-Vermeidungs-Ansatz» soll die Kinder dazu bringen, das Stottern nicht krampfhaft zu umgehen und die Angst davor zu verlieren. Sie erlernen einen selbstbewussten Umgang mit dem Stottern. Zum anderen vermitteln wir eine Sprechtechnik, wie das «chillige Sprechen», bei dem die Jugendlichen gemütlich, mit reduziertem Tempo sowie Pausen sprechen und so das flüssige Sprechen begünstigt wird. Es geht also nicht darum, in dieser Woche ganz stotterfrei zu werden?

Nein. Das können wir nicht versprechen. Kein Therapeut bzw. keine Therapeutin kann das. Stottern zeigt sich als Sprechstörung, die ab dem Jugendalter kaum mehr heilbar ist. Deshalb ändert sich im Teenageralter das Therapieziel: Die Jugendlichen sollen möglichst lernen, souverän mit dem Stottern und Sprechen umzugehen. Was können Eltern tun, die bemerken, dass ihr Kind zu stottern anfängt? 80 Prozent der Kinder machen zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr eine Phase durch, in der sie nicht flüssig sprechen. Bei einem Grossteil von ihnen geben sich diese Schwierigkeiten von alleine. Fordern die Eltern ihr Kind jedoch ständig auf, erst einmal zu überlegen, was sie sagen wollen, machen sie es erst recht auf diese Störung aufmerksam, was dazu führen kann, dass sie sich in einem Stottern manifestiert. Ich rate Eltern daher, möglichst geduldig und entspannt zu bleiben. Dabei ist es doch wichtig, eine Sprechstörung möglichst früh therapieren zu lassen. Das ist richtig. In einer möglichst frühen Therapie bekommen Kinder vom Kleinkind- bis ins

Jugendalter eine gute Chance, souverän mit dem Stottern umzugehen oder Sprechtechniken zu erlernen, die ein Stottern erst gar nicht auftreten lassen. Wir haben an der HfH eine Beratungsplattform erarbeitet, an die sich Eltern wenden können. Dort werden sie online beraten oder zusammen mit ihrem Kind für eine Beratung und Abklärung eingeladen. Trotzdem: Eine Beratung wie auch eine Abklärung sind nicht automatisch der Beginn einer Therapie. Aber sie bieten Eltern Gewissheit. www.hfh.ch > Unser Service > Expertenwissen online> Stotterberatungsstelle

Wolfgang G. Braun ist Logopäde und Dozent an der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, Schwerpunkte: Störungen der Rede, Prävention, Logopädie im Frühbereich und Diagnostik.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 63


>>> ten. Wenn kaum noch jemand merkt, dass man stottert, vergisst man es zeitweise selbst. Brenzlige Situationen werden seltener, Vermeidungsstrategien besser. Doch dann stand, zwei Tage nach dem Anruf bei Ingrid Del Ferro, diese Zahl in meinem Notizbuch: 429. Nach ihrer Frage hatte ich eine Strichliste geführt, um zu prüfen, wie oft ich an einem normalen Wochentag nicht den Satz sage, der mir zuerst in den Kopf kommt, sondern den, den ich stotterfrei sprechen kann. 429 Striche. Nur ein einziges Mal habe ich an jenem Tag ein Wort auszusprechen versucht, obwohl ich wusste, dass es nicht funktionieren würde. In der wahnwitzigen Annahme, dass ich es, wenn ich mich nur genug anstrengen würde, doch noch artikulieren könnte. D-d-d-datteln. DESHALB SITZE ICH schliesslich im Del Ferro Institut in Amsterdam und drücke die Hände links und rechts auf meine Rippen, jeder Satz ein langes Ausatmen. Ich sehe den grünen Dozentenstuhl mit der hölzernen Löwenkopf-Armlehne, der dort bereits vor 16 Jahren stand, die Modelle menschlicher Oberkörper, von denen die Farbe blättert. Neben mir bläst Anja die Backen auf, sie hat sich kaum verändert, schlanker Körperbau, runde Brille, entschlossener Blick. Ich habe sie sofort wiedererkannt. Zur Begrüssung umarmten wir uns schweigend, sie brachte kaum ein Wort heraus. Als wir in die Videokamera sprachen, um unsere Sprache zu analysieren, stotterte sie fürchterlich. Dann weinte sie. ENDE DER 1970ER-JAHRE hat der Opernsänger Leonard Del Ferro die Del-Ferro-Methode entwickelt. Sie ist eine Atemtechnik für das Zwerchfell, jene kuppelförmige Muskel-Sehnen-Platte, die den Brust- vom Bauchraum trennt. Wenn der Mensch einatmet, flacht das Zwerchfell ab, beim Ausatmen wölbt es sich in die Ausgangs64

Der 10-Tages Kurs in Amsterdam kostet knapp 1900 Euro. Dennoch melden sich Hunderte von Menschen jedes Jahr an. position zurück. Durch diese Bewegung strömt Luft aus der Lunge an den Stimmlippen im Kehlkopf vorbei, hin zum gesprochenen Wort. Das Del Ferro Institut geht davon aus, dass Stotternde während des Sprechens unbewusst einatmen, daher das Zwerchfell «flattert» und der Sprechablauf durcheinander-

kommt. Fundierte wissenschaftliche Studien, die eine Effektivität der Behandlung beweisen, stehen aus; der knapp 1900 Euro teure Kurs wird meist nicht von der Krankenkasse bezahlt. Dennoch melden sich seit mehr als 30 Jahren Hunderte von Menschen jährlich in Amsterdam, um August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

die Methode in dem Zehn-TageKurs zu erlernen. Im Wartezimmer: Aktenordner, prall gefüllt mit Dankesschreiben aus aller Welt. Die Del-Ferro-Methode läuft in mehreren Phasen ab. Zunächst lernen wir, unser Zwerchfell durch äusseren Druck auf die Rippen zu kontrollieren, später allein durch eine Konzentrations- und Atemtechnik. Ich blicke ins Leere, presse meine Hand gegen die Rippen. Dann atme ich ruhig ein und aus, ein und aus, und wieder ein. Schliesslich spreche ich, während langsam die Atemluft entweicht. Es dauert fast eine Minute, bis auf diese Weise ein Satz entsteht; langsam und monoton. Und wieder fast eine Minute bis zum nächsten Satz. Ich klinge wie ein Roboter. Und fühle mich wie ein Idiot. Doch nach nicht einmal zwei Stunden im Kurs spricht Anja, die zu Beginn kaum ein Wort herausbekam, flüssig. Auch ich spreche Sätze, die sonst unter meiner Zunge in Stücke brechen. Wie vor 16 Jahren verspricht der Dozent: Wenn ihr die Methode konsequent anwendet, hat sich die Bewegung des Zwerchfells nach einigen Monaten automatisiert. Dann, sagt er, habt ihr das Stottern besiegt. KEINE TELEFONATE, kein Alkohol während der zehn Tage, das sind die Regeln. Im Kursraum ist es verboten, die Heizung aufzudrehen, weil zu viel Wärme die Konzentration stört. Und, das Wichtigste: nicht ein Wort sprechen, ohne die Del-Ferro-Methode anzuwenden. Jeden Nachmittag gehen wir, Anja, drei weitere Teilnehmer und ich, auf die Strasse, ins Alltagsleben. Dort sprechen wir bis spät in den Abend fremde Menschen auf Englisch an, so viele wie möglich. Wir sollen in ganz unterschiedlichen Situationen üben, um sicher zu sein, dass die Flüssigkeit der Sprache nicht von der Tagesform abhängt. Es

gibt Stotternde, die artikulieren im Kursraum fliessend, im Alltag aber nicht. Andere halten in der Schule problemlos Referate, doch schaffen es nicht, einen Kaffee zu bestellen. Ich konnte meiner Chefin stotterfrei von meinem Dattel-Erlebnis erzählen, einer Freundin beim Mittagessen aber nicht. Wäre das Stottern ein Tier, es wäre ein Chamäleon. WIR ÜBEN HART. Wir quälen uns. Blicken ins Leere, sprechen monoton und unerträglich langsam. Fragen Menschen am Bahnhof nach dem Weg, wenn sie in Eile sind. Bestellen unser Abendessen, alle fünf, hintereinander, in Restaurants mit Hochbetrieb. Jeder Satz eine halbe Minute. «Ich bin so glücklich, wieder sprechen zu können», sagt Anja. «Was die Kellnerin wohl von uns denkt», sage ich. Eine Frau im Optikgeschäft droht, die Polizei zu rufen, weil sie sich von unserer Art zu sprechen bedroht fühlt. Ein Passant fragt mich, ob ich medizinische Hilfe benötige. Eine Gruppe Jugendlicher lacht uns aus; dabei schaue ich zu Boden und gebe vor, nur zufällig mit der Gruppe unterwegs zu sein. Am sechsten Tag verstecke ich mich hinter einem Stapel Obstkisten im Supermarkt und rufe einen Freund an. «Ich will nicht mehr», flüstere ich. «Was willst du nicht mehr?» «Ich will mit dieser Sprachtherapie nichts mehr zu tun haben.» Weshalb waren meine 429 Striche kein Anreiz mehr für mich, in Amsterdam konsequent mit der DelFerro-Methode zu sprechen? Warum telefonierte ich trotz Verbots, setzte mich von der Gruppe ab, vermied Kontakt, statt ihn zu suchen? Ich habe ein paar Tage gebraucht, um zwei Gründe zu erkennen. Vor 16 Jahren hatte ich keine Wahl. Ich stotterte oft so stark, dass die Scham beim Sprechen grösser war

als die Scham, die Del-Ferro-Methode anzuwenden. Doch jetzt hatte ich eine Alternative. Meine Vermeidungsstrategien funktionieren gut. Meist finde ich einen Ausweg aus dem Stottern. Ich habe viele Jahre daran gearbeitet, beim Sprechen nicht mehr aufzufallen. Kaum jemand bemerkt heute noch den Kampf, den ich dabei mit den Wörtern ausfechte. In Amsterdam aber fiel ich wieder auf. Die Leute starrten mich an, wenn ich sprach – nicht weil ich stotterte, sondern weil ich die Del-Ferro-Methode benutzte. Weil ich klang wie ein Roboter. Als ich vor dem Kurs die Zahl 429 in meinem Notizbuch gesehen hatte, war sie mir als Makel erschienen, ich wollte ihn beseitigen. Jetzt schien sie mir ein Erfolg zu sein. 429 Striche, das heisst für mich: 429 Mal keine Scham gefühlt. Der zweite Grund für mein Verhalten in Amsterdam wurde mir am vierten Tag bewusst. Ich hatte ihn ignoriert, vielleicht aus Angst, ihn mir einzugestehen. Doch dann sass ich mit Anja in der Lobby unseres Hotels, wir tranken Tee, und sie sagte: «Ich wiederhole diesen Kurs nicht zum ersten Mal. Ich bin mindestens das siebte Mal hier.» «STOTTERN IST im Erwachsenenalter bislang selten heilbar», sagt Katrin Neumann. Zumindest dürfe kein Therapeut eine Heilung versprechen. Die Professorin leitet die Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Bochum. Seit 18 Jahren erforscht sie das Stottern; unter ihrem Vorsitz wurden 2016 Leitlinien für die Diagnose und Behandlung der Sprechstörung entwickelt. Stotterbehandlungen, die auf eine Regulation der Atmung setzen (wie es die Del-Ferro-Methode macht), werden in diesen Leitlinien als «unzureichend wirksam» bezeichnet. Und das, obwohl die Grundidee des Del-Ferro-Ansatzes plausibel ist. Doch beruhen die Erfolge >>>

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 65


Erziehung & Schule

>>> vermutlich nicht auf der Kontrolle des Zwerchfells. Wissenschaftler wie Katrin Neumann gehen stattdessen davon aus, dass veränderte Sprechweisen als «externer Schrittmacher» auf den gestörten Sprechablauf wirken. Denn bei Stotternden scheint die Feinabstimmung von Hören und Sprechen nicht zu gelingen. Zwar hören sie ihre Worte, doch kann ihr Gehirn das Gesagte während des Sprechens nicht richtig verarbeiten. Das bringt die Sprachplanung durcheinander. Wie wichtig es für das Sprechen ist, die eigenen Wörter fehlerfrei wahrzunehmen, zeigt der «LeeEffekt»: Hören Flüssigsprechende über einen Kopfhörer ihre Stimme wenige Zehntelsekunden verzögert, können auch sie nicht mehr flies­ send sprechen. Gibt man hingegen

Vivian Pasquet veröffentlichte als freie Journalistin unter anderem Artikel im SPIEGEL, in der ZEIT, im STERN und in GEO. Seit September 2016 ist sie festangestellte Redaktorin bei GEO.

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Stotternden ihre Stimme verzögert wieder oder spielt ihnen während des Sprechens laute Geräusche oder Musik vor, hören sie mit dem Stottern auf. Auch stottert nicht, wer singt, flüstert, schreit oder im Gleichtakt mit einem Metronom spricht. Sprechen im Chor kann ebenfalls helfen: Als meine Englischlehrerin in der sechsten Klasse den Schulbuchtext gemeinsam mit mir laut vorlas, schaffte auch ich es stotterfrei. Veränderte Sprechweisen scheinen also als eine Art Taktgeber, als Schrittmacher zu wirken und das Gehirn zu überlisten. Doch kein Stotternder schafft es, sein ganzes Leben lang zu singen, zu flüstern oder mit der Del-FerroMethode zu sprechen. Zudem scheint das Gehirn den Bluff früher oder später zu bemerken. Das erklärt, weshalb sich die Sprechflüssigkeit bei manchen Stottertherapien erst stark verbessert – und dann wieder verschlechtert. Es erklärt, weshalb Anja immer wieder nach Amsterdam reist. Und warum mein Stottern zurückkehrte. Ich habe sieben der zwölf Teilnehmer meines damaligen Kurses nach 16 Jahren gefragt, wie es heute mit dem Sprechen klappt. Keiner von ihnen bezeichnet sich als komplett stotterfrei, doch alle sagen, die Del-Ferro-Methode habe ihnen sehr geholfen. Für diesen Artikel hat GEO stotternde Menschen gebeten, sich im Moment des Stotterns fotografieren zu lassen (siehe Box unten: Zu den Bildern). Nicht jeder empfand dabei Scham, so wie ich. Die meisten gehen viel selbstverständlicher und aufrechter mit ihrer Sprechstörung um, als ich es je konnte – auch wenn ihr Stottern hörbarer ist. Einige haben eine viel besser erforschte Therapie als die Del-Ferro-Methode absolviert; stotterfrei sind auch sie nicht. Doch alle haben Strategien für das Sprechen entwickelt.

Solange eine komplette Heilung im Erwachsenenalter noch selten ist, sagen Forscher wie Katrin Neumann, müsse jeder seinen eigenen Weg, seine eigene Sprechkrücke für das Leben mit dem Stottern finden. Als ich Anja drei Monate nach dem Kurs wiedertreffe, spricht sie mit einer vereinfachten Form der Del-Ferro-Methode fliessend. Sollte das Stottern zurückkommen, sagt sie, fahre sie wieder nach Amsterdam. AN EINEM MORGEN im Winter, der Kurs liegt fast ein halbes Jahr zurück, sitze ich mit Freunden auf dem Balkon einer Hütte in den Schweizer Bergen. Wir spielen ein Gesellschaftsspiel, reihum soll jeder eine Spielkarte laut vorlesen. Die Karten sind eng mit Text bedruckt. Ich zögere, dann gebe ich meine Karte einer Freundin. Während sie zu lesen beginnt, blicke ich auf die Berge; lausche dem fliessenden Rhythmus der Sätze, dem stetigen Auf und Ab der Wörter mit all ihren D und J und B und G. Ich spüre kein Bedauern und kein Versagen mehr. Die Sonne scheint. Auf den Gipfeln liegt Schnee. Man muss sich seines Selbstwerts als Mensch bewusst sein, dann spürt man beim Stottern keine Scham mehr. Wenn ich selbstbewusst stottere, fällt es auch meinen Zuhörern leichter. Manchmal beenden sie trotzdem einen Satz für mich. Ich verstehe das; aber auch wenn ich sehr stottere, spreche ich jeden Satz zu Ende. Das bedeutet für mich Selbständigkeit. >>>

Es stottert nicht, wer singt oder flüstert. Doch kein Stotterer schafft es, sein ganzes Leben lang zu singen oder zu flüstern.

Dieser Text ist in GEO erschienen. Ab­druck mit freundlicher Genehmigung.

Zu den Bildern Der Fotograf Olaf Blecker hat stotternde Menschen im verletzlichsten Augenblick ihres Sprechens fotografiert. Wie die Autorin Vivian Pasquet.

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Kolumne

« Was soll ich machen, wenn ich traurig bin?»

W

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Mikael Krogerus ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter ­ und eines Sohnes, lebt in Biel und schreibt regelmässig für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi und andere Schweizer Medien.

as soll ich machen, wenn ich traurig bin?» Die Frage kam etwas unvermittelt, aber meine Tochter hatte sie gestellt, und nun schaute sie mich fragend an. In ihrem Gesicht konnte ich nicht eindeutig erkennen, ob es sich um eine klinische Depression handelte, einen frühen Liebeskum­ mer oder einfach um jene bodenlose Traurigkeit, die uns Menschen in den merkwürdigsten Momenten anfällt wie ein böser Hund. Ich schluckte. Zu dem Schock, dass es meinem Kind schlecht gehen könnte, gesellte sich schleichend die ungute Einsicht, dass ich, im fortgeschrittenen Alter von 40 Jahren, noch immer nicht weiss, was Traurigkeit lindert. Vor vielen Jahren hatte ich der österreichischen Schriftstellerin Friederike Mayröcker die gleiche Frage gestellt. Sie war damals tief in der Trauerarbeit um ihren verstorbenen Lebenspartner Paul Jandl versunken und hatte mit «Und ich schüttelte einen Liebling» so etwas wie eine persönliche Erinnerung, einen Nachruf auf Jandl verfasst. Das Buch war ihr Versuch, das Unsagbare in Worte zu kleiden und ihm so den Schrecken zu nehmen. Ich sass damals in einem Wiener Kaffeehaus der alten, gebückten Dame gegenüber und fragte sie: «Was lindert die Trauer?» Sie überlegte lange, und dann sagte sie: «Gehen. Sehr rasch und viel gehen. Das ist gut, wenn man einen grossen Schmerz hat. So kann man den über­ brücken.» Ich verstand auf Anhieb. Auch mir hat Gehen in so manch dunkler Stunde geholfen. Paradoxerweise endet beim Gehen das Grübeln und beginnt das Denken. Und wer richtig weit läuft, bei dem hört beides auf. Besonders gut geht es sich übrigens in Grossstädten, denn wie viel Kümmernisse du auch mit dir herumträgst, so genügen doch oft nur wenige Schritte, um auf jemanden zu stossen, der im Spiel des Lebens noch schlechtere Karten gezogen hat als du. Gleichzeitig ist das kein Ratschlag für eine Zehnjährige. Also fragte ich sie: «Was machst du, wenn du traurig bist?» Sie dachte kurz nach, dann sagte sie: «Ich weine. Dann gehe ich zu dir oder zu Mamma. Und dann mache ich etwas, was mir Spass macht.» Sie schaute mich an und schaute dann auf ihre Uhr: Es war 14 Uhr, sie musste zum Zirkus. Also sprang sie auf, küsste mich und rannte zur Tür hinaus. Ich schaute ihr aus dem Fenster hinterher und hatte ihre Worte im Kopf: Gefühle zulassen; Leute suchen, bei denen du dich aufgehoben fühlst; Dinge tun, die dir etwas bedeuten. Das waren ziemlich gute Ratschläge. Plötzlich drehte sie sich um und winkte mir. Ich winkte zurück und dachte bei mir, dass sie für eines der grossen Rätsel des Lebens deutlich weniger Zeit gebraucht hatte als ich.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 67


Mama, die Buchstaben

Bild: iStockphoto

Wenn Kinder häufig über Kopfschmerzen klagen, schlecht lesen und krakelig schreiben, unkonzentriert und motorisch unsicher sind, wird dies nicht selten auf eine Lese-RechtschreibSchwäche oder gar ADHS zurückgeführt. Die Ursache könnte aber auch in einem latenten Schielen, umgangssprachlich einer Winkelfehlsichtigkeit, liegen. Text: Anja Lang

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August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

L

uca findet Lesen doof. Wann immer es geht, drückt er sich davor. Auch das Schreiben fällt ihm schwer. Er verrutscht in den Zeilen, verdreht die Buchsta­ ben und macht viele Rechtschreib­ fehler. Oft hat er Kopfschmerzen und ist müde. «Musst halt fleissiger üben», kriegt er oft zu hören. Doch so sehr er sich auch anstrengt, die Buchstaben «hüpfen» ihm einfach vor den Augen davon. Hilfe be­­ kommt Luca erst, als bei ihm eine Winkelfehlsichtigkeit als Ursache seiner Probleme entdeckt wird. Winkelfehlsichtigkeit ist keine Fehlsichtigkeit oder Krankheit im eigentlichen Sinne. «Es handelt sich vielmehr um eine latente Abwei­ chung der Augen im Ruhezustand aus der optimalen Position», erklärt Daniel Bruun, Augenarzt und Augenchirurg aus Kreuzlingen TG. «Diese Abweichung kann aber Aus­ wirkungen auf das simultane beid­ seitige Sehen haben.» Latentes Schielen

Damit ein dreidimensionales Bild entsteht, müssen die zwei Einzelbil­ der, die auf den Netzhäuten der bei­ den Augen entstehen, vom Gehirn zu einem einzigen räumlichen Bild verschmolzen werden. Diesen Vor­ gang nennt man in der Fachsprache Fusion. «Für eine optimale Fusion sollten die beiden Augen stets gleich ausgerichtet sein», weiss Bruun. «Bei der überwiegenden Mehrheit finden sich aber in der entspannten Augen­

stellung von Natur aus kleine Abwei­ chungen nach innen oder aussen, seltener auch nach oben oder unten.» Diese Abweichung vom Idealzu­ stand nennt man Winkelfehlsichtig­ keit. In der Augenmedizin spricht man auch von Heterophorie oder verstecktem Schielen. «Versteckt deshalb, weil die leichte Fehlstellung nur dann sichtbar wird, wenn sich das Auge im Ruhezustand befindet – beispielsweise bei Müdigkeit oder beim abgedeckten Auge», erklärt der Schielexperte. «Sobald die Augen ein Objekt fokussieren, justiert das Gehirn die Abweichung in Sekun­ denbruchteilen nach, sodass die Augen wieder synchron gestellt wer­ den.» Anders als ein echtes Schielen fällt das latente Schielen im Alltag deshalb auch nicht auf. Rund 80 Prozent aller Sehenden haben eine Winkelfehlsichtigkeit. Die meisten Menschen verkraften die ständige Zusatzarbeit, die Gehirn und Augenmuskulatur für die opti­ male Fusion leisten müssen, ohne grössere Probleme. «Ein gewisser Prozentsatz aber entwickelt Anstren­ gungsbeschwerden, die mitunter massive Auswirkungen auf die Lebensqualität haben können», weiss Bruun. Winkelfehlsichtigkeit kann krank machen

«Ein deutliches Zeichen für mögli­ che Probleme mit dem versteckten Schielen ist, wenn Patienten immer wieder Doppelbilder sehen», sagt Augenexperte Daniel Bruun. «Auch häufige Kopfschmerzen, die vor allem abends auftreten, können ein Hinweis darauf sein.» Bei Kindern zeigen sich zudem Symptome wie häufiges Stolpern, schlechte Orien­ tierung im Raum, Probleme beim Verfolgen von bewegten Objekten wie Bällen. Aufgaben, die konzen­ trierte Augenarbeit erfordern wie Basteln, Ausmalen oder Ausschnei­ den, werden konsequent gemieden. Betroffene Schulkinder leiden oft an Konzentrationsschwierigkei­ >>>

80 Prozent aller Menschen haben ein sogenanntes verstecktes Schielen, auch Winkelfehlsichtigkeit genannt.

Symptome durch Winkelfehlsichtigkeit • Zeitweiliges Doppelbildsehen • Kopfschmerzen vor allem abends • Konzentrations­ schwierigkeiten • Bei kleinen Kindern auch Bauchschmerzen • Stolpern, gegen Hindernisse laufen, Probleme beim Ballfangen • Vermeidung von Basteln, Ausmalen, Ausschneiden • Probleme beim Lesen: Zeilenspringen, stockendes Lesen, schnelle Ermüdung • Probleme beim Schreiben: krakelige Schrift, Zeilen werden nicht gehalten, Buchstaben werden verdreht

Was ist eine Prismenbrille? Die Gläser einer Prismen­ brille sind prismatisch. Damit sehen sie aus wie zwei rund geschliffene Keile. In der Augenheilkunde werden Prismengläser bei bestimmten Schielerkrankungen ein­ gesetzt, um Doppelbilder zusammenzuführen. Bei einer Winkelfehlsichtigkeit sollen sie die gemessene Abweichung des Auges im Ruhezustand ausgleichen. Durch den Mehr­ aufwand sind Prismenbrillen teurer als normale Brillen, und die Gläser sind schwerer.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 69


Informationsangebote für Betroffene von Winkelfehlsichtigkeit Die Schweizer Selbsthilfegruppe Winkelfehlsichtigkeit trifft sich nicht mehr aktiv, betreibt aber unter www.winkelfehlsichtigkeit.org eine eigene Webseite. Die Deutsche Selbsthilfegruppe Winkelfehlsichtigkeit ist noch aktiv und bietet unter www.shgwf.de/cms/ Infos und Adressen von Ansprechpartnern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Forum: Erfahrungsaustausch Binokularsehen Unter www.optometrieonline. de/forum/5 können sich Betroffene austauschen. IVBS – Internationale Vereinigung für binokulares Sehen Eine Vereinigung von Augenoptikern und Augenärzten, die sich auf Winkelfehlsichtigkeit spezialisiert haben. www.ivbs.org

>>> ten und zeigen starke Auffälligkeiten beim Lesen und Schreiben. «Typisch ist, dass die Kinder das Lesen am liebsten vermeiden, bei Aufforderung mit der Nase fast am Papier kleben, nur stockend vorwärtskommen und häufig in der Zeile verrutschen», so Daniel Bruun. «Beim Schreiben können die Linien nicht gehalten werden und die Wörter sind unleserlich und oft unvollständig.» Aufwendige Diagnose

Behandelt werden muss eine Winkelfehlsichtigkeit nur, wenn sie Probleme macht. «Ich vergleiche das immer mit leichten X- oder O-Beinen, die ja an sich auch keine Krankheit sind», betont der Schielexperte. «Erst wenn dadurch Beschwerden wie Schmerzen wegen Fehlbelastungen auftreten, muss etwas unternommen werden.» Um festzustellen, ob die beschriebenen Symptome von einer Überlastung der Augen durch Winkelfehlsichtigkeit herrühren oder eine andere Ursache haben, ist eine sehr ausführliche Anamnese nötig. «Hier braucht man viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl, gerade bei Kindern», so Daniel Bruun. Ausserdem müssen andere mögliche Ursachen wie etwa bestehende echte Fehlsichtigkeiten ausgeschlossen beziehungsweise fachgerecht behandelt werden. «Leider wird diese umfassende und zeitraubende Untersuchung von den Krankenkassen nicht besonders hoch entlohnt», weiss Bruun. «Damit ist sie für viele Augenärzte wirtschaftlich gesehen nicht lukrativ und wird entsprechend vernachlässigt.» Aktuell gibt es in der Schweiz und den Nachbarländern

Bewegung unterstützt das Gehirn dabei, Informationen im Kopf zu behalten. 70

nur eine verschwindend geringe Anzahl an Augenärzten, die sich mit dem Thema Winkelfehlsichtigkeit intensiver beschäftigt. Leidtragende dieser Entwicklung sind betroffene Kinder und Erwachsene, deren Winkelfehlsichtigkeit oft jahrelang unerkannt und unbehandelt bleibt, weil gängige Untersuchungen keinerlei Auffälligkeiten zeigen. Ruth Schmid, Mutter von drei Kindern mit Winkelfehlsichtigkeit und Gründerin einer Schweizer Selbsthilfegruppe in Winterthur, hat selbst derartige Erfahrungen gemacht und kennt viele Familien, denen erst nach einem langen Leidensweg mit einer Prismenbrille (siehe Box Seite 69) oder einer Schieloperation geholfen werden konnte. Sie sagt: «Hilfe finden Eltern von betroffenen Kindern oft eher beim Augenoptiker als beim Augenarzt.» Mess- und Korrektionsmethodik nach Haase

In den 1950ern entwickelte der Augenoptikermeister Hans-Joachim Haase eine spezielle Messmethode, bekannt als Mess- und Korrektionsmethodik nach H.-J. Haase – kurz MKH. Früher bekannt unter dem Namen Polatest, wird die MKH heute vor allem von Augenoptikern und einigen wenigen überzeugten Augen­­ärzten angewendet, die sich in der Internationalen Vereinigung für Binokulares Sehen (IVBS) zu­ sammengeschlossen haben. «Bei der MKH wird die Augenstellung mithilfe von Polarisationsfiltern ge­­ trennt, aber unter erhaltener Fusion wie beim natürlichen Sehen vermessen», erklärt Fritz Gorzny, Vizepräsident der IVBS und Augenarzt aus Deutschland. Anders als bei gängigen Sehtests sind bei der MKH-Messung dazu beide Augen am Sehvorgang beteiligt. Polarisationsfilter in der Messbrille sorgen dafür, dass trotzdem jedes Auge einzeln gemessen werden kann. «Bei der Messung selbst muss der Patient dann polarisierte Testbilder August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule

Bei der Abklärung sollte auch das soziale Umfeld des Kindes einbezogen werden.

sundheitswesen in Winterthur. Sie hält die Messmethode nach Haase für zu kurz gegriffen und rät zu zu­sätzlichen Tests. «Orthoptisten untersuchen als Spezialisten für beidseitiges Sehen das Zusammen­ spiel beider Augen unter natürlichen Bedingungen und führen dazu nicht nur einen, sondern unterschiedliche Tests durch», erklärt Véronique Glauser.

Anja Lang

ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München. Das Thema Winkelfehlsichtigkeit ist ihr besonders wichtig, da auch ihre älteste Tochter davon betroffen ist.

Was sollen Eltern mit betroffenen Kindern jetzt tun?

Einig sind sich Befürworter und Kri­ tiker, dass vor der Behandlung einer Winkelfehlsichtigkeit immer erst alle anderen möglichen Ursachen für die Beschwerden fachkundig ausge­ schlossen werden müssen. Véro­ nique Glauser rät, dabei auch das soziale Umfeld des Kindes zu beach­ ten. «Eine Scheidungssituation, Er­­ wartungsdruck der Eltern oder Mob­ bing in der Schule können ebenfalls zu Kopfschmerzen und Schulversa­ gen führen.» Erst dann empfiehlt Wirth Barben, sich zur weiteren Abklärung an eine Klinik mit orthoptischer Abteilung oder einen mit Kindern erfahrenen Augenarzt zu wenden, der mit einem Orth­ optisten zusammenarbeitet. Fritz Gorzny hält Augenoptiker, die nachweislich Erfahrung auf dem Gebiet der Winkelfehlsichtigkeit haben und mit Prismenbrillen arbeiten, für die geeigneten An­­ sprechpartner. Bruun bietet seinen Patienten nach der Messung ver­ suchsweise eine Prismenleihbrille an. Bessern sich die Beschwerden damit nicht, liegt die Ursache woanders und der Patient kann die Brille einfach wieder zurückgeben.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017

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analysieren, denen so lange unter­ schiedliche Prismengläser vorge­ schaltet werden, bis die Bilder beider Augen subjektiv jeweils auf den schärfsten Punkt beider Netzhäute treffen und das Testbild korrekt anzeigen.» Ziel der Messung ist, die genaue Abweichung der Augen in soge­ nannten Prismendioptrien zu ermit­ teln. Mit diesen Werten kann dann eine Prismenbrille gefertigt werden, die die gemessene Abweichung aus­ gleichen und die Augen bei der täg­ lichen Seharbeit entlasten soll. «Da sich die Augenmuskeln durch die jahrelange Anstrengung teilweise regelrecht verkrampfen, muss die Stärke der Prismen später gegebe­ nenfalls erhöht werden», betont Fritz Gorzny. «In weniger als zwei Prozent der Fälle kann dann die endgültige Prismenzahl so hoch sein, dass eine Schieloperation sinn­ voll wird.» In der Schulmedizin hat sich die MKH nie wirklich durchgesetzt. Trotz unzähliger positiver Erfah­ rungsberichte fehlen bis heute wis­ senschaftlich haltbare Studien zur Messgenauigkeit der Methode und auch zum Erfolg der Behandlung mit Prismenbrillen. Eine Kritikerin der MKH ist bei­ spielsweise Gabriela Wirth Barben, Augenärztin für Schielen und Kin­ deraugenheilkunde in St. Gallen. Sie bezeichnet Winkelfehlsichtigkeit als Kunstprodukt: «Die Messmethode nach Haase misst Werte in einem durch Polarisationsfilter künstlich erzeugten Zustand, der mit natürli­ chem Sehen nichts zu tun hat.» Ausserdem kritisiert Wirth Barben, dass die nachträgliche Erhöhung der Prismen den Schielwinkel künstlich in die Höhe treibe. «Am Ende steht dann eine Schieloperation, die ohne Prismenbrille überhaupt nicht nötig gewesen wäre.» Ähnlich kritisch äussert sich Véronique Glauser, Präsidentin von Swiss Orthoptics und Dozentin am Zentrum für Ausbildung im Ge­­

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Digital & Medial

Ist Kontrolle besser als Vertrauen? Was sieht mein Kind im Internet? Wie habe ich Kontrolle über mein Kind an der Spielkonsole? Es gibt zahlreiche technische Möglichkeiten, den Medienkonsum des Kindes im Blick zu behalten oder einzuschränken. Viele Eltern nutzen sie allerdings nicht. Text: Stephan Petersen

Kinder anfangs im Internet zu kontrollieren, kann auch helfen, auf Dauer Vertrauen aufzubauen! 72

Umgang mit den neuen Medien, für ihre ersten Erfahrungen mit Internet, Konsole und Handy. Doch ausgerechnet hier bewegen sich selbst medienerfahrene Eltern nicht im­­ mer sicher. Das digitale Angebot ist riesig, ständig gibt es neue Trends und Entwicklungen. Ein Grund zur Resignation? Ganz und gar nicht: Eltern sollten nicht vergessen, dass es zum Heranwachsen gehört, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Wer im Hinblick auf neue Medien nur Verbote ausspricht, der handelt kontraproduktiv – in Bezug auf die kindliche Entwicklung und auf die Beziehung untereinander. Anfängliche Kon­ trolle ist besser als Verbote. Denn sie kann auch dabei helfen, nach und nach Vertrauen aufzubauen. Es gibt zahlreiche technische Mittel, mit Hilfe derer Eltern zum Beispiel Einfluss darauf nehmen können, was ihre Kinder im Internet sehen. Doch oftmals machen sie keinen Gebrauch davon: «Es ist bekannt, dass Eltern relativ selten technische Möglichkeiten nutzen, um die Internetnutzung ihres Kindes zu reglementieren», sagt Martina Zemp, Psychologin mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychologie. Und sie fügt an: «Auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands muss es insgesamt als problematisch angesehen werden, wenn Kinder in der Sozialisierung mit neuen Medien

allein gelassen werden.» Denn damit steigt die Gefahr, dass sie zu viel oder auf gefährlichen Webseiten surfen. Wie können Eltern die Mediennutzung ihrer Kinder kontrollieren oder einschränken?

• Internet nachts abschalten: Viele WLAN-Router (Netzwerkgerät des Telefon-/Internetanbieters) kann man mit einer Zeitschaltung versehen. Auf diese Weise lässt sich das WLAN zu bestimmten Zeiten, etwa nachts, automatisch abschalten, sodass niemand heimlich zu später Stunde im Netz surfen kann. • Webfilter: Im Internet gibt es viele spannende Themen, aber auch bedenkliche, zum Beispiel gewaltverherrlichende oder pornografische Inhalte. Damit Kinder sicher durch das Netz surfen, sind Webfilter empfehlenswert. Diese arbeiten mit White- und Blacklists. Whitelists eignen sich für jüngere Kinder. Dabei ist nur der Aufruf von Webseiten erlaubt, die vorher auf einer Liste gespeichert wurden. Blacklists hingegen sind für ältere Kinder gut. Hier sind alle Seiten erreichbar ausser denen auf der schwarzen Liste. • Passwörter: Einkäufe von digitalen Inhalten sollten immer mit einem Passwort gesichert sein, das nur die Eltern kennen. So

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi

Bild: iStockphoto

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ertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.» Das Lenin zugeschriebene Zitat dürfte vielen bekannt sein. Allerdings haben gerade Lenins Sowjetunion oder die DDR genau das Gegenteil bewiesen: Kontrolle untergräbt Handlungsfreiheit und Kreativität. Vertrauen ist hingegen eine Voraussetzung für menschliche Beziehungen: Nachbarn, die sich gegenseitig helfen. Eltern, die ihrem Kind mehr geben als blosse ökonomische Sicherheit. Freunde, die in Notzeiten füreinander da sind. Vertrauen ist der Klebstoff menschlicher Beziehungen, jenseits von Zwang und Regeln. Sollten Eltern also ihren Kindern einfach voll vertrauen? Wenn ich einem Menschen vertraue, hat dieser mehr Freiheit. Allerdings weiss nicht jeder mit dieser Freiheit umzugehen. Insbesondere Kinder müssen diese Fähigkeit erst noch entwickeln. Ausserdem haben Eltern die Sorge- und Aufsichtspflicht für ihre Kinder. Das gilt auch für deren


behalten sie den Überblick darüber, was ihre Kinder auf der Konsole oder dem Handy spielen, und es werden keine versehentlichen Einkäufe innerhalb eines Spiels getätigt. • Jugendschutzeinstellungen bei Spielkonsolen: Alle modernen Spielkonsolen verfügen über Jugendschutzeinstellungen. Diese sind je nach Konsole in einem Untermenü der «Einstellungen» zu finden. Dort kann etwa die Spielzeit festgelegt werden. Eine weitere Möglichkeit: Eltern können anhand der Altersfreigaben (USK/PEGI) den Zugang zu Spielen festlegen. So lässt sich beispielsweise einstellen, dass nur Spiele mit USK 12 oder niedriger auf der Konsole spielbar sind. Am PC laufen viele Spiele über die Vertriebsplattform Steam. Auch dort sind Jugendschutzeinstellungen vorhanden. • Google Alert: Was veröffentlicht mein Kind im Internet? Was veröffentlichen andere dort über mein Kind? Dank Google >>>

Alert (einfach im Web-Browser eingeben) kann man eine Suchanfrage zu einem bestimmten Thema starten. «Vorname Nachname» des Kindes eingeben, Suchabfrage starten und sich benachrichtigen lassen, wenn es neue Inhalte hierzu gibt. • Familonet: Mit Hilfe der App Familonet können Familien ihre Standorte untereinander kommunizieren. So bekommen Eltern etwa eine Nachricht, wenn das

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017

Spielkonsolen lassen sich so einstellen, dass keine Games darauf laufen, für die das Kind noch zu jung ist.

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Digital & Medial

>>> Kind die Schule verlässt und wenn es zu Hause angekommen ist. Eine Echtzeit-Ortung gibt es aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht. Dafür können Kinder durch den integrierten Alarm-Ruf jederzeit ihren Standort mitteilen. Ein weiteres Feature: Verlorene oder gestohlene Handys lassen sich mit Familonet orten. Die App existiert für iOS- und AndroidTelefone und -Tablets. • Fröschli-Telefon: Das «Fröschli» ist ein kleines, robustes und mit vier Nummern vorprogrammiertes Telefon für jüngere Kinder. Die

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Nummern sind frei programmierbar (zum Beispiel Mutter, Vater, Grosseltern, Nachbarn). So kann das Kind mit einem einzigen Tastendruck einen Anruf tätigen. Zudem gibt es eine SOS-Taste, die mit einer Notruf-Nummer programmiert werden kann. Eine weitere Funktion ist das sogenannte Geofencing: Verlässt das Kind einen zuvor festgelegten geografischen Bereich, gibt es einen Alarm per Mail oder SMS. • Eingeschränkter Modus bei Youtube: Youtube erfreut sich bei Kindern und Jugendlichen gröss-

ter Beliebtheit. Fast zwangsläufig kommen sie hier mit bedenklichen Inhalten in Berührung. Hier hilft der «eingeschränkte Modus», der sich am Ende der YoutubeSeite (ganz nach unten scrollen) einstellen lässt und einen Zugriff auf potenziell nicht jugendfreie Inhalte verhindert. Zuvor muss man ein kostenloses Konto bei Youtube einrichten. Nicht vergessen: nach der Aktivierung des Filters ausloggen, damit die Einstellungen nicht einfach geändert werden können. >>>

Je mehr Kinder Medienregeln mitgestalten können, umso besser funktionieren diese.

Stephan Petersen ist studierter Historiker und freier Journalist. Zu seinen Themen gehören unter anderem Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.

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Mediennutzung zwischen Kontrolle und Vertrauen Wann sollten Eltern Kinder kontrollieren und wie sollte man das angehen? Tipps von Martina Zemp, Psychologin mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychologie. • Begleiten Sie Ihre Kinder! Geringes elterliches Monitoring der medialen Tätigkeiten, also kaum Kontrolle und keine Ahnung, was die Kinder da tun, gehört zu den grössten Risikofaktoren für eine falsche oder übermässige Nutzung von neuen Medien durch Kinder und Jugendliche. • Reglementieren und reflektieren Sie die Mediennutzung Ihres Kindes. Die völlige

Abschottung von den digitalen Verlockungen ist realitätsfern. Legen Sie Inhalt und Dauer sowie verständliche und konsequente Regeln fest und passen Sie diese der Entwicklungsstufe des Kindes immer wieder an. Grundsätzlich sollten keine Konsolen und Co. im Schlafzimmer der Kinder stehen. • Aktive Massnahmen wirken vor allem bei älteren Kindern nachhaltiger. Aktiv heisst, gemeinsam mit dem Kind Absprachen zu treffen. Medienerzieherische Bemühungen zielen vornehmlich darauf ab, Kindern und Jugendlichen einen selbstbestimmten Umgang mit neuen Medien zu vermitteln. Die kritische Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern über Medieninhalte ist die

erfolgreichste Erziehungs­strategie. Die konstruktive Aus­einandersetzung und die interessierte Begleitung der kindlichen Mediennutzung durch die Eltern können die potenziell negativen Konsequenzen der Medien auf Kinder ausgleichen. • Bekunden Sie Interesse und bleiben Sie im Gespräch mit Ihrem Kind! Informieren Sie sich, legen Sie die eigene Haltung zu Medien klar dar und seien Sie ein angemessenes Vorbild. • Reservieren Sie Zeit für OfflineAktivitäten mit dem Kind. Engagierten Eltern, die viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, gelingt häufig intuitiv eine angemessenere Erziehung zur Medienkompetenz.

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Digital & Medial

Kind, ärgere dich nicht!

E

s ist eigentlich ganz einfach: Mal gewinnt man, mal verliert man. So funktionieren Spiele. Allein, so einfach ist es eben nicht. Sicherlich haben Sie als Eltern auch schon erlebt, dass beim geselligen Spiel plötzlich die Stimmung kippt und Ihr fröhliches Kind zum Rumpelstilzchen wird, das wütend die Karten vom Tisch wischt und sich weigert, weiter mitzuspielen. Schuld für das Verhalten ist nicht das Spiel, sondern was im Kind schlummert. Bei jüngeren Kindern ist es oft die Vorstellung, dass sie über alles bestimmen können. In dieser Vorstellung kommt Verlieren nicht vor, deshalb kollidieren Fantasie und Wirklichkeit. Der Grund für das Nicht-verlieren-Können liegt aber vielleicht auch im Selbstwertgefühl des Kindes oder Jugendlichen – einem zu hohen oder einem zu niedrigen. Ist Ihr Kind daran gewöhnt, dass es nicht immer alle Wünsche erfüllt bekommt? Hat Ihr Kind das Gefühl, es komme immer zu kurz, habe immer Pech? Und gehen Sie als Vorbild mit gutem Beispiel voran und lassen sich bei Niederlagen nicht so schnell unterkriegen? Ausdauer ist gefragt

Es geht nicht darum, dass Ihr Kind lernt, bedingungslos zu verlieren. Es geht darum, sich zu motivieren, nicht aufzugeben. Das lässt sich mit Games vortrefflich trainieren – real 76

Bild: ponomareva

Gamen macht Spass – vor allem, wenn man gewinnt! Doch bei jedem Spiel gibt es auch Verlierer. Und Verlieren will gelernt sein. Text: Michael In Albon

und digital. Vor dem Spiel steht jedoch die wichtigste Grundregel: Lassen Sie Ihr Kind in gegenseitiger Wertschätzung aufwachsen. Damit es spürt, dass es als Person im Vordergrund steht, nicht das Erbringen einer Leistung. Hinzu kommt beim Spiel: Lassen Sie Ihr Kind nicht dem Frieden zuliebe gewinnen. Niederlagen und Frustration gehören zum Leben, der Umgang damit sollte trainiert werden. Und lassen Sie sich von Wutausbrüchen nicht beeindrucken, halten Sie diese aus. Schimpfen Sie nicht, spiegeln Sie vielmehr das Verhalten und fragen Sie nach den aufsteigenden Emotionen. So lernt Ihr Kind, seine Gefühle anzunehmen und damit umzugehen.

Action-Games, Abenteuer-Games, Sport-Games, Simulations-Games. Sie finden dazu online zahlreiche Ideen. Und wenn nicht? Fragen Sie Ihr Kind. Beliebt sind bei Jugendlichen auch sogenannte MultiplayerGames. Bei diesen kooperativen Spielen steht die Gemeinsamkeit im Vordergrund. Gemeinsam mit anderen soll eine Strategie entwickelt oder ein gemeinsam definiertes Ziel erreicht werden. Nicht der Wettkampf, sondern die Teamarbeit ist wichtig. Alle gewinnen oder verlieren zusammen. Dabei erfährt Ihr Kind zudem, dass es in der Lage ist, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Das fördert das Selbstwertgefühl.

Gamen Sie mit

In der Pubertät gehören Konflikte mit sich selbst und mit anderen zur Tagesordnung. Gerade jetzt kann gemeinsames Gamen dazu beitragen, die verkrampfte Familiensituation zu lockern: Lachen Sie zusammen, erreichen Sie gemeinsam ein Ziel, wetteifern Sie – das ist oft ein Weg, miteinander ins Gespräch zu kommen. Zudem können Games dabei helfen, Dampf abzulassen, zu entspannen, Kräfte zu tanken und Bestätigung zu finden. Dazu eignen sich unterschiedliche Game-Genres:

Michael In Albon

ist Beauftragter Jugendmedienschutz und Experte Medienkompetenz von Swisscom.

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive Lernmodule für den kompetenten Umgang mit digitalen Medien im Familienalltag. swisscom.ch/medienstark

August 2017  Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Erleben … … Ein abwechslungsreiches Klettererlebnis ist Ihnen auf dem Kletterturm CLiiMBER auf Prodalp in Flumserberg gewiss. Über 100 Kletterstationen sind in den dreistöckigen, kristall­ förmigen Turm eingebettet. Und jede Etage bietet 30 verschiedene, originell ausgearbeitete Kletterstationen mit unterschiedlichem Design und Schwierigkeitsgrad. Die Parcoursreihenfolge ist flexibel, und so entscheiden Sie mit Ihren Kindern selber, welche Route Sie nehmen. Ihren Schwierigkeitsgrad hinauf zur 3. Etage auf luftige 15 Meter erhöhen Sie nach eigenem Ermessen. Kinder ab 4 Jahren können sich an der CLiiMBERwall versuchen und bis zu einer Grösse von 1,40 m Kraxeltouren am MiniCLiiMBER unter­ nehmen. Das Selbstsicherungssystem sorgt dafür, dass alle wieder sicher auf den Boden kommen. CLiiMBER, bis 22. Oktober 2017, von 10 bis 16.45 Uhr. Gondelbahn Prodalp-Express bis 22. Oktober, Mo bis Fr von 8 bis 12 und 13.15 bis 16.45 Uhr; Sa/So und 8. Juli bis 13. August bzw. 30. September bis 22. Oktober 8 bis 16.45 Uhr. Kinder/ Jugendliche zwischen 1,30 m und 1,40 m werden nur in Be­gleitung Erwachsener zugelassen. Preisbeispiel für einen 13-Jährigen: 3 Stunden Klettern Fr. 19.–, inkl. Seilbahn hin und zurück Fr. 27.–. Weitere Infos: www.flumserberg.ch > Sommer > Klettern > Öffnungszeiten und Tarife

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… Am Fuss der steilen Churfirsten liegt auf einem kleinen Landvorsprung im Walensee Quinten. Der mächtige Gebirgszug schützt diesen Ort mit seinen gut 50 Einwohnern vor den kalten Nordwinden. In diesem fast schon mediterra­ nen Klima wachsen Trauben, aber auch Feigen, Kiwis und weitere Südfrüchte. Das autofreie Dorf auf 434 m ü. M. ist nur zu Fuss oder mit dem Schiff zu erreichen. Beliebt und fast das ganze Jahr begehbar ist jener Wanderweg, der in Weesen beginnt und vorerst knapp über dem Wasserspiegel die Riviera Walensee durchquert. Teils ist er in den Fels gehauen, teils führt er durch Tunnels. Später gehts dann recht aufwärts, und im Abstieg ist Ihre Trittsicherheit gefragt. Nach etwa dreieinhalb Stunden erreichen Sie Quinten mit den beiden Restaurants Seehus und Schifflände. Wanderung Weesen–Quinten: Länge 10,5 km, Aufstieg/Abstieg je 487 m. www.seehusquinten.ch; www.schifflaende.eu; www.walenseeschiff.ch … Der Walensee gehört nicht zu den wärmsten Seen, aber zum Verweilen am Wasser lädt auch er. Etwa beim Badeplatz Lago Mio etwas ausserhalb von Weesen am Weg nach Quinten, mit Liegewiesen, WC, Freiluftdusche, Restaurant mit Sonnenterrasse, Feuerstellen zum Grillieren direkt am Seeufer, Beachvolleyballfeld, Bootsvermietung. Der Zugang zum See führt über Steinstufen. Oder bei Betlis, einer Anlage mit Liegewiesen, schattenspendenden Bäumen, Sitzbänken, WC, Grillstellen direkt am Seeufer, Zugang zum See über Stein­ stufen. Und in Weesen selbst gibt es den Naturbadestrand Flihorn. Er liegt auf dem Delta des Flybachs, hat Kiesstrände

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Service

Bilder: Heidiland Tourismus

Der Kletterturm in Flumserberg, unterwegs an die Riviera Walensee, die «Schifflände» in Quinten.

und eine kleine Insel, Liegewiesen, Floss mit Rutschbahn, Garderoben und WC, Grillstelle direkt am Seeufer. Diese drei Badeplätze sind öffentlich und jederzeit gratis zugänglich. Lago Mio: Das Restaurant ist von Mitte März bis gegen Ende Oktober geöffnet. lago-mio.ch. Betlis: Die Strasse nach Betlis ist nur einspurig und zu bestimmten Fahrzeiten befahrbar.

Übernachten … … Von Flums aus geht es hinein ins Schilstal auf die Alp Lauiboden mit der Mulchenhütte, einer einfachen Unterkunft für bis zu sechs Personen. Sie schlafen mit Wolldecken im Stroh, Wasser gibts, ausser im WC, nur draussen am Brunnen, Petrollampen spenden Licht, und gekocht wird auf einem nostalgischen Herd. Käse, Butter und Milch können Sie bei den Alpsennen beziehen.

Preise: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten Fr. 60.–/Nacht. Offen bis Mitte September. Anreise mit dem Auto (nur mit Bewilligung) oder zu Fuss ab Bergstation Maschgenkamm. www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien auf dem Bauernhof … Eine ähnlich einfache Alternative ist die Wildmannlihütte auf der Alp Wildenberg am Kleinberg, die Sie ebenfalls von Flums aus erreichen. Sie schlafen im selbst mitgebrachten Schlafsack in einem einfachen Matratzenlager für bis zu neun Personen. Es gibt nur kaltes Wasser und einen Holzkochherd. Frische Alpprodukte können Sie direkt beim Senn beziehen. Preis: Pauschale exkl. Kurtaxen Fr. 70.–/Nacht, ab 3 Nächten Fr. 60.00/Nacht. Die Miete ist jeweils gültig von und bis 11 Uhr morgens. Offen: bis Mitte September. Anreise ist mit dem Auto sowie mit einer schönen Wanderung möglich. www.flumserberg.ch > Unterkunft > Ferien auf dem Bauernhof

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 79


Service

Vielen Dank

an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:

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Dr. iur. Ellen Ringier Walter Haefner Stiftung

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Impressum 17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich Herausgeber Stiftung Elternsein, Seehofstrasse 6, 8008 Zürich www.elternsein.ch Präsidentin des Stiftungsrates: Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch, Tel. 044 400 33 11 (Stiftung Elternsein) Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder, ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01 Redaktion redaktion@fritzundfraenzi.ch Chefredaktor: Nik Niethammer, n.niethammer@fritzundfraenzi.ch Verlag Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,

Tel. 044 277 72 62, info@fritzundfraenzi.ch, verlag@fritzundfraenzi.ch, www.fritzundfraenzi.ch

Auflage (WEMF/SW-beglaubigt 2016) total verbreitet 101 725 davon verkauft 18 572

Business Development & Marketing Leiter: Tobias Winterberg, t.winterberg@fritzundfraenzi.ch

Preis Jahresabonnement Fr. 68.– Einzelausgabe Fr. 7.50 iPad pro Ausgabe Fr. 3.–

Anzeigen Administration: Dominique Binder, d.binder@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 277 72 62 Art Direction/Produktion Partner & Partner, Winterthur Bildredaktion 13 Photo AG, Zürich

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Korrektorat Brunner Medien AG, Kriens

Inhaltspartner Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation / Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich / Schweizerisches Institut für Kinder- und Jugendmedien

Stiftungspartner Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule Zürich / Elternbildung CH / Marie-MeierhoferInstitut für das Kind / Schule und Elternhaus Schweiz / Schweizerischer Verband alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV / Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband Kinderbetreuung Schweiz

Publireportage

FÜRSTLICHE ERLEBNISSE FÜR KLEIN UND GROSS Das Liechtensteiner Bergdorf Malbun liegt auf 1600 m ü. M. und ist von einer traumhaften, intakten Alpenlandschaft umgeben. Malbun ist die perfekte Familiendestination. So sieht das auch der Schweizer Tourismusverband, der die Ausrichtung der Angebote auf die Bedürfnisse von Kindern, Eltern und Grosseltern mit dem Gütesiegel «Family Destination» auszeichnete.

Fürstliche Herbstferien Z. B. 2 Übernachtungen inkl. Halbpension bereits ab CHF 114.– pro Erwachsenem oder 7 Übernachtungen zum Preis von 5 inkl. Halbpension, Museums- und Erlebnispass, geführten Wanderungen und vielem mehr ab CHF 625.– pro Erwachsenem. Alle Angebote finden Sie auf www.tourismus.li/familien Informationen und Buchung Liechtenstein Marketing, Äulestrasse 30, 9490 Vaduz, Tel. +423 239 63 63, info@liechtenstein.li, www.tourismus.li

Entdecken und entspannen Damit die Ferien nicht nur für die Kinder zum Highlight werden, sind familienorientierte Aktivitäten in Malbun selbstverständlich. Das Kinderprogramm lässt auch die Eltern entspannen. Für gemeinsame Unternehmungen, die der ganzen Familie Spass machen, bietet der Museums- und Erlebnispass viele familienfreundliche Vergünstigungen an: Die Greifvögel der Falknerei Galina aus nächster Nähe bewundern, mit dem City Train den Hauptort Vaduz erkunden, die Freizeitanlage «Grossabünt» mit dem Piratenspiel-

platz erobern, Busse und Bergbahnen benutzen – dies sind nur einige der vielen Attraktionen. Auch die zahlreichen Themenwege lassen Kinderherzen höher schlagen. Ausgestattet mit dem Forscherrucksack, Lupe und viel Spass meistern die Kleinen auf dem Forscherweg Suchspiele, Steintisch-Memory und musikalische Aufgaben.


Buchtipps

Hannas Väter versorgen das erkältete Zebra mit Hustensaft.

Väterland

Gleichgeschlechtliche Elternpaare kommen in immer mehr Kinder- und Jugendbüchern vor – und der Umgang damit ist oft dann besonders gelungen, wenn dies nicht zum grossen Thema wird.

Christophe Léon malt ein düsteres Zukunftsszenario für ein rechtskon­ servatives Frank­ reich: Gabrielles Väter müssen eine rosa Raute tragen und dürfen sich in der Innenstadt nicht mehr blicken lassen. Ein Buch als Grundlage für Gespräche, nicht nur in der Schule. Mixtvision, 2017, Fr. 14.90, ab 12 Jahren

Homosensationelle Väter und Mütter

Bilder: Moritz Verlag, ZVG

D

a steht eines Morgens doch einfach ein Zebra in Hannas Zimmer! Der unerwartete Gast heisst Bräuniger und isst nicht nur mit Vorliebe Nutellabrote, sondern kann auch sprechen, lesen und schreiben. Hanna nimmt ihn erst einmal mit in die Schule. Als der Direktor jedoch kurzerhand die Zoowärter bestellt, damit sie Bräuniger abholen, wird es brenzlig: Schaffen es Hanna und ihre Klassenkameraden, ihren gestreiften neuen Freund zu retten? Die Vor- und Selbstlesegeschichte von Markus Orths thematisiert das Anderssein am Beispiel des witzigen sprechenden Zebras, das definitiv nicht «normal» ist, wie der Schuldirektor immer wieder betont. Und: Das Buch flicht ganz nebenbei ein Motiv ein, das genau dies wieder aufnimmt. Denn Hanna hat zwei

Väter, mit denen sie eben neu zugezogen ist. Doch die gleichgeschlechtliche Elternschaft ist nicht das be­­ herrschende Thema des Buches. Nur nebenbei erwähnt Hanna diese Tatsache im Gespräch mit Bräuniger: «Meine Papas sagen, nur bei frischer Luft kann man gut schlafen.» – «Deine Papas?» – «Ich hab zwei davon.» – «Was für’n Glück!» – «Ja. Find ich auch.» Um kurz darauf noch einmal darauf zurückzukommen: «Das heisst homosensationell. Also, wenn zwei Männer sich lieben. Oder zwei Frauen.» – «Und? Lieben sie sich?» – «Und wie!» – «Und dich?» – «Aber klar! […]» – «Dann bist du ganz schön verwöhnt, was?» Ganz ohne Fingerzeig und päd­ agogischen Übereifer zeigt «Das Zebra unterm Bett», dass es bei Freundschaft und Liebe nur auf das wirklich Wesentliche ankommt.

Wie heiraten eigentlich Trockennasenaffen? Mama hat immer zu tun. Mutz hin­ gegen lässt sich nicht beunruhigen. Gut, dass Matti sie beide hat. Ina Voigt und Jacky Gleich erzählen in Text und Bild kon­ sequent aus der Perspektive des Kindergärtlers Matti. kwasi, 2015, Fr. 21.00, ab 5 Jahren

Dass ich ich bin, ist genauso verrückt wie die Tatsache, dass du du bist Markus Orths: Das Zebra unterm Bett. Moritz, 2016, Fr. 14.90, ab 6 Jahren

In der Küche er­­ fährt Darren von seinem Vater, dass dieser schwul sei. Damit kann Darren gar nicht umgehen. Die Listenform dieses mitreis­­senden Jugendromans macht Darrens Versuch, seine Welt wieder zu ordnen, greifbar. Beltz & Gelberg, 2016, Fr. 27.90, ab 14 Jahren Verfasst von Elisabeth Eggenberger, Mitarbeiterin des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM. Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind weitere ­B­uch­empfehlungen zu finden.

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi  August 2017 81


Eine Frage – drei Meinungen

Dass Geschwister auch mal streiten, ist normal. Unsere beiden Töchter, 12 und 9, liegen sich aber ständig in den Haaren. Da wir in einer 3-Zimmer-Wohnung leben, müssen sie sich ein Zimmer teilen, was insbesondere der Grossen überhaupt nicht passt. Was können wir tun? Reto, 41, und Katja, 38, Zürich

Nicole Althaus

Zoff im Kinderzimmer nervt, aber er ist gut für die Persön­ lichkeitsentwicklung. Kinder lernen im Streit, wie man Konflikte löst und Kompro­ misse findet. Auch die Tatsa­ che, dass die beiden Streit­ hähne sich ein Zimmer teilen, muss Sie nicht sorgen. Das haben Generationen von Kindern vor Ihnen auch über­ lebt. Das Bedürfnis nach Privatsphäre verstärkt sich allerdings in der Pubertät. Um das zu befriedigen, genügt schon eine kleine Ecke, die Sie Ihrer älteren Tochter etwa im Elternschlafzimmer einrichten. Der Streit wird nicht verschwinden, aber weniger werden.

Tonia von Gunten

Streit gehört bei den meisten Geschwistern dazu. Die Kin­ der haben sich schliesslich nicht ausgesucht. Entweder richten Sie Ihren Fokus auf die schöneren Momente in der Familie. Oder Sie bitten Ihre Kinder um Unterstüt­ zung: «Ihr müsst euch ein Zimmer teilen, das lässt sich leider nicht ändern. Ihr streitet so oft, und wir wissen echt nicht mehr weiter! Gerne hätten wir es bei uns wieder lustiger. Bitte helft uns: Was können wir tun?» Vielleicht kommen dabei umsetzbare Vorschläge zusammen, die zu einem besse­ ren Klima in Ihrer Familie führen.

Peter Schneider

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Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger. ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei Kindern, 16 und 12. Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein Programm, das frische Energie in die Familien bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern, 11 und 8. Peter Schneider, 59, ist praktizierender Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent für klinische Psychologie an der Uni Zürich und ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines erwachsenen Sohnes. Haben Sie auch eine Frage? Schreiben Sie eine E-Mail an: redaktion@fritzundfraenzi.ch

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Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO

In eine grössere Wohnung ziehen? Ich fürchte allerdings, dass Sie auch schon auf die­ sen Gedanken gekommen sind und derselbe aus finan­ ziellen oder sonstigen Grün­ den nicht ohne Weiteres durchführbar ist. Was wieder­ um bedeutet, dass Sie beiden Töchtern (insbesondere der grossen) ehrlich erklären, dass Sie die Wohnsituation auch schwierig finden, aber leider (im Moment) nichts daran ändern können. Und Sie nur dringend darum bitten können, sich einfach mal zusammenzureissen. Und dass dies nicht nur eine Bitte, sondern fast schon ein Befehl sei. Und wahr­ scheinlich werden Sie das mehr als nur einmal in der Woche sagen müssen.


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