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Mensch und helfen

Über Medien und Mitgefühl, altruismus und Egoismus, das Hilfswesen Mensch und seine Motive – mit gewünschten und ungewünschten Wirkungen, die Hilfsbereitschaft so mit sich bringen … von Matthias zimmermann

„Hilfe“! „Mayday“! „SOS“! Ein Ruf, ein Funkspruch, ein Signal: Es gibt Situationen, die fragen nicht nach Hilfsbereitschaft oder Altruismus, sondern rufen nach der Pflicht zu helfen – und zwar zwingend, also per Gesetz. Wer in einem Notfall nicht hilft, verstößt gegen §323c des Strafgesetzbuches. Es droht eine Anklage wegen „unterlassener Hilfeleistung“. Freiwilligkeit hingegen ist das zentrale Merkmal des wohlmeinenden Helfers, der einer intrinsischen, ethischen Motivation folgt, sich in ganz unterschiedlicher Weise zum Wohle anderer zu verwenden. Auslöser hierfür können direkte Begegnungen mit anderen Menschen sein oder der Eindruck, den die Medien vermitteln.

Das, was in diesen Zeiten an Berichterstattungen auf uns einwirkt, ist außergewöhnlich. Eine menschengemachte und menschenverachtende Katastrophe auf dem Europäischen Kontinent entfaltet furchtbare Auswirkungen auf der ganzen Welt. Kriegsopfer, Geflüchtete, Hungerleidende: all dies erzeugt ein Bedürfnis zu helfen – und gleichzeitig das lähmende Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit. Unverständnis und Wut, Trauer und Verzweiflung ob der Sinnlosigkeit eines Krieges und seiner Folgen, die uns tagtäglich über die Medien sichtbar gemacht werden, wirken wie ein innerer Aufruf: Wir wollen helfen, denn: Helfen kann auch ein Ventil für die eigene Hilflosigkeit sein! Bezogen auf das Helfen stellt sich die Frage nach dem „Warum“, dem „Wie“ und dem „Wofür“. Das Warum steht für die unterschiedlichen Motive des Helfens. Das Wie meint das persönliche Tätigwerden und das Spenden von Geld oder Sachen – manchmal sogar die Spende eines eigenen Organs! Das Wofür offenbart sich in der Wirkung – und den nicht immer gewünschten und wünschenswerten Nebenwirkungen des Helfens, die es auch gibt. Wenn sich Betroffenheit und Fassungslosigkeit wandeln in Entscheidungsstärke und Tatkraft, dann sind die Wirkungen eben mehrdimensional. Die vermutlich wichtigste wissenschaftliche Erkenntnis, die Studien zum Thema Helfen zeigen, sei an dieser Stelle schon mal vorweggenommen: Helfen tut gut – nicht nur den Geholfenen, sondern auch den Helfern. Freiwillige Helfer leben länger und sind zufriedener als Nichthelfer. Woran mag das liegen? Was sind die Motive, die jemanden zum Helfer machen und wie kann Hilfsbereitschaft geweckt werden? Macht denn Helfen grundsätzlich und immer Sinn? Und wann wird Hilfsbereitschaft zu einer Macht, die auch schädlich wirken kann?

Mitgefühl, die Macht der Medien und die Hilfe zur Selbsthilfe

Macht muss nicht bedeuten, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Wahrlich mächtig ist, wem es gelingt, einen innewohnenden Willen nicht nur bei anderen, sondern zuerst einmal bei sich selbst zu wecken. Wohl dem, der es vermag, die konstruktiven kräfte eines Menschen freizusetzen. Was es braucht sind botschaften, die Menschen aktiv werden und gutes tun lassen. Das menschliche Mitgefühl ist der richtige adressat dafür. Medien haben heute mehr Macht und Möglichkeiten denn je, botschaften zu erzeugen und zu gestalten, damit eine Vielzahl an kanälen zu bedienen und auf diese Weise unzähligen Rezipienten direkt ans Herz zu gehen. Ein Indikator dafür, dass dies funktionieren kann, ist die seit Jahrzehnten durchschnittlich wachsende Spendenbereitschaft der deutschen bevölkerung.

Der Deutsche Spendenrat und die gfk SE (ehemals gesellschaft für konsumforschung e. V.) zeigen in ihrer „bilanz des Helfens 2020“ die Entwicklung des Spendenaufkommens seit dem Jahr 2005. Der gesamtmarkt der Spendeneinnahmen erreichte im Jahre 2020 den besten Wert seit beginn des „gfk Charity Panels“. Die abbildung zeigt auch, welche Ereignisse in den jeweiligen Jahren eine besondere Spendenbereitschaft ausgelöst haben. für das Jahr 2021 wird aufgrund der Jahrhundertkatastrophe im ahrtal – ein Naturereignis epochalen ausmaßes – eine neue Rekordspendensumme erwartet (Pressemitteilung vom 02. Dezember 2021 des Deutschen Spendenrats). Der Spiegel (vom 16.04.2022, Seite 10) schreibt, dass die Corona-krise, die flutkatastrophe im ahrtal und der Ukrainekrieg innerhalb von nur zwei Jahren „wie ein Trainingslager für Hilfsbereitschaft, Solidarität und zusammenhalt“ wirken.

Die moderne Medienlandschaft und deren Streben nach Emotionalisierung haben also durchaus ihre positiven Seiten. fernsehzuschauern und Internetnutzern wird heute eine unüberschaubare zahl an Mitgefühlsbotschaften, Hilfsmöglichkeiten und auch Hilfsorganisationen mit dazugehörigen Spendenkonten vor augen geführt. Ein gutes beispiel dafür ist Deutschlands größte Spendenplattform im Internet www. betterplace.org, derer sich beispielsweise auch das äthiopische Tennis-bildungsprojekt der Tariku and Desta kids´ Education through Tennis Development (TDkET) Ethiopia für Spendenaufrufe bedient. Niemals zuvor war es einfacher, geld zu spenden – nur wenige Mausklicks, und eine Spende ist transferiert.

abgesehen von der Notwendigkeit, einen handschriftlich ausgefüllten Überweisungsträger persönlich zur bank zu tragen, war die mediale Präsenz vor vierzig Jahren noch eine gänzlich andere: Wenige Nachrichtenmagazine als leitmedien, kein World Wide Web, kein Privatfernsehen und die öffentlichrechtlichen Sender mit eingeschränkten fernsehzeiten. Wer erinnert sich noch an Hans Rosenthal und Joachim kulenkampff, Ilja Richter und Dieter-Thomas Heck, Robert lembke, frank Elstner und an die anderen fernsehgrößen der damaligen zeit? leichte TV-Unterhaltung wurde groß geschrieben in den abendprogrammen von aRD und zDf. zwar hat sich dieser aspekt bis heute kaum gewandelt, doch gibt es immerhin arte, Phoenix, gEo-TV und eine ganze Reihe weiterer qualifizierter Nachrichten- und Dokumentarfilmsender.

Damals aber erwies sich der kurze, dennoch legendäre auftritt von karlheinz böhm zur besten fernsehzeit am Samstagabend, den 16. Mai 1981, umso wirkmächtiger und einprägsamer. In frank Elstners Unterhaltungsshow „Wetten dass …“, nur wenige Monate nach deren Erstausstrahlung, tat der bekannte Schauspieler seine Wette kund in der offen geäußerten Hoffnung, diese zu verlieren:

„Ich wette, dass nicht einmal ein Drittel von Ihnen zuschauern, und das sind geschätzt 6 oder 7 Millionen, diese eine Mark einzahlen. [karlheinz böhm hielt eine 1-DM-Münze in die kamera, die man zur Post bringen sollte, um sie an den bundespräsidenten zu überweisen]. Wenn ich diese Wette verliere, stelle ich mich zur Verfügung, unter auslassung jeglicher organisationen nach afrika zu fahren auf meine kosten. Das würde bedeuten, dass wir mindestens ein Dreivierteljahr oder Jahr kein kind Hungers sterben sehen. Und ich wünsche mir jetzt, dass ich diese Wette gegen Sie alle verliere …“!

Rund 1,2 Millionen DM kamen zusammen, deutlich weniger als die anvisierten 2 Millionen. karlheinz böhm gewann die Wette – und ein, wie er selbst sagte, neues leben. Er musste die Wette nicht verlieren, um nach afrika zu reisen, es war ihm so oder so ein Herzenswunsch. Äthiopien wurde – in mehrfacher Hinsicht – sein „auserwähltes land“, in dem er fortan seinen lebenssinn fand. Unter dem Eindruck seiner Reiserlebnisse gründete er nur ein halbes Jahr nach seinem auftritt bei frank Elstner die organisation „Menschen für Menschen“, die heute in Deutschland und der Schweiz als Stiftung sowie in Österreich und belgien als Verein vertreten ist, weltweit über 600 Mitarbeiter hat und in 40 Jahren über 500 Millionen Euro Spendengelder sammeln konnte, von denen etwa 2,8 Millionen Menschen profitieren. Das Menschen für Menschen-bildungsprogramm abC-2015 machte im wahrsten Sinne des Wortes Schule.

auch die Manfred lautenschläger-Stiftung erbaute gemeinsam mit der kindernothilfe und der Ethiopian kale Heywet Church über einen zeitraum von zehn Jahren mehr als 80 Schulen im Shashamene gebiet südlich von addis abeba. als – ergänzend zu der Schulentwicklung – auch brunnen gebaut und in den entstandenen Siedlungen kleine geldsammelprojekte eingeführt wurden, etablierte sich ein kommunales leben. So wurde dieses Entwicklungsprojekt für die Regierung interessant. Regionalpolitiker haben erkannt, dass es ihnen selbst dienlich ist, sich damit zu schmücken. Was also tut eine kluge organisation, wie es der Verbund aus den genannten drei förderern ist? Sie treten bescheiden aus dem licht und überlassen den Verantwortlichen vor ort den Ruhm und die Ehre, legen das Projekt wohlwollend in die Hände der Regierung – und nehmen diese gleichermaßen in die Pflicht! fortan standen die lehrer, Sozialarbeiter und brunnenbetreiber auf der gehaltsliste der Regierung. Was der karlheinz böhm Stiftung vielfach zum Vorwurf gemacht wurde, dass sie sich irgendwann aus einem Projekt zurückzieht und dieses „sich selbst überlässt“, ist vielmehr ein wichtiges und unerlässliches Prinzip, dem auch die kindernothilfe, die kale Heywet Church und die Ml-Stiftung folgen und das für die Nachhaltigkeit von Entwicklungsprojekten grundlegend ist: Das Erfolgsprinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ – oder, noch besser: zur „Selbstentwicklung“.

Der Mensch – ein Hilfswesen?

Eine verheerende Dürre und das katastrophale politische Versagen des Derg-Regimes führten 1984/85 in Äthiopien zu einer Hungersnot, in der bis zu einer Million Menschen zu Tode kamen. Sicherlich spielte die zulassung des privaten Rundfunks, infolgedessen 1984 die ersten privaten fernsehsender an den Start gingen, eine wichtige Rolle bei der Verbreitung der schrecklichen bilder von unterernährten kindern mit blähbäuchen, befallen von fliegen im gesicht und in offenen Wunden. Die Szenen von Hungerleid und Tod wurden der Weltöffentlichkeit in bislang nicht gekannter Drastik und derartiger Erbarmungslosigkeit in die Wohnzimmer gestrahlt, dass diese das bild von Äthiopien bis heute prägen. Es entstand eine Welle der Hilfsbereitschaft, die auch die Musikszene erreichte. Mit live aid stellten bob geldof und Midge Ure am 13. Juli 1985 das bis dato größte Musikspektakel der geschichte auf die beine. Die größten bands der damaligen zeit gingen parallel im londoner WembleyStadion und im John f. kennedy Stadium in Philadelphia auf die bühne. Dank weltweiter Spendenaufrufe gingen rund 200 Mio. DM an die afrikahilfe.

Ein Schauspieler, ein Unternehmer, ein Musiker. karlheinz böhm, Manfred lautenschläger und bob geldof verbindet das freiwillige Engagement für andere – so, wie geschätzte 30 Millionen bundesbürger über 14 Jahren, die sich in ihrer freizeit ehrenamtlich für die gesellschaft einbringen. Etwa ein Viertel der Deutschen verbindet die bereitschaft zu einer geldspende. Dabei zeigt eine Untersuchung zur Spendenbereitschaft und zur Spendenhöhe (Taxpayer-Panel. gerber, U., kann, k., Statistisches bundesamt, WISTa, 6/2019), dass einige wenige großspender einen hohen anteil der zuwendungen tätigen. Das beispiel der privaten Manfred lautenschläger Stiftung mit einem gesamtspendenaufkommen von 55 Mio. Euro seit deren gründung im Jahre 2002 ist ein beleg dafür. auch kommt es weniger auf das soziale Umfeld an, ob jemand spendet oder nicht. Vielmehr zeigt sich: Je älter Steuerpflichtige sind und je höher die Einkommen, desto großzügiger fallen Spenden aus.

Dass Menschen freiwillig etwas von sich an andere abgeben oder unter Inkaufnahme von anstrengung, zeitaufwand und mitunter auch Risiken gemeinnützig aktiv werden, widerspricht der Interpretation der Evolutionstheorie im Sinne des gängigen „Survival of the fittest“. Wörtlich übersetzt könnte man daraus ableiten, der Mensch sei ein grundlegend kompetitives Wesen in einem permanenten Überlebenskampf, egoistisch und stets bestrebt, alle Vorteile nur auf sich selbst zu vereinen. Was der begründer der Evolutionstheorie, Charles Darwin (1809 - 1882), mit Survival of the fittest allerdings meinte, ist die Durchsetzung von genvarianten. Und dazu sind kooperation und fürsorge unerlässlich. kein anderes lebewesen ist derart lange von einer intensiven fürsorge durch andere – vorrangig der Mutter – abhängig wie der Mensch.

Ein Extrembeispiel für Hilfsbereitschaft ist die Lebend- organspende. Derzeit werden in Deutschland vor allem Nieren und Teile der Leber von lebenden Spenderinnen und Spendern auf Empfängerinnen und Empfänger übertragen. Der jetzige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier, selbst Empfänger einer Hornhautspende, die ihm einst das Augenlicht gerettet hat, spendete im Jahre 2010 seiner Frau eine Niere.

Typisch wäre es allerdings gewesen, wenn seine Frau ihm eine Niere gespendet hätte, denn die Organspende- statistik der Schweiz – wo etwa 40 % der Nierenspenden von Lebenden entstammen – spricht eindeutig für die Frauen! Zwei Drittel der Lebendspender sind Frauen, während die Empfänger zu zwei Dritteln Männer sind (Prof. Jürg Steiger, Vortrag bei der medArt2020 über Lebend-Nierenspende). Auch in Deutschland hat eine Befragung ergeben, dass etwa 40 % der Frauen, aber nur 30 % der Männer sich je über eine Lebendorganspende Gedanken gemacht haben. Im Durchschnitt besitzen laut einer Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 19 % der Frauen einen Organspendeausweis. Bei den Männern sind es nur 16 %. Deutschland belegt im internationalen Vergleich einen unterdurchschnittlichen Platz. 2021 gab es bundesweit 933 Organspenderinnen und Organspender. Das entspricht 11,2 Organspenderinnen und -spender je eine Million Einwohner. Etwa 8.700 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Die Wartezeit für eine Niere beträgt durchschnittlich über acht Jahre. Kurzum: Die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland ist bedrückend schlecht! Diese Textpassage darf übrigens gerne als Motivation betrachtet werden, sich einen Organspendeausweis zuzulegen, um im Falle des Falles einem anderen Menschen die Chance auf ein Weiterleben zu ermöglichen!

Organspendeausweis online ausfüllen oder kostenfrei bestellen unter: www.organspende-info.de Und bis er selbst in ein alter gerät, in dem ihm die Weitergabe der gene möglich ist, bedarf es vieler Jahre des behütetseins. auch kann es evolutionsbiologisch sinnvoll sein, das Wohl anderer vor das eigene zu stellen, wenn es sich dabei um Verwandte handelt (nach der Theorie der Verwandtenselektion der britischen Theoretischen biologen John Maynard Smith und William D. Hamilton). Denn stirbt man selbst, lebt zumindest ein Teil der eigenen gene in anderen familienmitgliedern weiter. Sich im familienverbund gegenseitig zu helfen, ist urmenschlich. In der familie wird der Mensch schon im frühkindlichen Stadium als gemeinschaftswesen sozialisiert. Die Voraussetzungen dafür trägt er in seinen genen.

Dass der Mensch schon in sehr jungen Jahren den Willen zu helfen offenbart, zeigen forschungen des Psychologen felix Warneken von der University of Michigan/USa. Danach teilen anderthalbjährige bereitwillig ihr Essen und helfen ganz selbstverständlich, ohne eine belohnung zu erwarten. In unterschiedlichen Versuchen erweisen sich kinder bereit, beim Suchen zu helfen, wenn sie merken, dass jemand etwas verloren hat. Sie heben gegenstände auf, wenn sie meinen, sie seien jemandem – wohlgemerkt: unabsichtlich(!) – runtergefallen. Die annahme, der Mensch käme als Egoist auf die Welt, der nur auf sich bedacht ist und erst durch soziales lernen zu einem gemeinschaftswesen erzogen wird, kann als widerlegt betrachtet werden. Wissenschaftler auf dem gebiet der Psychologie, Soziologie und Pädagogik sprechen von prosozialen Verhaltensmustern, die in der menschlichen DNa angelegt sind. Hilfsbereitschaft ist eine urmenschliche Eigenschaft, die kulturübergreifend äußerst positiv bewertet wird und über den familienverbund hinausreicht.

Nach einer These des bonner Psychologen Martin Reuter ist die Hilfsbereitschaft im sogenannten CoMT-Val gen angelegt, welches die bauanleitung für Dopamin enthält. Ein Versuch mit Studierenden ergab, dass Versuchsteilnehmer mit dem CoMT-Val gen eine doppelt so hohe Spendenbereitschaft aufwiesen, als diejenigen mit der CoMT-Met-Variante. auch nach organischen Unterscheidungsmerkmalen wird gesucht. So haben der altruismusforscherin abigail Marsh (University of California, Santa barbara, 2014) zufolge Hilfsbereite und fürsorgliche eine größere amygdala als Menschen, die ichbezogen sind.

Die Verfasser einer Schweizer Studie (bild der Wissenschaft vom 9. oktober 2017) kommen zu dem Ergebnis, dass gelebte großzügigkeit in den gehirnen von frauen eine stärkere neuronale belohnungsaktivität auslöst. Männer hingegen reagieren der Studie zufolge eher bei egoistischem Verhalten so. folglich sind Männer tendenziell narzisstischer und frauen großzügiger. Die Damenwelt verhält sich uneigennütziger und hat mehr Sinn für gerechtigkeit, so das Ergebnis einer Studie an der Universität zürich. alexander Soutschek et. al. (Nature Human behaviour, 11/2017) belegen dies mit experimentellen Spielen, in denen frauen geldbeträge deutlich großzügiger verteilen als männliche Teilnehmer.

In einer Überblicksarbeit an der Universität Passau schreibt der Seminarist Manuel Schubert (2019), dass sich die „Entwicklung des prosozialen Verhaltens von kindern unter berücksichtigung verschiedener Einflussfaktoren“ zwischen egoistischer Selbstoptimierung und selbstloser Solidarität bewegt. Der Mensch trägt eben beides in sich: die bereitschaft zu helfen und zu teilen einerseits – die ausrichtung des Verhaltens auf den eigenen Vorteil andererseits.

Ein blick in die kulturgeschichte lässt annehmen, dass Solidarität und Hilfsbereitschaft ebenso wie Vorteilsstreben und Durchsetzungsvermögen wichtige menschliche Eigenschaften sind, die eine dementsprechende kulturentwicklung nach sich ziehen. allerdings erwies sich über Jahrhunderte hinweg dabei das Recht des Stärkeren als dominant. Darin steckt die evolutionsbiologische begründung für die Herausbildung von Männergesellschaften in aller Welt. Die Stärke, die hier gemeint ist, hat primär mit Muskelkraft zu tun. Das Recht des Stärkeren findet seinen ausdruck darin, kriegerische gewalt als legitimes Mittel der Politik zu begreifen. Nicht nur Wehrhaftigkeit, sondern militärische Überlegenheit und deren Verwendung zum zwecke der Vorteilsnahme für ganze Völker und kulturen prägen die Sozialisation von generationen. zurzeit erlebt die Welt eine Renaissance einer derartigen (oder besser: abartigen) Vorstellung von gesellschaftsentwicklung. Ein vollkommen gegensätzliches Verständnis von Narzissmus und Mitgefühl, von Machtausübung und gemeinwohlorientierung, prallen in brutaler Weise aufeinander.

Tatsächlich lässt sich zeigen, dass fairnessempfinden und die bereitschaft zu Teilen je nach kulturkreis unterschiedlich ausgeprägt sind. Dazu bedient sich die experimentelle Wirtschaftsforschung zum beispiel des so genannten Ultimatumspiels. aus dem Ultimatumspiel und anderen, ähnlich einfachen Experimenten, lernt man, dass schon bei den einfachsten Transaktionen gefühl und gerechtigkeit mindestens so wichtig sind wie logik und Eigennutz. Nehmen wir an, jemand erhält 100 € mit der auflage, sie mit jemandem zu teilen, den er nicht kennt und auch keine absprache vornehmen kann. allerdings kann er seinen anteil an den 100 € nur behalten, wenn sein gegenüber das „geschenk“ – also seinen Teil der 100 € – auch annimmt. Dabei zeigt sich: obwohl der beschenkte selbst bei 1 € oder 10 € eine unerwartete zuwendung erhalten würde, ist er bereit, darauf zu verzichten, wenn es seinem fairnessempfinden widerspricht. Mag die Verweigerung der annahme eines geschenks kurzfristig einen persönlichen Nachteil bedeuten, ist dies dennoch mit Vernunft begründbar, denn: die Verweigerung führt dazu, dass sich langfristig in jeder gruppe faires Verhalten etabliert, von dem letztlich dann alle profitieren.

Studien mit dem Ultimatumspiel in verschiedenen gesellschaften zeigen, dass manche Versuchsgruppen im Durchschnitt hälftig teilen, während andere nicht mal bereit sind, auch nur 25 Prozent abzugeben. biologen und Spieltheoretiker schlussfolgern, dass kulturelle Traditionen großen Einfluss auf ein Verständnis von fairness nehmen, welches für ein friedvolles und menschenfreundliches zusammenleben grundlegend ist. Schon griechische Philosophen wie Sokrates und aristoteles dachten über das Phänomen der Menschenfreundlichkeit nach. Sie haben dem prosozialen Verhalten, der Hilfsbereitschaft und großzügigkeit, einen Namen gegeben: Philanthropos – der heutige Philanthrop. Er ist uneigennützig und ein Menschenfreund. zwei Jahrtausende später schaffte der französische Philosoph und Mathematiker auguste Comte (1798 – 1857: „Système de politique positive“) die Wortbasis für altruismus aus dem lateinischen („alter“ – der eine, der andere). Der altruismus geht einen Schritt weiter und steht als gegenbegriff zum Egoismus. Ein altruist nimmt per Definition nach august Comte in kauf, dass er durch seinen Einsatz für andere einen Verlust erleidet und folglich einen Nachteil hat! Selbstlosigkeit ist das prägende Merkmal des altruisten, der in seiner höchsten form sich selbst zu opfern bereit ist, um andere zu retten. Retten ist die höchste form der Hilfsbereitschaft. Ein Retter zu sein macht aus einem Menschen einen Helden.

auch in der Religionsgeschichte kommt der Hilfsbereitschaft eine konstituierende, weil glaubensbildende bedeutung zu. Im Christentum gilt der barmherzige Samariter als Ikone des Helfens (Evangelium des lukas, lk 10,25–37 im 3. buch des Neuen Testaments). Im Islam genießt die bereitschaft zur Hilfe ebenfalls einen hohen Stellenwert, wie der ausspruch des Propheten Mohamed verdeutlicht: „Der beste von euch ist der, der den Menschen am Nützlichsten ist.“ Wenn jemand seinen glaubensgeschwistern und Mitmenschen hilft und ihnen gutes tut, so hat er sich selber auch einen gefallen damit getan, denn dadurch kann er den eigenen Charakter vervollkommnen. Dieser Satz eines muslimischen Predigers kann für alle Religionen und kulturgesellschaften gelten. Der große Johann Wolfgang von goethe bläst ins gleiche Horn: „Willst Du glücklich sein im leben, trage bei zu anderer glück, denn die freude die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.“ Darin offenbart sich auch ein Eigenmotiv, was die frage aufwirft: Wie ist es um die Selbstlosigkeit der Hilfsbereiten tatsächlich bestellt?

Altruismus, Gemeinwohlorientierung und Hilfsbereitschaft: Woher kommt das …?

Wem bilder und begegnungen, Ereignisse und die prekäre lebenssituation eines anderen nahegehen, verspürt das bedürfnis, etwas zu tun. Das Mitgefühl – die Motivation des Herzens – ist für ein ehrliches Engagement zum Wohle anderer Menschen ausschlaggebend. zwar ist es keine frage von Religion, ein gewissen in sich zu tragen. Die gewissensfrage jedoch ist ein Urprinzip jeder Religion. Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe sind wesentliche aspekte jeder glaubensrichtung. Umso unglaublicher ist es zu sehen, welche gräueltaten im zeichen der frömmigkeit begangen wurden und immer noch werden. Hierbei schenken sich die Religionen nichts. Vom Massaker der glaubenskrieger im Jahre 1099 in Jerusalem über die Schlachten im dreißigjährigen krieg bis zu den attentaten in New York im September 2001 oder die Vertreibung und Tötung der muslimischen Rohingya durch

Pinneberg, „Der Philanthrop“ (künstlerin Inar Czora, 1992) I foto: Staro1

buddhisten im Nordwesten Myanmars 2017/2018 zieht sich eine blutspur durch die geschichte aller Religionen. Religionskriege und Verfolgung jeweils anderer glaubensrichtungen sind in geschichtsbüchern allgegenwärtig. Mögen friedfertigkeit, Nächstenliebe und altruismus ein kernmerkmal religiöser glaubensgemeinschaften sein, zeigt die gelebte Wirklichkeit häufig das gegenteil. Wir erkennen: In religösen und auch in anderen gemeinschaften, treibt die Doppelmoral munter ihr Unwesen!

Es gibt in kaum einem kulturkreis gesellschaften, in denen prosoziales Verhalten nicht dazu dient, anerkennung zu erlangen. Wohltäter werden gewürdigt – davon kann man ausgehen – überall auf der Welt. Das bestreben, soziales Engagement sichtbar werden zu lassen, ist dabei sehr unterschiedlich ausgeprägt. „Charity“-Events sind für diejenigen gemacht, deren Motivation darin besteht, als Wohltäter wahrgenommen zu werden. Solche Veranstaltungen sind fester bestandteil der Partykultur in der westlichen Welt, allen voran in den USa. Da und dort wird versucht, zumindest teilweise zu kompensieren, was der Staat nicht leisten kann. Und dies geschieht mit der bisweilen lautstark kundgetanen Motivation, das staatlich organisierte gemeinwohl in frage zu stellen und stattdessen das individuelle bedeutsamkeitsmaß herauszuheben. Da darf man auch die frage stellen: Wird mit Charity-Events der gerechtigkeit genüge getan – oder eher dem eigenen Seelenheil und dem Drang nach gesellschaftlichem Status? Sehr weit geht die kritik des Schweizer Pädagogen, Sozialreformers und wohlgemerkt auch Philanthropen Johann Heinrich Pestalozzi: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der gnade“.

als Philanthrop die Erwartungen einer gesellschaft zu erfüllen, moralischen Standards zu genügen und Wertschätzung zu erwerben, sind starke Motive für offen praktizierte Hilfsbereitschaft. Und natürlich dient das dem Helfenden bei seinem Streben nach Selbstverwirklichung. Im Ehrenamt etwas für andere zu tun, kann zu einer Erfüllung verhelfen, die man anderswo, zum beispiel im berufsleben, nicht erfährt. Dass ein gefühl der gemeinschaft ein überragendes Motiv ist, trifft auf diejenigen zu, die sich nicht nur mit geld, sondern mit aufrichtigem Interesse und ehrbarer Tatkraft engagieren – also auch zeit und persönliche Energie einbringen.

zuallererst ist für Hilfsbereitschaft natürlich das Motiv zu nennen, dass es einem anderen besser gehen möge. Dazu braucht es Empathie, eine positive grundhaltung und Wohlwollen gegenüber anderen Menschen, zugewandtheit oder auch zuneigung und eine begegnung auf augenhöhe. Man interessiert sich aufrichtig für den anderen, spendet nicht (nur) geld, sondern auch Trost, teilt das leid und kooperiert. Der Theologe und Psychotherapeut arnold Mettnitzer meint: „Nach nichts im leben haben Menschen größere Sehnsucht, als von anderen Menschen als Mensch behandelt zu werden. Erst recht dann, wenn sie unerwartet in Not geraten und auf andere Hilfe angewiesen sind. Die größte Sehnsucht der Menschen ist und bleibt der andere Mensch.“

Ein Empfinden für Gerechtigkeit oder die Abscheu gegenüber unredlichem Verhalten sind Urmotive, die es Menschen möglich machen, zu helfen und gleichzeitig die Augenhöhe zu wahren. Grit Hein, Professorin für Translationale Soziale Neurowissenschaften an der Universität Würzburg betont, dass Gerechtigkeit für die Armen nicht Verzicht und Lebenseinschränkung, sondern Grundlage für Wohlstand und gelingendes Leben ist. Insofern: Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit.

Dennoch wird die Frage diskutiert, inwieweit es als ethisch legitim angesehen werden kann, dass ein Helfender aus dem Gefühl des Belohntwerdens Nutzen zieht. Ist Altruismus nicht auch eine besondere Form des Egoismus, wenn dieser so genannte „Warm Glow“ – das warme Gefühl im Magen – die vorrangige Motivation darstellt? Schon Aristoteles wusste: „Der ideale Mensch verspürt Freude, wenn er anderen einen Dienst erweisen kann.“

Tun wir anderen Menschen etwas Gutes, fühlen wir uns selbst gut. Wenn zu einer gelingenden Beziehung zwischen Helfendem und Geholfenem das Prinzip der Augenhöhe gehört, ist es legitim, wenn beide gleichermaßen Wohlgefallen daran finden, Güte zu spenden und zu empfangen. Umgekehrt lässt sich auch in politischen Entscheidungen und allen anderen Bereichen des alltäglichen Lebens beobachten, was demjenigen bleibt, der anderen die Hilfe versagt, nämlich: ein schlechtes Gewissen. Eben dieses zu vermeiden, ist dem gewissenhaften Menschen ein starker Antrieb, Gutes zu tun. Letztlich ist auch das Gewissen ein Erbe der Evolution. Ob nun Altruismus nichts anderes als verkappter Egoismus ist (wie Thomas Range, brand eins Corporate Services, schreibt), sei dahingestellt. Viel entscheidender für die Entwicklung von

Live Aid at JFK Stadium, Philadelphia, 1985

Gesellschaften ist die wissenschaftlich fundierte Erkenntnis aus der Evolutionsbiologie: Langfristig lohnt es sich fair zu sein – und anständig ist es gerade dann, wenn niemand hinschaut!

Eine andere ethische Frage ist, ob es zur eigenen Motivation gehören muss, sich an hoher gesellschaftlicher Anerkennung zu erwärmen? Dient die Sichtbarkeit eines Engagements mehr dem Geholfenen, weil dies auf Hilfsbereitschaft vorbildlich wirkt und Nachahmer motiviert? Oder dem Helfer, weil er sich in öffentlicher Aufmerksamkeit sonnt und daraus einen überwiegenden Nutzen für sich selbst zieht? Nicht wenige verbuchen ein soziales Engagement unter Marketingkosten in eigener Sache! Der für seine gemeinwohlorientierte und bescheidene Lebensführung bekannte und berühmte USamerikanische Filmschauspieler Keanu Reeves hat dazu eine klare Meinung: „Sei ein guter Mensch, aber verschwende deine Zeit nicht damit, es anderen ständig beweisen zu müssen“!

Altruismus, Gemeinwohlorientierung und Hilfsbereitschaft: Wohin führt das…?

Altruistisch engagierte Personen, Philanthropen und gemeinnützige Einrichtungen unterliegen mit ihrem Anspruch, Gutes zu tun, besonderer Beobachtung. Wer besonders öffentlichkeitswirksam agiert und andere motiviert, mit Spenden zum eigenen Vorhaben beizutragen, unterliegt Maßstäben der Vertrauenswürdigkeit und Transparenz. Diese Maßstäbe sichtbar zu machen und Gütesigel zu vergeben, haben sich mehrere Institutionen in Deutschland zur Aufgabe gemacht. Zuvorderst sind zu nennen das Gütesiegel des Bundesverbands Deutscher Stiftungen und das DZI-SpendenSiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen,

die wiederum beide den Verein Transparency International Deutschland e. V. unterstützen. Der sogenannte SROI – der Social Return on Investment (auch Deutsch: Sozialrendite) – berücksichtigt eine ganze Reihe von Faktoren, um ein Maß für die Güte sozialen Engagements zu finden. So werden Spendenaktivitäten und wohltätige Projekte zu sozialen Investitionen (Social Investment).

Gütesiegel geben Spendern eine Orientierung, ob eine Spendenempfangsstelle seriös agiert, welche Transparenzkriterien gelten und welche Organisationen auf dem Markt der Spendensammler mit unlauteren Methoden und Wirkungen unterwegs sind.

Hintergrund ist sicherlich auch die Kritik an den bereits genannten Organisationen und Ereignissen, die im Laufe der Zeit nicht immer seriöse Nachahmer fanden. Einigen Nachahmern galt ihr Interesse weniger dem vordergründigen Spendenzweck, als dem hintergründigen Selbstnutzen. Auch Bob Geldof und seinen Live Aid Initiativen wurde zeitweilig unterstellt, dass die Erlöse aus dem Musikspektakel in London und Philadelphia mehr der Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache dienlich waren als der Hilfe für Afrika. Bezüglich der Geldverwendung kam das Gerücht auf, dass ein Großteil der Spenden nicht bei den Ärmsten der Armen, sondern bei der Armee des äthiopischen Diktators Mengistu Haile Mariam ankamen. Andere Journalisten behaupteten, Gelder gingen in die Kasse der Volksbefreiungsfront von Tigray, die unter der Militärführung von Meles Zenawy 1991 die Macht über Äthiopien übernahm, was sich für das äthiopische Volk übrigens als die Bessere von zwei schlechten Alternativen erwies (siehe Spendenskandal um „Live Aid“: Geldofs „Death Aid“? Süddeutsche Zeitung vom 7. März 2010). Die daraufhin angestrebte Untersuchung ergab, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Geld von Band Aid oder Live Aid veruntreut worden sei. Trotz Ritterschlag durch Queen Elizabeth II im Jahre 1986 hat die Reputation von Bob Geldof und seinen Band Aid Spendenveranstaltungen (Live Aid am 13. Juli 1985, Band Aid II und Band Aid 20 in den Jahren 1989 und 2004) gelitten. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde der University of Limerick im Jahre 2019 diente insofern auch ein stückweit seiner Rehabilitation.

Auch Karlheinz Böhm musste sich Kritik erwehren. Als sich im Jahre 2013 zwei Großspender von der Organisation zurückzogen, weil die Stiftung zu viel Geld ausgebe und nicht für genug Transparenz sorge, erlitt die Glaubwürdigkeit von „Menschen für Menschen“ Schaden. Sehr problematisch erwies sich ein Nachahmer, der unter dem gleichen Namen „Menschen für Menschen“ Spenden sammelte und Terrororganisationen im Libanon unterstützte. Erst in 2021 wurde dieser vermeintliche Hilfsverein vom damaligen Bundes- innenminister Horst Seehofer verboten. Umso wichtiger ist es für die Stiftung von Karlheinz Böhm, dass zahlreiche Projekte (insbesondere für äthiopische Frauen) mit einem sehr hohen SROI bewertet werden. Dabei werden der Transparenz, den PR-Kampagnenaufwendungen sowie Personal- und Verwaltungskosten ein hohes Gewicht beigemessen. Für gemeinnützige Einrichtungen gibt es eben keinen schlimmeren Vorwurf als den der Geldverschwendung. Immerhin handelt es sich um Gelder von Steuerzahlern – Spenden von wohlmeinenden Bürgern und gemeinnützigen Organisationen. Der Britische Labour Politiker Denis Winston Healey prägte den sarkastischen Satz: „Entwicklungshilfe ist, wenn die Armen eines reichen Landes für die Reichen eines armen Landes Geld spenden“. Das Spenden verbindet sich stets mit einem erheblichen Vertrauensvorschuss. Ist dieser erst einmal verspielt, brechen Spender weg, die Budgets ein und die positiven Wirkungen ab: Projekte können nicht länger aufrechterhalten und die Hilfe für viele bedürftige Menschen muss eingestellt werden.

Unterstellte Geldverschwendung und Wirkungslosigkeit führten bisweilen dazu, die Hilfsmaßnahmen zum Wohle des afrikanischen Kontinents und anderer, von Armut betroffener Regionen, prinzipiell in Frage zu stellen. Kritiker meinen, dass Entwicklungshilfe die bestehenden Gegebenheiten der grassierenden Mangellage in allen Sektoren einer Nationalökonomie zementiere. Misswirtschaft würde systematisiert, Korruption gefördert und sogar Kriege würden finanziert werden. Vielfach wird argumentiert, dass Geld-Transfers von Regierung zu Regierung Abhängigkeiten mit sich brächten. Sie zerstören jeden Anreiz, gut zu wirtschaften und die Volkswirtschaft anzukurbeln. Für die Geholfenen selbst wird gerne das Bonmot bemüht: Behütetsein hält Menschen klein.

Die offen formulierte Forderung, Entwicklungshilfen einzustellen, damit auch gleich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) abzuschaffen oder zumindest dem Außenministerium einzugliedern, war zeitweilig politisch en vogue (Übrigens: einer der Hauptkritiker an der Entwicklungshilfe wurde später selbst Bundesminister des BMZ).

Die Journalistin Linda Polman, die selbst über 20 Jahre in den Krisengebieten dieser Welt unterwegs war, veröffentlichte ein Buch, das für Furore sorgte: „Die Mitleidsindustrie: Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen“. (Frankfurt a. M., 9. August 2010). Die ZEIT Redakteurin Hauke Friederichs kommentierte das Buch in der ZEIT vom 27. Oktober 2010 mit der Schlagzeile: „276 Seiten Hass und Resignation“ und übte deutliche Kritik daran, wie Polmann die Arbeit von NGOs (Non Governmental Organisations) offen anklagte. Friederichs entlarvte das Buch als ein Werk voller Frustration, das nahezu ausschließlich die negativen Auswüchse von Hilfsprojekten beleuchtet, die es zweifellos gerade bei extremen Krisen auch gibt. Auf Lösungsansätze für die Misere wartet der Leser hingegen vergebens. „Also – was denn nun: Helfen oder nicht helfen“, kommentiert Friedrichs und hält dem Zynismus der Buchautorin den Spiegel vor. Es finden sich eben keine objektiven Daten und Fakten zu der Frage, auf welche Weise und in welchem Maße das Engagement von privaten Hilfsorganisationen (NGOs), von staatlichen oder von supranationalen Entwicklungshilfeinstitutionen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen in den sogenannten Entwicklungsländern beitragen.

Wenn – wie Linda Polman behauptet – internationale Hilfsorganisationen mehr Teil des Problems als Teil der Lösung sein sollen, widerspräche dies entschieden den Fakten, die Hans Rosling anführt. Der 2017 verstorbene Mediziner und Statistiker war Direktor des Karolinska Institutet for Public Health in Stockholm und Gründer der Gapminder Stiftung. Gemeinsam mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter förderte er eine auf Fakten beruhende Sicht auf die Welt, indem frei zugängliche öffentliche Statistiken verständlich dargeboten werden. Sein posthum veröffentlichter Bestseller und Wissensbuch des Jahres „Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist (Berlin, 2019)“, gibt eine statistisch belegte Antwort auf die Frage: Wie hilfreich ist die Hilfsbereitschaft für die Entwicklung von Drittweltländern?

Daten, die über die Entwicklung von Ländern Auskunft geben, führen zu einer klaren Antwort: die Hilfen wirken überwiegend positiv. Anhand von Daten, welche seit den 60er Jahren systematisch erhoben werden, lässt sich zeigen, dass die Bevölkerung in vielen „Nehmerländern“ einen enormen Zuwachs an Lebenserwartung und eine Verringerung der Fertilität aufweist. Die Kindersterblichkeit nahm ab, die Impfrate zu. Die Alphabetisierungsquote, das Volkseinkommen und die Sparrate sind gestiegen. Dank der Gapminder-Initiative lassen sich den grassierenden Vorurteilen und dem Pessimismus zahlreiche weitere Kenngrößen gegenüberstellen, die belegen, dass sich insbesondere die Drittweltländer zum Besseren gewendet haben.

Ohne die Hilfen der Menschen aus den entwickelten Industrieländern, großer privater Organisationen und staatlicher Institutionen, ohne das Prinzip Hilfe zur Selbsthilfe und ohne das Verständnis von Entwicklungshilfe als soziale Investition wäre dies so nicht möglich gewesen.

Laut DAC (Development Assistance Committee der OECD) wurden im Jahr 2020 insgesamt rund 161,2 Milliarden US$ für Entwicklungshilfe bereitgestellt. Was viel klingt, verblasst in Relation zu den sogenannten Remittances, die Migranten für Angehörige in ärmeren Ländern tätigen. Die Summe von weltweit circa 430 Milliarden US-Dollar an solchen Rücküberweisungen übersteigen die Entwicklungshilfegelder um mehr als das Zweieinhalbfache. 46 Milliarden davon sind nach Subsahara-Afrika geflossen. Die Weltbank schätzt, dass in diesem Jahr die 50-Milliarden-Marke überschritten wird.

Wenn sich Hilfsgelder und -projekte, die von außen in ein Land getragen werden, positiv auf Entwicklungsdaten niederschlagen, darf eine wesentliche Nebenwirkung nicht unerwähnt bleiben: die Abhängigkeit. Ob Migration und die Rücksendung von Geldern in das Heimatland ein Zukunftsmodell für weltwirtschaftliche Mechanismen sind, darf getrost in Zweifel gezogen werden. Gerade im Verhältnis zwischen den entwickelten Industriestaaten, den Schwellen- und den Entwicklungsländern stellt sich immer die Frage: Kann Helfen nicht auch zu einer Form des Paternalismus werden und damit ein Instrument versteckter Machtausübung sein?

Ja was nun? Helfen oder nicht?

All die Fragen, die im Laufe dieser Erörterung aufgeworfen wurden, führen letztlich zu dem Punkt, an dem ich etwas tue oder etwas lasse. Helfen ist sowohl eine Gesinnungsentscheidung als auch eine Verantwortungsentscheidung. Wer nur seinen eigenen moralischen Prinzipien folgt dem droht, die Folgen seiner Hilfsbereitschaft aus den Augen zu verlieren. Wer im Brustton der eigenen Überzeugung meint: „dem muss aber geholfen werden“, sollte zuerst mal fragen, ob derjenige die Hilfe eigentlich möchte. „Hilf mir bitte nicht, es ist auch so schon schwer genug“, hat mal jemand in Großbuchstaben an seine Bürotür gemalt, wohl wissend, dass der Weg in die Hölle häufig von guten Absichten gepflastert ist und mit reinem Gewissen beschritten wird.

Wenn sich Hilfsbereitschaft zu einem Helfersyndrom auswächst, geht das meist nicht gut aus – weder für den Helfer, noch für den Geholfenen. Menschen mit unterdrücktem Selbstbewusstsein entwickeln ein überbordendes Solidaritätsgefühl, das mit zwanghaften Erwartungen einhergeht und zu Enttäuschungen führt. Schlägt ein Solidaritätsgefühl in ein Überlegenheitsgefühl um, ist der konstruktive Weg zu einem gemeinsamen Ziel verfehlt. Aus der Hilfe zur Selbsthilfe wird eine überschwängliche Fürsorglichkeit, die Menschen ihrer Autonomie und letztlich ihrer Würde beraubt. Das Prinzip Augenhöhe wird verletzt. Menschen wünschen, dass man ihnen hilft, ohne für sie zu entscheiden. Ansonsten entfaltet gut gemeinte Hilfe ungesunde Wirkungen.

Das Gegenteil sollte der Fall sein. Für alle Beteiligten kann das Geben und das Nehmen von Hilfe zur Gesundung beitragen. Dass jemand, der sozial eingebunden ist und Hilfe erfährt, gesünder und länger lebt, gilt seit über zwanzig Jahren als hinreichend belegt. Stephanie Brown von der Stony Brook University zeigt in einer Untersuchung, veröffentlicht unter dem Titel “Giving to Others and the Association Between Stress and Mortality”, American Journal of Public Health September 2013, dass dies auch für jemanden gilt, der Hilfe leistet. Anderen zu helfen, steigert das Selbstwertgefühl und führt dazu, mehr Optimismus zu entwickeln und seine Lebensleistung höher einzuschätzen. Die positiven gesundheitlichen Wirkungen des Helfens für den Helfer – bis hin zu einer höheren Lebenserwartung – werden auch in einer groß- angelegten Studie in den USA mit rund 13.000 Teilnehmern belegt. Danach sorgt soziales Engagement wie ein Ehrenamt mit zwei Stunden in der Woche bei über 50-jährigen für ein geringeres Sterberisiko und bessere körperliche Fitness (American Journal of Preventive Medicine vom 11. Juni 2020). Gleichzeitig bescheren gute Taten den Wohltätern generell ein gutes Gefühl und soziale Kontakte. Manch einer lernt im Umgang mit Hilfsbedürftigen „das Gelingen zu fühlen“ und „das Leben zu lieben“.

Wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen für ein erfülltes und gesundes Leben sein können, schlussfolgert die Grant and Glueck Studie der Harvard University. Die Langzeituntersuchung begleitete mehr als 700 Menschen über 75 Jahre und erforschte, wie Psyche und Gesundheit miteinander verbunden sind und welche Faktoren zu einem als glücklich empfundenen Leben beitragen. Zwischenmenschlichen Beziehungen wurden von nahezu jedem Teilnehmer am Ende der Studie der größte Wert beigemessen.

Wir lernen: Helfen ist längst nicht selbstlos – und muss es auch nicht sein. Hilfsbereitschaft ist auch für den Helfenden ein Rezept für mehr Gesundheit und Glück. Sich selbst und anderen Gutes zu tun ist also gar kein Widerspruch – wenn es beiderseits gewollt ist, nicht der Selbstdarstellung unterworfen wird und die Augenhöhe stets gewahrt bleibt, denn: Helfen heißt befähigen.

So verstanden besteht die wahre Kunst des Helfens darin, die Hilfe so zu gestalten, dass sie überflüssig wird ...!

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