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Pierburg & Kamota in Essen
from gastrotel 1-2022
by GW VERLAG
UFO und Kaiserschm arrn
Offensichtlich kommen in der postpandemischen Welt entspannte Konzepte besonders gut an, die regionale Produkte, gute Weine und gehobene Bürgerlichkeit mit ein bisschen Heimatgefühl und einer Prise Sternenglanz kombinieren. Zwei aktuelle Beispiele: die neuen Restaurants von Erika Bergheim und Jürgen Kettner – beide in Essen. Von Peter Erik Hillenbach
Mitten im Ruhrgebiet, im Essener Süden nahe der Ruhr, eröffneten unlängst zwei Restaurants, die beide von erfahrenen Sterneköchen geführt werden. Oder vielmehr – hier macht das Gendersternchen einmal Sinn – von Sterneköch*innen. Die Rede ist von Erika Bergheim, einst erste Sterneköchin in NRW, die mit ihrem Schaffen die Restaurants auf Schloss Hugenpoet (Nero, Hugenpoettchen, Laurushaus) prägte. Und von Jürgen Kettner, der aus der Steiermark stammt, im Harz den Stern holte und nun im idyllischen Essen-Werden wirkt.
Die Pierburg: zeitlos und glamourös
Bei der Pierburg im südlichen Essener Stadtteil Kettwig überrascht auf den ersten Blick, was aus dem einstigen Landgasthof und Ausflugslokal geworden ist. Mitten in der bäuerlich-landwirtschaftlich geprägten Gegend zwischen A 52 und Ruhr, unweit der Kapelle Maria im Maien gelegen, wirkt die Pierburg nun wie ein in den Feldern gelandetes UFO – jedenfalls eindeutig urban und keineswegs wie ein Landhaus. „Zeitlos und glamourös“ hatte sich Erika Bergheim ihr eigenes Restaurant vorgestellt, mit einem großen Speisesaal. Den hat sie bekommen und mit tiefhängenden Lampen, eigenwilliger Kunst und bequemen Polstersofas mit hohen Rückenteilen so geschickt eingerichtet, dass durchaus Bistro-Feeling aufkommt. Offen, großzügig und zugewandt fühlt sich das an. In einer üppigen Nische ist zusätzlich das „Weinzimmer“ untergebracht, in dem die Gäste an einem Achtertisch unter einer grünen Kachelwand mit Champagnerregal sitzen, vor sich eine riesige Kreidetafel mit den Bordeaux-Offerten. „Ich möchte gern ein großes Restaurant machen“ – nun hat Frau Bergheim nicht nur das, sondern auch einen großen Biergarten mit 90 Plätzen dazu. Den sie allerdings ebenso bespielen will wie das Restaurant. Also gibt es kein übliches Biergartengeschäft, sondern das Gourmetmenü auch draußen; sie käme einfach nicht damit klar, „was die Leute oft draußen essen wollen“. Stattdessen möchte die Sterneköchin „auf der Terrasse spiegeln, was im Restaurant gemacht wird“.
Viele Freiheiten für den Gast
Und das ist eine sehr zeitgemäße Küche, die dem Gast viele Freiheiten lässt, die andernorts pandemiebedingt ausgesetzt wurden. Man kann hier à la carte wählen oder das Gourmetmenü, steht jedenfalls nicht unter Menüzwang. Man befindet sich im fruchtbaren Grenzbereich zwischen gehobener Bürgerlichkeit und besternter Gourmandise und entdeckt in diesem Spannungsfeld Produkte der Edelküche ebenso wie handfest Regionales vom Acker. Will sagen: Neben Hummer und Steinbutt (mit dünn gehobeltem Kohlrabi, Mandarine, Yuzu und Buttermilchsud) tritt auch knuspriger Schweinebauch mit lauwarmem Grünkohl, die Gänseterrine kommt mit mariniertem Spitzkohl, die Wachtelbrust mit Pilzen, Zwiebellauch und Wirsing – und das vegetarische
Zuhause angekommen: Erika Bergheim in ihrer Pierburg. Die wirkt wie ein urbanes Bistro, liegt aber mitten in den Feldern
UFO und Kaiserschm arrn Spektrum, gern als Zwischengang geordert, reicht von der Roten Bete mit Kichererbsen über Kürbis mit Kräuterseitlingen und Buchweizencreme bis zur Artischocken-Salbei-Suppe und zum SafranGewürzreis mit Pinienkernen und Rosinen. Das kann süffig-schlotzig sein oder erdig, das bedient sich an allerlei Produkten aus dem orientalisch-asiatischen Raum, das ist sicher klassisch französisch unterfüttert, da scheinen aber auch schon mal Erika Bergheims US-Erfahrungen bei den Drei-Sterne-Großmeistern Daniel Boulud und Patrick O’Connell durch, wenn etwa ein modifiziertes BBQ-Gericht wie Short Rib mit orientalischen Erbsen, Spinat, Aubergine und Papadam auf der Karte steht. Nur verspielt, das ist Erika Bergheim auf ihren Tellern nicht.
Der Steirer Jürgen Kettner und die Hamburgerin Wiebke Meier: Wegen Backhendl und Kaiserschmarrn im neuen Kamota von den Gästen überrannt „Die alte Frau, die alles kennt“
Wohl lotet sie gern das Verhältnis von Säure und Süße aus. Sommelier David Wortmann, mitgebracht von Schloss Hugenpoet, reicht zu solchen Gerichten kongeniale Weine – nicht nur er, sondern das gesamte Schloss-Team sind Erika Bergheim in die Pierburg gefolgt. Die sie übrigens nicht in Eigenregie betreibt – es gibt einen Investor –, weshalb sie sich bescheiden „Betriebsleiterin“ nennt, aber dennoch „nicht einen Augenblick Angst gehabt“ hat, nun unter eigenem Namen zu kochen. Als Chefin setzt Bergheim auf flache Hierarchien und nimmt in der Küche den Saucier-Posten ein. Mit ähnlichem Understatement kokettiert sie mit ihrer langen Vita, die einst mit der Kochlehre unter Küchenchef Berthold Bühler begann, der damals noch im Sheraton Essen wirkte, bevor für ihn die lange, segensreiche Zwei-Sterne-Zeit in der Résidence folgte: „Ich bin die alte Frau, die alles kennt.“ Und die weiß, was ihre Gäste schätzen: Durchaus Kaffee und Kuchen ab 15 Uhr am Nachmittag, sicher auch das grandiose Weinangebot, aber eben auch jene gutbürgerlichen Gerichte, die man so gern aus Meisterhand annimmt. Das musste auch das Team noch einmal neu lernen: „Wir haben alle schon lange nicht mehr so gekocht – Braten schicken zum Beispiel.“
Küss die Hand: das Kamota
Erika Bergheim vereint also in der Pierburg, wozu andere Sterneköche ein legeres Zweitrestaurant benötigen. Jürgen Kettner versucht es keine fünf Kilometer Luftlinie entfernt mit gleich drei
Schmausen im Essener Süden: entspannt, leger, ohne Schwellenangst Formaten unter einem Dach: das fünf Tage die Woche geöffnete Abendrestaurant Kamota, das Shop-Angebot Greislerei mit selbst produzierten Lebensmitteln, Toppings und steirischen Spezialitäten sowie die Kochschule an jedem dritten oder vierten Sonntag im Monat, die den Teilnehmern steirische Kochkunst und „Lebensg’fühl“ vermitteln will. Als hätte jemand die Kaufhaustüren beim Schlussverkauf geöffnet, wurde das schmucke Lokal in der fachwerkheimeligen Altstadt von Essen-Werden seit dem Eröffnungstag am 8. Januar vom Publikum überrannt – ein Schicksal, das Kettner und seine Geschäftspartnerin Wiebke Meier mit Erika Bergheim teilen. Offensichtlich kommen in der postpandemischen Welt entspannte Konzepte besonders gut an, die regionale Produkte, gute Weine und gehobene Bürgerlichkeit mit ein bisschen Heimatgefühl und einer Prise Sternenglanz kombinieren. Jürgen Kettner, Dritter beim „Koch des Jahres 2017“ und zuletzt Juror im gleichen Wettbewerb, war im selben Jahr noch Sous-Chef in Bern, erkochte 2020 als Partner von Robin Pietsch einen Michelinstern in Wernigerode und führt nun in Essen sein erstes eigenes Restaurant. Interessanterweise spielt auch bei ihm wie bei Erika Bergheim Zwei-Sterne-Legende Berthold Bühler als Mentor eine Rolle: Kettner kochte 2011 gegen Ende der Henri-Bach-Jahre in der Résidence, kurz bevor das Duo Eric Werner / Erik Arnecke kam.
Alpenländisch gemütlich: das Kamota in der Altstadt zu EssenWerden Großzügig und doch intim: der Speisesaal der Pierburg
„Hier fliegt die Kuh“
Das Kamota-Konzept ruht auf soliden Säulen: zeitgemäß präsentierte steirische Küche, österreichische Klassiker, Sharing als durchgehende Idee, dazu ein zeitlos-elegantes alpenländisches Ambiente, in dem der Keilerkopf an der Wand, Filzpolster und schwere Vorhangstoffe sowie Kurort- und Wanderabzeichen nicht fehlen dürfen – die Handschrift der Schweizer Designerin Sonja Viola Wolf in Kombination mit den Einrichtern des Mülheimer Studios Raumwerk. „Kamota“ ist übrigens keineswegs japanisch, sondern steirisch und bedeutet „gemütlicher und schöner Ort“. An dem sich das „neue Österreich“ ganz entspannt genießen lässt, am besten mit allerlei Schüsselchen zum Teilen vor sich.
PROFILE
Pierburg Erika Bergheim
• Erika Bergheim, einst erste Sterneköchin in NRW, eröffnete im November 2021 ihr eigenes Restaurant • Die Pierburg liegt mitten in den Feldern im Essener Süden • 90 Plätze innen, 90 Terrassenplätze • Küche: vom regional inspirierten Bistro-Schmankerl bis zum Signature-
Menü für Gourmets www.pierburg-essen.com
Kettner’s Kamota
• Erstes eigenes Restaurant von Sternekoch Jürgen Kettner und
Geschäftspartnerin Wiebke Meier • liegt in einem Fachwerkhaus in der Altstadt von Essen-Werden • Dreier-Konzept aus Restaurant, Laden (Greislerei) und Kochschule • Moderne österreichische Küche mit vielen Rezepten und Produkten aus der Steiermark • www.kettnerskamota.de
„Der Sharing-Gedanke kommt hier sehr gut an, es bedeutet Interaktion und nimmt die Barriere vom Fine Dining“, weiß Kettner. Doch bei aller Entschleunigung – „hier fliegt die Kuh“, seufzt der Patron. „Das Kamota hat sich schnell als Zufluchtsort für Kaiserschmarrnsüchtige entpuppt. Die ganze Stadt lechzte danach. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, das halbe Ruhrgebiet davon abzuhalten, bei uns einzukehren.“ Was steht sonst Typisches aus der Steiermark auf der Karte? Aus der offenen Küche im Keller schickt Kettner Rottenmanner Erdapfelschmarrn mit pochiertem Trüffel-Eigelb, gefolgt von abgeflämmtem und gebeiztem Saibling Paltentaler Art mit Dillöl. Das ausgebackene Sulmtaler Backhendl vom österreichischen Erzeuger wird von „a schorfe Sabayon zum Reinditschen“ begleitet, das Steirische Bratl vom Vulkanlandschwein peppt seine Sauerbratenaromen mit Wasabiblättern auf und kommt mit gepickelten Navetten, die Kettner „Tokyo-Rüberl“ nennt. Japanische Flavors, Zutaten und Produkte spielen nämlich durchgehend eine Rolle in seiner Küche, bis hin zum japanischen Kirschessig, der das Vanilleeis zum Zwetschenröster bei „Oma Kettners Kaiserschmarrn“ in eine andere Dimension hebt. Ansonsten folgt der Chef einer klassisch französischen Linie à la Résidence und Christian Bau. Und natürlich werden im Kamota passende österreichische Tropfen gereicht – vom Sauvignon Blanc über den Zweigelt bis zum Schilcher (Sekt) und zum Kipferllikör aus der Magnum zum Dessert.
„Schnitzel wird’s nicht geben“
Neben Kettner brilliert Wiebke Meier als Gastgeberin, die aus Hamburg stammt, an verschiedenen Mongo’s-Standorten wirkte und auch einige Stationen in Essen hinter sich hat. Das Kamota hat keinen Investor, es steckt eigenes Geld im gemeinsamen Restaurant. Kettner ist Markenbotschafter für Lusini – man merkt es am Besteck und den bequemen Sesseln von Vega – und Testimonial für Friesenkrone, arbeitet an einem Kochbuch und kann sich als Erweiterung des Betriebs auch ein Mehlspeisenlokal in der City vorstellen – Kaiserschmarrn to go gibt es nämlich noch nirgends. Für ihr Kamota wissen Kettner und Meier noch zweierlei: „Es wird noch etwas uriger.“ Und: „Schnitzel wird’s nicht geben.“