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Anderswo: Ungarn
Ferien bei Oma
Von CAROLINE DOKA (sind Text)
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Freiheit
Balàzs und Kiara leben in Basel, ihre Grosseltern in Ungarn. Und trotzdem könnten sie sich nicht näher sein.
Kocsér, ein Bauerndorf 100 Kilometer südlich von Budapest. Hier lebt Edit, 73. Ihr Hof steht am Dorfrand, dahinter Wiesen und Felder, flaches Land. Unendliche Weite. Früher wurde hier Paprika angebaut. Heute bestellt Edit den eigenen Garten, soweit sie noch kann. Edit ist in Kocsér aufgewachsen, hat hier geheiratet und drei Kinder grossgezogen. Der Sohn lebt in der Nähe, eine Tochter in London, eine in Basel. Täglich telefoniert Edit über Facetime mit den Enkeln. Das klappt gut, wenn sie nicht aus Versehen den Flugmodus drückt. Noch schöner sei es aber, die jungen Familien zu Besuch zu haben. Auch für Balàzs, 10, und Kiara, 7, aus Basel gibt es nichts Schöneres, als in Ungarn bei ihrer Oma zu sein. Viele Wochen im Jahr verbringen sie dort, zusammen mit ihren Eltern Anikó und Balàzs sen., die vor zehn Jahren in die Schweiz zogen. Zur Begrüssung kochte die Grossmutter früher leckere Hühnersuppe und Gemüsefladen. Heute ist sie körperlich zu wenig fit. Darum helfen ihr die Enkel, wo sie können. Etwa mit einer Geschäftsidee: Klein Balàzs liess seine Oma Hühner kaufen, die mehr Eier legen als sie essen kann, KOCSÉR
BUDAPEST der Rest sei zu veräussern. Ist er in Kocsér, mistet er den Hühnerstall, Kiara sammelt Eier ein. Ausserdem packt Balàzs im Garten an: «Ich liebe Rasenmähen und Büscheschneiden». Kiara, die gerne Prinzessinnenröcke trägt und die Lippen grosszügig rosa anmalt, klettert derweil auf Bäume und heckt Ideen aus. Schleppt Bretter ins Astwerk, vermörtelt sie mit Sand und zurrt sie, mit Balàzs’ Hilfe, mit Seilen fest. Fertig ist der Hochsitz. Auch mit Mama, wie Oma auf Ungarisch heisst, haben die Geschwister viel Spass. Sie klettert zwar nicht auf Bäume, spielt aber Karten und erzählt von früher. Etwa, wie sie und der verstorbene Opa in den Paprikafeldern ein verletztes Rehkitz fanden und zu Hause gesund pflegten. «Später sprang es zurück in den Wald», erzählt Balàzs. «Aber es kam oft zum Fressen zum Hof zurück.» Seine Augen leuchten. Was bedeutet es ihm, in Kocsér zu sein? «Für mich bedeutet es frei sein. Ich gehe aus dem Haus, direkt dahinter beginnen die Felder. In Basel sind ringsum Häuser. Zum Glück ist in der Nähe ein Park mit Rehen.» Oft kommt Gyula, der Opa väterlicherseits, von Budapest nach Kocsér aufs Land und packt mit an. Das ist so, seit sein Sohn Balàzs sen. und Edits Tochter Anikó sich verliebten und heirateten. Der 77Jährige ist ein Unikum. Als er ~
zum ersten Mal nach Kocsér kam, in seinem riesigen Nissan Maxima, mit seinen goldenen Halsketten und Ringen, stellte er sich im Dorf als Zirkusdirektor vor. Gyula weiss das Leben zu geniessen. Als er bei der ungarischen Telekom arbeitete, besuchte er jeweils schon um 11 Uhr eine von Budapests Thermen. Bei Freunden steht er stets im Mittelpunkt, hält Geschichten feil und wird darum liebevoll «Kakas» genannt: Hahn. Stolz trägt er ein Medaillon mit einem Hahn auf der Brust. Die Geschichte vom Zirkusdirektor ist längst aufgelöst. Die Dorfbewohner mögen den Grossstädter und seinen Humor. Auch Kiara und Balàzs lieben ihren Papa, so heisst Opa auf Ungarisch. Bis vor kurzem kam er oft nach Basel, kümmerte sich um die Enkel, spielte mit ihnen. Heute treffen sich alle bei Edit in Kocsér. Was bedeuten den Grosseltern – jetzt auf Facetime zugeschaltet – ihre Enkel? Gyula: «Kiara das fröhliche, herzige Mädchen, Balàzs, der schlaue, clevere Junge – sie sind die Zukunft.» Und was bedeuten sie Edit? «Alles!», ruft Kiara dazwischen. «Alles», sagt die Grossmutter prompt. «Meine grösste Freude, Liebe und mein grösstes Glück. Balàzs, der schöne Junge mit seinem schelmischen Lächeln. Und meine Kuruska, die schon so eigenständig ist. Wie ich es liebe, wenn sie schmollt!» Sie wünsche ihnen ein langes Leben in Liebe, Reichtum, Gesundheit und Frieden. Und wo sehen die Enkel ihre Zukunft? «In London», sagt Kiara und rafft ihren Tüllrock. «Ich will Künstlerin sein. Malen. Oder etwas bauen.» Und Balàzs? «Ich möchte Gärten verschönern und Pools bauen. In Ungarn, auf dem Land. Am liebsten in Kocsér.» •
Ferienparadies: Kiara und Balàzs mit Opa Gyula und Oma Edit
UNGARN
Einwohner 9 769 526 Fläche 93 036 km2 Hauptstadt Budapest Sprache Ungarisch Währung Forint Staatsform Parlamentarische Republik Ministerpräsident Viktor Orbán Ethnien Die grösste Volksgruppe sind die Magyaren Unabhängigkeit 31. Oktober 1918 von Österreich-Ungarn Vertrag von Trianon Am 4. Juni 1920 unterschrieb im Schloss Grand Trianon bei Versailles eine ungarische Delegation den von den alliierten Siegermächten vorgelegten Friedensvertrag. Ungarn musste in der Folge zwei Drittel des Territoriums abtreten: Mit den Gebietsabtretungen gingen auch die meisten Erz- und Kohlebergwerke verloren, zudem vier Fünftel des Forstlandes. Gewässer Die Donau ist der längste Fluss Ungarns, zu ihrem Einzugsgebiet gehört das gesamte ungarische Staatsgebiet. An ihrem Flusslauf liegt unter anderem Budapest. Der Plattensee (ungarisch Balaton) in Westungarn ist der grösste See in Mitteleuropa. «Das Wunder von Bern» Der gleichnamige Film widmet sich dem Fussball-WM-Final, der 1954 in Bern stattfand. Deutschland gelang damals gegen das favorisierte Ungarn ein Überraschungssieg. Küche Deftig: Pörkölt, Gulasch, Paprikás, Palatschinken, Dobostorte, Strudel ... Berühmte Ungarn Die Schauspielerin Zsa Zsa Gabor, der Komponist Béla Bartók. ~CAP