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Aus der Praxis

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Mehr geht nicht

Mehr geht nicht

Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Diese alte Bauernweisheit rührte daher, dass der Zustand des Gebisses sehr viel über das restliche Pferd aussagte. Beim Hausarzt ist der Patient aber kein geschenkter Gaul und er soll ihm auch gehörig ins Maul schauen. Wie viel zehntausende Münder ich inspiziert habe, kann ich nicht sagen, aber der Blick hinein war immer aufschlussreich. Nebenbei bemerkt, habe ich in meinen Perujahren – nach einem Crashkurs bei einer Zahnärztin – auch Zähne gezogen. Die Zähne sind den Gewohnheiten und den Kulturen ausgesetzt wie kaum ein anderes Organ. Die Campesinos im Altiplano kauen auch heute noch stundenlang Kokablätter mit Kalk gegen Müdigkeit und Hunger. Andenkaugummi! Leider schleifen sie damit die Zahnhöcker derart ab, dass die Molaren ganz flach werden. Mit dem Aufkommen von Zucker ging es den Zähnen in Europa vor über hundert Jahren so richtig an den Kragen. Karies nahm massiv zu, weil die Zahnpflege komplett fehlte. Jetzt kamen Techniker auf den Plan, die für alles eine Lösung haben. Das künstliche Gebiss war für ein, zwei Generationen fast garantiert. Bevor jemand heiraten konnte, wurde der Rest der überlebenden Zähne gezogen und eine Prothese (=«Schublade») angepasst. So kam man zu einem schmerzfreien Ehepartner, der keine weiteren Zahnarztkosten verursachen würde. Die Anekdote dazu: Meine Frau musste als Lernschwester in einem Saal mit sechs Frauen morgens um fünf die Prothesen der Patientinnen am Brünneli putzen. Statt hin- und und herzulaufen, legte sie alle «Schubladen» auf ein Tablar. Leider gerieten sie beim Putzen durcheinander, sodass eine um die andere anprobiert werden musste. Bähh. Dann gab es die Generation «Brücken und Plättli» (Teilprothesen), in der die wunderlichsten Konstruktionen in das Kauorgan eingebaut wurden. Später, mit der langsamen Verbesserung der Mundhygiene, waren es noch einzelne Zähne, die ersetzt wurden. Die Kronen hielten Einzug im Mund und eine ganze Generation von Zahnärzten und -technikern verdiente sich daran eine goldene Nase. Gerade als unsere Kindheit vorbei war, folgte die beste und grösste Präventionskampagne des Landes: Schulzahnpflege, Zahnputzfeen, Fluor (umstritten), Warnung vor süssen Getränken und ein ganzes Arsenal von Massnahmen. Viele Menschen aus der Generation unserer Kinder haben makellose Gebisse, oft noch im Erwachsenenalter frei von Karies. Auch der Hausarzt war davon begeistert. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende, denn jetzt fand man ein neues Thema: Zahnfehlstellungen. Und schon tat sich ein neues Tätigkeitsfeld auf mit den «Schpangen», die nicht beliebt waren wegen Druckstellen und Nuscheln und als Gartenhäglein, zudem enorm störend bei den ersten Küssen. Aber sie machten Ordnung und stellten alles gerade, was vorher krumm war. Ja, die Zähne sind seit je ein sozialer und medizinischer Indikator. Schwere Raucher sind sofort erkennbar, Drogenabhängige haben schlechte Gebisse, arme Familien leiden an Karies oder Fehlstellungen. Selbst Nationen kennen typische Zähne. Erinnern Sie sich an Showmaster Rudi Carrell mit seinem klassischen, durchaus charmanten holländischen Überbiss? Er war nicht der einzige aus dem Tulpenland. Das kam daher, dass es in Holland keine Nuggis gab. Sieht dumm aus, fanden sie dort. Dafür drückte dann der Lutschdaumen die oberen Zähne raus. Da strahlen wir also jetzt um die Wette mit unseren gestylten Zähnen, sodass es bald langweilig ist mit all diesen perfekten Fronten. Und schon haben die Menschen einen Ausweg zur Profilierung gefunden. Einige Topmodels belassen als Markenzeichen trendige Zahnlücken zwischen den Schneidezähnen. Der Hausarzt aber macht sich weiter seine Gedanken beim Blick in den Mund. Bitte Ahhh, und schon notiert er fast unbewusst einen kursorischen Zahnstatus, der ihm viele Informationen vermittelt über den Menschen, seine Lebensweise, seine Disziplin, seine Unarten und Schwächen. •

EDY RIESEN (70) war als Hausarzt in Ziefen (BL) tätig. Er führte bis vor Kurzem eine Praxis mit seinem Schwiegersohn und ist mehrfacher Grossvater.

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~ Aus der Praxis ~

DIE HEBAMME

Papas Ängste

Einen Vater plagen nach der Geburt seines ersten Kindes Ängste, die er unbewusst auf seine neugeborene Tochter überträgt.

Emma ist 10 Tage alt und Sarahs und Michaels erstes Kind. Wir sitzen auf dem Sofa und Michael wiegt Emma im Arm, beobachtet sie aufmerksam, wie sie langsam einschläft. Er wirkt angespannt. Seine Schultern sind hochgezogen, ein Bein wippt, sein Atem und das Wiegen werden schneller. Michael steht auf und legt Emma vorsichtig in den Stubenwagen, in dem seit drei Generationen alle Babys seiner Familie ihre ersten Wochen verbracht haben. Seine Bewegungen und Körpersprache verraten eindeutig, dass ihm dabei unwohl ist. Sobald Emma auf der Matratze liegt, wacht sie auf, und Michael nimmt sie sogleich wieder hoch in seine Arme. «Dir ist nicht wohl im Stubenwagen, gell?», sagt er zu Emma und an mich gewandt: «Ich glaube, er ist ihr zu eng. Sie sieht uns ja gar nicht mehr. Und ich bin mir, was die Mittel betrifft, die bei der Restaurierung angewendet worden sind, nicht sicher, ob die nicht schädlich sind. Und wir sehen sie nicht, falls sie plötzlich aufhört zu atmen.» Seit der Rückkehr aus dem Spital äussert Michael immer wieder Ängste. Zum Schlafplatz, zur Temperatur, zum Wickeltisch, zum Herumtragen, zur Muttermilch. Wir haben alles besprochen, doch seine Ängste werden dadurch nicht weniger. Michael setzt sich wieder neben mich. Ich atme tief durch. «Weisst du, für unsere Kinder ist auch wichtig, wie wir uns fühlen, wenn wir sie hinlegen, oder wickeln, oder anschauen. Wir prägen ihr Gefühl für die Welt, ob sie sich darin sicher fühlen oder nicht.» «Du meinst, sie spürt meine Angst?», fragt er nach einer Pause. Sarah nickt und schaut Michael liebevoll an. Es scheint kein unbekanntes Thema zu sein. «Das Thema Angst begleitet uns als Eltern ein Leben lang. Wir müssen unsere Ängste von realen Gefahren unterscheiden. Und dies ist ja nicht immer eindeutig. Aber wir können es versuchen: Was den Stubenwagen betrifft, so könnten die verwendeten Mittel effektiv eine Gefahr darstellen, die Angst wäre also berechtigt. Dann ist da die Angst, Emma könnte sich alleingelassen fühlen und deine Angst, sie könnte aufhören zu atmen. Verständlich also, dass dir nicht wohl dabei ist, sie hineinzulegen. Emma nimmt durch deine Hände wahr: «Das ist ein sehr gefährlicher Ort.» Deshalb wacht sie auf. Sie wacht auch auf, weil sie als Säugetierjunges Instinkte hat, die ihr sagen: «Achtung, du bist allein, du könntest vergessen und gefressen werden, verhungern und unterkühlen.» Sie muss sich bemerkbar machen, um zu überleben, und wir müssen ihr ganz oft bestätigen, dass dies ein sicherer Ort ist.» Michael schaut mich an. «Wenn du das so sagst, klingt es logisch und macht Sinn.» Beim nächsten Besuch bedanken sich Michael und Sarah. Sie hatten lange Gespräche über ihre Ängste. Der kleine Unterschied zwischen «Papas Angst» und «Emmas Angst», wie Michael es nennt, macht für alle einen sehr grossen Unterschied. Das merke ich schon beim nächsten Besuch. Emma schläft friedlich in ihrem schönen Stubenwagen (nachdem alle Säbelzahntiger abgewehrt wurden …) •

CAROLE LÜSCHER (47) ist Hebamme Msc, Geschäftsführerin der Hebammenpraxis 9punkt9 in Bern, freie Dozentin und engagiert sich berufspolitisch. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. 9punkt9.ch

Leih-Oma werden

EINE GROSSMUTTER (68) FRAGT: Ich habe mich sehr gefreut, Grossmami zu werden. Leider konnte oder wollte meine Schwiegertochter ihr Kind nicht loslassen. Ich durfte es immer nur ganz kurz im Arm halten, geschweige denn einige Stunden hüten. Als ich sie darauf ansprach, erwiderte sie, sie bestimme, wann sie ihr Kind fremdbetreuen lassen wolle. Als es dann soweit war, kam es, wie ich befürchtet habe: Das Kind weinte zweieinhalb Stunden ununterbrochen. Kein Wunder, es kannte mich ja kaum. Weitere Versuche wurden sofort abgebrochen. Ich bin sehr traurig. Meine Freundin hat in Ihrem Magazin einen Artikel zum Thema «Leih-Grosseltern» gelesen. Sie hat mir geraten, bei Ihnen nachzufragen, ob es Organisationen gebe, die fremde Grosseltern vermitteln.

Aus Ihren Zeilen ist deutlich spürbar, wie sehr Sie die Situation mit dem Enkelkind und der Schwiegertochter bedrückt. Beim ersten Mal Hüten, das ja dann doch zustande kam, ist wohl einiges unbedacht geschehen. Aus langjähriger Erfahrung in Kitas weiss man, wie wichtig eine sorgfältige Eingewöhnung eines Kleinkindes in die unvertraute Situation mit noch fremden Menschen ist. Dazu ist es erforderlich, dass die Mutter anfänglich unbedingt anwesend bleiben muss, ja, sich zunächst einmal gar nicht aus dem Blickfeld des Kindes entfernt. Bei einem späteren Besuch kann die Mutter sich dann in einen anderen Raum begeben, sollte aber, sobald das Baby zu weinen anfängt, wieder da sein. So kann sich das Kind allmählich an die neue Person gewöhnen, was Sie ja bedauerlicherweise zunächst mal sind. Ich denke, auch wenn es beim ersten Mal nicht gelungen ist, kann durchaus ein neuer Versuch gewagt werden. Ich möchte Sie daher ermuntern, sich vorderhand noch nicht von Ihrem Wunsch, eine liebevolle Oma zu sein, zu verabschieden, sondern nochmals das Gespräch mit Ihrer Schwiegertochter zu suchen. Wir wissen ja alle, dass Ihre Schwiegertochter eines Tages durchaus in die Situation kommen könnte, in der sie um Ihre Unterstützung froh

DAGMAR SCHIFFERLI (67) ist Psychologin und Dozentin für Gerontologie und Sozialpädagogik, veröffentlicht zudem Romane und Erzählungen. Sie hat eine Tochter und drei Enkelkinder. dagmarschifferli.ch

Fragen an: beratung@grosseltern-magazin.ch Die Fragen werden anonymisiert.

sein wird. Was nun Ihre Überlegung betrifft, Grossmutter für ein nicht verwandtes Kind zu sein, empfehlen wir in der Ausgabe 02/2019 einige Organisationen: misgrosi.ch, care.com, babysitting24.ch. Vielleicht ist es sinnvoll, mit der Kontaktaufnahme noch zuzuwarten, bis sich die Angelegenheit mit Ihrer Schwiegertochter geklärt hat. Noch eine kurze Schlussfrage: Hat sich Ihr Sohn schon einmal zu dem doch recht gravierenden Problem geäussert und wäre ein Gespräch mit ihm möglich? •

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