SWS
Sieber Ziitig
Sozialwerke Pfarrer Sieber
auffangen – betreuen – weiterhelfen
Nr. 4/2016
Es geht um Liebe, nicht um Recht Wenn Menschen nicht das erhalten, was ihnen zusteht oder was sie brauchen, dann ist das nicht primär eine Frage des Anrechts. Menschen fehlt es letztlich an einem: an Liebe.
Editorial 11.45 Uhr, stand auf der Einladung des Bestattungsamtes, beim Gemeinschaftsgrab des Friedhofs Enzenbühl in Zürich. Ein wunderbarer Park mit einem betörend schönen Blick auf den See und die Glarner Alpen. Pünktlich waren wir da: der Friedhofsgärtner, der die Urne mit Davids Asche trug, der Pfarrkollege, zwei Mitarbeitende und ich. Keine Familienangehörigen, keine Freunde. Niemand sonst. Dabei stammte David aus sehr gutem Haus. Als Erstgeborener galt er als Hoffnungsträger, besuchte beste Schulen, wurde verwöhnt, die Welt stand ihm offen. Er verliebte sich in ein Mädchen, das der Familie nicht passte. So wurde er zum Schandfleck. Das Mädchen hielt den Druck nicht aus, brach die Beziehung ab. Davids Leben lief aus dem Ruder: Alkohol, Medikamente, Gewalt. Er, der Enttäuschte, begann seinerseits, Menschen zu belügen, zu betrügen, zu missbrauchen. Hilfe anzunehmen, fiel ihm schwer. Die letzte Tablette war eine zu viel. Die Einsamkeit, die Davids Leben seither bestimmte, begleitete ihn bis auf den Friedhof.
Fast alle Geschichten, die uns unsere Gäste anvertrauen, beginnen in einem Moment des totalen Alleingelassenseins. Beginnen, wo scheinbar nichts mehr geht, niemand mehr da ist, kein Mensch mehr zuhört, keine Hand mehr berührt. In dem Moment aber, wo ein vertrauenswürdiges Gegenüber fehlt, gehen Menschen sich selbst verloren. «Der Mensch wird am Du zum Ich» – so sagte es Martin Buber. Wir können nicht alles ersetzen, was einem Menschenleben verloren gehen kann. Aber ein Du sein, ein ernsthaftes, interessiertes, menschliches Du auf Augenhöhe – das möchten wir versuchen. Und wenn sie an diesem Du ihrem Ich wieder etwas näher kommen, hat es sich gelohnt. • Christoph Zingg, Gesamtleiter
Menschen sollen nicht wie Abfall behandelt werden, sondern in Liebe, auch wenn sie «schwierig» sind. (Bild: Pfarrer Sieber)
I
ch entsinne mich noch gut an die Bilderausstellung, die Professor Schweizer an der Uni organisierte. Ich wollte ein Ölbild abgeben. Mappe und Bild unter die Arme geklemmt, öffnete ich die Türe des Hörsaals mit dem Kopf. Ich erblickte Professor Eduard Schweizer, Neutestamentler und mein Lieblingsprofessor, beim Referieren. Er erblickte mich und sagte zu mir kleinem Studenten, der sich bemühte, theologisch auf der Höhe zu sein, aber wenig Selbstbewusstsein hatte: «Ernst Sieber, kommen Sie nur herein. Wir haben auf Sie gewartet.» Mir stockte der Atem. Der Professor weckte in mir mit dieser Begrüssung viel Selbstbewusstsein. Wie wichtig eine Prise Selbstbewusstsein für jeden Menschen ist, zeigt die Begeg-
nung mit Peter. Er war in den 1960erJahren einer der ersten Opfer der Drogensucht. Und ihm fehlte jedes Selbstbewusstsein. Immer wieder klopfte er im Pfarrhaus an, um in der Begegnung mit mir etwas Selbstbewusstsein zu tanken. Wenn die Plätze im Pfarrhaus schon belegt waren, richtete er sich jeweils unter dem Tisch der Pfarrsekretärin ein. Mal für einige Stunden, mal für einige Tage. Eines Morgens begegnete ich ihm, als er gerade aufstand. «Du Peter, was ist los?», fragte ich ihn. «Ich bekomme nachts keine Anrufe mehr.» Schmunzelnd meinte er: «Weiss du, Pfarrer, ich nehme jetzt das Telefon ab und sage den Leuten immer, ich sei der Nachtwächter vom Pfarrer und sie sollen tagsüber anrufen. Der Pfarrer schläft jetzt.» Bei Peter entdeckte ich, wie entscheidend Vertrauen in sich selber ist. Ein kranker, süchtiger, zerlumpter, junger Mensch wollte sich als Helfer des Pfarrers profilieren – um dadurch Selbstwertgefühl zu bekommen. Ich habe noch heute Heimweh nach Peter. Er offenbarte sich mir als ein Mensch, dessen Seele etwas von der Liebe ahnte. Denn in der Anerkennung durch andere suchte er eigentlich Liebe.
P f u u sb
Ein anderer, der diese Suche exemplarisch verdeutlicht, ist Sepp. Sepp floh von Einsiedeln in die Stadt. Er landete auf dem Platzspitz und zerbrach in der Hölle der Hoffnungslosigkeit. Ein Zuhause fand er nie. Eines Tages meldete er sich bei mir und fragte nach einem Platz im Sune-Egge. Sein Leben dauerte nicht mehr lange. Sein Körper und seine Seele ertrugen die dämonische Härte nicht mehr. Schwestern und Ärzte standen um das Sterbebett. Sie wurden Zeugen eines Menschen, der zeitlebens Liebe suchte. In seinen letzten Lebensminuten richtete er eine Frage an die Anwesenden: «Wisst ihr, warum ich trotz allem an Gott glaube? – Weil ihr mich lieb habt.» Dieser Satz macht deutlich, worum es im Leben eigentlich geht. Es geht darum, was der Kirchenvater Augustinus so sagte: «Liebe – und dann mache, was du willst.» Sepps Geschichte steht dafür exemplarisch und eindrücklich.
• Pfarrer Dr. h.c. Ernst Sieber
us
Hurra, wir haben einen neuen Pfuusbus! Die Geldsammelaktion für den Ersatz des alten Pfuusbus war erfolgreich. Seit 2002 erhalten obdachlose Menschen im Pfuusbus ein Dach über dem Kopf, zu essen und die Möglichkeit, engagierten Helfern ihr Herz auszuschütten und mit ihnen nach Lösungen ihrer akutesten Probleme zu suchen. Der Sattelschlepper, den wir damals als Occasionsfahrzeug übernehmen konnten, war nach 14 harten Wintern in Wind und Wetter nicht mehr kostengünstig instandzuhalten. Darum mussten wir uns
nach einem «Nachfolger» umsehen. Wir fanden ein geeignetes Occasionsfahrzeug, bloss fehlte uns das Geld. Dank vieler beherzter Spender können wir den Laster nun kaufen! Etliche Spenden sind über die Plattform letshelp.ch zu uns gekommen, andere auf anderen Kanälen. Wir sind überglücklich und dankbar für diese Unterstützung. Der Pfuusbus ist beliebt – und notwendig. Allein im vergangenen Winter registrierten wir über 3500 Übernachtungen. 400 verschiedene Menschen suchten Schutz und Geborgenheit. (arb)