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Suizid der Enkelin

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Anderswo: Ungarn

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oher sie nur wusste, wie man es macht, fragt sich Gertrud Z.* immer wieder. Vielleicht aus dem Internet, mutmasste die Polizei. Gertrud Z. schüttelt W den Kopf, als wolle sie sagen: «Wie kann man nur!» Doch sie sagt es nicht – oder nicht mehr. Sie sagt stattdessen: «Hoffentlich hat sie es jetzt besser.» Sie, das ist Maria G.*, seit zwei Jahren tot. Am 13. Mai 2019 fand ihre Mutter Rita G.*, 46, geschieden und Lehrerin von Beruf, die 19-Jährige gegen 21 Uhr leblos im Einfamilienhaus am Stadtrand von Bern. Gertrud Z. erfuhr erst eine Stunde später davon, da war sie bei einer Freundin zum Abendessen, sie redeten über die kommende Abstimmung zur AHV-Reform. «Meine Tochter rief mich an, sagte fast resolut: «Maria hat sich umgebracht!», dann legte sie einfach auf, und ich redete weiter, eine Minute lang, vielleicht auch zwei, ich weiss noch, wie ich ins Handy schrie: «Was hat die sich bloss dabei gedacht!»» Schon damals setzten sich die Bilder in Gertrud Z.s Kopf fest: Maria mit ihren schwarzen Locken, der spitzen Nase, den dunkelrot gestrichenen Fingernägeln, dem Jupe mit den bunten Mustern darauf, den braunen, abgewetzten Lederschuhen mit Löchern hinten am Absatz. Ihr lebloser Körper. «Grauenhaft», sagt die 78-jährige, grossgewachsene, elegante Frau, «ich wünschte, mein Kopf wäre leer.» Maria sei ein Mädchen gewesen wie andere auch, sagt Gertrud Z., aufgeweckt, mit Flausen im Kopf, manchmal ein bisschen vorlaut, aber nie frech. Als die Eltern sich scheiden liessen («Meine Tochter Rita hatte ständig Affären»), war Maria neun Jahre alt und weinte viel. Zu ihrem Vater hatte sie danach kaum noch Kontakt, die Mutter war häufig am Arbeiten, also war sie oft bei ihrer Grossmutter. «Als Maria fünfzehn wurde, machten wir unsere erste Städtereise, und dann jedes Jahr: München, Paris, Berlin, Prag. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, redeten über alles, wir hatten auch Geheimnisse vor den anderen. Dass es ihr so schlecht geht, dass sie nicht weiterwusste – das hätte ich nie gedacht. Niemand hätte das gedacht. Erfahren haben wir es, als es zu spät war.» Das war vor einem Jahr, als Rita G. darauf drang, endlich die Sachen von Maria wegzuräumen. Damals verbrachte Gertrud Z. viele Stunden im Zimmer ihrer verstorbenen Enkelin, noch immer fiel ihr der Abschied schwer. So habe sie diese losen Blätter gefunden, randvollgeschrieben in kleiner Schrift, etwa zehn an der Zahl, sie waren in ein Schulheft gelegt. Beim ersten Durchlesen sei ihr schwindelig geworden, sie habe sich erbrechen müssen; später brach Gertrud Z. zusammen. «Bei jedem Satz dachte ich, das ist nicht wahr, vielleicht wollte Maria ja bloss eine Erzählung schreiben, ein fiktives Tagebuch. Ich habe mir das lange eingeredet.»

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«12.10.2018. Habe mit Hannah* (beste Freundin von Maria, Red.) über Freitod geredet. Stritten über das Wort. Sie meint, nur Kranke bringen sich um und die können halt nicht anders, also nichts von «frei». Ich hielt dagegen: Jeder weiss selbst, wann genug ist. Ich jedenfalls werde es wissen. Und mich dann entscheiden – dafür oder dagegen?» Maria und sie hätten oft über den Tod geredet, erzählt Gertrud Z. Etwa darüber, wie es ihr erging, als ihr Mann Erich schon mit Ende fünfzig an Krebs starb, ob ein Leben danach noch möglich sei, und wieso wir überhaupt derart am Leben festhalten, auch wenn es keinen Sinn mehr macht. Im Rückblick glaubt sich Gertud Z. daran zu erinnern, dass Maria einmal sagte, jeder, der lebensmüde sei, habe das Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen; sie jedenfalls würde das so machen. Überhaupt fielen ihr danach immer wieder Sätze und Szenen ein, die hätten ein Zeichen sein können – oder sein müssen, wie Gertrud Z. heute sagt: Marias abwesende Blicke bei Feierlichkeiten zum Beispiel, die zittrigen Hände beim Umblättern eines Magazins, ihr Schulaufsatz zu Albert Camus’ «Sisyphos», der Schweiss auf der Stirn, ihr salopper Umgang mit Jungs, das stundenlange Kritzeln in einem Heft, das übertrieben kindliche Verhalten der Mutter gegenüber, ein Weinkrampf aus heiterem Himmel an der letzten Weihnacht. «23.12.2018. Versuche alles zu verstecken, mich zu verstecken. Geht ganz gut. Meine Mutter interessiert sich nur für sich, die Oma ist alt. Meine Freunde haben andere Sorgen, ich mache den Clown. Oder lasse mich nicht blicken. (...) Cécille* hat mich verlassen, jetzt habe ich niemanden mehr. Ich sehe nur noch schwarz, bin die ganze Zeit traurig, kann nicht schlafen, es dreht und dreht und dreht. (...) Die Pillen gehen mir aus. Am Ende wird alles ein Ende haben. Ein schnelles, leises Ende.» Fassungslos und wütend haben «Marias Zettel», wie sie in der Familie heissen, Gertrud Z. gemacht, vor allem aber wollte sie verstehen. «Ich habe alles über Suizide gelesen, über Motive und Arten, habe Stunden im Internet auf Foren von Hinterbliebenen verbracht, ich war wie besessen.» Eine Antwort auf Marias Tod war all das freilich nicht. Wieder und wieder las Gertrud Z. die Zettel, suchte nach Indizien, Andeutungen und Gründen. Heute ist sie überzeugt, dass ihre Enkelin an Depressionen litt und deswegen Schlafmittel nahm, dass sie unglücklich in eine Frau verliebt war und vielleicht von einem Jungen sexuell misshandelt wurde. «4.2.2019. Cécille spielt mit mir wie eine Katze mit der Maus. Ich verdiene das nicht. Aber gut, besser als wenn dich einer beschmutzt und dir die Seele raubt. (...) Ich fühle mich an wie ein Nichts. Kann sich das einer vorstellen? Du bist unsichtbar, bist gar nicht da, keiner sieht dich. Es spielt keine Rolle, ob es dich gibt. So ist das: Ein Nichts zu sein.» ~

VERTRAULICH UND KOSTENLOS:

DIESE ANGEBOTE SIND SCHWEIZWEIT RUND UM DIE UHR FÜR MENSCHEN IN KRISEN UND IHR UMFELD DA

Dargebotene Hand: Telefon 143, 143.ch Pro Juventute für Kinder und Jugendliche: Telefon 147, 147.ch Pro Juventute für Eltern und Familienangehörige: Elternberatung , 058 261 61 61, projuventute.ch Adressen von Beratungsangeboten in allen Kantonen: reden-kann-retten.ch Kurse für Erste Hilfe für psychische Gesundheit: ensa.swiss

PRO JUVENTUTE

Pro Juventute führt aktuell mit der Gesundheitsförderung Kanton Zürich eine gemeinsame Kampagne zur Suizidprävention durch. Auf Plakaten und in Videoclips erzählen junge Erwachsene davon, wie sie Freunden mit Suizidgedanken geholfen haben. Die Kampagne soll Mut machen, das Tabuthema anzusprechen und Hilfe anzufordern, und sie will aufzeigen, wie junge Menschen helfen können, wenn eine Freundin oder ein Freund Suizidgedanken hat. 147.ch/de/suizidpraevention/

HILFE FÜR HINTERBLIEBENE

Jedes Jahr sterben in der Schweiz 1000 Menschen infolge eines Suizids, zwei Drittel davon sind Männer, ein Drittel Frauen. Bei Suizidversuchen ist das Verhältnis umgekehrt; von jährlich 30 000 Personen, die versuchen, sich das Leben zu nehmen, sind 20 000 Frauen. Zudem geben etwa 50 Prozent der Schweizer Bevölkerung in Befragungen an, im Laufe des Lebens schon an Suizid gedacht zu haben; besonders häufig sind es Menschen ab 85 Jahren. In rund 90 Prozent aller Suizide litten die Betroffenen an psychischen Krankheiten, vor allem an Depressionen. Trotz dieser Zahlen ist das Thema nach wie vor ein Tabu. «In unserer Gesellschaft ist der Suizid ein No-Go», sagt Jörg Weisshaupt, Geschäftsführer des Vereins «trauernetz». Vor allem sei ein wertneutraler Zugang zum Thema kaum möglich. «Die einen verurteilen suizidierte Personen, die anderen heroisieren sie. Beides ist nicht hilfreich im Umgang mit Suiziden.» Für Weisshaupt geht es nicht allein um die Eigenverantwortung von suizidalen Personen. «Wir sind in vielen Fällen nicht einfach frei, rein egoistisch zu entscheiden. Wir leben mit anderen Menschen in einem Netz von Beziehungen, und das bedeutet eben auch, dass wir gegenüber diesen Menschen eine Verantwortung haben.» Weisshaupt begleitet Selbsthilfegruppen von Hinterbliebenen. «Oft nimmt ein Suizid den Hinterbliebenen die einzige Möglichkeit, Abschied zu nehmen, Antworten auf dringende Frage zu bekommen oder um Verzeihung zu bitten», sagt Weisshaupt. Für sie sei es wichtig, dass sie unmittelbar nach der Erfahrung eines Suizids Hilfe in Anspruch nehmen können, sei es von Seelsorgern oder in Selbsthilfegruppen. Einer Studie zufolge weisen Hinterbliebene, die allein gelassen werden, eine 30-mal höhere Suizidalität auf als die restliche Bevölkerung. Deswegen, so Weisshaupt, sei nicht bloss die Suizidprävention wichtig, sondern auch die Nachsorge für Hinterbliebene. Mehr Infos unter trauernetz.ch Wie das eine mit dem anderen zusammenhing – oder ob da noch etwas ganz anderes war –, weiss Gertrud Z. nicht zu sagen. Vermutlich wird sie es nie wissen. Der Tochter wurde das Grübeln von Gertrud Z. zu viel; seit Marias Tod reden sie kaum noch miteinander, Schuldzuweisungen und Scham vergifteten ihre ohnehin schwierige Beziehung. Marias Vater wollte eine Kopie der Zettel, Tage später schrieb er Gertrud Z. eine SMS mit dem Satz: «Ich verstehe die Welt nicht mehr. Es ist, als hätte jemand anders das geschrieben. Nicht unsere Maria.» «22.1.2019. Niemand darf etwas erfahren. Sie würden mir zureden, auf mich einreden, mir Vorwürfe machen und mich abhalten wollen. Sie würden mich verurteilen, ohne zu verstehen. Dafür habe ich keine Kraft mehr. Ich will leise gehen, einfach so.» «Vermutlich habe ich alle Phasen der Trauer durchlebt, wie sie in einem Lehrbuch stehen: Wut, Verzweiflung, Scham, dann die Angstzustände, die Momente des Abschieds, der Versuch sich erneut zurechtzufinden in diesem Leben», sagt Gertrud Z. Manchmal habe sie Tage, da mache sie sich keine Vorwürfe mehr; spiele in ihrem Kopf keine Szenen mehr durch, in denen sie etwas anderes hätte sagen oder tun sollen – als wäre Maria dann noch am Leben. An anderen Tagen nagt dieses Gefühl an ihr, sie hätte alles verhindern können. Dann wünscht sie sich, ihre Enkelin hätte es aus einem Affekt getan – und nicht von langer Hand geplant. Doch Gertrud Z. weiss, dem ist nicht so. Inzwischen trifft sie sich wieder mit Freundinnen, sie liest viel, geht wandern, ordnet ihre Erinnerungen, sortiert das Gelebte, wie sie sagt. «Nach Erich war mir Maria das Liebste im Leben. Nun sind beide nicht mehr da. Da bleibt nicht mehr viel. Aber für mich muss es reichen, es geht noch ein Weilchen weiter.» Ihre Psychologin – Gertrud Z. ist seit einem Jahr in Therapie – sage immer, bei einschneidenden Erlebnissen gebe es ein Leben davor und ein Leben danach. «Doch was ist dazwischen?», fragt Gertud Z. «Und was ist dieses Dazwischen und wie lange dauert es? Hört es jemals auf?» •

*Namen geändert

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