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Wir sind im Reinen
Wie entwickelt sich unser Selbstbewusstsein im Verlauf des Lebens? Manch gängige Vorstellung hat sich inzwischen als falsch erwiesen: Weder Pensionierung noch Pubertät hinterlassen tiefe Dellen in unserem Selbstwert.
Von ÜMIT YOKER (Text) und IRENE MEIER (Illustration)
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Das Leben ist unberechenbar, das hat es in letzter Zeit zur Genüge bewiesen. Unvorhergesehenes ereilt uns aber auch abgesehen von Corona. Manche Erfahrungen streifen das Selbstbewusstsein nur kurz, andere prägen uns über Jahrzehnte. Doch gibt es einen typischen Weg, den das Selbstwertgefühl über das Leben hinweg nimmt? Setzt es in der Adoleszenz zum Sinkflug an? Sorgt das Ende der Erwerbstätigkeit für Erschütterung? Und in welchem Alter fühlen wir uns am wohlsten in unserer Haut? Ein Psychologe und zwei Psychologinnen der Universität Bern sind diesen Fragen auf den Grund gegangen. Fast zweihundert Forschungsarbeiten haben Ulrich Orth, Yasemin Erol und Eva C. Luciano für ihre Studie zusammengetragen und die Daten von insgesamt mehr als 160 000 Personen analysiert. Sie stellen fest: Das Selbstbewusstsein nimmt in der Kindheit normalerweise kontinuierlich zu, bleibt in der Pubertät konstant, um dann in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter steil anzusteigen. Es wächst auch in den Jahren danach weiter an, nur nicht mehr im selben Tempo. Zwischen 60 und 70 Jahren ist das Selbstbewusstsein dann am grössten – und es nimmt auch nachher noch für lange Zeit nur sehr langsam ab. Erst ab etwa 90 Jahren sinkt es innert Kürze relativ drastisch.
BEZIEHUNGEN PRÄGEN DEN SELBSTWERT VON KLEIN AUF
Die individuellen Unterschiede des Selbstwerts bleiben in diesem typischen Verlauf bestehen: Ein von klein auf von Selbstzweifeln geplagter Mensch hadert als Erwachsener wohl irgendwann weniger mit sich selbst – aber trotzdem immer noch mehr als die einstige Schulkollegin, die schon als Zweitklässlerin weitgehend mit sich zufrieden war. Das Fundament für grosses oder geringes Selbstbewusstsein wird vermutlich früh gelegt. Sowohl
Veranlagung als auch Umwelt spielen eine Rolle: Genetische Faktoren wie Aussehen, Intelligenz oder Gesundheit bestimmen mit, welche Erfahrungen wir im Leben machen, wie viel Anerkennung wir erfahren. Noch stärker dürften uns aber die Beziehungen der ersten Lebensjahre zu den nächsten Bezugspersonen prägen, wie Orth, Erol und Luciano sagen. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass diese frühen Erfahrungen unser Selbst- und Weltbild entscheidend beeinflussen. All das bedeutet nicht, dass jemand mit ungünstigen Startbedingungen kein gutes Selbstbewusstsein entwickeln kann. So wie Opfer eines Verbrechens zu werden oder eine schwere Krankheit einen heftig erschüttern können, stärken andere Erfahrungen das Selbstwertgefühl nachhaltig, allen voran: eine gute Partnerschaft, überhaupt stabile Beziehungen zu anderen Menschen.
DER WEG ZUM REIFEN MENSCHEN Warum wächst das Selbstbewusstsein aber gerade in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter so rasant? Die Forschenden Orth, Erol und Luciano erklären das so: Das Ende der Kindheit bringt mehr Autonomie und Kontrolle über das eigene Leben mit sich. Jugendliche gestalten ihren Alltag nun stärker dem eigenen Wesen und ihren Vorlieben entsprechend, sei es bei der Wahl von Freundschaften, Berufsausbildung oder Freizeitbeschäftigungen. Vor allem aber stärken und festigen wir als junge Erwachsene diejenigen Eigenschaften, die später eine reife Persönlichkeit ausmachen: Gewissenhaftigkeit, Umgänglichkeit und emotionale Stabilität sind die Voraussetzungen dafür, dass wir die vielen neuen Rollen, die nun auf uns zukommen, zur Zufriedenheit unserer selbst und anderer erfüllen, als Berufstätige und Liebende, als Eltern und Bürgerinnen. Wir erfahren dafür Bestätigung und Anerkennung in der Gesellschaft, was wiederum unsere Selbstachtung wachsen lässt. Es ist ein Prozess, der sich auch im mittleren Erwachsenenalter fortsetzt. Und wenn wir uns schliesslich dem Pensionsalter nähern, halten wir uns normalerweise nicht mehr mit unseren Unzulänglichkeiten auf, sondern haben gelernt, uns zu akzeptieren und zu schätzen, wie wir sind. Wenig hat Selbstbewusstsein also mit faltenloser Haut und Bestleistungen auf dem Velo zu tun. Es ist nicht einfach die Summe herausragender Fähigkeiten und Eigenschaften. Es ist auch nicht die Konsequenz von Geld, Macht und Erfolg. Vielmehr bedeutet es: Wir haben unseren Platz im Leben gefunden. Dieser steile Anstieg nimmt normalerweise bei etwa Fünfzehnjährigen seinen Anfang. In den Jahren davor nimmt das Selbstbewusstsein zwar nicht nennenswert zu – aber eben auch nicht ab, wie noch immer häufig angenommen wird. «Die Jungen selbst erleben die Adoleszenz normalerweise nicht als eine Zeit von Sturm und Drang», schreiben der Psychologe und die beiden Psychologinnen in ihrer Studie. Das bedeute nicht, dass es keine Fälle gebe, wo Konflikte mit den Eltern oder Stimmungsschwankungen heftiger ausfielen und das Selbstbewusstsein in den Keller falle – wie in jeder Lebensphase gebe es natürlich auch hier individuelle Unterschiede.
SPÄT IM LEBEN ZUFRIEDEN SEIN DÜRFEN
Selbst in den letzten Lebensjahren muss das Selbstbewusstsein nicht unbedingt drastisch sinken, schreiben Ulrich Orth und der amerikanische Psychologe Richard W. Robins in einem anderen Beitrag zum Thema. Eine Rolle spielen hier möglicherweise die Haltung der Gesellschaft gegenüber alten Menschen, die Qualität des Gesundheitssystems oder die Altersvorsorge. Die beiden Forscher stellen ausserdem fest, dass das Selbstbewusstsein auch im hohen Alter kaum abnimmt, solange sich Einkommen, Gesundheit und kognitive Fähigkeiten nicht stark zum Negativen hin verändern. Und wie in der Jugend spielt kurz vor dem Tod ebenso das Gefühl eine entscheidende Rolle, die Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben. Die genauen Gründe für diese unterschiedlichen Verläufe des Selbstbewusstseins müssten aber dringend noch besser erforscht werden, befinden die Autoren. Denn wenn man zum Ende seines Lebens hin von grossen Selbstzweifeln geplagt werde, dürfte sich das grundsätzlich auf das Wohlbefinden und auch das Auftreten von depressiven Symptomen auswirken. Gerade bei schweren Krankheiten ist das Risiko zudem noch einmal grösser, dass das Selbstwertgefühl leidet. Vielleicht ist ja aber auch genau das eine Herausforderung, nicht nur für den Einzelnen, sondern für die Gesellschaft: Zufrieden sein können – und dürfen, auch wenn man irgendwann auf Hilfe angewiesen ist. •