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Mehr geht nicht
Die Fotos in diesem Dossier gewähren Einblick in den Alltag von Ruth Eugster. Die berufstätige Mutter und Grossmutter betreut in ihrer Freizeit ihre Enkel und ihre betagte Mutter. Immer sonntags kocht sie für die ganze Familie.
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Frauen, die alles unter einen Hut bringen müssen: einen anspruchsvollen Beruf, Kinder – die eigenen oder Enkel – und die Betreuung von zunehmend betagten Eltern. Da fehlt schnell die Zeit für Erholung.
Von KARIN DEHMER (Text) und NADINE EUGSTER (Foto)
DOSSIER
Unter «Sandwich Generation» versteht man die Personengruppe zwischen 40 und 60 Jahren – es sind grösstenteils Frauen –, die mitten im Erwerbsleben steht und nebenbei ältere und jüngere Familienmitglieder betreut. Gemäss Carlo Knöpfel, Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit in Muttenz, gilt der Ausdruck mittlerweile allerdings als veraltet: «Der Begriff der «Sandwich Generation» stammt aus der Zeit, als man noch von einer Drei-Genenerationen-Gesellschaft sprach. Dieses Bild trifft nicht mehr zu. Die Gesellschaft des langen Lebens ist heute eine Vier-, auf dem Weg zu einer Fünf-Generationen-Gesellschaft. Man unterteilt das Alter in zwei Phasen: das ‹dritte und agile› Alter und das ‹vierte und fragile› Alter.» Ungeachtet der korrekten Bezeichnung des Sachverhalts, unter dem Strich besteht die Tatsache, dass entweder spätgebärende Mütter oder junge Grossmütter – Frauen ab Mitte 50 also – sich nicht selten mit vielerlei Quellen der Belastung konfrontiert sehen: Ein forderndes Berufsleben, Kinder, seien es noch die eigenen oder schon die Enkelkinder, sowie zunehmend hilfsbedürftige Eltern. Eine dieser jungen Grossmütter ist Ruth Eugster. In der nachfolgenden Aufzeichnung erzählt sie aus ihrem prallvollen Alltag, der kaum ein längeres Zeitfenster für sie selbst zulässt. Vor einigen Jahren hat eine Umfrage der SAKE (Schweizerische Arbeitskräfteerhebung) ergeben, dass ein Fünftel aller Schweizer Frauen eine(n) pflegebedürftige(n) Angehörige(n) betreut. Wie vielfältig diese Frauen ausserdem belastet sind, wurde nicht erhoben. Carlo Knöpfel: «Die Daten zur Erwerbstätigkeit von Frauen zeigten ab 50 eine Abnahme. Es ist eine Vermutung, dass dies mit einem zunehmenden Engagement in der Betreuung von Familienangehörigen einhergeht.» Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich also kein klarer Trend zur Zunahme einer Mehrfachbelastung der mittleren Generationen infolge Überalterung ausmachen. «Familien wandeln sich», erklärt Carlo Knöpfel. «Viele Frauen, vor allem mit einem Tertiärabschluss, bleiben kinderlos. Zudem nimmt die räumliche Distanz zwischen den Generationen zu. Die Kinder leben nicht mehr in der Nähe ihrer Eltern. Diese Punkte sprechen für eine Abnahme der durchschnittlichen Belastung. Die zunehmende Lebenserwartung und die damit einhergehende längere Fragilität verlängern dafür wiederum die Zeit einer möglichen und notwendigen Unterstützung durch Familienangehörige. Zudem ist der moralische Druck gross, dass Hilfe und Betreuung durch die Angehörigen geleistet werden. So ist zu beobachten, dass in der Phase der Fragilität sich die Familien räumlich wieder annähern. All diese Aspekte sprechen für eine steigende Belastung. In summa lässt sich nicht schlüssig sagen, wohin die Entwicklung geht.» Eine Entwicklung, die allerdings klar beobachtet werden kann, ist, dass die «neuen» Alten, die der Babyboomer-Generation, ~
zunehmend gar nicht von ihren Angehörigen betreut werden möchten. Carlo Knöpfel: «Sie erwarten entsprechende Angebote vom Sozialstaat oder kaufen sich, soweit sie sich das leisten können, die nötige Unterstützung bei privaten und öffentlichen Anbietern von Hilfen und Betreuungsleistungen ein.» Was den Sozialstaat betrifft, so ist seit diesem Jahr das Bundesgesetz zur Unterstützung betreuender Angehöriger in Kraft. Es ermöglicht Betreuenden von kranken oder verunfallten Familienmitgliedern maximal zehn bezahlte Urlaubstage pro Jahr. Personen, die über einen längeren Zeitraum, oft mehrere Jahre, betagte Angehörige pflegen, profitieren von dieser Änderung also nicht. Für sie hat das neue Bundesgesetz Betreuungsgutschriften vorgesehen. Hier gilt allerdings die Einschränkung, dass die zu betreuende Person zu Hilflosenentschädigung berechtigt sein muss. Familienangehörige zu betreuen – egal ob Kinder oder Erwachsene – wird oft als bereichernd und sinnstiftend betrachtet. Kommt Stress im Job dazu und obendrauf ein verschlechterter Gesundheitszustand von Betagten, kann die Beanspruchung schnell ansteigen. Dann wird es wichtig, die eigene Belastbarkeit zu thematisieren. Und natürlich wäre es wichtig, gerade was die Betagtenbetreuung betrifft, auf professionelle, externe Hilfe zugreifen zu können. Die ist aber erstens nicht gratis und hinterlässt zweitens bei den betreuenden Familienmitgliedern leider allzu oft ein schlechtes Gewissen. «Sich mit den eigenen Grenzen anderen zuzumuten, ist eine Lebensaufgabe», sagt Barbara Bleisch im Interview ab Seite 52. Die Philosophin setzt sich in ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» mit dem Pflichtgefühl auseinander, das wir unseren Eltern gegenüber haben. •
Zufrieden am Anschlag
Ruth Eugster (54) ist vieles: Berufsfrau, Ehefrau, Mutter, Grossmutter, Tochter, Hausbesitzerin, Freizeitsportlerin. Über den Versuch, all diese Rollen in ihren Alltag zu integrieren.
Ruth Eugster ist an zwei bis drei Tagen pro Woche berufstätig, hütet an zwei Nachmittagen Enkelkinder und deckt daneben einen Teil der Betreuung ihrer betagten Mutter ab.
«Ich bin verheiratet und habe drei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder. In einer Arztpraxis mit 30 Angestellten arbeite ich in einem 50-Prozent-Pensum als Sekretärin. Meine arbeitsfreien Tage sind der Mittwoch und der Freitag. An beiden Nachmittagen hüte ich meine beiden Enkelinnen. Sie sind zwei und sechs Jahre alt. Bis vor zwei Jahren hütete ich zudem einmal pro Mo-
nat meinen Enkelsohn an einem Tag. Er ist jetzt drei und lebt eine Autofahrstunde entfernt. Das musste ich dann aber leider aufgeben, weil es einfach zu viel wurde. Er verbringt nun ein paar Mal im Jahr das Wochenende bei uns. Ich habe natürlich ein schlechtes Gewissen, ihn weniger zu sehen als die beiden Mädchen meines anderen Sohnes, die im Nachbardorf leben. Meine Mutter ist 89 und wohnt noch immer allein in ihrer Wohnung. Sie steht selbstständig auf und zieht sich an. Für alles andere ist sie auf Hilfe angewiesen. Sie mag nicht mehr selber kochen und beim Einkaufen, Putzen, Waschen und Duschen helfen wir ihr. Ein grosser Teil ihrer Betreuung übernimmt glücklicherweise meine Schwester. Sie arbeitet nicht und hat auch keine Enkelkinder. Jeden Dienstag nach der Arbeit gehe ich für meine Mutter einkaufen und esse dann mit ihr Znacht. Manchmal fahre ich auch zu ihr, um ihr beim Duschen behilflich zu sein oder einfach mit ihr Zeit zu verbringen, damit sie nicht tagelang alleine ist, und entlaste so meine Schwester. Die Zeit, die unter dem Strich für mich bleibt, sind der Mittwoch- und der Freitagvormittag. Da mache ich das Nötigste im Haushalt und im Garten. Ansonsten versuche ich zu lesen und die Ruhe zu geniessen. Mein Mann arbeitet nah. Er kommt zum Mittagessen nach Hause. Ja, manchmal beneide ich die Frauen, deren Männer an ihrem Arbeitsplatz essen. Es ist nicht so, dass er erwartet, dass ich für ihn koche. Ich mache es gern für ihn. Den grösseren Teil des Haushalts und des Gartens erledigen wir gemeinsam am Samstag. Wir sind junge Grosseltern. Wir wurden auch jung Eltern. Ich war 19 und 21 bei der Geburt meiner ersten beiden Kinder. Einige Jahre später kam dann unsere jüngste Tochter dazu. Sie hat bis vor zwei Jahren noch bei uns gelebt. Einen Lebensabschnitt, in dem die Kinder ausgeflogen und noch keine Enkelkinder da waren, gab es bei uns nicht. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich denke, ich wäre gern pensioniert und hätte mehr Zeit zur Verfügung. Aber mein Job bedeutet mir viel, ich mache die Arbeit gern. Es hat Phasen gegeben in den letzten Jahren, in denen ich an den Anschlag gekommen bin. Mein Leben als berufstätige Mutter empfinde ich rückblickend weniger streng. Da war ich natürlich auch noch jünger, aber mein Leben war damals definitiv weniger durchgetaktet als jetzt. Mein Mann und ich nehmen uns abgesehen von gemeinsamen Ferien selten gemeinsame Auszeiten. Dennoch finde ich nicht, dass unsere Beziehung unter mei-
ner Mehrfachbelastung leidet. Er sieht und anerkennt mein vielseitiges Engagement und versucht mich darin zu unterstützen. Schwierig ist es hingegen, Freundschaften zu pflegen. Schon mein ganzes Erwachsenenleben bin ich aktiv im Turnverein, gehöre da zum Leiterinnenteam. Aber zum Turnen fehlt mir zurzeit oft die Kraft und auch auf Vereinsanlässe habe ich wenig Lust. Das Verständnis für meine vielen Abwesenheiten ist nicht immer gleich gross. Ich bemühe mich sehr, die Freundschaften zu pflegen und gleichzeitig ein allfälliges Unverständnis zu ignorieren. Manchmal gibt man mir das Gefühl, ich müsste doch alles schaffen. Was soll ich sagen? Meine Enkelkinder sind mir wichtig. Ich möchte nicht auf deren Betreuung verzichten. Wenn ich in den Ferien bin, vermisse ich sie. Und, obwohl ich für meine Mutter nicht so viel mache wie meine Schwester, so bin ich froh, können wir ihr den Wunsch erfüllen, dass sie zu Hause wohnen kann. Im Moment wüsste ich also nicht, was ich loslassen sollte: Sicher nicht den Kontakt zu den Enkelkindern, dass meine Mutter noch da ist, ist ein Geschenk, mein Job gibt mir Rückhalt, das grosse Haus und der Garten sind gerade jetzt mit den Enkelkindern Gold wert. Hätte ich einen Zauberstab, wünschte ich mir einen oder zwei Tage mehr pro Woche, und dass ich meiner Schwester gegenüber kein solch schlechtes Gewissen hätte, weil ich sie bei der Pflege meiner Mutter so wenig unterstützen kann.» •
Arbeit, Kinderbetreuung und Pflege der betagten Eltern: In ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» ist die Philosophin Barbara Bleisch der Frage nachgegangen, wie sich das Gefühl von Verpflichtung begründen lässt, das viele Menschen ihren Eltern (und nicht selten auch ihren erwachsenen Kindern) gegenüber haben.
BARBARA BLEISCH Wissenschafterin, Moderatorin (u.a. Sternstunde Philosophie, SRF) und Autorin. Die Philosophin versteht ihre Tätigkeit als Brückenschlag zwischen akademischer Philosophie, gesellschaftspolitischen Debatten und philosophischen Fragen, die sich im Alltag stellen. Ihre Bücher «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» und «Kinder wollen. Über Autonomie und Verantwortung» sind bei Hanser erschienen. Frau Bleisch, was sind Ihre Gedanken zur Aufzeichnung des prallen Alltags von Ruth Eugster (Seite 50 und 51)? Die Frau hat zweifelsohne einen vollen Kalender und trägt viel Verantwortung. Die Zeit, die ihr «unter dem Strich bleibt» nutzt sie, wie sie sagt, «für das Nötigste im Haushalt und im Garten». Sie arbeitet also zumindest zu einem Teil auch dann. Haus- und Familienarbeit, alles, was man heute als «Care Work» bezeichnet, wird in unserer Gesellschaft aber oft nicht als Arbeit anerkannt. «Ich mache es gern» ist kein Hinweis darauf, dass es sich nicht um Arbeit handelt. Ich mache meine Arbeit als Philosophin und Journalistin auch gern; dennoch ist es Arbeit. Gerade Frauen in der sogenannten Sandwich-Position, die sowohl Enkelkinder hüten als auch eigene Eltern oder Schwiegereltern betreuen, können in eine Situation der permanenten Belastung gelangen. Sich dies einzugestehen, ist nicht einfach, wenn man sich immer sagt: «Ich mache es ja gern.» Auch was man gern macht, kann irgendwann zu viel sein.
Könnte man auch sagen, dass hinter einem schlechten Gewissen die Angst steckt, von einer Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, ausgestossen zu werden? Natürlich liegt uns viel daran, von den Menschen, die wir lieben, auch geliebt und anerkannt zu werden. Vor allem
Mädchen lernten in früheren Zeiten, dass wir unsere Liebe in erster Linie ausdrücken, indem wir anderen helfen. Es ist eine Binsenwahrheit, dass man nur helfen und geben kann, wenn man auch dafür sorgt, dass es einem selbst gut geht. In Beziehungen sind wir oft anfällig dafür, über unsere Grenzen hinauszugehen, weil der Schmerz des Gegenübers ein Stück weit auch der eigene Schmerz ist. Manchmal würde es aber genügen, die eigenen Grenzen anzusprechen – vielleicht versteht das Gegenüber die Situation sogleich und es lassen sich alternative Lösungen finden. Das sage ich nun nicht als Philosophin, sondern als eine Person, die wie die meisten Menschen in Beziehungen lebt, in denen wir versuchen, den anderen und uns selbst bestmöglich gerecht zu werden. Sich mit den eigenen Grenzen den anderen zuzumuten, ist eine Lebensaufgabe.
In Ihrem Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» schreiben Sie, dass weder Verwandtschaft noch geleistete Fürsorge der Eltern ihre Kinder zu etwas verpflichte, nicht mal zu Dankbarkeit. Dennoch habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich länger nicht bei meinen Eltern gemeldet habe. Eltern sind, wie der Schriftsteller Peter Weiss einst schrieb, die «Portalfiguren» unseres Lebens. Wir können noch so sehr auf Distanz gehen, Familie ist uns,
wenn nicht in Fleisch und Blut, dann sicher in unsere Identität übergegangen. Wir haben deshalb auch guten Grund, uns um ein gutes Verhältnis zur Herkunftsfamilie zu bemühen – und müssen dennoch unseren eigenen Weg finden. Es braucht eine lange Zeit der Emanzipation, bis wir verstehen, dass nicht alles, was unsere Eltern sich von uns wünschen, auch unsere Pflicht ist. In meinem Buch geht es mir darum, zu zeigen, dass die Antwort auf die Frage, was Kinder ihren Eltern schulden, von der aktuellen Beziehung zu den Eltern abhängt und nicht vom Verwandtschaftsverhältnis. Ein schlechtes Gewissen kann also davon herrühren, dass wir uns nicht hinreichend emanzipiert haben – aber auch daran, dass wir tatsächlich ein enges und liebevolles Verhältnis zu den eigenen Eltern pflegen und sie nicht enttäuschen möchten. Es gilt auch hier, was ich bereits gesagt habe: Wir alle müssen lernen, über unsere Erwartungen, aber auch über unsere Grenzen zu sprechen. Das gehört zu erwachsenen Beziehungen dazu.
Wenn alle Kinder, die sich aus Schuld- oder Pflichtgefühl um ihre betagten Eltern kümmern, das nicht mehr tun, müssten das Gesundheitswesen und der Sozialstaat doch den Preis dafür bezahlen? Ich bin als Philosophin der ethischen Frage nachgegangen, wie sich das Gefühl von Verpflichtung, das viele Menschen ihren Eltern gegenüber haben, begründen lässt. Und meine Arbeit an «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» hat mich zu dem Ergebnis geführt, dass es sich nicht allein dadurch begründen lässt, dass man das Kind von jemandem ist! Wenn ich überhaupt ein gesellschaftspolitisches Anliegen habe, geht es mir sicher nicht darum, Familiengefüge zu schwächen, sondern ganz im Gegenteil darum, die Familie zu stärken, indem wir sie von überfrachteten Vorstellungen befreien. Eltern wünschen sich in aller Regel Zuwendung, die Kinder ihnen aus freien Stücken schenken, und nicht aus Furcht, sie zu enttäuschen. Wenn wir die Familie als wichtige Stütze der Gesellschaft begreifen, dann sollten wir uns für die Idee öffnen, dass die Gesellschaft ihrerseits Grund hat, die Familie und damit auch die Eltern-Kind-Beziehung zu entlasten. ~
Und wie tut die Gesellschaft das? Sicher nicht, indem sie Frauen, die keine Pflege- oder Hütedienste übernehmen wollen, ein schlechtes Gewissen macht. Sondern indem sie gesellschaftliche Strukturen stärkt, die Familien bei Bedarf entlasten, wenn es etwa um die Betreuung pflegebedürftiger Familienangehöriger geht. Wer jemals mit Blick auf die eigenen Eltern oder Grosseltern diese Aufgabe übernommen hat, weiss, wie intensiv diese Erfahrung ist, wie verbindend und kostbar und wie trennend und beziehungsgefährdend zugleich sie sein kann. Eine Gesellschaft, die auf die Familienbande als stützenden Pfeiler setzt, sollte bereit sein, erwachsene Kinder in dieser Aufgabe zu unterstützen.
Erwachsene Kinder, die kein Bedürfnis haben, wöchentlich bei ihren Eltern vorbeizuschauen, und Grosseltern, die zu beschäftigt sind, um sich um ihre Enkelkinder zu kümmern: Der Vorwurf nach Selbstverwirklichung auf Kosten einer moralischen Verpflichtung ist meist nicht weit. Ich weiss gar nicht, ob dieses Bild stimmt – oder ob es nicht herbeigeredet wird. Gerade jetzt während der Pandemie haben wir doch gesehen, wie sehr die jüngere Generation bereit war, die älteren und verletzlichen Menschen zu schützen. Und wenn wir beachten, wie gross der Beitrag der Grosseltern zur Kinderbetreuung in der Schweiz ist, scheint mir diese Frage in die falsche Richtung zu zielen. Problematisch finde ich vielmehr, dass der immense soziale Beitrag, den Grosseltern leisten, oft nicht gesehen und anerkannt wird. Ich verstehe und unterstütze deshalb auch die Anliegen der «GrossmütterRevolution» und freue mich, wenn Grossväter sich ebenso aktiv einbringen. Nicht vergessen dürfen wir auch, dass junge Menschen heute – wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht – mobiler sind. Es wird von ihnen erwartet, dass sie einen Sprachaufenthalt machen, im Ausland studieren, fremde Länder bereisen. In einer globalisierten Welt ist es nicht mehr so einfach wie früher, in seiner Herkunftsfamilie präsent zu bleiben. Oft sind die Wege einfach sehr weit.
Was sagen Ihre Berufskolleginnen und -kollegen aus südlichen Nachbarländern über Ihre These? Oder ist es ein Klischee, dass eine enge Bindung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern in Südeuropa weniger hinterfragt wird? Die Frage nach den innerfamiliären Pflichten von erwachsenen Kindern stellt sich in anderer Weise, wenn es keine sozialstaatlichen Strukturen gibt. In Gegenden der Welt, in denen die Kinder die einzige Altersvorsorge sind, sind Kinder in anderer Weise verantwortlich. Allerdings interessiert mich als Philosophin, wie Gesellschaften bestmöglich auszugestalten sind. Und ich würde meinen, dass wir gut daran tun, die soziale Sicherheit nicht allein von Familienstrukturen abhängig zu machen. Kolleginnen aus Griechenland und Italien haben mir gesagt, dass die Thesen, die ich vertrete, bei ihnen natürlich weitaus brisanter sind – aber sie sich genau diese Form von Entlastung wünschen. Oftmals sind es übrigens Männer, die die guten alten Zeiten herbeisehnen, in denen man in der Familie noch ganz füreinander da war. Selbst gehen sie aber gern rund um die Uhr einer Arbeit ausser Haus nach. Hingabe und Fürsorge zu fordern auf Kosten der anderen, ist aber allzu einfach. •
«Ich habe ein schlechtes Gewissen, meinen Enkelsohn weniger zu sehen als die beiden Mädchen meines anderen Sohnes»: Ruth Eugster mit ihren drei Enkelkindern.
BÜCHER ZUM THEMA
1 Warum wir unseren Eltern nichts schulden,
Barbara Bleisch, Hanser 2018, 15 Franken.
Wie oft muss ein erwachsener Sohn seine Mutter besuchen? Haben sich Geschwister an der Pflege ihres alten Vaters zu beteiligen? Sind Kinder ihren Eltern überhaupt etwas schuldig? Klug und zugänglich geht die Autorin der existenziellen und zugleich komplizierten Verwandtschaftsbeziehung zwischen Eltern und Kindern nach. Denn nirgendwo liegen
Erwartung, Enttäuschung und Glück so nahe beieinander wie in der Familie.
2 Leben in der Sandwich-Generation,
Annie Bieltz, Verlag Hartmut Becker 2020, 19 Franken.
Die Autorin schildert die Situation von Menschen in der mittleren
Generation, die einerseits den Bedürfnissen der Kinder und Enkel und andererseits ihren Verpflichtungen gegenüber den Eltern oder Grosseltern gerecht zu werden versuchen. Kurzgeschichtenartig werden mögliche
Herausforderungen dieser Lebensphase beschrieben.
3 Ich kann doch nicht immer für dich da sein,
Cornelia Kazis, Bettina Ugolini, Piper 2010, 19 Franken.
Was bedeutet es, wenn die betagten Eltern der Fürsorge bedürfen?
Wo ist man Kind, wo Erwachsener? Wie geht man als Tochter oder Sohn mit Gefühlen von Scham, Ekel und Überforderung um, wie als Mutter oder Vater mit denen des Bedeutungsverlusts und der Bevormundung?
Anhand von Alltagsszenarien zeigen die Autorinnen auf, wie diese schwierige Konstellation zu meistern ist.