Grosseltern-Magazin 02/2022

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~ Magazin ~ EDITORIAL

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Diktatorenlügen

E

ine meiner Kindheitserinnerungen geht so:

Meine Familie besucht ein befreundetes Ehepaar zum Essen. Das Ehepaar hat keine Kinder, dafür ein sauber aufgeräumtes Haus. Auf der Hinfahrt erhalten meine Geschwister und ich eine Schnellbleiche in Benimmregeln-Deluxe: Nichts anfassen, in ganzen Sätzen antworten, aufrecht sitzen, WC spülen … Logisch, konnten wir ob dieser geballten Ladung Neuigkeiten nicht alles verinnerlichen. Es stellte sich heraus, dass die kinderlose Hausherrin Puppen sammelte. Auf Kommoden, Stühlen und Truhen starrten sie unbespielt ins Leere. Nun, Sie ahnen es, nicht nur den Puppen war langweilig. Auf dem Weg zurück vom Klo, das ich zur Sicherheit zwei Mal gespült hatte, näherte ich mich im Flur einer langhaarigen, glotzenden Schönheit. Während ich die Puppe auf meinen Arm nahm, verlor sie ihrerseits den ihren. Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Bei der Verabschiedung fiel der Puppenmutter der kaputte Arm auf, drei Verdächtige wurden im Flur aufgereiht, alle drei schüttelten trotzig ihre Köpfe. Bevor es zum Kreuzverhör kommen konnte, boten meine Eltern die Übernahme der Kosten für die Reparatur der teuren Puppe an. Meine Lüge, nichts mit allem zu tun zu haben, hielt ich noch mehrere Tage und ohne schlechtes Gewissen aufrecht. Ich würde behaupten, dennoch kein schlechter Mensch geworden zu sein. «Eine Kinderlüge ist nicht Ausdruck eines schlechten Charakters», bestätigt zum Glück auch Familientherapeutin Marielle Donzé in unserem Dossier über Kinderlügen ab Seite 48. Eine Aussage, die auf Lügen verbreitende Diktatoren leider nicht zutrifft. Unser Reporter Klaus Petrus hat

KARIN DEHMER (48) Stv. Chefredaktorin, belügt heutzutage eigentlich nur noch ihre Kinder. Sie verspricht ihnen, sich beim Kochen mehr Mühe zu geben. karin.dehmer@grosseltern-magazin.ch Wie erklärt man Kindern den Krieg: grosseltern-magazin.ch/kriegerklaeren

eine ukrainische Grossmutter, ihre Tochter und ihre Enkelinnen auf ihrer Flucht von Kiew bis über die ungarische Grenze begleitet. Ein Zeugnis dreier Lebenswege, die von einer Minute auf die andere eine erschütternde Wendung genommen haben, ab Seite 32. Wie erklärt man Kindern den Krieg? Unsere Kinderbuch-Tipps zum leider aktuellen Thema auf Seite 76. Ausserdem haben die Kolleg:innen von «wir eltern» und «Fritz und Fränzi» für ihre Leser:innen entsprechende Ratschläge zusammengefasst, Sie finden die Links zu beiden Artikeln auf unserer Website. Grundsätzlich gilt, nur über den Krieg sprechen, wenn die Kinder gezielt danach fragen, grausame Details sollten vermieden, gleichzeitig aber nichts beschönigt werden. Klingt schwierig? Ist es auch. Denken Sie daran, Kinder haben feine Antennen. Stehen Sie zu ihren Ängsten und Sorgen. Und schenken Sie sich und Ihren Enkeln immer wieder Momente der Ablenkung. Ich wünsche Ihnen schöne Frühlingstage. •

# 02 ~ 2022


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