~ Aus der Praxis ~ DIE HEBAMME
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Hormone, da wie dort Eine junge Mutter und deren Mutter müssen sich beide mit körperlichen Veränderungen auseinandersetzen – aus ganz unterschiedlichen Gründen.
B
eim letzten Besuch bei der Wöchnerin zeigt sich diese hochzufrieden über die Heilungs-
erwache hundert Mal, decke mich ab, später friere ich, decke mich wieder zu, erwache erneut und
prozesse ihres Körpers. «Endlich sind meine Muskeln wieder als Muskeln zu gebrauchen und die Stabilität des Körpers kommt zurück. Die zusätzlichen Kilos sind fast weg und der Bauch schwabbelt nicht mehr so. Der Beckenboden ist viel stabiler als kurz nach der Geburt. Jetzt denke ich, dass die Liebe auch wieder mal Spass machen kann. Ihr älteren Frauen könnt euch gar nicht mehr vorstellen, wie das ist», meint sie an mich und ihre Mutter gewandt. Wir schauen uns an – und müssen lachen. Die junge Frau vor uns hat ihren ursprünglichen, gut funktionierenden Körper fast wieder. Wir hingegen befinden uns in der Menopause und die Hormonveränderungen können furchterregend sein. Und das sagen wir ihr. Wir erzählen von unseren Schweissausbrüchen und Schlafstörungen. «Nachts ist es am mühsamsten,» erklärt ihre Mutter. «Ich
das Spiel geht von Neuem los.» Und erst die Sache mit den Muskeln, sage ich. Wir erzielen mit immer mehr Aufwand immer weniger Leistungssteigerung. Wenn wir Glück haben, können wir unsere Fähigkeiten erhalten. Zudem verändert sich die Figur in eine Richtung, die uns mässig gefällt. Das Stichwort Schwabbelbauch kennen wir jedenfalls gut. Ausserdem trainieren wir unseren Beckenboden jeden einzelnen Tag, denn sonst droht Ungemach. «Das ist ja schrecklich, wie hält man das bloss aus?», fragt die junge Mutter. Das ist eine gute Frage. Denn Grossmütter erleben alle diese Veränderungen ohne dass eine Geburt dem Ganzen einen Sinn gibt. Wir altern einfach und befinden uns am Ende unserer Fruchtbarkeit. Das braucht Nerven und Demut. «Unser Selbstwertgefühl versuchen wir mit anderen Inhalten zu stützen als früher, weil wir das Gefühl haben, aus dem Attraktivitätsrating herauszufallen», bemerke ich. «Ihr seid doch schön», meint die junge Mutter. «Zudem seid ihr ruhig, weise und unterstützend.» Wir danken für das Kompliment. Und im Stillen denke ich, dass wir vor allem nicht in Konkurrenz stehen wollen mit der jüngeren Generation. «Wir scheinen im gleichen Boot zu sitzen, bloss, dass bei uns alternden Frauen die Prozesse nicht umkehrbar sind», sagt die Grossmutter. Von uns unbemerkt ist der frischgebackene Opa eingetreten. «In diesem Boot sitze ich ebenfalls, bildet euch nur nicht zu viel auf eure Umstände ein! Auch wir Männer haben mit körperlichen Herausforderungen zu kämpfen, sehen unsere Kräfte schwinden und von den Hormonen und ihrem Rückgang will ich gar nicht erst sprechen», ruft er und zwinkert seiner Frau zu. •
MARIANNE GRÄDEL (55) ist freischaffende Hebamme und Autorin. Sie lebt in Burgdorf. Gemeinsam mit ihrem Mann bietet sie einen Austausch für Grosseltern an. In ihrer Patchwork-Familie gibt es fünf Kinder und sechs Enkelkinder. gross-eltern.ch oder mariannegraedel.ch
# 03 ~ 2020