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Urteil des EUGH – Können Millionen Kreditverträge
Am 26.03.2020 wurde in Luxemburg ein Urteil (Rs. C-66/19) verkündet, dass die Bankwelt und den Deutschen Gesetzgeber wachgerüttelt hat. Gegenstand der Entscheidung war eine Widerrufsbelehrung eines deutschen Kreditinstitutes, welche dem seit Juni 2010 gültigen gesetzlichen Muster 1:1 entsprach. Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) sei die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Belehrung nicht mit der Verbraucherkreditrichtlinie vereinbar. Hiervon betroffen wären danach mehrere Millionen, seit 2010 abgeschlossene Kreditverträge, die ggf. noch heute widerrufen werden könnten. Der Bundesgerichtshof hat sich zwischenzeitlich mit der Entscheidung des EuGH auseinandergesetzt und versucht, deren weitreichende Folgen einzufangen. Mit Erfolg?
Ausgangspunkt war ein Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Saarbrücken zur Auslegung der Verbraucherkreditrichtlinie (RL 2008/48/EG). Das Landgericht wollte wissen, ob die für ein Immobiliardarlehen verwendete Widerrufsbelehrung dem Erfordernis der Richtlinie, die Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts in „klarer, prägnanter“ Form anzugeben, genügt, wenn die Belehrung die notwendige Information lediglich durch Verweis auf eine Gesetzesnorm (§ 492 Abs. 2 BGB) erteilt, die selbst wieder auf eine andere Norm verweist (sogenannte „Kaskadenverweisung“). Die Vorlagefrage hätte nicht diese besondere Aufmerksamkeit erfahren, wenn die gegenständliche Belehrung nicht dem im Zeitraum vom 10.06.2010 bis 20.03.2016 (für Immobiliendarlehen) bzw. bis heute (für sonstige Verbraucherdarlehen) geltenden gesetzlichen Muster entsprochen und der für das Bankrecht zuständige 11. Zivilsenat des Bundesgerichtshof (BGH) den Kaskadenverweis nach den Maßstäben des nationalen Rechts nicht bereits mehrfach für klar und verständlich gesehen hätte.
Zur Entscheidung des EuGH
Der EuGH sah sich in dieser Sache für zuständig und hielt zunächst fest, dass ein Verbraucher vor Vertragsschluss die Bedingungen, Fristen und Modalitäten für die Ausübung seines Widerrufsrechts kennen muss, andernfalls würde die (praktische) Wirksamkeit des in der Richtlinie vorgesehenen Widerrufsrechts ernsthaft geschwächt. Sodann urteilte er, dass im Fall der vorliegend verwendeten Kaskadenverweisung der Verbraucher auf der Grundlage seines Vertrags weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung bestimmen noch überprüfen könne, ob der von
ihm abgeschlossene Vertrag alle erforderlichen Angaben enthalte, und erst recht nicht, ob die Widerrufsfrist, über die er verfügen kann, für ihn zu laufen begonnen habe.
Reaktion des BGH
Die Reaktion aus Karlsruhe ließ nicht lange auf sich warten. Der BGH hat wenige Tage später zwei Beschlüsse veröffentlicht, welche die Entscheidung des EuGH – mit teilweise zweifelhafter Begründung – in ein anderes Licht rücken sollten. Da die Verbraucherkreditlinie auf Immobiliardarlehensverträge keine Anwendung finde, sei der EuGH zur Entscheidung über die Vorlagefrage nicht zuständig gewesen (Az. XI ZR 581/18). Der EuGH hatte jedoch seine Zuständigkeit damit begründet, dass der deutsche Gesetzgeber die Entscheidung getroffen habe, die von der Richtlinie vorgesehene Regelung auf Immobiliardarlehensverträge durch Beibehaltung innerstaatlicher Vorschriften anzuwenden und ein klares Interesse der Europäischen Union daran bestünde, dass die aus dieser Richtlinie übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt würden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.
In einem anderen Beschluss gleichen Datums (31.03.2020) hat der BGH festgehalten, dass die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung der betroffenen Normen im Übrigen auch nicht als Grundlage für eine Auslegung dienen dürfe, die dem nationalen Recht widerspreche, und daher ausscheide (Az. XI ZR 198/19). Die Frage ist aber weniger, ob die betroffene Norm Auslegungsspielräume eröffnet, sondern vielmehr, ob eine (sogenannte teleologische) Reduktion der betroffenen Norm dahingehend möglich ist, dass unter Berücksichtigung der Richtlinie ein ausreichender Anwendungsbereich der gesetzgeberischen Sachentscheidung verbleibt. So hat etwa ein anderer Senat des BGH (4. Zivilsenat, Versicherungssachen) den Anwendungsbereich des § 5a Abs. 2 Satz des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) richtlinienkonform dergestalt eingeschränkt, dass die Vorschrift im Bereich der Lebens- und Rentenversicherung und der Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung nicht anwendbar sei (Az. IV ZR 76/11). Auch hat das Bundesverfassungsgericht die vom 4. Zivilsenat insoweit vorgenommene Reduktion innerhalb der Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung gesehen (1 BvR 2230/15).
Es bleibt daher abzuwarten, ob der zuständige 11. Zivilsenat des BGH eine entsprechende Reduktion der betroffenen Normen auch im Hinblick auf die jüngste EuGHEntscheidung prüfen wird. Dann käme es für alle von der Richtlinie erfassten Verbraucherkreditverträge – also etwa nicht grundpfandrechtlich gesicherte Darlehen mit einem Gesamtkreditbetrag zwischen 200 und 75.000 Euro – zu einer Reduktion der betroffenen Normen mit der Maßgabe, dass das gesetzliche Muster für diese Verträge nicht gilt und auch keine Schutzwirkung entfalten dürfte. Konsequenterweise müsste auch für solche Kreditverträge eine Reduktion zu bejahen sein, die nicht von der Richtlinie erfasst sind, wenn – wie vorliegend der deutsche Gesetzgeber – von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die in der Richtlinie vorgesehenen Bestimmungen auf nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie fallende Bereiche anzuwenden. Ferner ist der Zuständigkeitsstreit zwischen dem EuGH und dem BGH möglicherweise noch nicht abschließend beendet. Denkbar wäre, dass der EuGH im Nachhinein seine Zuständigkeit nochmals klarstellt und die Verbraucherkreditrichtlinie auch auf Immobiliardarlehensverträge in Deutschland anwendet. So hat der EuGH auch im Hinblick auf das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu EZB-Anleihekäufen vom 05. Mai 2020 (Az. 2 BvR 859/15 u.a.) auf seine ausschließliche Zuständigkeit gepocht (vgl. Pressemitteilung des EuGH Nr. 58/20).
Welche Verträge sind betroffen?
Die Entscheidung des EuGH führt damit im Ergebnis nicht zu mehr Rechtssicherheit. Mit den beiden Beschlüssen des BGH wurde zumindest vorerst höchstrichterlich entschieden, dass alle diejenigen Darlehensverträge, welche nicht unter die Verbraucherkreditrichtlinie fallen oder das gesetzliche Muster der Widerrufsbelehrung 1:1 übernommen haben, von der EuGH-Entscheidung nicht betroffen sein dürften. Damit wurden die Immobiliardarlehen vor den weitreichenden Folgen der Entscheidung gerettet. Bei allen anderen Darlehensverträgen müssen die deutschen Gerichte die Entscheidung des EuGH im Hinblick auf die Frage, ob die vom Kreditinstitut gewählte Belehrung (auch) mit der Verbraucherkreditlinie vereinbar ist, künftig berücksichtigen. Betroffen sind demnach insbesondere nicht grundpfandrechtlich gesicherte Verbraucherdarlehen mit einem Gesamtkreditbetrag zwischen 200 und 75.000 Euro, sofern die Bank vom gesetzlichen Muster der Widerrufsbelehrung abgewichen ist. Hier könnte sich der Verbraucher im Einzelfall mit Hilfe des ‚Widerrufsjokers‘ nunmehr leichter und ohne Vorfälligkeitsentschädigung von einem Kredit befreien. Viele Anwälte sehen daher auch unter Berücksichtigung der jüngsten BGH-Entscheidungen nach wie vor mehrere Millionen Autokredit- und Leasingverträge auf dem erneuten Prüfstand.
Martin Kühler
Rechtsanwalt TILP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH