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Zwischen Stadt & Land

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Alles auf Schiene

Alles auf Schiene

Zwischen Stadt & Land Das Auflösen von Grenzen

Stadt oder Land? – Nahezu drei Vier tel der europäischen Bevölkerung leben in urbanen Ballungsräumen, und so klar die Trennung z wischen Stadt und Land im ersten Moment auch scheint, so dif fus werden die Definitionen und deren Grenzen bei genauerer Betrachtung.5 Denn seit der räumlichen E xpansion unserer Städte und der suk zessiven Einnahme von Territorien haben sich diese Raumkategorien tiefgreifend gewandelt – struk turell, ideologisch wie gesellschaf tlich. Zuvor waren die mit telalterlichen Städte klar definierbare Raumeinheiten – Inseln in der Landschaf t, welche dank ihrer Stadtmauern eindeutig von der Peripherie abgegrenz t werden konnten. Doch mit Beginn der räumlichen Verdichtung vor gut z weihunder t Jahren wurden diese Grenzen durch struk turelle Transformationen und gesellschaf tliche Impulse aufgebrochen. Die Industriestädte eigneten sich getrieben von Wachstum und dem Bedar f an Nahrung immer mehr Land an und breiteten sich aus.6 Während die Peripherie erober t wurde, führ ten die räumliche Konzentration und die Verdrängung von Natur aus den Großstädten wie Berlin, London, Paris und auch Wien zu immer schlechter werdende Lebensbedingungen. Dichter werdender Wohnraum und unzureichende Hygiene brachten einen Fokus auf Grün- und Erholungsraum in städtebaulichen Konzepten mit sich.7 Mit te des 20. Jahrhunder ts haben Motorisierung und Wir tschaf tswachstum neue Leitbilder etablier t. Ergebnis waren erneut transformative Eingrif fe insbesondere an den Randzonen der Städte. Parallel dazu begann die Urbanisierung auf ländliche Räume über zugreifen und die räumlichen Grenzen zur Peripherie endgültig in einem Gemisch verschiedener Struk turen und Szenarien auf zulösen. So drängten sich z wischen Naturparks, Agrar flächen und Autobahnen immer mehr Industriegebiete, Satellitenstädte und Einfamilienhaussiedlungen, was heute in Kulturlandschaf ten, die ländliche Räume fast zur Gänze dominieren, resultier t. Doch die Eingrif fe durch das Abholzen von Wäldern, Ausheben fossiler Ressourcen, Säen von Kulturpflanzen und Versiegeln von Flächen dieser Landschaf ten sind irreversibel geworden.

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1 vgl. Schneider, Wolf (1965): Überall ist Babylon – Die Stadt als Schicksal des Menschen von Ur bis Utopia, München: Droemer Knaur, S. 13-21. 2 vgl. Lefebvre, Henri (1972): Die Revolution der Städte, München: List, S. 14-17. 3 vgl. Sieferle, Rolf (2003): Die Totale Landschaft, in: Franz Oswald & Nicola Schüller (Hrsg.), Neue Urbanität – das Verschmelzen von Stadt & Landschaft, 2. Auflage, Zürich: gta, S. 59-76. 4 vgl. Häußermann, Hartmut & Walter Siebel (2015): Neue Urbanität, 7. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 229-236. 5 vgl. Eurostat (2020): Urban & rural living in the EU, [online] https://ec.europa.eu/eurostat/web/productseurostat-news/-/edn-20200207-1 [11.11.2021]. 6 vgl. Lefebvre, Henri (1972): S. 9-10, 17, 149. 7 vgl. Lohrberg, Frank (2001): Stadtnahe Landwirtschaft in der

Stadt- & Freiraumplanung, Stuttgart: Books on Demand, S. 7-9. 8 vgl. Sieferle, Rolf (2003): S. 59-76.

50 Baustelle am Nordbahnviertel

»Stadt ist überall, und Land ist überall, und für den Gestalter kommt es darauf an, den Charak ter dieses mehr städtischen oder mehr ländlichen Siedlungspar tikels charak teristisch und wahrnehmbar zu machen.«9

Die Urbanisierung hat durch die Transformationen der letz ten Jahr zehnte nicht nur an den Rändern und in den Zwischenräumen der Ballungszentren neue Raumszenarien er zeugt, sondern dominier t ganze Landschaf tsräume. Die traditionelle Dif ferenzierung z wischen Stadt oder Land trif f t also de facto nicht mehr zu. Vielmehr wird die Stadt–Land–Dichotomie von den Kategorien des ›Urbanen‹ und ›Ruralen‹ abgelöst und dadurch zugleich eine spezifische Lebensweise zugeschrieben, wonach Territorien, Gebiete oder Areale unterschieden werden können, um städtische wie auch ländliche Qualitäten, Chancen und Potenziale zu identifizieren.10 In diesem Zusammenhang werden die Phänomene der Verstädterung als quantitative Größe des Stadt wachstums und der Urbanisierung als qualitative Ausbreitung der städtischen Lebensweise verstanden, das ein Stadt-Land-Kontinuum entstehen lässt, welches räumlich, aber auch sozial definier t wird.11, 12 Die fragmentier ten wie verdichteten Raumszenarien werden heute von teils städtischen, teils ländlichen Morphologien geprägt und bilden ein ineinander ver flochtenes Gewebe urbaner und ruraler Elemente. Diese neuen Archipele haben den Landschaftsraum eingenommen und definieren mit tler weile ganze Regionen. Zwar werden Raumeinheiten mit historischen Stadtstruk turen und da, wo sich urbane Komponenten verdichten, auch weiterhin als Stadt identifizier t werden, genau so wie weitläufige rurale Räume als Land. Und dennoch scheint eine Abgrenzung, ob städtisch oder ländlich, zunehmend keine räumliche, sondern vielmehr eine gesellschaf tliche und kulturelle Dif ferenzierung zu sein.13 Dabei versuchen eine Vielzahl an Begrif fen wie unter anderem ›Zwischenstadt‹, ›urban sprawl‹ oder ›Stadtregion‹ genau diese neuen Territorien zu umschreiben. Nur wenige und doch meinen sie dasselbe: die Summe urbaner Phänomene, physisch, ideologisch wie auch gesellschaf tlich. Die Polarität von Stadt und Land hat insofern aufgrund der Einflüsse von Urbanisierung, Globalisierung und nicht zuletz t Digitalisierung äußerst komplexe Prozesse wie auch dynamische Charak teristika ent wickelt, hat das traditionelle Dogma von Stadt über wunden und materialisier t sich in einem Prozess urbanisier ter Landschaf tsformen: quasi eine Stadtlandschaf t.14

9 Burckhardt, Lucius (2011): Warum ist Landschaft schön?, 3. Auflage, Berlin: Martin Schmitz, S. 78. 10 vgl. Lefebvre, Henri (2016): Das Recht auf Stadt,

Hamburg: Nautilus Flugschrift, S. 106-110. 11 vgl. Helbrecht, Ilse (2019): Urbanität–Ruralität. Der Versuch einer prinzipiellen Klärung & Erläuterung der Begriffe, in: dérive – Zeitschrift für Stadtforschung, Nr. 76, S. 6-13. 12 vgl. Förtner, Maximilian, Bernd Belina & Matthias

Naumann (2019): Stadt, Land, AfD, in: dérive –

Zeitschrift für Stadtforschung, Nr. 76, S. 44-53. 13 vgl. Helbrecht, Ilse (2019): S. 6-13. 14 vgl. Sieferle, Rolf (2003): S. 59-76.

Wien hat ebenso einen Wandel vollzogen. Während die Stadt sich zu einer Metropole ent wickelte, wucher te diese weit über die historischen und politischen Grenzen hinaus und hat besonders an den Randzonen neue Kontraste er zeugt. Der umliegende Landschaf tsraum wird zu großen Teilen von der Agrar wir tschaf t dominier t, während naturbelassene und biodiverse Grünräume ausschließlich als geschütz te Naturreser voire wie dem Wiener wald und den Donau-Auen existieren. Parallel zur Ausbreitung fielen innerhalb der Bestandsstadt viele Freiflächen der urbanen Agglomeration zum Opfer und haben die Natur fast zur Gänze verdrängt. Ferner führ te der stetige Flächenbedar f seit einigen Jahr zehnten dazu, dass die übrig gebliebenen Brachflächen in der Stadt wiederentdeck t wurden und in den Fokus der Stadtraumentwicklung gerück t sind. Doch die Bedeutsamkeit dieser Rest flächen wird in den meisten Fällen weit unterschätz t. Denn die ›Wiener Gstet tn‹ sind genau jene Rück zugsor te von Flora und Fauna sowie Möglichkeitsräume für zukünftige alternative Nutzungsformen, aber auch Or te des Ausgleichs zur dichten Bestandsstadt.15 Während die Stadt einerseits Vor teile, Chancen und Möglichkeiten bietet, manifestieren sich ebenso Nachteile, Ungleichheiten und Konflik te in der städtischen Lebensumwelt. Gerade in Wien zeigt das Beispiel der unzureichenden Ausstat tung an Stadtgrün, dass die Wünsche und Sehnsucht nach solchen Or ten, welche durch gesellschaf tliche Tendenzen noch verstärk t werden, of t zu kur z kommen. Sie werden zu den Kompromissen, die mit dem urbanen Lebensstil einhergehen. Allerdings forder t die Verdrängung der Natur aus dem Wiener Umfeld wie auch aus dem Stadtkern nach und nach ihren Tribut. Geht es nämlich um den Ausgleich in einem durchmischten Stadtgewebe, dann sind Lücken und aufgelocker te Bereiche genauso er forderlich wie hoch verdichtete Stellen.16 Dies stellt den Gründer zeit-dominier ten Stadtkern abseits des sich verändernden Klimas aufgrund der for tschreitenden Verdichtung zunehmend vor die Herausforderung, Räume der Erholung und Regeneration bereitzustellen, die einerseits leicht zugänglich sind und andererseits eine Nutzbarkeit im Alltag bieten können.

15 vgl. Oswald, Franz (2003): Die Stadt im Schmelztiegel, in: Franz

Oswald & Nicola Schüller (Hrsg.), Neue Urbanität – das Verschmelzen von Stadt & Landschaft, 2. Auflage, Zürich: gta, S. 36, 48-49. 16 vgl. Lefebvre, Henri (1972): S. 31f.

51 Stadtinfrastrukturen im wilden Brachland

52 Gemengelage: Land & Stadt im Großraum Wien

5 km

53 Over London–by Rail illustriert die Missstände der Industrialisierung in London

54 Plan der neuen Schutzgebiete des Wald- & Wiesengürtels, 1905

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