Zukunftskongress „Was unsere Gesellschaft zusammenhält“ 5. Mai 2012, VHS Ingolstadt
Dokumentation
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landesverband Bayern
Inhalt Einführung ................................................................................................................................... 1 „Mein Bayern“ und der Gerechtigkeitskongress................................................................................. 1 Impulsreden ................................................................................................................................. 2 Theresa Schopper | Gerechtigkeit – eine Einführung ......................................................................... 2 Margarete Bause | Wer soll die Flöte kriegen? Plädoyer für eine Politik der Befähigung ................. 6 Gastbeiträge ................................................................................................................................ 8 Dr. Sepp Dürr | Gar nicht so einfach mit dem guten Leben – Grenzen und Widersprüche neuer Lebensstile ........................................................................................................................................... 8 Beate Walter-Rosenheimer | Arbeitsmarkt heute – Gerechter Zugang, gerechte Entlohnung. ...... 20 Dr. Thomas Gambke | „Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit – Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen?“......................................................................... 24 Claudia Stamm | Zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung ................................................ 26 Doris Wagner | Wahlfreiheit und Teilhabe – Gender in einer gerechten Gesellschaft .................... 29 Ekin Deligöz | Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft als Zukunftsaufgabe ................... 30 Ayfer Fuchs | Integration – Begegnung auf Augenhöhe ................................................................... 32 Günther Sandmeyer | Der Eliten-Begriff im bayerischen Bildungssystem ....................................... 33 Michael Gerr | Inklusion in Bayern ................................................................................................... 35 Gabriela Seitz-Hoffmann | BürgerInnenbeteiligung für Alle............................................................. 37
Berichte aus den Workshops ...................................................................................................... 38 Noelle Pfeiffer | Her mit dem guten Leben – Neue Lebensstile für mehr Gerechtigkeit ................. 38 Stefan Schmidt | Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit – Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen? .......................................................................... 41 Silke Rapp | Wahlfreiheit und Teilhabe – Gender in einer gerechten Gesellschaft ......................... 43 Dr. Ingrid Röder | Präsentation des Gleichstellungsberichts 2011 ................................................... 44 Silvia Wagner | Generationengerechtigkeit – keine Einbahnstraße ................................................. 52 Jim Sengl | Soziale Barrieren meistern durch eine interkulturelle Gesellschaft ............................... 55 Martin Heilig | Mythos Eliten – Chancengerechtigkeit oder Abgrenzung? ...................................... 59 Uli Hausner | Der Weg zum inklusiven Gemeinwohl ........................................................................ 61 Christian Höbusch | Einmischen – Engagieren – Beteiligen: Gerechtigkeit selbst gestalten............ 65 Beitrag zum Streitgespräch: „Grundeinkommen versus Grundsicherung: was ist gerechter?“ ....... 69 Dieter Janecek | Wie weiter mit dem BGE? ..................................................................................... 69 Schlusswort | Theresa Schopper ................................................................................................. 72
Impressum: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Landesverband Bayern Christopher Reiter Sendlinger Str. 47 80331 München
Einführung „Mein Bayern“ und der Gerechtigkeitskongress Bayern verändert sich. Es wird vielfältiger (durch Zuwanderung und sozialen Wandel), weltoffener (durch internationale Verflechtung), widersprüchlicher (weil mehr verschiedene Lebenswelten aufeinander treffen), eintöniger (durch immer mehr von den gleichen öden Gewerbegebieten), reicher (weil der Wohlstand steigt), ärmer (an Tier- und Pflanzenarten), gespaltener (weil die Teile des Landes auseinander driften), wärmer (durch den Klimawandel) und kälter (weil ein wachsender Teil der Bevölkerung vom Wohlstand des Landes nicht profitiert). Dieser Wandel und seine Widersprüche ändern auch die politische Landschaft in Bayern. Die beiden Volksparteien CSU und SPD sind nicht (mehr) in der Lage, die gewachsene gesellschaftliche Vielfalt abzubilden und eine Politik anzubieten, hinter der sich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler versammeln kann. Die neuen Fragen nach den Folgen des Klimawandels, der Bildungsgerechtigkeit, der Integration, der verschiedenen Lebensmodelle bleiben bislang von der regierenden Politik weitgehend unbeantwortet. Die seit 2008 amtierende Mehrheit im Landtag war zu größeren Korrekturen gegenüber ihren Vorgängerregierungen oder zu neuen Antworten bislang weder willens noch in der Lage. Genau die sind aber gefragt. Und damit sind wir Grüne gefragt. Wohin soll sich Bayern entwickeln? Was braucht das Land? Bevor wir das Ziel definieren, ist eine Bestandsaufnahme angesagt. Auf welche Stärken Bayerns und seiner EinwohnerInnen können wir aufbauen? Welche Potenziale gibt es, die bislang nicht richtig genutzt werden? Wir Grüne haben bislang noch nicht systematisch versucht, diese Fragen zu beantworten. Ein Versäumnis, dass wir nun nachholen wollen. Denn in Bayern steckt viel mehr drin als Oktoberfest, geranienbepflanzte Balkone oder die CSU. Deswegen haben wir am 5. Mai 2012 in Ingolstadt einen Zukunftskongress zum Thema Gerechtigkeit veranstaltet. Unter dem Titel “Was die Gesellschaft zusammenhält” wurden in acht Workshops und einem Streitgespräch mit zahlreichen ReferentInnen aus Politik und Gesellschaft gemeinsam Antworten erarbeitet, wie Bayern gerechter gestaltet werden kann. Denn auch in Bayern nehmen Einkommens- und Vermögensungleichheiten zu. Gleichzeitig sinkt die Mobilität zwischen den Einkommensstufen. Es steigt das Gefühl der Ungerechtigkeit, der Verunsicherung, bis hin zu Angst oder Wut. Wie können wir dem mit unserem politischen aber auch persönlichen Handeln entgegenwirken? Wie können wir Teilhabe aller sichern, egal welchen Alters, Herkunft, Bildungsniveaus, Geschlechts oder Wohnorts? Ist Grundeinkommen oder Grundsicherung der bessere Weg?
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Impulsreden Zum Kongressauftakt gaben Theresa Schopper (MdL, Landesvorsitzende) und Margarete Bause (MdL, Fraktionsvorsitzende) im Rahmen ihrer Einführungsreden die Impulse zum Thema Gerechtigkeit.
Theresa Schopper (MdL, Landesvorsitzende) | Gerechtigkeit – eine Einführung Gerechtigkeit herrscht laut dem griechischen Philosophen Platon, “ wo jeder das tut, was seine Aufgabe ist”. Man muss die Menschen also auf die Füße bringen, dass sie selbst laufen können. Mit Fürsorge allein ist es nicht getan. Die Aufgabe der Politik ist es den Gerechtigkeitsbegriff weiterzuentwickeln. Die Grünen haben sich im Grundsatzprogramm ausgiebig mit dem Begriff der Gerechtigkeit auseinandergesetzt. Gerechtigkeit ist für uns nicht nur, dass das Vermögen verteilt ist. Das ist meist der erste Gedanke der einem einfällt, aber der greift zu kurz. Vielmehr ist die Vermeidung von Armut die zentrale sozialpolitische Aufgabe. Es geht nicht nur um die Frage, dass jemand genug zu essen, trinken und ein Dach über den Kopf hat. Ich habe immer den politischen Grundgedanken der grünen Sozialpolitik präferiert, der mehr ist als die bayerische Fürsorgepolitik der Staatsregierung, die das Thema Armut lange verneint hat. Es war ein langer Kampf, dass der Sozialbericht in Bayern überhaupt erhoben wird. Den ersten Sozialbericht hat die Regierung damals sofort wieder eingestampft, weil Worte wie „Bildungsarmut“ vorkamen. Ungerechtigkeit im Bildungssystem tritt jetzt immer mehr zu Tage. Jetzt wird es kontinuierlich einen Sozialbericht geben. Wir haben hochrangige Expertenkommissionen von Ministerpräsident Seehofer eingesetzt, die mit politischen Handlungsempfehlungen eigentlich neue Wege Bayerns skizzieren sollen. Aber die größte Schwäche ist, dass Sozialberichte gemacht werden, dann aber eine Umsetzung fehlt oder diese recht halbherzig angegangen wird. Denn: Sozialberichte gut und schön, aber wenn ich was weiß, muss ich aus dem Wissen Konsequenzen ziehen und nicht nur zwei Wörter oder die Datei archivieren. Was wir nicht brauchen ist eine konsequente Alibiveranstaltung! Ich möchte euch hier eine Kurzauswertung des Berichts vorstellen: 1) Schwerpunkt dieses Mal war das Thema „Menschen mit Migrationshintergrund“. Bisher wurde in Bayern Zuwanderung jahrelang als Betriebsunfall gesehen. Dabei wird von der CSU übersehen, dass Bayern ein Zuwanderungsland ist! Integration und Diversity ist ein Standortvorteil, die bayerische Staatsregierung ist davon noch weit entfernt! Der 1. Sozialbericht hatte schon moniert, dass Chancen für Kinder mit Migrationsgeschichte im Bildungssystem zu gering sind. Damals wurde schon moniert, dass wenn die Integration nicht gelingt, sozialer Sprengsatz garantiert ist. Die Zahlen heute im Sozialbericht: Menschen mit Migrationshintergrund sind doppelt so häufig arbeitslos und von Armut bedroht, wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Rund
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20 Prozent liegt ihr Einkommen unter dem Durchschnitt der bayerischen Bevölkerung. Arbeitslosigkeit liegt trotz guter Daten auf dem Arbeitsmarkt bei 5,6 Prozent, der Landesdurchschnitt bei 4 Prozent. Von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind vor allem ältere ArbeitnehmerInnen. Auch das Armutsrisiko Kind ist in Bayern nicht gebannt. 40 Prozent der alleinerziehenden Haushalte leben unter der Armutsschwelle. Kinderreiche Familien haben ein deutlich niedrigeres Einkommensniveau, die Schere zwischen arm und reich geht auch in Bayern immer weiter auseinander. Obwohl Bayern ein reiches Land ist, wächst die Armut! Es gibt massive Probleme vor allem bei den ungleichen Bildungschancen. Wir werden noch einen eigenen Kongress, wo all die Facetten rund um Bildungspolitik thematisiert werden, abhalten. Aber ein Punkt, der mich – Kind einer Arbeiterfamilie – massiv auf die Palme bringt, ist folgender: trotz des Aufbruchs in der Bildungspolitik Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, wo nicht mehr nur der Apothekersohn oder die Rechtsanwaltstochter auf ein Gymnasium gehen konnte, wo plötzlich viele Kinder mit meinem persönlichen Hintergrund eine schulische Laufbahn und ein Studium machen konnten, manifestiert unsere Bildungspolitik heute die ständischen Grenzen immer noch extrem. 2) Die geringe soziale Mobilität ist für mich eine der größten Ungerechtigkeiten. Anders als die Schranken damals, wo ein gesellschaftspolitischer Aufbruch zu Bildungschancen nötig war, brauchen wir einen Aufbruch in der Infrastruktur. Angefangen von Kleinkinder-, Ganztagesbetreuung, individuelle Förderung und Abschaffung der Studiengebühren bis hin zur Alumni-Netzwerken. Nur über Infrastruktur, nicht über die Präferenz der Transferleistungen können diese Barrieren aufgebrochen werden. Zum Beispiel das Betreuungsgeld: Familien wünschen sich gute Kinderbetreuung vor Ort und Arbeitsplätze, die zum Familienleben passen – z.B. mit flexiblen Arbeitszeitmodellen. Sie wünschen sich eine Politik, die es ihnen möglich macht, Beruf, Familie und Partnerschaft zu vereinbaren. Dafür brauchen wir jeden Euro und bei der Umsetzung deutlich mehr Tempo als bislang. Doch das Betreuungsgeld, für das sich die CSU so ins Zeug legt, wäre ein Fiasko: Gleichstellungspolitisch und bildungspolitisch. Und es ist vor allem hochgradig ungerecht. Denn arme Familien - darunter viele Alleinerziehende - die jeden Euro umdrehen müssen, sollen außen vor bleiben. Sozialpolitik heißt für mich in erster Linie 1) Vermeidung von Armut. Denn Armut verhindert in aller Regel die Ausbildung von individueller Würde und Autonomie. 2) Bildung und Ausbildung. Bildungsarmut, Verfestigung von Bildungskarrieren auf die Herkunft – das muss grüne Politik durchbrechen. Bildung ist der Schlüssel, der individuelle Lebenschancen formt, auch wenn wir wissen, dass gute Ausbildung nicht gleichzusetzen ist mit Sicherheit und mit einer Perspektive für Aufstieg. Generation Flexibel/Praktikum nur als Stichworte genannt. Begreifen wir den Demografischen Wandel auch als Chance. 3) Integration in den Arbeitsmarkt. Erste Frage wenn man jemanden kennenlernt – ob im Urlaub oder in der Partei – ist praktisch immer: „was machen Sie/machst du beruflich?“. Der Stellenwert der Arbeit ist nach wie vor vorhanden. Einkommen, Status, Prestige. All das sagt aus, wie man zur Gesellschaft gehört oder ob man ausgeschlossen ist.
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4) Sozialpolitik. Aber auch an unsere sozialen Sicherungssysteme gibt es immense Anforderungen: Demografischer Wandel muss zukunftsfest gemacht werden. Die Frage, ob GKV oder Bürgerversicherung, muss diskutiert werden. Wie soll unsere Rentenversicherung aussehen? Auch die große Frage, wie sollen Grundsicherung im Alter aussehen, wie soll das ALG II weiterentwickelt werden, müssen diskutiert werden. Auch um die Frage, wie wir es bezahlen wollen, drücken wir Grüne uns nicht herum. 2013 wollen wir dafür eine Mission und Vision haben. 5) Unter dem Motto „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache“ entspannt sich meist auf jedem Podium eine große Übereinstimmung, was die Starken alles sollen, was die Generation der Erben beitragen soll. Welchen Stellenwert sollen Einkünfte aus Kapital und wie soll deren Besteuerung aussehen? Allein die Zahl, dass XY Zehntel über 61 Prozent des Vermögens XY, macht einen schwindelig. Dass manche tatsächlich einen Stundenlohn von 4,50 Euro haben und ein Durchschnittsjahreseinkommen eines Managers 700.000 Euro beträgt ebenfalls. 6) Und noch ein paar Punkte zur Geschlechtergerechtigkeit: • Wir haben einen hohen Grad an Frauenerwerbstätigkeit, aber die Teilzeitanteile sind massiv. • Am Equal Pay Day haben wir erst wieder für mehr Lohngerechtigkeit gekämpft: Frauen erhalten im Durchschnitt 23 Prozent weniger Lohn als Männer. • Männer werden im Allgemeinen häufiger befördert als Frauen. • Das alles hat direkte Auswirkungen in die Rente und für die Karrierechancen. • Altersarmut ist weiblich und wird weiblich bleiben. • Der Erwartungsrucksack ist immer gefüllt, was alles geleistet werden soll: Kindererziehung -> Betreuungsgeld -> Pflege von Angehörigen
Allein die kleine Einführung zu unserem Gerechtigkeitskongress zeigt die Vielfalt des Themas. Doch gibt es noch viel mehr Dimensionen: • • •
Armut und Gesundheit Armut und Wohnraum Armut und Ernährung
Dazu haben wir eine Reihe von Workshops vorbereitet, die möglichst viele Dimensionen von Gerechtigkeit abbilden sollen: 1. „Her mit dem guten Leben – Neue Lebensstile für mehr Gerechtigkeit“ 2. „Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit – Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen?“ 3. „Wahlfreiheit und Teilhabe – Gender in einer gerechten Gesellschaft“ 4. „Generationengerechtigkeit – keine Einbahnstraße“ 5. „Soziale Barrieren meistern durch eine interkulturelle Gesellschaft“ 6. „Mythos Eliten – Chancengerechtigkeit oder Abgrenzung?“ 7. „Der Weg zum inklusiven Gemeinwesen“ 8. „Einmischen – Engagieren – Beteiligen: Gerechtigkeit selbst gestalten“
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Wir Grüne werden es nicht hinnehmen, dass wir in Bayern eine geteilte Zukunft haben. Weder Regional, nach Bildungsstand, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt, mit oder ohne Handicap. Das ist unser Grünes Credo: Chancenarmut in einem reichen Land wie Bayern darf es nicht geben. Aber welche politischen Forderungen verknüpften sich damit und welche gesellschaftlichen Denkanstöße brauchen wir? Große Frage: „Was hält die Gesellschaft zusammen? Warum ist jeder und jede wichtig, warum brauchen wir die Starken, warum bringen uns aber auch die Schwachen weiter? Das sind alles Fragen die wir diskutieren werden. [Das vorliegende Dokument entspricht dem Redemanuskript. Es gilt das gesprochene Wort.]
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Margarete Bause (MdL) | Wer soll die Flöte kriegen? Plädoyer für eine Politik der Befähigung Gerecht soll es zugehen, klar! Wer würde da widersprechen. Gerechtigkeit ist zweifellos ein zentraler Leitwert grüner Politik. Doch was ist eigentlich gerecht? Gibt es klare Kriterien für gerechte Entscheidungen? Wie kann Politik Gerechtigkeit herstellen und fördern? Gibt es einen spezifisch grünen Gerechtigkeitsbegriff? Bei unserem Zukunftskongress „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ am 5. Mai in Ingolstadt standen diese Fragen im Mittelpunkt der Diskussion. Für mein Impulsreferat bot mir Amartya Sens „Flötenparabel“ den passenden Einstieg. Der indische Philosoph und ÖkonomieNobelpreisträger erzählt in seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ folgendes Gleichnis: Drei Kinder, Anne, Bob und Clara, streiten um eine Flöte. Anne hat eine ausgesprochene musikalische Begabung und kann als Einzige auf der Flöte spielen. Bob ist sehr arm und hat keinerlei anderes Spielzeug. Und Clara hat die Flöte mit viel Ausdauer und in mühevoller Arbeit selbst angefertigt. Welches Kind soll die Flöte nun bekommen? Was ist gerecht? An dieser Parabel wird deutlich: es gibt nicht die eine, eindeutige, unumstößliche Gerechtigkeit. Es gibt unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte, es gibt verschiedene Gerechtigkeiten. Verteilungsgerecht wäre es, Bob die Flöte zu geben, weil er kein anderes Spielzeug hat. Wer Clara die Flöte zuspricht, weil sie sie schließlich selbst gebaut hat, würde sich auf die Leistungsgerechtigkeit berufen. Und wer Anne das Instrument überlassen will, weil sie aufgrund ihres Talents den größten Nutzen davon hat, würde im Sinne der Befähigungsgerechtigkeit handeln. Jede Entscheidung hat also gute Argumente für sich, führt aber jeweils zu einem anderen Ergebnis. Welcher Gerechtigkeit fühlen wir Grüne uns verpflichtet? Und: gibt es Möglichkeiten das Dilemma zu überwinden und jedem Kind gerecht zu werden? Auf der Suche nach Wegen aus dem Dilemma ist Teilhabe für mich der Schlüsselbegriff. Teil zu haben, Teil zu sein, sich beteiligen zu können, selbst aktiv zu werden und selbst gestalten zu können, vom passiven Empfänger zum aktiven Teilnehmer zu werden, das geht nicht von alleine. Dazu sind bestimmte Voraussetzungen und Fähigkeiten erforderlich. Dazu braucht es eine Politik der Befähigung. Sie zielt darauf ab, die individuellen Verwirklichungschancen zu erweitern und stellt die Potentiale und Stärken jedes Einzelnen in den Mittelpunkt. Eine Politik der Befähigung weiß aber auch, dass jeder Mensch zur Verwirklichung seiner Fähigkeiten auf Grundbedingungen angewiesen ist, die er selbst nicht sicherstellen kann. Deshalb ist es Aufgabe von Politik und Gesellschaft diese Grundbedingungen zu garantieren: soziale Sicherung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Kultur,
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Wohnen, aber auch gesunde Umwelt, saubere Luft und sauberes Wasser. Eine Politik der Befähigung muss sich auch in die Wirtschaftspolitik einmischen. Welche Güter sollen öffentliche Güter sein und wie können wir sie sichern und allen den Zugang ermöglichen? Welche Ressourcen gehören allen Menschen und nach welchen Regeln können wir sie gemeinsam nutzen? Um die Parabel von Amartya Sen noch einmal aufzugreifen: Alle Kinder haben das „Recht“ auf ihre Flöte. Und darum ist es unsere Aufgabe, sie dazu zu befähigen, sie entweder zu selbst zu bauen, selbst zu spielen oder Wege für eine gemeinsame Nutzung zu finden. [Das vorliegende Dokument entspricht dem Redemanuskript. Es gilt das gesprochene Wort.]
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Gastbeiträge Anlässlich der Vorbereitungen zum Zukunftskongress haben wir die ReferentInnen und ModeratorInnen der Workshops um Statements zu den Themen gebeten. Diese sind bereits im Vorfeld des Kongresses als Gastbeiträge auf unserem „Mein Bayern“-Blog veröffentlicht worden und sind dort kommentierbar.
Dr. Sepp Dürr (MdL) | Gar nicht so einfach mit dem guten Leben – Grenzen und Widersprüche neuer Lebensstile Viele Stars in Hollywood schwimmen schon länger in der großen grünen Welle mit. Das kann man lächerlich finden und darin nur einen weiteren modischen Spleen sehen. Man kann ihnen vorwerfen, dass sie sich nur verkleiden als Grüne und es nicht wirklich ernst meinen oder so was wie einen Ablasshandel versuchen. Aber mir ist es Recht, wenn die Reichen wenigstens einen Teil ihres Geldes beim richtigen Fenster rauswerfen. Und es sind ja nicht nur die ganz Reichen. Vor kurzem haben sich Wolle-Fans in der Oberpfalz getroffen, um sich gemeinsam der „neuen Trendsportart Stricken“ hinzugeben. Und die sogenannten Hörnerdörfer im Allgäu werben um Freiwillige für einen unbezahlten 16-Stunden-Tag auf der Alm, mit Käserei und 70 Stück Vieh, und nennen das dann „Regrounding“: „Der Megatrend lautet Regrounding“, verkündet die dortige Tourismus GmbH. Im März hat die Süddeutsche Zeitung einen „Rückzug ins Grüne“ diagnostiziert. „Der Garten oder auch nur der Großstadt-Balkon ist für viele Menschen die heimische Wellness-Oase – und ein Zufluchtsort in Zeiten von Krisen und Unsicherheit“: Es gebe eine Rückbesinnung auf das wirkliche Leben, das Bedürfnis im Garten zu arbeiten und z.B. Kartoffeln zu legen. Das ist buchstäbliches Regrounding. Schon vor Jahren sind die LOHAS aufgetaucht. 2008 beschrieb sie die Süddeutsche Zeitung: „LOHA steht für ‚Lifestyle of Health and Sustainability’. Lohas sind Menschen, die Genuss, Luxus und Umweltverantwortung miteinander kombinieren wollen. Sie kaufen bewusst und überproportional Bio-Erzeugnisse, legen Wert auf Qualität und Lustgewinn. Fast jeder dritte Verbraucher in Deutschland gehört inzwischen zu den LOHAS.“ Bewusster zu leben und zu verbrauchen, selber machen, „Marke Eigenbau“ als nächstem Schritt nach „No logo“, produzieren statt bloß zu konsumieren, gemeinschaftlich statt vereinzelt, global denken und lokal handeln – da scheint eine mächtige grüne Basisbewegung am Wachsen. Selbst das
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neoliberale Kampfblatt „Wirtschaftswoche“ spricht in einem Sonderheft zur „Green Economy“ von einer „Wohlstandswende“ und darüber, „wie Wachstum sozial und ökologisch wird“: „Teilen statt besitzen. Güter gemeinsam zu nutzen und Strom kollektiv zu erzeugen sind neue Megatrends.“ Natürlich blüht auch die Theorie. Sie verspricht, uns vom Überfluss zu befreien, den Wohlstand neu zu denken, durch Kooperation statt Konkurrenz einen verborgenen Reichtum zu schöpfen oder gar den Ausweg aus den „Tretmühlen des Glücks“. Neue Lebensstile: Was ist neu an diesem Trend? Viele Grüne der Gründergeneration werden sich verwundert die Augen reiben. Was war das für ein mühsamer Weg aus den verfilzten Pullovern rein in Anzug und Krawatte oder Kostüm! Es gibt heute noch SPDler, die uns Grüne verächtlich und überheblich „Müslis“ nennen. Dabei haben wir uns so viel Mühe gegeben, den alten Lifestyle vergessen zu machen: die Verachtung von Deos, Marketing und jeder Art von Professionalität, die selbstgestrickten Wollpullis, das selber gebackene Vollkornbrot, das immer schwer und öfter mal innen nass oder verklumpt war – und wie froh war ich Mitte der 80er, als endlich eine Freundin eine Bäckerlehre gemacht hatte und ordentliche Brezen backte und klar war, dass Bio nicht Pfusch sein muss. Konsumkritik gibt es, seit es Überfluss gibt. Die Verschwendung und der Überdruss der Edlen und Reichen war schon immer ein Thema. Aber erst im Wirtschaftswunder nach dem Weltkrieg wurden auch Überfluss, Überdruss und Übergewicht der Massen ein Problem. Ideal sang schon in den 70er Jahren: „Es ist alles so schön bunt hier. Ich kann mich gar nicht entscheiden.“ Damals haben viele vergebens versucht, unter der „ungeheuren Warensammlung“, die schon Marx benannt hatte, die „wahren Bedürfnisse“ auszugraben. „Spätestens seit Aristoteles ist klar“, schreibt Tim Jackson in seinem Plädoyer für „Wohlstand ohne Wachstum“, „dass Menschen mehr als nur materielle Sicherheit brauchen, um zu gedeihen und ein gutes Leben zu führen. Wohlstand besitzt eine bedeutsame gesellschaftliche und psychologische Dimension. Zum guten Leben gehört auch die Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, die Achtung der andern in der Gruppe zu erfahren, sinnvolle Arbeit beizusteuern und in der Gemeinschaft Zugehörigkeit und Vertrauen zu empfinden. Ein wichtiges Element von Wohlstand ist also die Fähigkeit und die Freiheit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“ Alles also alte Diskussionen. Was soll jetzt auf einmal so anders sein, dass die Wirtschaftswoche von einer „Wohlstandswende“ spricht und die Soziologin Christa Müller gar von einem „Epochenwechsel“? Es ist vielleicht in erster Linie die übergroße, aber vage Hoffnung, dass es diesmal anders ist, dass wir wirklich einen bedeutenden kulturellen Wandel erleben. Dass diese vielen kleinen Anzeichen der Suche nach neuen Lebensstilen einen Neuanfang ermöglichen. Denn neu ist das weit verbreitete und tief verankerte, aber meist sehr diffuse Bewusstsein, dass es so nicht weitergehen kann: ein diffuses,
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aber übermächtiges Krisengefühl. Da liegt der Rückzug auf das unmittelbare Umfeld nahe, also das Regrounding, die Erdung im Unmittelbaren und Überschaubaren, in dem, was man direkt selber machen kann. Und neu ist vor allem, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Klimawandel von niemandem Ernsthaften mehr bestritten werden können. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat letztes Jahr ein großes Gutachten vorgelegt, in dem er den „Beginn einer ‚Großen Transformation‘ zur nachhaltigen Gesellschaft“ gleichzeitig feststellt wie fordert. Ziel müsse sein, „in der Weltwirtschaft eine Trendumkehr zu Klimaverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Dabei geht es im globalen Rahmen nicht zuletzt um Fragen von Fairness und Gerechtigkeit“. Eine zentrale Rolle spielen dabei „nicht nachhaltige Lebensstile“, die bisher dominieren. Tim Jackson beschreibt das Problem so: „Eine beschränkte Form des Gedeihens, ganz auf materiellen Wohlstand ausgerichtet, hat unsere Volkswirtschaften über fünfzig Jahre am Laufen gehalten. Dieses Wohlstandskonzept ist jedoch unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten nicht nachhaltig, und es untergräbt mittlerweile die Grundlagen dafür, Wohlstand für alle zu schaffen. Diese materialistische Vision von Wohlstand muss weg.“ Das ist, wie gesagt, mittlerweile das Lebensgefühl und die Lebensdevise von erstaunlich vielen Menschen. „‚Gut leben statt viel haben‘ gilt als Leitbild für ein neues Wohlstandsmodell“ (Christa Müller). Auch der WBGU bestätigt, „dass immer mehr Menschen weltweit einen Wandel in Richtung Langfristigkeit und Zukunftsfähigkeit wünschen“ und erste praktische Schritte selber machen. Die damit verbundenen Hoffnungen sind groß. Aber gleichzeitig wird immer klarer, dass solchem zivilgesellschaftlichem oder privatem Handeln auch Grenzen gesetzt sind. Grenzen und Widersprüche einer Strategie, die auf neue Lebensstile setzt Wie begrenzt die Wirkungen sind, die etwa mit einer Strategie des bewussten Einkaufens verbunden sind, hat sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt. Einzelne Konzerne lassen sich durch Kampagnen gut unter Druck setzen, aber um einen systemischen Wechsel durch Einkaufverhalten zu erzwingen, dazu fehlen zu vielen Kenntnisse leicht zugänglicher Alternativen. Einkaufen als Wissenschaft ist auch nicht jedermanns oder jederfraus Sache. Schnell fühlen sich viele Konsumenten überfordert und reagieren dann mit Gleichgültigkeit. Wenn die individuelle Moral ohne gesellschaftlichen Rahmen bleibt, steht sie auf verlorenem Posten. Ein Beispiel dafür war die BSE-Krise. Damals schien sie kathartische Wirkung zu haben. Heute ist BSE vergessen. Dabei war das ein echter Schock. Selbst Stoiber war für einen kurzen Moment für eine radikale Umkehr. Schnell war klar, für eine neue Landwirtschaft, für eine Wende in der Agrarpolitik sind wir alle in der Pflicht: Politik, Landwirtschaft, Handel, Verbraucher. Aber die BSE-Krise hat auch
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gelehrt, dass Pflicht ein zu schwacher Antrieb ist für Veränderungen. Auch die persönliche Existenzangst, die Panik der Verbraucherinnen und Verbraucher, hat nicht lange angehalten. Da reichen bloße Appelle eben nicht, weder an die Bauern noch an die Verbraucherinnen. Dazu müssen wir endlich die Strukturen ändern. Leistung muss sich auch in der Landwirtschaft lohnen: wer höhere Qualitätsstandards bietet, muss dafür auch bezahlt werden. Wer das richtige tut, muss belohnt werden. Es muss Vorteile haben, sich im Sinne der Gesamtgesellschaft richtig zu verhalten, und die Vorteile müssen wahrnehmbar sein und gesellschaftlich anerkannt werden. Solange das „gute Leben“ auf individuellen Konsumentscheidungen basiert, bleibt es immer in Gefahr, ein Etikett, Lifestyle-Accessoire, Nischenprodukt zu bleiben, so dass es nur die Sahne oben drauf ist. „Was früher gedankenlos ging, der schnelle Einkauf der billigsten Produkte, wird oft allerdings zur aufwändigen Tüftelei“, stellen auch Claus Leggewie und Harald Welzer („Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“) fest. Bewusster Konsum „macht wirklich Arbeit und kostet auch mehr als die Billigware, es wird aber aufgewogen durch das Gefühl, das Richtige getan zu haben – und, nicht zuletzt, im Trend zu liegen. Oder besser noch: ihn zu setzen. Man kann das auch als Kultivierung des Konsums bezeichnen.“ Eine solche Kultivierung hat wiederum ihre Tücken. Denn Lifestyle bildet immer ein „Wir“ ab: er soll immer zeigen, dass „Wir“ anders und darin was Besseres sind. Lifestyle dient dazu, sich von anderen abzuheben, die gesellschaftlichen Differenzierungen und Spaltungen sichtbar zu machen. Darin haben die neuen Lebensstile einen zumindest zwiespältigen Doppelcharakter: sie legitimieren sich einerseits bewusst durch das Allgemeinwohl, dienen aber andererseits zur kulturellen Abgrenzung. Diejenigen, die das „gute Leben“ führen wollen, zeigen immer auch, dass sie im Unterschied zu anderen das „bessere“ Leben führen. Das ist ein Nebeneffekt auch des Thesenpapiers des LAK ChristInnen „Besser leben. Für einen bewussteren Lebensstil aus christlich-grüner Verantwortung“. Die Frage bleibt, wenn dieser Aspekt zu sehr betont wird: Wie sollen solche neuen Lebensstile, die doch auch auf Exklusivität setzen, verallgemeinerbar werden? Gerechterweise muss man aber auch sagen, dass nicht alles an den neuen Lebensstilen auf kulturellen Vergleich zielt. Vieles davon trägt den Lohn in sich selbst, weil die Beteiligten tatsächlich ihre Lebensqualität und ihr Lebensgefühl steigern – und darüber hinaus keine weiteren Ansprüche anmelden. Und dazu kommt eine sonst nicht alltägliche Erfahrung der Selbstwirksamkeit: So unmittelbar lassen sich sonst keine Effekte erzielen. Gleichzeitig zu Trends gibt es immer auch Gegen- oder Paralleltrends. So machte sich das SZ-Magazin im September 2008 unter der Rubrik „Stil leben“ große Sorgen um BMW: „Aus mit der Freude am Fahren? Autokäufer interessieren sich plötzlich mehr für Umweltverträglichkeit als für PS-Zahlen. Kaum jemand bekommt das so schmerzhaft zu spüren wie BMW.“
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Dreißig Jahre habe BMW fast alles richtig gemacht: „In weiser Voraussicht setzte sich das Unternehmen früh von der Masse der Hersteller ab und begann, seine Produkte mit Emotionen aufzuladen. Fahrzeuge wurden Prestigeobjekte, der Name BMW eine Marke, die Fahrspaß und innovative Technik versprach. … Mochten Umweltschützer den PS-Wettlauf verdammen – der Markt gab den Herstellern recht.“ Aber jetzt, schrieb das SZ-Magazin, „hat die Akzeptanz von großen Autos in Europa und Nordamerika dramatisch abgenommen. … Ein Gefühl scheint sich breitzumachen, dass der Klimawandel auch etwas mit dem eigenen Fahrverhalten zu tun haben könnte“. Und die SZ schließt mit dem Menetekel: „das Gefühl, mit einem BMW nicht eine bewährte, sondern veraltete Technik zu kaufen, wäre fatal für BMW.“ Auch dieser Schock hat nicht lange vorgehalten. Längst präsentiert sich BMW wieder mit blendenden Verkaufszahlen und Gewinnmargen. Aber die Sorgen hören nicht auf. Laut neuestem Trend machen immer weniger US-amerikanische Jugendliche einen Führerschein: „Heute cruisen die Kids lieber auf der Daten-Autobahn“, vermutete kürzlich die SZ. Reflexive Moderne: Das Eine tun, das Andere nicht lassen. Christa Müller meint zu solchen widersprüchlichen Tendenzen, es sei „ein Signum der Moderne, dass viele Entwicklungen parallel und durchaus widersprüchlich verlaufen“ („Ein anderer Markt ist möglich?“). So erklärt sich auch das Phänomen, das die Wirtschaftswoche „grüne Hybris“ nennt: „Wäre die Welt so, wie Menschen sie in Umfragen zeichnen, wäre sie ein ganzes Stück grüner … Stattdessen kaufen Eltern aus allen Einkommensschichten asiatisches Billigspielzeug. KlamottenKetten wachsen, in denen sich Kunden für 30 Euro einkleiden können. Und Apple meldet Absatzrekorde für seine i-Phones – obwohl jeder weiß, dass Arbeiter sie zusammengeschraubt haben, die schuften müssen, bis sie zusammenbrechen.“ Entwicklungen verlaufen eben nicht nur parallel in der Gesellschaft, sondern viele Menschen tun das Eine, ohne das Andere zu lassen. Und sie reden sich gerne das eigene Handeln ein Stück schöner, als es tatsächlich ist. Was aber nicht bedeutet, dass sie gar nichts tun. Es ist nur unsäglich schwer, täglich bei allen einzelnen Entscheidungen beständig gegen den Strom zu schwimmen. Es ist schwer, weil die Menschen, wie gesagt, wenn sie das Richtige tun, nicht belohnt, sondern behindert werden. „Die Dynamik der Warengesellschaft verfügt über ihre eigene – komplexe – Logik“, stellt Christa Müller („Moderne und Repräsentationsformen des Selbst“) fest: „Ihr ist nicht mit simplen Appellen nach ‚mehr Rationalität‘ oder gar ‚mehr Lebensqualität‘ beizukommen.“ Adorno hat mal behauptet, es gäbe kein richtiges Leben im falschen. Aber die Sache ist heute komplizierter: Es gibt kaum ein stringent richtiges oder falsches Leben. Wir alle machen beides, Richtiges und Falsches, zur gleichen Zeit. Die ökologische Lebensstilforschung nennt das laut Müller „Pluralismus ökologisch ambivalenter Patchwork-Lebensstile“: „Nicht zuletzt weil die derzeit existierenden pluralen Lebensstile eng mit der Identität von Menschen verknüpft sind, tritt Ökologie, so Reusswig, nicht als homogener Einstellungs-
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und Verhaltensblock in die sozialen Milieus ein, sondern ist selbst vielfältig fragmentiert und gebrochen.“ Deshalb kommt es darauf an, dass jede und jeder nach Möglichkeiten und Ansatzpunkten für nachhaltige Lebensstile in seinem eigenen Leben sucht und daran anknüpft. Denn „die Sehnsucht nach einem erfüllten Leben, nach einer Ver-Ortung dieses Lebens ist – scheinbar paradox – neben konsum- und warenfixierten Orientierungen ebenfalls präsent und wirkmächtig. Und neben der Bereitschaft zur Konkurrenz ist auch die zur Kooperation vorhanden, zumal wenn Prinzipien wie Mitverantwortung und Verbundenheit innerhalb überschaubarer Zusammenhänge im Mittelpunkt stehen (Schellhorn 1997).“ Selbst diese prinzipielle Ambivalenz wird von kommerziellen Lifestyle-Konzepten aufgegriffen und vermarktet. So hat neulich ein sogenannter „Vintage-Experte“ im SZ-Magazin zwar erklärt, Vintage, also das Tragen gebrauchter Klamotten, sei „Recycling. Wir sind Teil der Ökobewegung“. Aber er hat auch klargestellt: „Es geht nicht um Entweder-oder. Wer Vintage liebt, liebt auch Modernes.“ Wichtig ist nur, sich von der Masse abzuheben. Auch Leggewie und Welzer thematisieren den Zwiespalt, in denen wir VerbraucherInnen heute stecken: „Tatsächlich verstößt jeder von uns täglich mehrfach gegen seine tiefsten innersten Überzeugungen, in unserem Fall also, wenn es um den Energieaufwand geht, den man wider besseres Wissen und oft auch wider die Notwendigkeit durch das Benutzen von Taxis, Autos und Flugzeugen treibt.“ Und sie attestieren auch, dass viele von uns dazu neigen, „sich ein richtiges Bewusstsein beim falschen Handeln attestieren und sich damit von jenen distanzieren, die solche Autos einfach kaufen, ohne nachzudenken“. Denn irgendwie muss man ja mit diesen Widersprüchen zurechtkommen, wenn man nicht verrückt werden will. Solange der Dampfer unbeirrt in die falsche Richtung fährt, hilft es halt nicht viel, wenn man selber an Deck in die richtige geht.“ Müller hatte ja (in Anschluss an Schellhorn) schon herausgehoben, dass „Mitverantwortung und Verbundenheit innerhalb überschaubarer Zusammenhänge“ richtige Entscheidungen begünstigen. Das ist nebenbei ein Grund, warum vielen das Handeln im Lokalen so viel attraktiver scheint. Aber es verweist auch darauf, dass wir unsere Entscheidungen in der Regel nicht anhand abstrakter Leitlinien oder Prinzipien fällen, sondern angepasst an ganz konkrete Zusammenhänge. Menschen, behaupten Leggewie/Welzer, handeln situativ vernünftig, also innerhalb der gesellschaftlich bzw. wirtschaftlich vorgegebenen Rahmenbedingungen. D.h. dass sie zwar abstrakt gesehen „gegen besseres Wissen handeln“, aber im Konkreten „ihrem Handeln keine universelle Rationalität zugrunde legen, sondern dass immer partikulare Rationalitäten bestimmend dafür sind, welche Entscheidung jemand in einer gegebenen Situation fällt und welche Lösungsstrategie er wählt.“ Das Problem sei also nicht, dass sie vermeintlich irrational handeln, sondern „dass sie innerhalb der Referenzrahmen, in denen sie sich jeweils orientieren, wenn sie Entscheidung treffen, so vernünftig sind.“ Das bedeutet, dass wir die
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jeweiligen Referenzrahmen selber ändern müssen, also u.a. die „Logiken“ von Institutionen wie Schule oder die leichte Zugänglichkeit von ökologischen Alternativen, wie das bei den Erneuerbaren Energien in der Regel ja schon ganz gut klappt. Um den Ambivalenzen und Zirkelschlüssen zu entkommen, müssen wir auch politisch handeln. Nur am Rande will ich darauf hinweisen, dass zunehmend auch Neonazis versuchen, die neuen Lebensstile für ihre krude und menschenfeindliche Ideologie als Trittbrett zu nutzen. Sie propagieren etwa die „Ernährungssouveränität der Völker“, „nordische Tugenden und regionale Selbstversorgung“. „Idylle in Grün-Braun“, schrieb die Süddeutsche Zeitung vor zwei Wochen: „Im politisch unverdächtigen Biolandbau tummeln sich zunehmend Rechtsextreme“. Das soll man nicht überbewerten, aber wir müssen es im Auge behalten. Selbst hier zeigt sich die schon diskutierte Ambivalenz von Lebensstilen. D.h. nicht alles, was so aussieht, führt automatisch in die Richtung, die wir für die notwendige halten. Ungerechtigkeit und Ausgrenzung durch jetzigen konsumdominierten Lebensstil So zwiespältig es sich mit den neuen Lebensstilen in verschiedener Hinsicht verhalten mag, was den derzeitigen dominanten Way of Life angeht, ist die Sache relativ eindeutig. Er ist schlicht nicht zukunftsfähig. Schon der bisherige Emissionspegel führt in die Klimakatastrophe – geschweige davon, dass der Lebensstil westlichen Wohlstands verallgemeinerbar, also von allen, die derzeit danach streben, auch zu leben wäre. „Eine Welt, in der alles so weitergeht wie bisher, ist nicht mehr vorstellbar“, sagt Tim Jackson: „Soziale Ungerechtigkeit und auf Umweltzerstörung gegründeter Wohlstand für einige Wenige können nicht die Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft sein.“ Alexandra Borchardt hat versucht, den aktuellen konsumorientierten Lebensstil zu verteidigen („Billig ist gut. Wer Massenware verdammt, vergisst, dass die Masse ein Recht auf Ware hat“, SZ 29.1.12). Demnach „waren es gerade die heute zuweilen so verachteten Discount-Pioniere, die auf ihre Weise dafür gesorgt haben, Klassengrenzen verschwimmen zu lassen. Denn wenn heute billig für böse steht, stand es früher einmal für etwas ganz anderes: für demokratisch. Auch einfache Leute sollten sich leisten können, was sonst den oberen Schichten vorbehalten war: Hirschbraten und Champagner zu Weihnachten, bedient werden im Hotel, Fläzen auf Sofas, die zumindest so aussehen, als könnten sie im Großbürger-Wohnzimmer … stehen“. Dabei räumt sie ein, dass die „Klassengrenzen“ dadurch ja nicht wirklich aufgehoben wurden. Außerdem konnte der Lebensstil der Reichen höchstens formell nachgeahmt werden, denn die Qualität der Waren konnte in der Massenproduktion nicht die gleiche sein. Sie verschweigt auch die Nachteile dieser Massenproduktion nicht: „Der Kampf für Arbeitnehmerrechte und gegen giftige Dämpfe in Fabriken gehörte nie zu ihrem Kerngeschäft. Stattdessen verstanden sie es, Lieferanten zu knebeln und Mitarbeitern nur das Nötigste zukommen zu lassen. Und eine der dem Anschein nach demokratischen Konsum-Ideen – das erschwingliche
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Privatauto für alle – stammt aus der Nazizeit. Trotzdem helfen Billigwaren dabei, Klassenunterschiede – zumindest ein wenig – einzuebnen. Also auch ärmeren Familien das Gefühl zu geben, sie könnten die Kopie eines Lebensstils hinbekommen, wie sie ihn von wohlhabenderen Nachbarn kennen.“ Der Gebrauchswert der Waren schwindet bzw. wird belanglos, wenn nur der Preis zählt: Der Lachs ist dann ein eingefärbtes Kunstprodukt, die Ausdünstungen haben die Möbel nicht nur in der Fabrik, sondern auch im Wohnzimmer. Die Ärmeren haben nur scheinbar teil am Leben der feinen Leute, die Klassenunterschiede werden nur notdürftig verschleiert. Der Anschein demokratischen Konsums stammt nicht umsonst aus der Nazi-Zeit. Hermann Lübbe hat in einem SZInterview sogar den gegenteiligen Effekt beschrieben: „Je größer die formale Chancengleichheit, um so auffälliger werden die schwer änderbaren Differenzen. Allgemein heißt das: Die Verbesserung der Lebenschancen macht Unterschiede spürbarer.“ Demnach lässt das naturgemäß unvollkommene Nachahmen des Lebensstils der Reichen die weniger Begüterten ihre relative Armut erst richtig spüren. Und die Massenproduktion hat weitere soziale Konsequenzen. Auch das spricht Borchardt offen aus: „Natürlich zahlt immer jemand den Preis für den Niedrigpreis. Was für die Konsumenten umso angenehmer ist, je weiter weg die Opfer dieser Dumpingpolitik leben.“ Dabei hat sie selber noch eingeräumt, dass ein Teil dieser Opfer ja gar nicht so weit weg ist: die sitzen an der Kasse. Ich habe sie auch deshalb so ausführlich zitiert, weil die SZ gegen dieses Pro auch ein Kontra aufbot, unter dem Titel: „Billig ist schlecht.“ Leider sind dessen Argumente längst nicht so anregend. Schlimmer aber ist, dass die übergreifende Fragestellung als solche völlig in die Irre führt. Denn Borchardt mahnt zwar am Schluss ihrer Verteidigung: „Wer sich’s leisten kann, sollte sein Geld also tatsächlich bewusst ausgeben. Aber er sollte sich verkneifen, Billig-Konsumenten zu verurteilen“. Doch das hilft nichts mehr, denn die gesamte Pro- und Kontra-Konstellation der SZ ist ideologisch befangen: kulturell distinktiv, mit dem Blick von oben. Billig ist nicht „gut“ oder „schlecht“, sondern falsch. Es muss nicht moralisch verurteilt oder gerechtfertigt, sondern politisch geändert werden. Massenproduktion hilft nicht, die Klassenunterschiede aufzuheben, noch nicht mal, sie zu verschleiern. Statt den „ärmeren Familien das Gefühl zu geben, sie könnten die Kopie eines Lebensstils hinbekommen, wie sie ihn von wohlhabenderen Nachbarn kennen“, sollten wir ihnen die Wege zu Wohlstand öffnen, die nicht durch materiellen Reichtum definiert sind. Denn, das wissen wir aus der Armutsforschung schon lange, es geht nicht nur um Geld. „Soziale Exklusion ist … weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu reduzieren noch durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft“, schreibt der Soziologe Heinz Bude in seinem Buch „Die Ausgeschlossenen“. Ein nicht nur auf materielles Wachstum fixiertes Armutskonzept könnte auch ein Ansatzpunkt für ein neues Wohlstandskonzept sein.
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Soziale Ungleichheit, die sich in materiellem Verbrauch ausdrückt, schlägt sich logischerweise auch im „ökologischen Fußabdruck“ nieder. Der „ökologische Fußabdruck“ ist ein beschränkter Versuch, den Energie- und Ressourcenverbrauch verschiedener Lebensstandards zu messen. Er ist nicht nur global zu hoch: „Pro Kopf werden global 2,2 Hektar gebraucht. Nur 1,8 ha stehen zur Verfügung (WWF 2005)“. In Deutschland ist er im Schnitt mehr als doppelt, in den USA mehr als viermal so hoch wie im weltweiten Vergleich. Die „Spuren unseres Konsums“, die Helmut Hagemann („Lebensstile und nachhaltiger Konsum“, 2007) als „Leben auf Kosten der anderen“ beschrieb, haben in anderen Teilen der Welt nicht nur ökologische, sondern auch soziale Folgen („Viele Konsumgüter aus unfairen Tauschbeziehungen. Kinderarbeit – schuften, um zu überleben. Über 200 Millionen Kinder sind betroffen“). Der Ressourcenverbrauch, gemessen im ökologischen Fußabdruck, variiert natürlich auch in Abhängigkeit von der sozialen Schicht. Standesgemäß ist in Deutschland der ökologische Fußabdruck der „Privilegierten“ fast doppelt so hoch wie der von „Ökofamilien“. Mitglieder der Unterschicht haben zwar einen fast ebenso hohen Energieverbrauch, aber nur einen halb so großen ökologischen Fußabdruck. D.h. ein Leben in Armut ist der mit Abstand „ökologischste“ Lebensstil in Deutschland. Kein Wunder, dass viele Angst vor der Armut haben, wenn sie das Wort „Verzicht“ hören. Denn es ist das einzige verbreitete, halbwegs ökologisch verträgliche Lebensstilmodell, das sie kennen. Freiheit statt Verzicht Handeln als VerbraucherIn ist beschränktes Handeln. Es bleibt begrenzt auch in Hinblick auf eine ökologische Transformation. Aber gezielte Verstöße gegen die inhärenten ökonomischen Logiken können politisch genutzt werden, als außerparlamentarische, zivilgesellschaftliche Hebel für eine grüne Politik. Umgekehrt wird eine Politik der „großen Transformation“ nur erfolgreich sein, wenn sie in Wirtschaft und Gesellschaft genügend Bündnispartnerinnen findet, die den Weg mitgehen, Bewegungscharakter entwickeln und Aufbruchsstimmung schaffen. Wir brauchen einen Kulturwandel. „Erst wenn flankierend zur Entwicklung innovativer Konzepte der Steuer-, Subventions-, Struktur- und Forschungspolitik die Mitglieder des politischen Gemeinwesens als aktive Gestalter ihrer Gesellschaft angesprochen werden, können die künftig notwendigen Veränderungen in den Lebensstilen und Handlungsoptionen realisiert werden“, fordern auch Leggewie und Welzer. D.h. aus der widersprüchlichen Lage als VerbraucherInnen oder wirtschaftlich Handelnde kommen wir nur, wenn wir unsere Chancen als politisch Handelnde nutzen. Bundespräsident Joachim Gauck hat das bei seiner Antrittsrede auf den Punkt gebracht: „Den Regierten muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter.“ Diesen Gestaltungsanspruch erhebt auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), und zwar sowohl für den Staat wie für seine BürgerInnen. Er
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schreibt in seinem Gutachten: „Während Klimaschutz oft als Einschränkung und Verzichtszumutung aufgefasst wird, steht gestaltende und aktivierende Staatlichkeit unter der ausdrücklichen Zielsetzung, Freiheitsspielräume und Handlungsoptionen auch künftiger Generationen zu bewahren und nach Möglichkeit zu erweitern“. Zusätzlich dazu geht es gerade auch um die Freiheitsspielräume und Handlungsoptionen der heutigen Generationen. Wir müssen, wenn wir einen Kulturwandel erreichen wollen, das nach vorne stellen, was es zu gewinnen gibt. Bei einer Verzichtsdebatte, die auch dem LAK ChristInnen unterläuft, gibt es für uns und die, die wir zum Verzicht auffordern, wenig zu gewinnen. Wer, außer einer engen Gemeinschaft von Gläubigen, soll denn in Begeisterung ausbrechen, wenn er die 33 Punkte des Beichtspiegels („Selfaudit“) liest? Es ist verdienstvoll, das alles aufzulisten und es ist alles richtig. Aber: Schrecklich, was da alles zu tun ist. Da muss es einem doch grausen. Die Aufgaben sind deprimierend überfordernd. Dabei kann man nur versagen. Wer wird sich da freudig auf den Weg machen? Gegen eine Perspektive, die von dem bestimmt wird, auf was verzichtet werden soll, statt von dem, was es zu gewinnen gibt, sprechen auch noch andere Gründe. So wenden sich Leggewie und Welzer dagegen, „dass Veränderung umstandslos mit ‚Verzicht‘ gleichgesetzt wird, weil in dem Augenblick, in dem man ‚Verzicht‘ sagt, der Status quo blitzartig als ein Optimum erscheint, an dem nicht herumgeschraubt werden darf. Dieser Reflex wertet den gegebenen Zustand auf, obwohl unter anderen Prämissen genau dieser Ist-Zustand oft genug Gegenstand heftiger Kritik ist.“ Und Christa Müller („Moderne und Repräsentationsformen des Selbst“) verweist noch auf einen anderen Aspekt, nämlich darauf, „dass die Semantik von Nachhaltigkeit primär auf Defizite zielt und die Chancen eines ressourcenorientierten Blicks nicht nutzt: Die Akteure sollen ihre ‚falschen‘ Alltagsgewohnheiten und Lebensstile ändern und stattdessen anderen, eben ‚verträglicheren‘ Leitbildern und Richtlinien folgen“. Und als ob das noch nicht genug wäre, sollen sie dabei beständig gegen den gesellschaftlichen Strom schwimmen, nämlich in „Abkehr von den Wachstums-, Wohlstands- und Wohlfahrtsidealen der moderner Industriegesellschaft, im Rahmen derer sich institutionell verfestigte soziale Regulativmuster gesellschaftlicher Ordnung, sozialen Handelns und sozialer Teilhabe ausgebildet haben“ (Angelika Poferl). Eine Verzichtsdebatte kann per se nicht mehrheitsfähig werden. Verzicht als Leitbild wird nur die nicht stören, die viel zu verzichten, aber keine Angst haben müssen, etwas zu verlieren. Wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe: Was die einen spielerisch, um sich abzusetzen, wählen, wird den anderen mangels Alternativen aufgezwungen. Deshalb verschärft es eher die soziale Distinktion, weil den Unfreien Freiheit auf ihrem ureigenen Terrain vorexerziert wird und sie so doppelt die Dummen scheinen.
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Weil sich die einen so über alle anderen erheben, hat die Verzichts-Debatte „nur geringe Chancen auf Anschlussfähigkeit“, bestätigt Christa Müller: „Hinzu kommt, dass der häufig belehrende Duktus ökologischer Stichwortgeber auch deshalb marginal geblieben ist, weil er mittelschichtszentriert kommuniziert. Auch ihm liegt eine unreflektierte modernisierungstheoretische Option zugrunde, die nicht-warenförmige Vergesellschaftungsformen als ‚das Andere‘ konstruiert. Kein Wunder also, dass diesem Ansatz von der Mehrheit der Bevölkerung mit Nicht-Beachtung bzw. Misstrauen begegnet wird. Schließlich stehen sie von Anfang an als Verlierer im symbolischen Kampf um ‚Nachhaltigkeit‘ fest (Bourdieu 1982).“ Wie stark dieser Kampf um kulturelle Distinktion schon in der Alltagswirklichkeit angekommen ist, hat Helmut Hagemann aufgezeigt. Die VerbraucherInnen unterscheiden demnach zwischen „öko“ und „bio“: „Bio hat starke Verbündete – eigene Gesundheit und die der Kinder“ … Bio-Image: Gesundheit, Natur, Genuss, Nutzen. Öko-Image: uneigennützig, Zeigefinger, beschwert, kopflastig“. „Uneigennützig“ ist in diesem Zusammenhang nicht von Vorteil. Denn Hagemann weist nach, dass „(persönlicher) Nutzen ein wichtiges Kaufkriterium“ der VerbraucherInnen ist. „Allzu simple Ermahnungen, dem Konsumismus abzuschwören, müssen scheitern, vor allem darum, weil das staatliche Handeln so offensichtlich widersprüchlich ist“, weist Tim Jackson auf das grundlegende Dilemma hin: „Wenn man die Menschen drängt, ihre CO²-Bilanz zu verbessern, ihre Häuser zu isolieren, die Heizung herunterzudrehen und Pullover anzuziehen, etwas weniger Auto zu fahren und mehr zu Fuß zu gehen, daheim Urlaub zu machen, regional produzierte Waren zu kaufen etc., dann wird das, solange alle Botschaften zum Privatkonsum in die entgegengesetzte Richtung weisen, entweder nicht gehört oder als Manipulation abgelehnt. Es ist ebenso offensichtlich, dass man die Aufgabe, die gesellschaftliche Logik des Konsums zu ändern, nicht einfach zur individuellen Entscheidung machen kann.“ Das bedeutet aber nicht, dass alle Versuche, neue und ökologisch verträgliche Lebensstile zu entwickeln, vergeblich wären. Im Gegenteil. Es bedeutet nur, dass Politik die Menschen damit nicht allein lassen darf. „Zweierlei strukturelle Veränderungen“, fasst Jackson zusammen, „sind der Kern jeder Strategie, die die gesellschaftliche Logik des Konsumismus angehen will. Die eine ist der Abbau oder die Korrektur falscher Anreize für nichtnachhaltigen (und unproduktiven) Wettbewerb um Status. Die zweite ist der Aufbau neuer Strukturen, die den Menschen die Befähigung geben zu gedeihen und insbesondere die Möglichkeit, auf weniger materialistische Art uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“. Zivilgesellschaftliches Handeln, neue Lebensstile, bewusster Konsum, nicht-marktförmige Aktivitäten sind unverzichtbar, wenn wir unsere Wirtschafts- und Lebensweise so umstellen wollen, wie wir das aus ökologischen und sozialen Gründen müssen. Aber sie haben ihre Grenzen. Schon die alten
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Griechen haben darauf verwiesen. Bei denen hieß der Mensch, wenn er privat handelte, „Idiot“, wenn er sich für das Allgemeinwohl einsetzte, „politisch“. Wir müssen eben – das ist für uns Grüne ja eine Banalität – auch politisch handeln. Nicht als Verbraucher, sondern politisch zu konsumieren, bedeutet: nicht die Last auf die einzelnen abwälzen. Das versuchen z.B. Argumente nach dem Muster: „wenn es alle so machen würden“, etwa alle Mitglieder des Bund Naturschutz bio kaufen würden, wäre alles gut. Politisch handeln bedeutet, die Chance zu eröffnen: wenn mehr es so machen, steigt auch der politische Druck.
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Beate Walter-Rosenheimer (MdB) | Arbeitsmarkt heute – Gerechter Zugang, gerechte Entlohnung. Seit den 1980er Jahren wurde der Arbeitsmarkt immer mehr flexibilisiert. Im Wettbewerb mit anderen Ländern sollte es in Deutschland möglich sein, schnell und unkompliziert auf die Änderungen im Weltmarkt reagieren zu können. FDP und CDU/CSU machte es sich zum Ziel „marktwidrige“ Regulierungen zu reduzieren. Doch nicht nur den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sollten damit attraktivere Rahmenbedingungen geschaffen werden, man bezweckte damit auch eine Anpassung daran, dass immer mehr Frauen arbeiten wollten, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen wollten. Zwar nahm die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt seitdem stetig zu, von gleicher Teilhabe kann aber noch lange nicht die Rede sein. Dazu kommt, dass 2010 fast jede zweite Frau in Teilzeit anstatt in einem Normalarbeitsverhältnis arbeitete.1 Später wurde argumentiert, dass die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dafür nötig sei, um gegen die Arbeitslosigkeit anzugehen. Auch wir Grünen müssen uns an der Nase fassen: Mit Teilen der „Hartz“-Gesetzen haben wir ebenfalls zur Deregulierung des Arbeitsmarktes beigetragen. Seitdem sind viele atypische Arbeitsverhältnisse entstanden: Teilzeitarbeit, Minijobs, befristete Beschäftigung oder Leiharbeit. Inzwischen entfällt, wenn man Doppelzählungen eliminiert, deutlich mehr als ein Drittel der Gesamtbeschäftigung auf Teilzeit- und Leiharbeit sowie auf befristete und geringfügige Beschäftigung.2 Der unbefristete Vollzeitjob, das so genannte „Normalarbeitsverhältnis“ wurde mehr und mehr zur Ausnahme. Zwar bedeutet ein atypisches Arbeitsverhältnis nicht automatisch, dass es prekär ist. „Als prekär kann ein Arbeitsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das gesellschaftlich als Standard definiert ist. Prekär ist eine Erwerbsarbeit auch, wenn sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert.“3 Dennoch hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dazu
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Als Hauptgrund für ihre Teilzeiterwerbstätigkeit nannte jede zweite Frau (51 %) in Deutschland die Betreuung von Kindern bzw. Pflegebedürftigen oder andere familiäre und persönliche Verpflichtungen. 19 % arbeiteten verkürzt, weil sie keinen ganztägigen Arbeitsplatz finden konnten. http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Arbeitsmarkt/Akt uell,templateId=renderPrint.psml 2
Quelle: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/08526.pdf
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geführt, dass Arbeitgeber als Übergangslösung oder als flexible Hilfen gedachte Arbeitsmodelle zur Regel, anstelle zur Ausnahme von Normalarbeitsverhältnissen gemacht haben. Für über zwei Jahrzehnte wurde diese Flexibilisierung von Politik und Wirtschaft vorangetrieben. Doch die Konsequenzen aus der Aufweichung des Normalarbeitsverhältnisses zeigen, dass es kein „Weiter so“ geben darf. Der Sachverständigenrat zu Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt klar: „Wird das Tempo [des Rückgangs der Normalarbeitsverhältnisse; Anm. der Verf.] beibehalten (…) würde genau im Jahre 2100 das letzte Normalarbeitsverhältnis in Deutschland verschwinden.4 Auch wenn die atypische Beschäftigung nicht immer automatisch eine prekäre Beschäftigung ist: Diese Beschäftigungsformen sind viel höheren Risiken (auch im Hinblick auf Benachteiligungen beim Lohn oder wenn es um Unsicherheiten für die Wiederanstellung geht) ausgesetzt als vergleichbare Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen.5 Untersuchungen zeigen, dass atypisch Beschäftigte ein mehrfach höheres Risiko tragen für Niedriglöhne zu arbeiten, arbeitslos zu werden und von Weiterbildung ausgeschlossen zu sein. Die zwischen allen Stühlen sitzenden Solo-Selbstständigen sind ebenfalls hiervon stark betroffen.6 Die grüne Schlussfolgerung muss deshalb sein, die Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse entgegen der Jahrzehnte langen Deregulierung zugunsten der ArbeitgeberInnen verträglich zu korrigieren. Wir fordern beispielsweise eine Neuordnung von Minijobs und kleinen Beschäftigungsverhältnissen. Der Plan der schwarzgelben Bundesregierung, die Minijobs auf 450 Euro auszuweiten steht dem Bedarf nach mehr existenzsichernden, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungen klar entgegen und befördert nur das Wachstum prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Zugleich hat Deutschland mit Niedriglöhnen zu kämpfen. Die Universität Duisburg-Essen stellte in einer Studie7, in der für das Jahr 2010 untersucht wurde, wie sich der Niedriglohnanteil in Deutschland entwickelt hat, fest: 23,1% der Beschäftigten arbeiteten für einen Niedriglohn von unter 9,15 €. Bei Einführung eines gesetzliches Mindestlohnes von 8,50 € hätte jede/r fünfte Beschäftigte Anspruch auf eine Lohnerhöhung (gut 25% der Frauen und knapp 15% der Männer – hier eröffnet sich ein weiteres Handlungserfordernis im Hinblick auf die Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsmarkt). Einst war Erwerbsarbeit der Garant für Sicherheit und Wohlstand. Ein Versprechen,
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http://www.bpb.de/themen/7KUCXU,0,0,Deregulierung_des_Arbeitsmarktes%3A_Das_Normalarbeitsverh%E4 ltnis_und_andere_Besch%E4ftigungsformen.html#art0 4
http://www.bpb.de/themen/7KUCXU,0,0,Deregulierung_des_Arbeitsmarktes%3A_Das_Normalarbeitsverh%E4 ltnis_und_andere_Besch%E4ftigungsformen.html#art0 5
http://www.bpb.de/themen/7KUCXU,0,0,Deregulierung_des_Arbeitsmarktes%3A_Das_Normalarbeitsverh%E4 ltnis_und_andere_Besch%E4ftigungsformen.html#art0 6 http://www.gruene-bundestag.de/cms/archiv/dokbin/271/271262.tagungspapier_flexibel_arbeiten.pdf 7 http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2012/report2012-01.pdf
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das heute nicht mehr für alle gilt: Eine wachsende Zahl der Menschen in Deutschland arbeitet und ist trotzdem arm. Die grüne Bundestagsfraktion setzt sich daher für eine Mindestlohnkommission nach britischem Vorbild ein. Diese muss eine generelle Lohnuntergrenze festlegen.8 Die grüne Bundestagsfraktion stellte 2009 in einem Tagungspapier9 außerdem fest: „Die Arbeitslosenversicherung ist noch immer am Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet. Sie „honoriert“ vor allem das Vollzeitarbeitsverhältnis, das nicht von Arbeitslosigkeit oder Familienphasen unterbrochen oder durch Teilzeit verkürzt wird. Auch die Lebens- und Arbeitswelten der neuen Selbstständigen bilden sich in den Strukturen der Arbeitslosenversicherung kaum ab.“ Die Gesetzgebung orientiert sich derzeit nicht an der Diskontinuität der Lebensläufe. Dies befördert jedoch insbesondere eine Prekarisierung derjenigen, die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten oder in Solo-Selbstständigkeit arbeiten. Die einseitige Risikoverlagerung der flexibilisierten Arbeitswelt auf Beschäftigte und prekär Arbeitende ist nicht hinnehmbar. Die soziale Sicherung muss an die neuen Arbeitsbedingungen dieser wachsenden Zahl der Bevölkerung angepasst werden. Mit einem Antrag haben wir versucht, diesbezüglich einige positive Änderungen zu erwirken: In Zukunft soll beispielsweise das Arbeitslosengeld schon dann gezahlt werden, wenn für mindestens vier Monate innerhalb von 24 Monaten Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt wurden. Zudem sollen die Berechtigten denselben Zugang zu Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik, beispielsweise zur Förderung der beruflichen Weiterbildung, wie alle anderen Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld haben. Langfristig wichtiger als die zuvor genannten Punkte, ist jedoch Folgendes: Um faire und gerechte Zugangschancen zum Arbeitsmarkt zu erhalten und damit verbunden auch ein sicheres Einkommen bekommen zu können, muss in erster Instanz eine gleichberechtigte Teilhabe am Bildungssystem, an der Aus- und Weiterbildung, gewährleistet sein. Nach wie vor besteht ein starker Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung10 ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schülerinnen und Schüler mit einem niedrigen sozioökonomischen Hintergrund auf ein Gymnasium gehen, deutlich geringer als für Schülerinnen und Schüler mit einem hohen sozioökonomischen Hintergrund – und das auch bei gleichen Fähigkeiten: „Selbst bei gleichen Lesekompetenzen und gleichem Niveau an kognitiven Grundfähigkeiten (ein Indikator für Lernpotenzial) erhalten Kinder der oberen Dienstklasse mit einer 2,6-mal höheren Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung von ihren Lehrern und Lehrerinnen als Kinder aus Facharbeiterfamilien und mit einer 4,5-mal höheren Wahrscheinlichkeit als Kinder von un- und
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http://www.gruene-bundestag.de/cms/archiv/dokbin/271/271262.tagungspapier_flexibel_arbeiten.pdf http://www.gruene-bundestag.de/cms/archiv/dokbin/271/271262.tagungspapier_flexibel_arbeiten.pdf 10 http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf 9
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angelernten Arbeitern.“11 Jede/r sechste bis fünfte 15-Jährige in Deutschland ist darüber hinaus den Herausforderungen des Bildungssystems, vor allem den Übergängen in die berufliche Bildung und ins Erwerbsleben, aufgrund des Mangels an grundlegenden Kompetenzen kaum gewachsen. „Und auch unter ihnen sind Kinder mit einem niedrigen sozioökonomischen Hintergrund überproportional vertreten.“12 Das Milieu oder Land der Herkunft darf nicht entscheidend für die spätere Teilhabe am Arbeitsmarkt sein – faktisch ist es jedoch noch immer so. Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit sieht anders aus. Es ist eine umfassende politische Aufgabe, bestehende sozioökonomische Strukturen nicht künstlich zu manifestieren. Bildung, Mindestlöhne, soziale Sicherung und eine sensible Regulierung der Arbeitswelt haben entscheidenden Einfluss auf die Situation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland. Grüne Aufgabe muss es deshalb sein, einen verträglichen, gerechten und sozialen Arbeitslebenslauf zu ermöglichen und zu fördern.
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http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf http://www.boeckler.de/pdf/p_arbp_171.pdf
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Dr. Thomas Gambke (MdB) | „Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit – Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen?“ Das Auseinanderdriften von Einkommen und Vermögen wird in vielen OECD-Ländern beobachtet. In Deutschland ist der Effekt dabei stärker als im OECD-Durchschnitt. Einkommen haben sich in Deutschland signifikant auseinanderentwickelt. Sehr niedrige Einkommen gewinnen an Bedeutung, genauso wie die sehr hohen. Eine Ursache dafür ist die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Der Niedriglohnsektor ist in den letzten Jahren deutlich angewachsen. Begünstigt wird das durch einen fehlenden Mindestlohn, durch die Ausweitung der Zeitarbeit bei fehlendem ordnungspolitischen Rahmen (z.B. kein Equal Pay) sowie durch Fehlanreizen bei den Minijobs. Auf der anderen Seite sind die Managergehälter deutlich überproportional angewachsen, genauso wie die Erträge aus Vermögen, die zum Teil auf dem schlecht regulierten Finanzmarkt erzielt werden. Dabei ist die fehlende Datenbasis für hohe Einkommen ein echtes Problem, dass durch die Einführung der Abgeltung-steuer noch verstärkt wurde. Besonders bei hohen Einkommen und Vermögen müssen wir für Transparenz sorgen, weil nur dann eine zielgenaue politische Steuerung möglich ist. Auch bei den privaten Vermögen müssen wir umsteuern. Sie werden in der Bundesrepublik etwa im Vergleich zu den USA oder zu Großbritannien sehr gering besteuert. Das führt zu einem Anwachsen der Vermögen, ohne dass dafür eine sonderlich große Anstrengung nötig wäre. Die Vermögensbesteuerung wurde 1997 durch Helmut Kohl und die FDP abgeschafft, die Erbschaftsteuer ist löchrig und andere Steuern auf Vermögen wie die Grundsteuer wirken nur für einen kleinen Teil des Besitzes. Mögliche Lösungen für eine angemessene Besteuerung von Vermögen liegen in einer deutlichen Anhebung der Steuern auf Zinsen, einer verkehrswertbasierten Reform der Grundsteuer, die auch Voraussetzung für die mögliche Wiedereinführung einer Vermögensteuer ist und in einer verfassungsfesten und klareren Erbschaftsteuer. Dabei müssen bei der Erbschaftsteuer Betriebsvermögen aus Verfassungs- und aus Gerechtigkeitsgründen gleichermaßen zur Besteuerung herangezogen werden. Mit einer entsprechend hohen Freigrenze sollten geringe Vermögen („Omas Häuschen oder kleine Handwerksbetriebe) weiter von der Erbschaftssteuer freigestellt werden. Durch einen höheren Satz bei großen Vermögen kann ein sicheres Aufkommen bei der Steuer für die Länder erzielt werden.
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Zudem wollen wir Grüne mit einer Vermögensabgabe verhindern, dass die Lasten der Finanzkrise allein vom einfachen Steuerzahler oder, wegen der zur Konsolidierung der Haushalte notwendigen Einschränkungen bei den Staatsausgaben, von den BürgerInnen mit niedrigen oder keinem Einkommen bezahlt werden. Um die Einkommensentwicklung in faire Bahnen zu lenken müssen wir die Verdrängung regulärer Beschäftigung durch Minijobs oder Zeitarbeit verhindern. Deswegen brauchen wir unter anderem einen Mindestlohn und die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit. Außerdem müssen wir bei den Managergehältern Lösungen finden, die Vorstandsgehälter in eine angemessene Relation zu den Löhnen von Angestellten bringen.
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Claudia Stamm (MdL) | Zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung Roll-Back in der Gleichstellungspolitik? Mit Ursula von der Leyen führt eine gestandene Mutter und Frau jenseits des gebärfähigen Alters das Elterngeld (egal, wie man es sozialpolitisch wertet – für die Gleichstellung war es auf jeden Fall hilfreich aufgrund des Anreizes auch wieder früher arbeiten zu gehen) sowie den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ein und ruft laut nach einer Quote für Aufsichtsräte. Dies entspricht durch und durch unseren grünen Forderungen! Und dann gibt sie noch einen Gleichstellungsbericht (GLB) in Auftrag. Doch was passiert dann? Aus Frau von der Leyen wird eine jüngere Frau: Frau Köhler und dann Frau Schröder und diese Frau Schröder will den innovativen, wirklich mit guten Analysen und Erkenntnissen bestückten GLB erst gar nicht entgegen nehmen. Es ist ihr nicht wichtig genug, bei ihrer Vorgängerin war und ist das Thema Gleichstellung „Chefin-Thema“. Meine Erfahrung übrigens auch im Nachgang zur Diskussion mit Herrn Generalsekretär Dobrindt in der Münchner Runde zum Betreuungsgeld übrigens auch: Viele junge Mütter haben mir geschrieben und mich zum Teil regelrecht beschimpft – von jungen Frauen keinerlei Zustimmung – wenn dann von älteren Frauen oder von Männern! Rolle-Rückwärts! Aber warum und vor allem wie kommen wir endlich voran? Wie machen wir vielleicht mal einen Salto? Ich denke, da müssen sich auch alle Mütter selbst an der Nase packen! Da es ja leider immer noch hauptsächlich sie sind, die die Kinder erziehen, d.h. die Söhne immer noch zu „Ich-bin-dann-mal-der Alleinernährer“ und muss mich deswegen höchstens ein bisschen um die Kinder kümmern, aber auf keinen Fall um Hausarbeit. Wenn ich jetzt auch überzeichne – ich weiß ja, dass Väter immer öfter Elternzeit nehmen und das am meisten in Bayern. Aber wenn wir dann mal genauer hinsehen, dann ist das eben meist ein verlängerter Urlaub – wie übrigens auch die ein oder anderen Grünen oder SPD-Männer! Aber warum stellen wir dann nicht endlich das System des Elterngeldes um? Eine einfache Regelung wäre z.B. dass es das Geld für ein volles Jahr nur gibt, wenn der Vater die Hälfte der Zeit übernimmt. Das wäre mal echte Gleichstellung! Erster Gleichstellungsbericht der Bundesregierung - Blaupause Grüner Politik oder Blaupause für Grüne Politik?
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Der Erste Gleichstellungsbericht bestätigt in allen Bereichen die gleichstellungspolitischen Forderungen der Grünen. Im Ergebnis heißt das: die Gleichstellungspolitik der Bundesregierung ist überholt, aber vor allem auch in sich widersprüchlich. Denn auf der einen Seite soll die Berufstätigkeit von Frauen gefördert werden, auf der anderen Seite wird sie aber gerade durch staatliche Maßnahmen wie das Ehegattensplitting o.ä. konterkariert. Damit wird konservativer Gleichstellungspolitik – insbesondere unter Frauenministerin Schröder – ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt und von einer unabhängigen hochrangig besetzten Sachverständigenkommission die grüne Politik bestätigt. Das dürfte auch die Reaktion von Schröder auf das Gutachten erklären. Der Ansatz, Gleichstellung von Frauen und Männern unter der Lebensverlaufsperspektive zu betrachten, ist sehr positiv zu beurteilen, da damit sehr deutlich wird, dass •
viele Entscheidungen an den Übergängen/Knotenpunkten sich später zu Lasten der Frauen auswirken.
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Den Ansatz der Lebensverlaufsperspektive (Längsschnitt) begrüßen wir, da sich dadurch deutlich zeigt, dass an sog. Knotenpunkten bzw. Umbruchsituationen wegweisende Entscheidungen gefällt werden, die die weitere Biografie von Frauen meist negativ beeinflussen. Das Bewusstsein darüber ist in dem Moment der Entscheidung oftmals nicht vorhanden.
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Umbrüche sind z.B. der Übergang von Schule/Beruf, Elternhaus/eigenes Leben, Job/Familiengründung, Familie/Wiedereinstieg, etc. Durch die Untersuchung von solchen Knotenpunkten zeigt sich, dass frühzeitig die Weichen gestellt werden (Berufswahl/Niedriglohn-Jobs), später Familiengründung (Mini-Jobs, Teilzeit, Kindererziehung – unterstützt durch strukturelle Faktoren wie Ehegattensplitting, etc.), halbherziger Wiedereinstieg/Karriereknick – also eine Reihe an Knotenpunkten, die sich wie z.B. bei Trennung extrem negativ auswirken (bis hin zur Altersarmut). Individuelle Entscheidungen, die sich negativ auf Frauen auswirken werden also durch staatliche Maßnahmen noch unterstützt. Deshalb fordern wir eine Abschaffung des Ehegattensplittings, Ausbau der Infrastruktur statt Betreuungsgeld, etc.
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bereits frühzeitig die Weichen für die weitere Biografie gestellt werden, zum Beispiel durch die Berufswahl, die sich bei jungen Frauen zumeist auf ein eingeschränktes Spektrum an schlecht bezahlten Berufen beschränkt.
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Entscheidungen, die in einer Lebensphase gemeinsam getroffen werden wie z.B. Kinderbetreuung durch die Frau, Berufstätigkeit zur finanziellen Sicherung durch den Mann, können sich zu einem späteren Zeitpunkt (Scheidung) verheerend auf den weiteren Lebensweg der Frau auswirken. Dieses Dilemma wird verstärkt durch staatliche Maßnahmen wie das Ehegattensplitting oder die kostenfreie Mitversicherung in der Krankenkasse.
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Gleichstellungspolitik darf nicht weiterhin in sich widersprüchlich sein, wie z.B. •
hervorragende Ausbildung von Frauen auf der einen Seite, aber andrerseits Anreize durch das Steuer- und Sozialsystem, lieber daheim zu bleiben oder geringfügig beschäftigt zu sein.
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durch den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und Elterngeld den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen und auf der anderen Seite durch das Betreuungsgeld einen Anreiz geben, zu Hause zu bleiben.
Begrüßenswert sind insbesondere folgende Feststellungen: 1. Gleichstellungspolitik im o. g. Sinn ist Innovationspolitik. 2. Die Kosten der Nicht-Gleichstellung sind bei weitem höher als die der Gleichstellung. 3. Was die Arbeitszeit betrifft, gibt es immer wieder zahlreiche Modelle, die aber oft an der Realität des Arbeitsgebers vorbeigehen – bzw. an der Realität des Arbeitnehmers – und zudem traditionelle Rollen eher zementieren wie z.B. Teilzeit für Frauen. Umgekehrt müssen Frauen und Männer die Wahlfreiheit haben. Wir fordern z.B. Teilzeit in Führungspositionen für Männer und Frauen, um zu jeder Zeit – auch bei Kindererziehung oder aus anderen Gründen – auch eine Führungsposition einnehmen zu können. Wir wollen mehr Flexibilität und Wahlfreiheit bei der Zeiteinteilung – ohne deshalb auf attraktive Positionen verzichten zu müssen. Im Übrigen soll Teilzeit in Führungspositionen ausdrücklich auch Männer anziehen. 4. Minijobs und prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind vor allem für Frauen oftmals die einzige Verdienstquelle. Gerade in Privathaushalten arbeiten viele Frauen als Putzfrau oder Pflegekraft, ohne sozialversichert zu sein. Dabei handelt es sich oft um die klassische Hausfrau, die nur ein bisschen dazu verdienen will, weil sich durch Ehegattensplitting und Mitversicherung bei der Krankenversicherung eine sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit finanziell nicht lohnt. Aber auch viele Alleinerziehende oder Migrantinnen arbeiten überproportional häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen – oftmals unter übelsten Bedingungen. Die Folgen sind katastrophal: existenzielle Abhängigkeit vom Ehemann oder vom "Arbeitgeber" bei Migrantinnen ohne regulären Aufenthaltsstatus. Gerade Letztere landen oft in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Aufgrund der fehlenden Rentenbeiträge ist die Altersarmut vorprogrammiert. Wir wollen Jobs ohne Sozialversicherung verhindern, weil sie volkswirtschaftlich widersinnig sind und die Frauen in eine Sackgasse führen. Wir fordern die Abschaffung des Ehegattensplittings, das ein völlig überholtes Rollenmodell – die Ehefrau als Hinzuverdienerin, der Ehemann als Ernährer – zementiert. Stattdessen brauchen wir eine Individualbesteuerung, mehr Kinderbetreuungsangebote und Ganztagesschulen.
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Doris Wagner (Sprecherin der BAG Frauenpolitik) | Wahlfreiheit und Teilhabe – Gender in einer gerechten Gesellschaft Für mich geht es in der Frauen- und Gleichstellungspolitik darum, wie wir zusammen leben wollen in unserer Gesellschaft, deshalb ist für mich Frauenpolitik auch Gesellschaftspolitik. Und natürlich möchte ich in einer gerechten Gesellschaft leben. Eine Gesellschaft, in der Jede und Jeder die gleiche Chance auf Teilhabe hat und wählen kann, wie sie oder er ihr/sein Leben gestaltet. Aber ist es gerecht, wenn Frauen für gleichwertige Arbeit noch immer deutlich weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen? Ist es gerecht, wenn sie auf der Karriereleiter verloren gehen oder nach einem langen Arbeitsleben in Altersarmut enden? Ist es (geschlechter-)gerecht, dass unser Steuersystem - de facto - Frauenarbeit weniger "lohnend" sein lässt? Ist es gerecht, dass bezahlt und unbezahlte Arbeit zwischen Männern und Frauen so ungleich verteilt ist? Ist es gerecht, dass die Hauptlast für den Familienunterhalt immer noch auf männlichen Schultern ruht und Väter von ihren Vorgesetzten schräg angesehen werden, wenn sie Elternzeit nehmen möchten... Ich finde nicht und deshalb mache ich Frauen- und Gleichstellungspolitik. Wir haben Frau Dr. Röder eingeladen, die im Gender-Workshop den ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung vorstellt. Ja, genau, den Bericht, den Kristina Schröder, "unsere" Frauenministerin, dann doch nicht haben wollte, der aber - und das war wahrscheinlich für sie gerade die Krux daran - in vielen Bereich klar aufzeigt, wie konsistente, zukunftsgerichtete Gleichstellungspolitik aussehen könnte. Die zweite Inputgeberin im Workshop ist Claudia Stamm MdL, gleichstellungspolitische Sprecherin der bayerischen Landtagsfraktion. Sie wird einen Einblick geben in ihre landespolitische Arbeit und die aus ihrer Sicht größten Baustellen zur geschlechtergerechten Gesellschaft in Bayern aufzeigen.
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Ekin Deligöz (MdB) | Zusammenhalt in der Einwanderungsgesellschaft als Zukunftsaufgabe Eine zentrale Zukunftsaufgabe steckt hinter der Frage, wie Zusammenhalt auch gerade in der Einwanderungsgesellschaft geschaffen werden kann. Das zeigt sich unter anderem in einer Flut an Studien zum Thema ‘Integration‘. Das wird noch deutlicher mit Blick auf die Medienwirksamkeit einzelner Studien. Sie lösen besonders dann große öffentliche Resonanz aus, wenn ihre Ergebnisse - tatsächlich oder vermeintlich – polarisieren. Jüngstes Beispiel ist die Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland". Das Bundesinnenministerium als Auftraggeber hatte mit einer verkürzten und verzerrten Wiedergabe der Ergebnisse viele junge Menschen islamischen Glaubens als sog. Integrationsverweigerer abgestempelt. So werden aus wissenschaftlichen Studien Steilvorlagen für PolitikerInnen, die das komplexe und durchaus strittige Thema nur allzu gerne instrumentalisieren. Und so entsteht der Stoff für solche Medien, die mit Bezeichnungen wie „Schock-Studie“ vor allem Menschen schocken, die in der Regel keinen Kontakt, aber viele diffuse Ängste vor Menschen mit Migrationshintergrund haben. Ein sehr drastisches Beispiel für diese Instrumentalisierung dieses Themas ist das Buch "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin. Darin wird tatsächlich der Versuch unternommen, menschliche Verhaltensweisen sowie gesellschaftliche Zusammenhänge von biologischen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Eine derartige zynische Instrumentalisierung des Themas verhindert ein breites gesellschaftliches Anliegen: nämlich die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls von Menschen mit verschiedenen kulturellen, ethnischen wie religiösen Wurzeln zu stärken! Bemerkenswert ist hier auch, dass diese Anschauung wieder in einem Teil der Gesellschaft großes Gehör findet. Ganz offenkundig sind nicht wenige Menschen für vereinfachende, polarisierende und populistische Sichtweisen beim Thema ‚Integration‘ empfänglich. Sie haben gewiss noch nicht zu einem angemessenen Zusammengehörigkeitsgefühl gefunden. Warum ist das so und wie können wir die Herausforderungen des Zusammenlebens bewältigen? Auch wenn in den öffentlichen Debatten gerne auf die Stadtstaaten oder auf Industrieregionen wie das Ruhrgebiet geschaut wird: diese Herausforderungen des Zusammenlebens müssen wir auch in Bayern bewältigen. Landesweit liegt hier der Migrantenanteil bei über 20%, in Städten wie Augsburg und Nürnberg sogar bei rund 40%. Wir haben es also auch mit einem bayerischen Thema zu tun, welches uns überall und tagtäglich im Land begegnet. Umso weniger dürfen wir das Thema der destruktiven Meinungsmache einzelner PolitikerInnen und der einseitigen Berichterstattung einiger Medien überlassen. Die Politik muss daher fernab von ideologischen Zuspitzungen die notwendigen Rahmenbedingungen für ein
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gleichberechtigtes und solidarisches Miteinander schaffen. Sie muss allen voran die Bildungsinfrastruktur verbessern und sowie die Anerkennungskultur fördern. Wir werden uns im Workshop auf diese Prämissen konzentrieren und dabei das Ziel verfolgen, den TeilnehmerInnen einen substanziellen Input für die eigene Arbeit mitzugeben, unabhängig davon, ob sie in der kommunalen Parteipolitik aktiv mitwirken oder ohne Mandat allgemein politisch engagiert sind. Dies soll gemeinsam mit Volker Mehringer, Dozent an der PhilosophischSozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg und Ayfer Fuchs, Sprecherin des Landesarbeitskreises "Migration, Flucht und Menschenrechte" bewerkstelligt werden.
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Ayfer Fuchs (Sprecherin des LAK Migration, Flucht und Menschenrechte) | Integration – Begegnung auf Augenhöhe Einleitend zwei Definitionen des Wortes Integration: In der Soziologie meint Integration den Einbezug von Menschen, die aus den verschiedensten Gründen bisher ausgeschlossen (exkludiert) waren. In der Sozialen Arbeit bezeichnet Integration gelungene Prozesse zur Inklusion von Akteuren/Klienten Sozialer Arbeit innerhalb von Sozialen Räumen. In meiner Arbeit und in meinem Leben als Migrantin erlebte ich sehr häufig, dass viele Menschen bei diesem Thema einen entscheidenden Fehler machen: Man glaubt zu wissen was Migranten brauchen, denken und fühlen ohne sie oft miteinzubeziehen. Oft denken sich Migranten: Warum fragen die mich nicht? Oder: Warum denken die so über mich? Es ist immer wieder interessant aber auch beängstigend zu hören, wie man über Migranten denkt und umgekehrt. Aufklärung tut hier viel Not. Integration kann nur miteinander gelingen, wenn man Migranten mit ins Boot holt und miteinander arbeitet. Hierfür braucht es auch die Bereitschaft aller Beteiligten. Viele Projekte sind zum Scheitern verurteilt, weil man sie zwar gut meint, aber nicht in Berücksichtigung der Bedürfnisse der jeweiligen Menschen erarbeitet. Integration braucht den Umgang auf Augenhöhe. Migranten sind nicht die lästigen Geschöpfe, die es immer noch nicht geschafft haben Deutsch zu lernen, keine Schulbildung haben und ihre Kinder nicht erziehen können. Sie sind genauso ein Teil dieser Gesellschaft, die seit 50 Jahren Deutschland zu dem gemacht haben, was es heute ist. Sie gestalten zum Teil jetzt schon unsere Gesellschaft mit. Wir werden Integration nur erreichen, wenn wir respektvoll miteinander umgehen. Dies gilt für alle Menschen gleich. Integration kann daher nur gelingen, wenn man sich miteinander auf Augenhöhe begegnet. Gerade in Anbetracht der vielen Studien, die belegen, dass Migranten einen hohen Anteil der Bevölkerung in Deutschland ausmachen, gilt es alle mitzunehmen.
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Günther Sandmeyer (Sprecher des LAK Bildung) | Der Eliten-Begriff im bayerischen Bildungssystem In den letzten Jahren hat die Diskussion über Sinn und Notwendigkeit einer Elite in der öffentlichen Diskussion stark an Bedeutung gewonnen. Dabei geht es zum einen um den Umstand, dass immer mehr Eltern der Meinung sind, das staatliche Schul- und Hochschulsystem sei nicht mehr in der Lage, ihre Kinder so zu fördern, dass sie später eine Spitzenposition einnehmen können. Zum anderen will man international konkurrenzfähig bleiben und mit besonders gut ausgebildeten Studenten punkten. Als Antwort auf die erste Frage entstanden und entstehen immer mehr Schulen, Universitäten und sogar Kindergärten, die sich als Elitekader verstehen. Das sind im Normalfall Privateinrichtungen, deren schnell erkennbare Gemeinsamkeit ist, dass sie bei den Gebühren besonders elitär sind. Als Antwort auf die internationale Konkurrenzfähigkeit gibt es zum Beispiel die Exzellenzinitiative und die damit verbundenen Exzellenzuniversitäten, aber auch das Bayerische Eliteförderungsgesetz und das Elitenetzwerk Bayern. Bei all diesen Aktivitäten wird nicht klar, was und wer eigentlich die Elite ist und ob die Gesellschaft überhaupt eine Elite benötigt? Zudem stellt sich die Frage, ob bei der sogenannten Bestenförderung eigentlich das Gleiche gemeint ist. Die Suche nach dem Begriff „Elite“ führt im Internet zu einer großen Vielfalt an Erklärungsmöglichkeiten – denn es gibt Leistungseliten, Funktionseliten, Machteliten, Positionseliten und Bildungseliten. Es gibt auch die Elitesoldaten. Man findet auch eine Elite der Schornsteinfeger und wird darüber informiert, dass die Hochstapler die Elite der Betrüger seien. Der Soziologe Prof. Dr. Michael Hartmann beschreibt Elite als Personen, die auf Grund ihrer Position – oder in der Wirtschaft auch auf Grund ihres Eigentums – in der Lage sind, gesellschaftliche Entwicklungen maßgeblich zu beeinflussen. Er geht aber auch davon aus, dass eine gute oder auch beste Ausbildung alleine nicht dafür ausreicht, eine „Eliteposition“ zu bekommen. Elite wird nach seinen Studien zu einem großen Teil innerhalb der eigenen Schichtzugehörigkeit weitervererbt. Das kennen wir schon aus der Bildungsgerechtigkeitsdebatte; die Chancen für ein Akademikerkind zu studieren sind deutlich höher als für ein Arbeiterkind. Und wenn ich mich so verhalten kann, wie es die Elite gewohnt ist, dann werde ich auch leichter Elite. Wie ist es dann mit der Bestenförderung? In Bayern gibt es 21 Studiengänge zur Förderung der Leistungseliten im Hochschulbereich. Wer dort aufgenommen wird, hat einfach deutlich bessere Studienbedingungen. Mehr Professoren, kleinere Seminare, eine hohe Betreuungsintensität, usw. Bayern gibt eine Menge Geld dafür aus, dass gute Studenten bessere Bedingungen haben als andere
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Studenten. Ist das fair oder gerecht? Oder ist es nur ein billiges Manöver, um zeigen zu können, dass wir Bayern in dem Bereich auch was zu bieten haben. Billig deshalb, weil es natürlich wesentlich teurer wäre für alle 322.537 Studenten gute Bedingungen zu schaffen als für die ausgewählten 3.000 (Stand jeweils Nov. 2011). In Zeiten des demographischen Wandels und des Fachkräftemangels von ca. 25.000 fehlenden Akademikern macht es da wirklich Sinn, viel Geld in dreitausend besonders gut ausgebildete Absolventen zu stecken?
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Michael Gerr | Inklusion in Bayern Inklusion als neues Schlagwort wird zunehmend auch in Bayern verwendet. Dabei liegt die Frage nahe, ob ein neues Konzept eines inklusiven Gemeinwesens tatsächlich mit Inhalten und den entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen, die damit einhergehen müssen, hinterlegt ist oder ob Inklusion eher inhaltsleeres Schlagwort bleibt, wenn man nämlich einfach nur die gegebenen Verhältnisse nun politisch korrekt ausdrückt, aber ein großer Beharrungswille jegliche Veränderungen verweigert. Tatsächlich findet man in Bayern beide Stoßrichtungen, aber es wäre zu einfach der staatstragenden CSU samt konservativer Lobby nur die Verweigerungsrolle zuzuschreiben. Die Vision eines inklusiven Gemeinwesens wird dann und dort gesellschaftliche Wirklichkeit, wo die unterschiedlichen Akteure (vor Ort) einbezogen werden und am Ende überzeugt sind, dass ein Umbau hin zu Inklusion für alle lohnend ist. Inklusion heißt: Alle sind dabei. Niemand wird zurück gelassen. Eine inklusive Gesellschaft versteht die Unterschiedlichkeit der Menschen nicht als Problem, sondern als Chance. Sie stellt sich der Herausforderung für alle Menschen, die in der Gefahr von Exklusion oder Separation leben, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihre volle Teilhabe gewährleisten. Im Blick sind hierbei die folgenden Merkmale: Alter (jung und alt), Behinderungen, Ethnie, Migrationshintergrund, Religion und Religionslosigkeit, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat Inklusion als Menschenrecht ausformuliert. Vor diesem Vorbild kann man formulieren: Inklusion ist ein Menschenrecht für Alle. Die Grüne Rolle für ein Menschenrecht Inklusion in einem inklusiven Gemeinwesen (ein Vorschlag): 1. Eine Idee erklären: Vision für ein inklusives Miteinander Die Idee für eine inklusive Gesellschaft haben wir in der Grünen Partei auf der BDK 2011 in Kiel diskutiert und in einem Beschluss grundgelegt. In den Ländern und in den Kommunen gilt es nun die Vision mit Leben zu füllen und sie breit zum Thema zu machen. Wie stellen wir uns ein funktionierendes inklusives Gemeinwesen vor? Welches Menschenbild geht damit einher? Warum führt Inklusion zu Bereicherung, einem Mehrwert? Diese Fragen sind nicht isoliert innerhalb einer spezialisierten Sozial- oder Behindertenpolitik zu stellen, sondern müssen als Querschnittsaufgabe begriffen und beantwortet werden. 2. Den gesellschaftlichen Umbau diskutieren: Beteiligung der Betroffenen und Akteure
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Die separierenden Strukturen, die in Jahrzehnten aufgebaut wurden, lassen sich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Manche Spezialisierung innerhalb der Sondersysteme führte zu einem höheren Fachwissen, das es zu erhalten gilt, aber das nun in eine inklusive Anwendung überführt werden muss. Wir brauchen praxisnahe Modelle für den Umbau in ein inklusives Gemeinwesen, insbesondere betrifft dies unser separatives Schulsystem, unseren Sonderarbeitssektor (Werkstätten für Menschen mit Behinderung) und weitere Sondereinrichtungen (Heime etc.). Dieser Umbau darf nicht zu unberechtigten Leistungseinschränkungen führen. Es bedarf einer intensiven Einbindung und Beteiligung der Betroffenen und aller Akteure (z.B. Eltern, Sozialberufe, Wissenschaft, Politik). 3. Erste konkrete Schritte einleiten: Menschenrechtsverletzungen verhindern Exklusion und Separation führen auf direktem Wege zu Menschenrechtsverletzungen, so die folgenschwere Erkenntnis. Die gesellschaftlich bedingten Einschränkungen durch mangelhafte Wahlmöglichkeiten und reduzierte soziale Kontakte sind Bedingungen, welche zumindest die so genannten wsk-Rechte (wirtschaftliche, soziale, kulturelle Rechte) verletzen. Soziale Teilhabe ist ein Menschenrecht. Auch wenn der Umbau hin zu inklusiven Systemen Zeit benötigt, dürfen Wahlmöglichkeiten wie sie etwa im Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention beschrieben sind, nicht eingeschränkt werden. Konkret dürfen Menschenrechte schon gar nicht durch den Staat verweigert werden, wenn sie individuell eingefordert werden. Die Grünen sollten selbstbewusst ein inklusives an Menschenrechten orientiertes Gemeinwesen einfordern und die konkrete Umsetzung diskutieren – möglichst breit und mit dem Ziel alle mitzunehmen! Sofern Grüne in Regierungsverantwortung sind oder kommen, sollten sie die Anpassungen von Gesetzen an die UN-BRK vorantreiben.
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Gabriela Seitz-Hoffmann (Mitglied des Parteirats) | BürgerInnenbeteiligung für Alle Mein persönlicher Weg in die praktische Politik führte über die Gründung einer Bürgerinitiative und die Eingabe eines Bürgerbegehrens. Es war aber gar nicht so einfach, denn das Bürgerbegehren wurde abgelehnt und landete beim Verwaltungsgericht. Dafür brauchte die Bürgerinitiative dann sogar einen Anwalt. Neben all der persönlichen Mühe und Zeit war es also auch noch teuer. Kein Wunder, dass viele diesen Weg scheuen. Wir haben Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Demonstrationsrecht, Petitionsrecht u.v.m. Mit Hilfe der neuen Medien allgemein und Social Media wie Twitter und Facebook im Besonderen haben wir heute beste Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten. Solange aber nicht alle daran teilhaben (wollen), brauchen wir darüber hinaus unsere "alten" Medien: Zeitung, Sitzung, Versammlung, Flugblatt. Aber auch da müssen wir darauf achten, dass alle mitmachen können. Da gibt es Barrieren – solche aus Stein wie Treppen für Rollstuhlfahrer, aber auch fehlende Gebärdendolmetscher für Gehörlose, fehlende akustische Unterstützung für Blinde, zu komplizierte Sprache für nicht so gut gebildete Menschen oder einfach Schwellenängste. Und Engagement kostet nicht nur Zeit sondern auch Geld, denn es ist ohne privaten Computer, Laptop, Mobiltelefon nicht oder nur sehr schwer vorstellbar. Die Frage, ob nur "reiche" Menschen mit genügend Zeit, guter Ausbildung und auch Zivilcourage diejenigen sind, die in unserer Demokratie die Bürgerrechte auch nutzen können, drängt sich auf. Wir sollten Wege finden, die es ALLEN ermöglichen, ihre Rechte wahrzunehmen. Wir bräuchten so etwas wie einen "BürgerInnenanwalt" oder "BürgerInnenanwältin". Durch die Kommune bezahlt aber vollkommen unparteiisch, berät sie oder er die Bürgerinnen und Bürger, wenn es Ärgernisse gibt. So eine Art Kummerkasten mit Antwortfunktion bzw. mit Arbeitsfunktion. Ich gehe hin, gebe meinem Ärger oder meiner Sorge Ausdruck und werde darüber informiert, welche Möglichkeiten der Teilhabe es gibt. Dazu könnten auch noch ganz praktische Hilfestellungen kommen. Zum Beispiel bei der Formulierung von Eingaben an den Stadtrat etc.. Wäre doch eine gute Idee oder? Beispiel: Stellt Euch vor, die Stadt München plant eine neue Abfalldeponie. Zur Wahl stehen zwei Gebiete: eins am Hasenbergl (eher sozialer Brennpunkt) und eins in Bogenhausen (eher gehobenes Milieu). Was glaubt ihr wird passieren? Wo wird die Deponie wohl errichtet? Ist die Entscheidung am Ende gerecht?
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Berichte aus den Workshops Nach den Impulsreden ging es beim Kongress in die Workshop-Phase. Dazu haben wir den TeilnehmerInnen acht Workshops angeboten, mit denen wir versucht haben, die unterschiedlichen Dimensionen des Themas Gerechtigkeit abzudecken. Zur Nachbereitung der Workshops haben wir Protokolle anfertigen lassen, die die Inputs der ReferentInnen und die Hauptaspekte der Gruppendiskussionen zusammenfassen. Den ProtokollantInnen möchten wir hiermit nochmals herzlich danken.
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Noelle Pfeiffer | Her mit dem guten Leben – Neue Lebensstile für mehr Gerechtigkeit Referenten: •
Dr. Sepp Dürr (MdL)
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Dr. Rupert Ebner (Slow Food e.V.)
Moderation: •
Dieter Janecek (Landesvorsitzender)
Sepp Dürr über „Neue Lebensstile“ 1) Es gibt die neuen Lebensstile. Zahlreiche Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Bücher zeugen davon. Es ist in den Medien vermehrt von Subsistenzwirtschaft (= Arbeit ist selbstbestimmt und selbsterhaltend) die Rede, sogar die Wissenschaft setzt sich mit alternativen Lebensentwürfen auseinander, wie z.B. die Glücksforschung. 2) Die Lebensmodelle besitzen eine neue Qualität. Die Menschen hoffen auf einen wirklichen kulturellen Wandel, eingeleitet durch das Bewusstsein, dass der aktuelle Lebensstil so nicht länger haltbar ist. Der Klimawandel und die globalen Missstände sind uns bewusst und daraus entsteht die Sehnsucht nach Erdung und Gerechtigkeit. Gedanken zum Konsum: Die große Masse ist immer noch auf Wachstum und Konsum hin ausgerichtet. Materieller Konsumhunger unserer Gesellschaft existiert weil, Konsum als Kultur, Statussymbol und als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe fungiert. Sobald zur Einschränkung des überflüssigen Konsums aufgerufen wird, wird dies als Verzicht wahrgenommen. Menschen verzichten nicht gerne → Verzichtsappelle bringen das Wachstumsgehäuse nicht zum Einstürzen. Besser: Vorbildfunktion von Menschen die aussteigen, sog. Pioniere des Wandels.
3) Die politische Unterstützung ist für eine gesellschaftliche Veränderung notwendig. Um der Konsum-Wachstumsmaschinerie zu entsteigen und nachhaltige Lebensmodelle zu schaffen müssen viele Menschen Lust auf Veränderung haben. Die Politik kann vermehrt Anreize für einen nachhaltigen Lebensstil bieten. Die symbolische Wirkung (nicht vordergründig die reale Wirkung, da diese noch zu schwach ist) ist hier entscheidend. Je mehr kleine erfolgreiche Veränderungen stattfinden, je mehr die Möglichkeit der Veränderung erfahrbar wird, desto mehr Menschen werden sich der Bewegung anschließen. Dadurch würde wiederum der politische Druck steigen. Nachhaltigkeit & Slow Food Dr. Rupert Ebner definiert Nachhaltigkeit als: Unseren Nachfolgern eine lebenswerte Welt hinterlassen. Der Begriff der Nachhaltigkeit wird oft missbraucht und der Konsument wird durch subtiles Marketing in die Irre geführt (v.a. in der Lebensmittelindustrie). Auch Konzepte die erst nachhaltig scheinen, sind es dann absolut nicht; z.B. Biogasanlagen. Die Politik hat hier die Verpflichtung Gesetze nach zu justieren. Vorstellung von Slow Food: seit 1989 setzt sich die Organisation für gute, saubere und faire Lebensmittel ein. Es geht um Genuss des puren Essens, saubere Produktionsvorgänge und gerechte Produktion. Der Erzeuger muss den Überblick haben um gute Qualität zu erzeugen. Dies ist in der industriellen Landwirtschaft kaum mehr möglich, da dort Arbeitsteilung bis zum Exzess betrieben wird. Auch möchte Slow Food verstärkt Erzeuger-Konsumenten Beziehungen fördern. Lokale Traditionen sollen bestärkt werden ebenso wie das Bewusstsein über die globalen Auswirkungen unserer Ernährungsgewohnheiten. Lösungsansätze und Forderungen In der Gesprächsrunde konnte jeder Teilnehmer seine Gedanken zu nachhaltigen Lebensstilen äußern. Hauptsächlich ging es um alternative Modelle, die es schon gibt und um die Frage wie man eine Bewusstseinsänderung bei anderen bewirkt. •
Forderung: Strukturen, die eine Änderung „von unten“ erstreben (z.B. Urban Gardening) müssen „von oben“, also von der Politik, massiv unterstützt werden.
•
Aktiv werden und ein positives Vorbild sein. Wenn das Geforderte auch wirklich vorgelebt wird, kann am meisten bewegt werden. Beispiel Pedelec (=Elektrofahrrad): Mit einem elektrischen Fahrrad wieder mehr Menschen für das Fahrradfahren begeistern. Idee verbreiten, eigenes Pedelec in der Nachbarschaft ausleihen, Fahrradkreise (ähnlich wie Maschinenkreise) bilden etc.
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•
Die Basis vernetzen: Internet nutzen um Tauschringe und Foren zu bilden. Beispiele: - Couchsurfing (http://www.couchsurfing.org/about.html) - Carsharing (http://www.carsharing.de/) - Freecycle (http://www.de.freecycle.org/) - AlleNachbarn (http://allenachbarn.de/)
•
Nicht nur Teilhabe, sondern auch Teilgabe: Freude des Gebens erfahren, der Gemeinschaft etwas zurückgeben
•
Betonung der Künstler als wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Kunst regt spielerisch zu neuer Denkweise, Betrachtung an und hat Vorbildcharakter. Künstler sind daher Verbündete, die ein Umdenken und Offenheit für neue Lebensweisen einleiten können
•
Bildung, vor allem Charakterbildung an den Schulen, als wichtige Voraussetzung für Bewusstseinsänderung. Aber auch geistiger Austausch und Aufeinanderzugehen als konkrete Mittel zu mehr Gerechtigkeit.
Ganz wichtig ist und bleibt jedoch auch ein humorvoller Umgang mit dem Thema. Bei aller Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit des kollektiven Lebenswandels, dürfen der Spaß und die Lebensqualität nicht verloren gehen.
Fotoprotokoll des Workshops
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Stefan Schmidt (Mitglied des Parteirats) | Arbeits- und Verteilungsgerechtigkeit – Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen? ReferentInnen: •
Christiane Berger (stellv. Vorsitzende, DGB Bayern)
•
Dr. Thomas Gambke (MdB)
Moderation: •
Beate Walter-Rosenheimer (MdB)
„Wie schließen wir die sich weiter öffnende Schere von Einkommen und Vermögen?“ Mit dieser Frage beschäftigte sich der am meisten nachgefragte Workshop. Beate Walter-Rosenheimer (MdB) eröffnete den Workshop und moderierte. Als ReferentInnen agierten die stellvertretende Vorsitzende des bayerischen DGB, Christiane Berger und der Mittelstandsbeauftragte der Bundestagsfraktion, Dr. Thomas Gambke (MdB). Christiane Berger machte gleich in ihrem Eingangsstatement deutlich, dass Gerechtigkeit subjektiv sei. Allerdings seien Einkommensunterschiede regelmäßig nicht zu erklären. Dabei sei Arbeit ein sinnstiftender Beitrag für die Gesellschaft, im Vergleich zum Kapital sei dieser Beitrag aber entwertet. Vielmehr gebe es am Arbeitsmarkt viele Schieflagen und eine zunehmende Prekarisierung, zum Beispiel durch atypische Beschäftigung. Berger machte sich für stärkere Regulierung stark: „Für Gerechtigkeit und Befähigung brauchen wir viel mehr Staat.“ Als Beispiele nannte sie steuerpolitische Instrumente, den Mindestlohn und eine bedarfsorientierte Grundsicherung. Thomas Gambke machte deutlich, dass es bei hohen Einkommen in den vergangenen Jahren zu deutlichen Steigerungen kam, während niedrige Einkommen teilweise sogar schrumpften. Ähnlich sei die Vermögensverteilung: Während im oberen Dezil die Vermögen wachsen, wachsen im unteren Dezil die Schulden. Und auch der Gini-Koeffizient sei auf 0,3 angewachsen. Er messe, wie ungleich Einkommen oder Vermögen verteilt sei. In Skandinavien sei der Koeffizient deutlich niedriger. Angesichts der schwierigen Haushaltssituation sei eine stärkere staatliche Mitbestimmung allerdings nur durch höhere Einnahmen möglich. Lösungsansätze gäbe es viele. Ordnungspolitisch könnten beispielsweise Mindestlöhne eingeführt werden, gesellschaftspolitisch der Stellenwert von bezahlter und unbezahlter Arbeit neu beurteilt werden und auch die Bemessung von Wohlstand und Lebensqualität müsse überarbeitet werden. Zur Generierung höherer Einnahmen regte Gambke einen höheren Spitzensteuersatz, die Abwendung von der Abgeltungssteuer (sie bevorzugt großes
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Vermögen gegenüber großem Einkommen), eine zeitlich befristete Vermögensabgabe und eine höhere Erbschaftssteuer. In der anschließenden Diskussion kristallisierte sich ferner die Bürgerversicherung als ein Baustein für ein gerechteres Bayern heraus. Dadurch würden alle Einkommen solidarisch für die Sozialversicherung herangezogen. Heute nehme man den Menschen prozentual mehr weg, die schon bei der Verteilung von Arbeit zu kurz gekommen seien. Der Stellenwert von Geld wurde unterschiedlich beurteilt. Weitgehende Einigkeit bestand darüber, dass ungleiche Geldverteilung auch zu ungleicher Machtverteilung führe. Allerdings hätten gerade auch die Möglichkeiten im Netz dazu beigetragen, dass Partizipation einfacher und günstiger sei. Ansatzweise wurde auch die Frage nach einem bedingungslosen Grundeinkommen diskutiert. Befürworter versprechen sich insbesondere einen Wegfall der Stigmatisierung, Gegner sehen die Gefahr, dass jenseits von Geld noch mehr für „Befähigung“ und Teilhabe getan werden muss. Keine Gegenposition hingegen gab es zur Einführung eines Mindestlohnes. Christiane Berger hatte zwar „Bauchschmerzen“, als der DGB sich dafür ausgesprochen habe. „Aber es geht nicht anders!“, so auch die Meinung des Plenums. Unterschiedlich waren die Positionen zur Schnelligkeit der Umsetzung von Maßnahmen und deren Lebensdauer. Thomas Gambke machte deutlich, dass viele einzelne Beiträge wie die Bürgerversicherung sehr komplex seien und gut durchdacht werden müssten.
Fotoprotokoll des Workshops
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Silke Rapp | Wahlfreiheit und Teilhabe – Gender in einer gerechten Gesellschaft Referentinnen: •
Dr. Ingrid Röder (Mitarbeiterin am GLB)
•
Claudia Stamm (MdL)
Moderation: •
Doris Wagner (Sprecherin der BAG Frauen)
„Wo liegen die großen Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis?“ Mit dieser Frage eröffnete Moderatorin Doris Wagner den Workshop Geschlechtergerechtigkeit. Die neun TeilnehmerInnen – sieben Frauen und zwei Männer – nannten unter anderem die Verteilung von Erziehungs- und Familienarbeit, Rollenbilder von Mädchen und Jungs, Absicherung im Alter aber auch die Themen Gesundheit, Gewalt und Schule. Im Anschluss stellte Dr. Ingrid Röder die zentralen Ergebnisse des ersten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung von 2011 vor (Präsentation im Anschluss). Dieser untersucht die Wirkung der derzeitigen Gleichstellungspolitik im Lebenslauf und gibt Handlungsempfehlungen wie z.B. •
Rollenbilder modernisieren und Recht am Leitbild der Gleichberechtigung konsistent ausrichten.
•
Erwerbsleben: Fehlanreize beseitigen, Entgeltgleichheit und Aufstiegschancen schaffen.
•
Alter: Honorierung der Pflegearbeit verbessern und Alterssicherung armutsfest machen.
Die zweite Referentin, Claudia Stamm (MdL), lobte den Gleichstellungsbericht, der ihrer Meinung nach mit grüner Gleichstellungspolitik absolut übereinstimmt. Ihrer Wahrnehmung nach stagniere die Gleichstellungspolitik momentan völlig, dabei stünden viele Aufgaben an: Abschaffung des Ehegattensplittings, Kindergrundsicherung, Familientransferleistungen zusammenfassen, Geschlechterbild in den Medien verändern, Gender Mainstreaming in den Schulen. Denn, so das Fazit von Claudia Stamm: Die Kosten der Nicht-Gleichstellung sind weitaus höher als die der Gleichstellung. In der Diskussion wurden vor allem über die ungleichen Bedingungen für Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt sowie die Rollenverteilung im Privaten gesprochen. Fazit der Workshop-TeilnehmerInnen war, dass es in beiden Bereichen grundlegende Veränderungen braucht, um endlich die Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis abzuschaffen. Wenn Mütter sich nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn sie sich für eine Vollzeitstelle bewerben, sei ein großer Schritt getan.
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Dr. Ingrid RÜder | Präsentation des Gleichstellungsberichts 2011
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Silvia Wagner | Generationengerechtigkeit – keine Einbahnstraße ReferentInnen: •
Dimitra Kostimpas (Bundesvorstand der Grünen Jugend)
•
Danyal Bayaz (Stiftung Generationengerechtigkeit)
Moderation: •
Thomas Mütze (MdL)
1. Input Dimitra Kostimpas: Was bedeutet der Begriff „Generation“? -
gleichzeitig heranwachsend, dieselben äußeren Einflüsse, aber unterschiedliche Bildung und
soziales Umfeld. Gibt es einen „Krieg der Generationen“? -
eigentlich nicht, denn jeder Mensch gehört im Laufe seines Lebens jeder Generation einmal an.
Aber: es gibt getrennte Lebenswelten und mittlerweile viele kreative Projekte um dies zu überwinden, z. B. Mehrgenerationenhäuser. Wie steht es mit dem Generationenvertrag? -
Jugend wird sowohl ökonomisch als auch ökologisch immer mehr belastet. Mittlerweile
akzeptieren nur noch 81% die Rentenversicherung im bisherigen Stil. 2. Input Danyal Bayaz: Wie steht es in Europa mit den Renten und der Staatsverschuldung? Wie sieht es europaweit mit den Perspektiven für die junge Generation auf die Zukunft in Anbetracht steigender Staatsverschuldung aus? -
Hohe Jugendarbeitslosigkeit v.a.in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien.
-
Wenig Verständnis bei der Bevölkerung der „reichen“ Länder (Deutschland) für die finanzielle
Unterstützung dieser Staaten bei gleichzeitiger Kürzung der eigenen Sozialausgaben; aber was viele vergessen: Deutschland ist abhängig von der Exportwirtschaft, vom Transfer von Arbeitskräften und Bildung (z. B. Erasmus), vom friedlichen Zusammenleben der europäischen Staaten. -
Die Schuldenbremse mit Auswirkungen auf Bildungsmaßnahmen fördert nicht die Chancen für
die Jugendlichen. Besser wären Zukunftsinvestitionen, so dass sich wieder Perspektiven ergeben.
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3. Diskussion und Positionsbestimmung: -
Die Mehrheit der Diskussionsbeiträge wirft die Frage der Finanzierung gerechter Renten in
Anbetracht des demografischen Wandels auf. Ein weiterer Schwerpunkt behandelt das Problem der steigenden Staatsverschuldung im Hinblick auf Sozial- und Bildungsausgaben. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der ökologischen Ausbeutung und Vernichtung des Lebensraums „Erde“. -
Thomas Mütze schlägt vor, dass jeder Teilnehmer drei Karten mit je einem drängenden Anliegen
zum Thema beschriftet. -
Aus den Beiträgen ergeben sich unter dem großen Aspekt der Nachhaltigkeit folgende
Themenschwerpunkte: Rolle der Familie, Probleme im Alter, Chancengleichheit, Finanzierungsfragen, Umweltzerstörung. -
In Anbetracht der Kürze der Zeit wählen die Teilnehmer mehrheitlich zwei Themen zur
ausführlicheren Diskussion: Chancengleichheit und Finanzierungsfragen 4. Chancengleichheit: -
Vor allem die Bildungschancen sollen für alle gegeben sein, unabhängig von Geldbeutel und
Herkunft: vom Kleinkind bis ins hohe Lebensalter sollen staatliche Bildungseinrichtungen kostenlos sein: Kitas, Krippen, Kindergärten, Schulen und Hochschulen dürfen nur so wenig wie möglich kosten, wenn nicht sogar unter bestimmten Bedingungen kostenlos sein. Bafög elternunabhängig für alle. -
Unstimmigkeit herrschte über die genauen Bedingungen, genauso wie im Punkt
„Grundsicherung für Kinder ab dem nullten Lebensjahr“ (Stichpunkt: Ticketsystem, Barauszahlung). -
mehr Sozialarbeit an Kindergärten und Schulen.
-
Durch die Gleichbehandlung aller werden soziale Ungleichheiten weniger „vererbt“.
5. Finanzierungsfragen: Ideensammlung zum Thema nachhaltige Finanzierung: •
Schuldenabbau über Einnahmen: Erbschaftssteuer erhöhen, Spitzensteuersatz erhöhen, Finanzmarkttransaktionssteuer, Vermögensabgabe
•
Schuldenabbau über Inflation
•
Schuldenabbau über Wachstum
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Ausgaben auf Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit überprüfen.
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Fotoprotokoll des Workshops
Jim Sengl | Soziale Barrieren meistern durch eine interkulturelle Gesellschaft ReferentInnen: •
Ayfer Fuchs (Sprecherin des LAK Migration)
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Volker Mehringer (Uni Augsburg)
Moderation: •
Ekin Deligöz (MdB)
Gleich zu Beginn stellte Ekin Deligöz klar, dass ihr grundsätzliches Problem mit der Integrationsdebatte, die starke Fokussierung auf die vermeintliche Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund ist. Dadurch fallen oft die Vorteile, wie etwa Mehrsprachigkeit, Multikulturalität etc. unter den Tisch. Einen Beleg für diesen Missstand lieferte eine erst vor kurzem an der Uni Konstanz durchgeführte Studie, in der sich ausgewählte Firmen darauf geeinigt hatten, anonymisierte Bewerbungen zu akzeptieren. Im Ergebnis stiegen die Chancen von Menschen mit Migrationshintergrund (auf ein Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden) während dieser Studie deutlich. Wenn sich eine Gesellschaft weiter entwickeln will, dann muss sie dieses negative und defizitäre Bild von Menschen anderer Herkunft ablegen. Wir kommen nur weiter, wenn wir versuchen gemeinsam unsere Gesellschaft voran zu bringen. Denn Fakt ist, dass besonders in größeren Städten immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben. Was bei der ganzen Diskussion darüber hinaus oft zu kurz kommt, ist der Genderaspekt und wenn darüber dann doch gesprochen wird, dann meist nur in Klischees (wie z.B. die unterdrückte muslimische Frau). Bildung als die Lösung aller Integrationsprobleme, so wie man es ständig hört, überfrachtet Bildungseinrichtungen mit Lösungsansprüchen. Bildung ist ein Schlüssel aber natürlich nicht der einzige. Der diplomierte Pädagoge Volker Mehringer schloss hierbei gleich mit seinem einführenden Statement an. Integration kann als Synonym für gesellschaftlichen Zusammenhalt verstanden werden. Denn Integration meint auf den Einzelnen bezogen immer, die Einbindung in verschiedene Bereiche der Gesellschaft.
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Prinzipiell ist es kein Problem wenn einzelne Menschen nicht oder unzureichend integriert sind. Ein Problem wird es, wenn ganze Gruppen es nicht schaffen integriert zu werden. Bildung ist ein zentraler Bereich der Integration, denn dort werden viele Zugänge zu gesellschaftlichen Bereiche erworben. Zum Thema Integration hat Volker Mehringer fünf Thesen herausgearbeitet: 1. These: MigrantIn ist nicht gleich MigrantIn Das Bild von MigrantInnen ist nach aktueller Studienlage sehr differenziert. Medien vermitteln leider oft den Eindruck als wären die Probleme und Fähigkeiten von MigrantInnen homogen. Migrationshintergründe sind jedoch oft sehr heterogen. Denn es spielen verschiedenste Faktoren eine Rolle (z.B. 1., 2. oder 3. Generation, verschiedenste Sprachen, Kulturräume etc.). Damit stößt die große und undifferenzierte Klammer „Migrationshintergrund“ sehr schnell an seine Erkenntnisgrenzen. Ein negatives Beispiel liefern hier amtliche Statistiken die als wichtigstes Kriterium Staatsangehörigkeit erfassen. Solche Kriterien sind zu grob und bringen uns nicht weiter. 2. These: Integration ist ein Generationen-Prozess Man kann heute schon feststellen, dass mit fortschreitenden Generationen der Integrationsprozess besser wird. Bildungsabschlüsse, Verdienst oder etwa Sprachkenntnisse werden von Generation zu Generation nachgewiesen besser. Verschlechterungen werden in Studien auch festgestellt, sind aber ganz klar die Ausnahme. Beim PISA-Test hat sich die Gruppe der MigrantInnen substantiell verbessert (nicht MigrantInnen stagnieren). 3. These: Förderung umso früher, umso besser Studien zeigen, dass die Ungleichheiten bei den Kindern mit und ohne Migrationshintergrund der 1. Klasse in etwa gleich sind wie in der 4. Klasse. Daraus lässt sich ableiten, dass die Verringerung dieser Ungleichheiten bereits vor der Schulzeit angegangen werden muss. Daraus ergibt sich ein Bedarf an Fördermaßnahmen im Vorschulbereich. Es gibt viele Belege dafür, dass die Sprachförderung dabei zentral ist. In der Grundschule kann man über die Sprache fast alle Disparitäten in der Grundschule kompensieren. Leider werden im Moment Sprachfördermaßnahmen noch unzureichend evaluiert (flächendeckende Evaluation wird in Bayern nicht durchgeführt). Zu beobachten ist auch, dass fast überall die Sprachförderung nach der Primärstufe aufhört, dies erscheint nach Studienlage nicht sinnvoll. 4. These: Integration von Kindern geht auch über die Integration der Eltern Der Integrationszusammenhang von Eltern und Kinder ist sehr eng. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit auch Familien zu fördern. Es ist wichtig zu gewährleisten, dass
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Integrationsleistungen zwischen den Generationen weiter gegeben werden können. In England werden z.B. in sogenannten Familienzentren Angebote für Kinder und ihre Familien gemacht. In Deutschland gibt es noch deutlich zu wenig Kompetenzen in der interkulturellen Elternbildung. 5. These: Gezielte Integrationsförderung bedarf klarer Integrationsziele Einer der wichtigsten Schlüssel, damit die Integrationsbemühungen wirklich Wirkung zeigen können ist ganz klare Ziele zu formulieren. Nur so ist es möglich verschiedenste Projekte und Maßnahmen aufeinander abzustimmen und einen nachhaltigen Erfolg von Integration zu ermöglichen. Ayfer Fuchs, Sprecherin des LAK Migration, versuchte schließlich die Problemlage vieler MigrantInnen zu skizzieren. Migration haftet leider noch immer etwas Bedrohliches an. Diese Wahrnehmung müssen wir ablegen. Was viele MigrantInnen beschäftigt, ist nach wie vor das Thema Doppelte Staatsbürgerschaft. Es fällt oft sehr schwer, seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit aufzugeben. Dieses Problem wird leider oft nicht ernst genommen und auch selten positiv dargestellt. MigrantInnen machen immer wieder die Erfahrung, dass es wenig Bereitschaft gibt, auf sie zuzugehen. Viele Projekte werden für MigrantInnen gemacht, ohne dass diese in die Erstellung oder organisatorische Durchführung der Projekte miteinbezogen werden. Bei einem Rückblick, was sich in 50 Jahren Zuwanderung nach Deutschland verändert hat, fallen einige Dinge auf. Die erste Generation wollte nach einigen Jahren Arbeit wieder zurück in ihre Heimat. Die Integration gelang paradoxer Weise auf dieser Grundlage schneller, da klar war, dass man sich in absehbarer Zeit wieder voneinander trennte. Nach einer Weile wurde dann klar, dass viele nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren würden. In der nun anschließenden Diskussion mit den TeilnehmerInnen des Workshops wurden einige Aspekte weiter vertieft. Vor allem die Förderung von (Klein-)Kindern ist ein wichtiger Baustein in der Integration. Daneben muss die Gesellschaft insgesamt viel offener Zuwanderern begegnen. In Fußballvereinen geschieht dies beispielsweise meist sehr erfolgreich. Hier finden die Kinder Anschluss und lernen zudem Deutsch und häufig auch Dialekt. Ein weiterer Aspekt der Diskussion betraf die Integration in der Arbeitswelt als ebenfalls sehr wichtigen Bereich. Unternehmenskultur ist in der Debatte da oft schon weiter als die Gesellschaft. Als Beispiel wurde ein Großklinikum genannt, dessen Personal über 50 Nationalitäten umfasst. Jedoch gibt es immer noch zu viele Berufsbilder, die für MigrantInnen Tabu sind. Es gibt z.B. zu wenige türkische PolizistInnen. Besonders der Staatsdienst hat zu wenige MigrantInnen. Und auch in der Politik gibt es zu wenige MigrantInnen. Hier versucht nun das neue Mentoringprogramm des LAK Migration unterstützend entgegenzuwirken.
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Fotoprotokoll des Workshops
Martin Heilig | Mythos Eliten – Chancengerechtigkeit oder Abgrenzung? Referentinnen: •
Ulrike Gote (MdL)
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Julia Friedrichs (krankheitsbedingt abgesagt)
Moderation: •
Günther Sandmeyer
Günther Sandmeyer leitet mit einigen Worten den Workshop ein: Historisch war Elite eine Warenbezeichnung, dann als Begriff von Leuten die es „nach oben“ geschafft haben ohne zum Adel oder Klerus zu gehören. Elite war häufiger gebrauchter Begriff im Militär. Soziologische Erkenntnisse: Spitzenpositionen werden eher durch Auftreten bestimmt als durch akademische Abschlüsse und Leistungen. Ulrike Gote führt - unterbrochen von einem Auszug aus dem Buch „Gestatten Elite“ -einige Gedanken und Thesen zum Umgang mit dem Thema Elite aus. Einige ihrer Thesen sind: •
Wir sollten Elitenbegriff GRÜN füllen und besetzen. Elite war lange verbrannter Begriff. Viele – nicht nur GRÜNE – taten und tun sich schwer auch mit dem Begriff „hochbegabt“.
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Beschreibung der Eliten die Julia Friedrichs in ihrem Buch „Gestatten: Elite“ beschreibt.
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Teil der Elite: Eltern tun alles dafür ihren „Elite-Status“ auf Kinder zu übertragen – bei den sogenannten vorgeplanten Eliten geht es zuallererst um Geld und Reichtum.
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Problem dreigliedriges Schulsystem. Soziale Mobilität ist in Deutschland schlecht ausgeprägt.
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Elite soll Verantwortungs- und Leistungselite sein.
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Leistung bei vielen Grünen verpönt aber wichtig.
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Plädiert für Begabtenförderung. Individuelle Förderung.
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Zu einer Elite (es gibt mehrere Eliten) gehört man nicht von Geburt an. Eliten können sich entwickeln und auch verändern.
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Staatliche Eliteförderung nicht um dem Einzelnen gutes Einkommen zu verschaffen.
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Zugang zu den Eliten muss offen sein, allen offen stehen. Daher muss es viele Türen hinein in die Eliten geben.
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Demokratische, transparente Verfahren zur Auswahl der Förderung sind Grundvoraussetzung.
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In den Begabtenförderwerken werden zu 50% Mädchen bzw. Frauen gefördert, sie landen aber am Ende oft nicht in den „Funktionseliten“.
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MigrantInnen müssen besser gefördert werden; insbesondere Muslime/Muslima
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Soziale Zusammensetzung der Geförderten von Stiftungen: Häufig Akademikerkinder
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Warum? Kann man das ändern? Wie?
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Plädoyer: Begabtenförderung ausbauen – in der Spitze und Breite
Die Thesen von Ulrike Gothe werden kontrovers diskutiert. Einmütiger Konsens ergibt sich bei fast keinem Punkt. Zumindest deutlich mehrheitliche Einigkeit scheint über folgende Punkte zu herrschen: •
Vermeintliche Eliten übernehmen heute weniger gesellschaftliche Verantwortung. Dem muss entgegengewirkt werden.
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Wenn Eliten in einer Gesellschaft tatsächlich unvermeidlich sind (Ansicht umstritten), muss es eine staatliche Eliteförderung geben, die faire, transparente Zugangschancen zu den Eliten ermöglicht
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Was definiert Elite? Verantwortung, Leistung, Mut zum Querdenken, Kreativität
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Wer gesellschaftliche Verantwortung übernehmen will, braucht demokratische Legitimation.
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Geldelite (1 %) bleibt unter sich, was schwer aufzulösen ist. Antwort kann hier wohl nur höhere Erbschafts-, Vermögens-, Spitzensteuer sein.
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Förderung für Hochbegabte ist nur dann legitimiert wenn dies zu einem Mehrwert für die Gesellschaft führt
Ansonsten sind sich die TeilnehmerInnen einig, dass es gut war dieses Thema aufgegriffen zu haben, dass aber dieser Workshop nur ein Auftakt für eine sorgfältigere Auseinandersetzung der GRÜNEN mit dem Thema gewesen sein kann.
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Uli Hausner | Der Weg zum inklusiven Gemeinwohl Referentin: •
Renate Ackermann (MdL)
Moderation: •
Michael Gerr
Zu Beginn des Workshops spricht Moderator Michael Gerr einige einleitende Worte und gibt der Diskussionsrunde durch einen groben Ablaufplan Struktur. Anschließend definiert MdL Renate Ackermann den Begriff der Inklusion, um Missverständnisse zu vermeiden. Inklusion bedeute – in Abgrenzung zum Begriff der Integration – dass sich die Gesellschaft auf verschiedenste Menschen (Behinderte sowie auch MigrantInnen, Homosexuelle usw.) als Gruppen oder Individuen einstelle. Laut Ackermann sind Menschen nicht behindert, sie werden (von der Gesellschaft) behindert. Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (kurz „BRK – Behindertenrechtskonvention“) beabsichtige, dass es als Menschenrecht festgelegt sei, dass Behinderte an der Gesellschaft teilhaben können. Sie nennt in diesem Zusammenhang exemplarisch das Land Norwegen als Vorbild im Bereich Inklusion und Barrierefreiheit. Gelebte Inklusion sei nur zu erreichen, wenn sich die Gesellschaft auf verschiedene Gruppen von Menschen einstelle. In der Folge berichtet Renate Ackermann, dass die grüne Landtagsfraktion in der Vergangenheit bemängelte, dass im Landtag Inklusion nicht thematisiert werde. Daraufhin habe die bayerische Staatsregierung geantwortet, dass bereits ein Entwurf eines Aktionsplans vorhanden wäre, der aber laut Renate Ackermann faktisch nur eine Bestandsaufnahme liefert. Deshalb fordert die Landtagsabgeordnete, dass ein neuer Aktionsplan konkrete Handlungsempfehlungen und einen konkreten Zeitplan zur Umsetzung enthalten muss. Eine praktische Umsetzung der Barrierefreiheit müsse nicht nur baulich sondern auch hinsichtlich der Kommunikation und Unterstützungsangeboten beim selbstbestimmten Leben erfolgen. So sollen beispielsweise auch behinderte Kinder zusammen mit ihren Eltern frei entscheiden können, welche Schule sie besuchen. Die Inklusion in Schulen sei systematisch anzulegen. Danach nennt Michael Gerr häufig genannte Argumente gegen Inklusion, traditionelle aus der Sonderpädagogik bekannte und neuere gegen die BRK. Zusammen mit den TeilnehmerInnen der
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Diskussionsrunde werden die vorgebrachten Argumente entkräftet. Als wiederkehrende Argumentation aus der Sonderpädagogik kennzeichnet Michael Gerr die spezifische Förderung für spezifische Gruppen etwa im selektiven Schulsystem. Dies führe zu Benachteiligungen derjenigen, die „unten“ in der Hierarchie sind. Ein anderes Argument sei, dass Lernen in homogenen Lerngruppen effektiver sei. Dieses Argument wird damit beantwortet, es gebe gar keine homogenen Lerngruppen, Menschen seien immer unterschiedlich. Unterschiedlichkeit könne Lernen befördern, es gäbe mehr Lernen der SchülerInnen voneinander und soziales Lernen würde wichtiger. Die Antwort auf das Schutzraumargument, behinderte Kinder und Erwachsene müssten vor der Stigmatisierung in der Gesellschaft geschützt werden (sie seien dort immer besonders und Übergriffen ausgesetzt) wird ebenfalls verworfen. Es scheine eher so, dass die „normale Gesellschaft“ vor den Andersartigen geschützt werden solle. Ein Mindestschutz könne und müsse auch in der Gesellschaft erfolgen; negative Erfahrungen gehörten zum Leben. Darauf wird ein weiteres Argument diskutiert: Inklusion, Selbstbestimmung sei nur etwas für leichter oder körperlich Behinderte, Schwerst- und Mehrfachbehinderte bräuchten eben doch Sonderbehandlung. Dieses Argument wird wie folgt entkräftet: Inklusion meine tatsächlich alle, niemand dürfe zurückgelassen werden! Selbstbestimmung und Teilhabe müsse und könne sich an den individuellen Fähigkeiten orientieren. In Bezug auf die BRK heute wird öfters gesagt, Eltern und manche Betroffene wollten selber in Heimen leben. Michael Gerr betont, dass dies daran liegt, dass es zu wenige Alternativen beim Wohnen gibt. In Sozialverwaltungen wird argumentiert, dass die BRK selber einen Kostenvorbehalt enthalte. Dieses sei aber für arme Länder gedacht gewesen und es gebe in dem reichen Deutschland genug Geld im System, das nur an falscher Stelle verwendet werde. Obwohl die Behindertenrechtskonvention als „einfaches Bundesgesetz“ beschlossen sei, was bedeutet, dass die bestehenden Gesetze angepasst werden müssen, kommen die TeilnehmerInnen zu dem Ergebnis, dass es an der praktischen Umsetzung mangele. Deshalb sollte politisch auf die Umsetzung bzw. Einhaltung dieser Rechte gedrungen werden. Einige TeilnehmerInnen sprechen an, dass sich in diesem Kontext z. B. die Einklagbarkeit verbessern müsse. Die vorhandenen Rechte müssten in einen konkreten Anspruch übergehen. Laut Michael Gerr ist der Begriff „Wahlmöglichkeiten“ als zentraler Terminus der BRK zu identifizieren, da alle Menschen eine vielfältige Welt wollen. In diesem Punkt sei die Gesellschaft gefragt, diese Wahlmöglichkeiten offen zu halten. Es dürfe nicht vergessen werden, dass dies ein Menschenrecht sei. Renate Ackermann wirft ein, dass Schweden beispielhaft für ein Land stehe, dass keine sogenannten Behindertenheime kenne und dort die Inklusion somit sehr weit fortgeschritten sei.
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Ein Beteiligter äußert den Wunsch, dass die bayerischen Grünen für die Landtagswahl 2013 ein Wahlprogramm in leichter Sprache (für z. B. Menschen mit Lernschwäche) veröffentlichen. Michael Gerr betont im Hinblick auf den Meinungsaustausch zur persönlichen Assistenz für Menschen mit Behinderung, dass der/die Assistenznehmer/in die Kompetenz und die Wahlmöglichkeiten haben müsse, selbstbestimmt über Art und Ausmaß der persönlichen Unterstützung zu entscheiden. Wie schon zu Beginn des Workshops fordert Ackermann, dass in einem Aktionsplan konkrete Schritte festgehalten werden müssten. Am Anfang stünden Forderungen, die anschließend unter Einbindung der Behinderten realisiert werden müssten, um Barrierefreiheit in all seinen Facetten umsetzen zu können. Die Zielsetzungen sollten vor allem auch im Hinblick auf den zeitlichen Rahmen konkret verortet werden. Gerr fordert daraufhin die Schaffung von Behindertenbeiräten in bayerischen Städten, Landkreisen und in den Bezirken, um die Beteiligungsmöglichkeiten zu forcieren. Die TeilnehmerInnen sind sich zudem einig darüber, dass bauliche Schritte zur Herstellung von Barrierefreiheit auch anderen Gruppen wie beispielsweise älteren Menschen Vorteile bringen würden. Zudem sollten alle bayerischen Schulen als Inklusionsschulen angelegt sein, nicht nur die 40 vorhandenen Bildungseinrichtungen mit dem sogenannten „Schulprofil Inklusion“. Auf Bundesebene sollten außerdem weiterhin Maßnahmen angestoßen werden, um den Weg, der beispielsweise mit dem Bundesgleichstellungsgesetz begonnen wurde, weiterzuführen und auszubauen, so mit einem Bundesteilhabegesetz. Abschließend regt Renate Ackermann an, dass Veranstaltungen in der Öffentlichkeit abgehalten werden sollten, um flächendeckend über das Thema „Inklusion“ zu informieren. Auch die Presse sollte bei einer Informationskampagne eingebunden werden.
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Fotoprotokoll des Workshops
Christian Höbusch | Einmischen – Engagieren – Beteiligen: Gerechtigkeit selbst gestalten Referentinnen: •
Niombo Lomba (Stabsstelle für Bürgerbeteiligung)
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Susanna Tausendfreund (MdL)
Moderation: •
Gabriela Seitz-Hoffmann (Mitglied des Parteirats)
Wutbürger und Transparenz: Zwei häufig gehörte Worte dieser Tage. Doch was steckt dahinter? Wie haben Politik und Verwaltung neu zu agieren? Nur zwei von vielen Fragestellungen, mit denen sich der Workshop „Einmischen – Engagieren – Beteiligen: Gerechtigkeit selbst gestalten“ beschäftigte. Unter der Moderation von Gabriela Seitz-Hoffmann spürten die TeilnehmerInnen den verschiedensten Aspekten von BürgerInnenbeteiligung nach. Zunächst legten die beiden Referentinnen Niombo Lomba (Leiterin der Stabsstelle der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung & Stadträtin Stuttgart) und Susanna Tausendfreund (MdL) aus ihrer jeweiligen Perspektive ihre Sicht auf die Möglichkeiten und Formen von BürgerInnenbeteiligung dar. Susanna Tausendfreund zeigte den TeilnehmerInnen zunächst auf, dass BürgerInnenbeteiligung bei den Grünen in Bayern schon eine lange Tradition hat. Dabei verwies sie beispielhaft auf die Initiativen, die zum kommunalen Bürgerentscheid ergriffen wurden. Wichtig war ihr zu betonen, dass neben Formen der bereits schon existierenden formalen BürgerInnenbeteiligung immer mehr auch Formate gefunden und gelebt werden müssen, die BürgerInnen schon vor geregelten Verfahren in Entscheidungsfindungsprozesse mit einbeziehen. Dazu müssten Informationen über Projekt/Vorhaben viel früher, breiter, intensiver und aktiver kommuniziert werden. Dies sei auch ganz wichtig für die Akzeptanz in der Bevölkerung. Kritisch sah sie dabei aber die vielen „Beschleunigungsgesetze“, die formalisierte Verfahren noch mehr eingeengt hätten. Konkret forderte sie dabei z.B. auch den Rückbau der Regelungen zur materiellen Präklusion (kein Erheben von Sacheinwänden mehr ab einem bestimmten Verfahrensstand) in Genehmigungsverfahren. Dadurch wären Politik und Verwaltung nämlich auch gezwungen, sich mit Einwänden/Anmerkungen früher und aktiver auseinanderzusetzen. Dies würde auch zu einer ergebnisoffeneren Planungsstruktur, die auch Alternativen mitdenkt und prüft, führen.
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Zum Schluss zählte Susanna Tausendfreund dann noch einige Beispiele von Instrumenten zur BürgerInnenbeteiligung auf (Gemeinsame Aufstellung eines kommunalen Haushalts, Planungszelle, Bürgerworkshops, Ideenwerkstätten). Es müsse, so die Referentin, dabei auch immer auf die Verbindlichkeit der Ergebnisse des jeweiligen Beteiligungsverfahrens geachtet werden. Sodann gab Niombo Lomba ihren Input zum Workshop. Sie stellte ausführlich dar, was die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg unternimmt, um mehr BürgerInnenbeteiligung zu schaffen. Beginnend mit der Schaffung einer Stabsstelle für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, über einen Kabinettsausschuss für Bürgerbeteiligung, Bürgervollversammlungen, schließlich hin zu einer Allianz für BürgerInnenbeteiligung werden die verschiedensten Ansätze verfolgt. Dabei kann in BadenWürttemberg schon auf eine breite Basis bürgerschaftlichen Engagement zurückgegriffen werden. Denn, so Niombo Lomba, mehr als 40% der Bevölkerung engagiert sich bereits in der ein oder anderen Form aktiv für die Zivilgesellschaft. Dies halte die Landesregierung aber nicht davon ab, weiterhin auf eine „Politik des Ermöglichens“ zu setzen. So wird angestrebt, bald für die Kommunen in BW einen „Leitfaden für Bürgerbeteiligung“ zu entwickeln. Dort sollen geeignete Instrumente und Vorgehensweisen ausgewählt und näher beschrieben werden. Damit will die Landesregierung den Kommunen im Land ein gutes Handwerkszeug für BürgerInnenbeteiligung an die Hand geben. Gesetzgeberisch wird darüber hinaus z.B. auch angestrebt, in die diversen Planungsgesetze auf Bundes- und Landesebene eine „Soll“Regelung für BürgerInnenbeteiligung einzuführen. Wie BürgerInnenbeteiligung konkret aussehen kann und mit welchen Schwierigkeiten gerechnet werden muss, stellte sie in ihrem Einführungsreferat immer wieder an Hand des „S 21-Filderdialogs“ vor. Ganz wichtig sei bei allen Formen der BürgerInnenbeteiligung, dass vor Beginn klare Ziele und Prämissen formuliert werden. Danach stiegen die Workshop-TeilnehmerInnen auch gleich in die rege Diskussion des Themas ein. Dort wurden folgende Aspekte von BürgerInnenbeteiligung näher beleuchtet und exemplarisch herausgearbeitet: •
BürgerInnenbeteiligung sollte als wichtige Ergänzung zur repräsentativen Demokratie und nicht als Ersatz verstanden werden
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In den verschiedenen Formaten kann und muss auch immer die Beteiligung von Kindern und deren Wünschen/Interessen beachtet werden, ohne dass hierfür die Schaffung eines „Kinderwahlrechts“ notwendig wäre
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Parteien sollen in den Formen der BürgerInnenbeteiligung nicht als Richtungsgeber oder Moderator agieren, sondern sich in den Wettbewerb der Positionen im Verfahren gleichberechtigt einbringen
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•
Es muss ein „Mehrwertdenken“ für BürgerInnenbeteiligung in der Politik fest verankert werden, um die Wirkkraft und Verbindlichkeit zu erhöhen
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Als schwierig wurde angesehen, wer an einem Format oder Verfahren von BürgerInnenbeteiligung als betroffen angesehen werden kann/muss (z.B. bei Fragen betreffend kommunale Zweckverbände)
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Auch ist die „Übersetzung“ des BürgerInnenwillens in rechtliche/technische Aussagen bei allen Formaten der BürgerInnenbeteiligung zu beachten
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Online-Beteiligung (mit Registrierungsverpflichtung analog e-Petition?) hat auch immer mit einer Offline-Beteiligung kombiniert zu sein, um die tatsächliche Gesellschaftsstruktur abzubilden und damit das Ergebnis der Beteiligung aussagekräftiger zu machen
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Enorme Wichtigkeit hat auch die inhaltliche Vorbereitung und auch das „Marketing“ für einen Beteiligungsprozess
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Die Moderation eines Beteiligungsprozesses ist wichtig für die „Übersetzungsleistung“ und damit auch für das Ergebnis des Prozesses
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Klar geregelt werden muss auch die Beteiligung von Verbänden (auch NGOs), weil dort nicht selten die Überzeugung anzutreffen ist, dass die Verbände selbst schon „BürgerInnenbeteiligung“ darstellen
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Gut vorbereitete BürgerInnenbeteiligung kann sogar zu einer Verkürzung von Planungsverfahren/Projektvorhaben führen, weil nachgelagerte rechtliche Auseinandersetzungen entfallen können
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Enorm wichtig ist bei allen Formen der BürgerInnenbeteiligung, dass über Verlauf und Ergebnis ein offenes Feedback an die BürgerInnen erfolgt. Dies erfordert einen Kulturwandel in vielen Verwaltungsbereichen, die immer noch dem klassischen obrigkeitlichen Denken/Vorgehen verhaftet sind
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Schließlich sei ein effektives Schnittstellenmanagement in den Verwaltungen und das Einrichten von Brückenkopffunktionen/-positionen gegenüber den BürgerInnen auch außerhalb konkreter Beteiligungsprozesse notwendig
Zum Abschluss des Workshops leiteten die TeilnehmerInnen aus der gemeinsamen Diskussion ihre Empfehlungen für die Politik in Sachen BürgerInnenbeteiligung ab: •
Gründe gegen BürgerInnenbeteiligung minimieren durch: Information & Transparenz, ganzheitliches Denken, frühzeitiges Einbeziehen in die BürgerInnenbeteiligung
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Barrieren abbauen durch Selbstvertrauen stärken, neue Beteiligungsformate schaffen, „Bottom up“-demokratische Bildung fördern, Bürgeroffene Verwaltung, Feedback-Kultur in Politik und Verwaltung
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Fotoprotokoll des Workshops
Beitrag zum Streitgespräch: „Grundeinkommen versus Grundsicherung: was ist gerechter?“ Am Nachmittag legte das Streitgespräch zwischen Christiane Berger (stellvertretende Vorsitzende des DGB Bayern) und Wolfgang Strengmann-Kuhn (MdB) den Schwerpunkt auf „Grundeinkommen versus Grundsicherung“. Der Landesvorsitzende Dieter Janecek moderierte den Schlagabtausch und verfasste dazu einen Nachbericht, der die Diskussionslinien des Streitgesprächs schildert und zu einem allgemeinen Debattenbeitrag aufnimmt.
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Dieter Janecek (Landesvorsitzender) | Wie weiter mit dem BGE? Für die Diskussion um das Bedingungslose Grundeinkommen konnten wir zwei hochkarätige ReferentInnen gewinnen. Für das BGE setzte sich der grüne Bundestagsabgeordnete und langjährige Grundeinkommensverfechter Wolfgang Strengmann-Kuhn ein. Den konstruktiv-kritischen Part nahm Christiane Berger, stellvertretende Vorsitzende des DGB Bayern, ein. Die Gewerkschaften stehen dem BGE eher distanziert gegenüber. DGB-Chef Sommer ließ sich erst jüngst mit der Äußerung zitieren, das Grundeinkommen stehe für die Missachtung von Arbeit. Die Grünen führen die Diskussion um das BGE als sozial- und gesellschaftspolitische Vision bereits seit ihrer Gründung vor mehr als 30 Jahren. Auf der Bundesversammlung 2007 in Nürnberg stimmten immerhin 40% für einen entsprechenden Leitantrag. Durchgesetzt hat sich damals der Ansatz einer gezielten Stärkung unserer Bildungs- und sozialen Infrastruktur, auch als klare Absage an die Deregulierungsideologie des Neoliberalismus. Dies ist im Kern bei den Grünen heute auch Grundlage unserer Politik. Die Diskussion um das BGE hat seit 2007 eher zu- als abgenommen. Ohnedies steht sie nicht zwangsläufig im Widerspruch zum Institutionen-Ansatz. Freilich kann man aber vorhandenes Geld in Zeiten knapper Kassen nicht zweimal ausgeben. Von den Schulden, die wir für die kommenden Generationen abzutragen haben, ganz zu schweigen. Spannend ist an der BGE-Diskussion, dass sie über Lagergrenzen hinweg geführt wird. So sprechen sich die Grüne Jugend, unser finanzpolitischer Sprecher im Bundestag Gerhard Schick oder eben Wolfgang Strengmann-Kuhn für das BGE aus, aber auch führende Realos wie Boris Palmer oder der eher realpolitisch gesinnte Landesverband Baden-Württemberg haben Sympathie für die Idee erkennen lassen. Letzterer hat sogar einen konkreten Beschluss gefasst, bei der das BGE in Form einer negativen Einkommenssteuer favorisiert wird.
Auch in anderen Parteien sind konkrete Vorschläge in der Diskussion. Die CDU in Thüringen tritt für ein sog. Solidarisches Bürgergeld ein. Bei der Linkspartei ist die mögliche kommende Vorsitzende Katja Kipping Verfechterin des BGEs. Die Piratenpartei hat eine Absichtserklärung für ein BGE beschlossen, ein konkretes Modell fehlt bislang. Zuletzt hatten die Grünen in Schleswig-Holstein in ihrem Landtagswahlprogramm einen Passus zum BGE verabschiedet. Der Diskussionsprozess ist also im vollen Gange und ebenso bei uns in Bayern. 150 Interessierte haben die teils emotional geführte Debatte inklusive ausführlicher Frage- und Antwortrunden auf unserem Zukunftskongress aufmerksam verfolgt und sich rege eingemischt. Schnell einig war man sich in der Kritik an den Auswirkungen der HartzGesetzgebung unter Rot-Grün, insbesondere was die teils unwürdige Sanktionierung und Durchleuchtung persönlicher Lebensverhältnisse von Betroffenen angeht. Bei der Frage der Finanzierung sind wir in der Diskussion nicht in die Details gegangen (was sicher nötig ist). Dass ein BGE aber nicht grundsätzlich an der Finanzierung scheitern muss, war allgemeiner Konsens, den ich im Übrigen teile. Verschiedenste durchgerechnete Modelle liegen ja bereits auch vor, das Modell einer negativen Einkommenssteuer scheint mir am ehesten realisierbar. Die Kritik am Grundeinkommen, die Christiane Berger vom DGB äußerte, zielte vor allem auf die mögliche Entwertung des Arbeitsbegriffes sowie die Grundsatzfrage, inwiefern es als gerecht empfunden werden kann, ein Einkommen an alle auszuzahlen, ohne eine Gegenleistung dafür einzufordern. Auch die Frage gerechter Entlohnung, von der ein menschenwürdiges Leben möglich ist, wird durch ein BGE nach ihrer Meinung nicht grundsätzlich gelöst. Insgesamt solle man das BGE nicht zu sehr als Heilserwartung überhöhen. Klassische Sozialpolitische Herausforderungen blieben auch nach der Einführung des BGE bestehen. Unsere Landesvorsitzende Theresa Schopper befürchtete in der Diskussion, dass insbesondere Frauen durch ein BGE eher wieder in klassische Rollenmuster zurückgedrängt werden könnten. Lisa Badum hat in ihrem Blog einen Teil der Diskussion gut zusammengefasst. Die gesamten Für und Wider der Diskussion darzustellen, würde hier zu weit führen. Wenn Wolfgang Strengmann-Kuhn aber sagt “Ich glaube nicht an den neuen Menschen, aber ich glaube, dass die Gesellschaft sich ändern kann.”, dann finde ich das mindestens sympathisch. Die Zielsetzung, die er formuliert, kann ich vorbehaltsfrei teilen: “Für mich ist soziale Sicherheit Voraussetzung für individuelle Freiheit und Selbstbestimmung. Armut macht unfrei. Deshalb brauchen wir eine armutsfeste, individuelle Grundsicherung in allen Lebenslagen, die möglichst unbürokratisch für alle Menschen ein Existenzminimum garantiert.” Hieraus den richtigen Politikansatz zwischen Vision und Bodenhaftung zu finden, ist die große Herausforderung, allerdings nicht erst seit heute. Trotzdem:
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Die Debatte lohnt auf jeden Fall und stößt auf breites Interesse. Mit Sicherheit wird sie auch im bevorstehenden Programmprozess zur Bundestagswahl 2013 eine Rolle spielen. Für mich wird die Grundeinkommensdiskussion allerdings noch zielführender, wenn sie mit der ökologischen Dimension verknüpft wird. Wenn schon Systemrevolution, dann bitte gleich richtig! Ein ganzheitlicher Ansatz sollte nach meinem Dafürhalten auch die Grenzen des Wachstums und somit den Übergang hin zu einer Postwachstumsgesellschaft im Blick haben. Wir brauchen Antworten auf die Verknappung fossiler Ressourcen, ja wir stehen vor einer umfassenden ökologischen Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft beinhalten. Das BGE könnte die soziale Antwort hierauf sein und den ökologischen Wandel sogar befördern. Ulrich Schachtschneider hat die Idee eines Öko-Bonus im Rahmen eines “Ökologischen Grundeinkommens” eingebracht, die ich als Ansatz für spannend halte. Ein Grundeinkommen für alle würde demnach nicht über die Mehrwertsteuer wie in manchen Modellen sondern über Umweltverbrauchssteuern finanziert. Bei der Grünen Jugend ist dieser Ansatz in der Diskussion. Ein gemeinsames Fazit unserer Diskussion war, dass wir für eine solche Zielrichtung, sei es BGE oder Ökologisches Grundeinkommen, einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens brauchen, um zu einer schrittweisen Durchsetzbarkeit zu kommen. Ein Volksentscheid wäre für mich zwingende Voraussetzung, um eine Entscheidung über einen solchen Weg grundsätzlich herbeizuführen. Hierfür müssten im Grundgesetz überhaupt erstmal Rahmenbedingungen geschaffen werden. Ein Parteienkonsens wäre mindestens wünschenswert samt Einsetzung einer gemeinsamen Enquete oder Arbeitsgruppe. Abseits der ganz großen Entwürfe gibt es aber vielleicht auch praktikablere Alternativen für die nähere Zukunft, die in eine ähnliche Richtung weisen. Ralf Fücks, Chef der Heinrich-Böll-Stiftung, plädiert in der Debatte um das BGE für einen Mittelweg. Seine Idee ist es, die Grundeinkommensidee besonderen Lebenslagen anzupassen. Ein erster Schritt könnte die Einführung eines sog. Bildungsgrundeinkommens für alle sein, die sich in Ausbildung befinden oder in einer Fortbildung. Ebenso denkbar wäre für ihn ein “Bürgereinkommen, das deutlich über den heutigen Sätzen für das Arbeitslosengeld II liegt und das mit Bürgerarbeit verknüpft ist, also einer aktiven Tätigkeit in gemeinnützigen Institutionen, sozialen oder kulturellen Projekten.” Aus seiner Sicht also “kein Geld für passive Alimentierung, sondern Einkommen für Engagement.” Für die Akzeptanz eines Grundeinkommens wäre ein solcher Ansatz erstmal wohl vielversprechender, auch wenn die Bedingungslosigkeit dabei nicht mehr gegeben wäre. Ähnliches gilt für den Vorschlag einer Kindergrundsicherung (Ekin Deligöz), die letztlich die Wirkung eines Grundeinkommens hätte und somit Kinderarmut vermeiden helfen könnte. Soweit meine vorläufigen Gedanken, auf die weitere Entwicklung der Diskussion bin ich gespannt!
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Theresa Schopper (Landesvorsitzende, MdL) | Schlusswort Der mittlerweile fünfte Zukunftskongress im Rahmen des „Mein Bayern“-Prozesses der Bayerischen Grünen war ein voller Erfolg. Über 150 Menschen diskutierten leidenschaftlich und fundiert über die unterschiedlichen Ausprägungen des Themenfeldes Gerechtigkeit. „Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“ lautete die Frage, die uns am Kongress beschäftigte. In acht Workshops wurde intensiv zu den unterschiedlichen Dimensionen von Gerechtigkeit gearbeitet. Dabei haben wir uns auch mit Themen beschäftigt, die einem im ersten Augenblick nicht sofort bei dem Begriff der Gerechtigkeit in den Sinn kommen. Beispielsweise haben wir das Thema „Mythos Eliten“ fundiert diskutiert. Die Ergebnisse aus den Debatten im Plenum und den Workshops sollen sowohl in die Parlamentsarbeit als auch in das Wahlprogramm für die Landtagswahl miteinfließen. Neben dem inhaltlichen Ringen um den grünen Gerechtigkeitsbegriff gab es auch genug Raum, um sich auszutauschen und Kultur zu genießen: Die "Blinden Musiker München" (Foto) stellten in einem bunten Konzert ihr vielfältiges Können unter Beweis.
Vom Kongress ziehe ich ein rundum positives Fazit. Ich bin immer wieder begeistert über das viele Wissen und die guten Ideen in unserer Partei. Wir haben mit dem fünften Zukunftskongress erneut gezeigt, dass bei uns Beteiligung nicht nur auf dem Papier vorherrscht, sondern gelebt wird. Das große Themenfeld Gerechtigkeit wird uns politisch die nächsten Jahre weiter begleiten. Für uns Grüne ist klar: Der Gerechtigkeitsbegriff ist breiter gefächert als nur das Verteilen von Einkommen und Vermögen. Wir beziehen auch die Themen Geschlechtergerechtigkeit, Generationengerechtigkeit und Teilhabe in unsere politische Diskussionen und programmatischen Weiterentwicklungen mit ein.
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