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WOLFS REVIER
2020
Das Jahr 2020 hat es in sich. Es beschert uns ein Palindrom, 365 Tage Beethoven rauf und runter (dadadadaa), politisch höchst abwechslungsreiche Zeiten um AKK und Co. – und ein Gedenken, das an die Wurzeln unseres kollektiven Gedächtnisses rührt. Vor 75 Jahren hat die Rote Armee die letzten Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz befreit. Hitlers „Tausendjähriges Reich“ hat gerade mal zwölf Jahre bestanden. Für den AfD-Patriarchen Alexander Gauland nur ein „Vogelschiss“ in der 1000jährigen deutschen Geschichte. Er hat gereicht, um über sechs Millionen europäische Juden umzubringen und einen 2. Weltkrieg auszulösen, der rund um den Erdball über 60 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Und jetzt vertreten in Thüringen und anderswo Rechtsextreme wie der „Flügel“-Mann Björn Höcke in Sprache und Absicht faschistische und rassistische Positionen, die unsere Demokratie diskreditieren, die dezidiert „völkische“ identitäre Bewegung jedoch verharmlosen. Wehret den Anfängen. Im Fall des NSU-Trios waren die deutschen Strafverfolgungsbehörden schon einmal auf dem rechten Auge blind. Der Generalverdacht galt Türken; dabei haben es die Verfassungsschützer schon besser gewusst. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, ist nicht zuletzt wegen seiner AfD-Nähe in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet worden. Auch der Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht gegen Beate Zschäpe ließ vor allem bei den Vertretern der Nebenkläger viele Fragen offen. Er ist fruchtbar noch, der faschisWolfgang Nußbaumer (Foto: Harald Habermann)
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tische Schoß. Nur weil ihn eine schwere Holztür aufgehalten hat, konnte ein rechter Terrorist in der Synagoge in Halle kein Blutbad anrichten. Dafür mussten eine Passantin und ein Gast eines Döner-Imbisses sterben. Alles gefilmt mit einer Helmkamera des Attentäters. Seit 2009 kann sich die schöne Stadt an der Saale mit dem Titel „Ort der Vielfalt“ schmücken. Genau diese Vielfalt gilt es zu erhalten. Bunt statt braun lautet die Devise in einer wehrhaften Demokratie. Wer in dem Zusammenhang die „Linke“ mit den Neonazis der AfD in einen Topf wirft, ist gleich auf zwei Augen blind. In Thüringen haben Teile der CDU mit der FDP als willigem Helfer mit den Höckes gekungelt, um den beliebten linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow auszuschalten. Was ihnen gelungen ist. Das zufriedene Grinsen der AfD-Leute nach ihrem Coup löst einen Brechreiz aus. Lindners Freie Demokraten dürften bei der kommenden Wahl in Hamburg als Häuflein Elend antreten. In ihrer Kolumne für das Maxim Gorki-Theater in Berlin stellt die Schriftstellerin und Publizistin Mely Kiyak in ihrer Zustandsbeschreibung Deutschlands nach dem Halle-Attentat bitter fest: „Es ist und bleibt ein kaltes, düsteres Land. Ein Land des Hasses.“
Dennoch empfinden es viele jüdische Deutsche nach wie vor als ihre Heimat. Trotz der grauenhaften Vergangenheit. Diese Empfindung gilt es zu schützen. Mit Herz und Hirn und Hand. Nicht um zuzuschlagen in dumpfbackene Gesichter, sondern um tatkräftig mitzuarbeiten am freundlichen, offenen Gesicht unserer Heimat. Sie mag, das sei Frau Kiyak in ihrem Zorn zugestanden, janusköpfig sein, aber kein Medusenhaupt. In Schwäbisch Gmünd haben jetzt zwei Frauen mit ihren sieben Kindern drei Stunden lang Stolpersteine geputzt, die an das Schicksal jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern. Ich denke, an diesem Deutschland muss man nicht verzweifeln. Halten wir es mit Beethovens „Neunter“ und Schillers Ode „An die Freude“, in der es heißt: „Alle Menschen werden Brüder“.