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Faircations: Interview Sonja Karl
by GW VERLAG
Urlaub am Mittelmeer – das geht jetzt auch nachhaltig
Spaß statt Travelshaming
Sonja Karl und Stefan Seibel haben in diesem Jahr Faircations gegründet, ein Online-Portal für nachhaltiges Reisen. Wie funktioniert das, was verstehen die Start-Up-Gründer darunter und wie macht die Idee die Tourismuswelt besser? Die Fragen an Sonja Karl stellte Peter Erik Hillenbach
Frau Karl, ohne Nachhaltigkeitsstrategie braucht heutzutage kein Unternehmen mehr anzutreten. Wo steht die Reisebranche in dieser Sache, noch ganz am Anfang? Ganz am Anfang würde ich nicht sagen. Aber es ist in der Tat noch ein sehr weiter Weg – für uns ist es wahrscheinlich in gewisser Weise etwas einfacher, denn wir können von Beginn an nachhaltig agieren. Für bestehende Unternehmen mit gewachsenen Strukturen ist es sicher sehr viel schwieriger, ihr gesamtes Handeln Schritt für Schritt nachhaltig auszurichten, sofern der Wille dazu überhaupt vorhanden ist. Es gibt seit vielen Jahren kleinere Anbieter, die sich auf nachhaltige Reisen spezialisiert haben, zum Beispiel die Mitglieder des Forum Anders Reisen, die hervorragende Pionierarbeit geleistet haben. Das Thema ist also nicht neu, aber bislang doch sehr „nischig“, in der breiten Masse ist es noch nicht angekommen. Die großen Veranstalter und OTAs kennzeichnen zwar mittlerweile zum Teil ein „grünes“ Produkt, aber die große Mehrheit der Angebote ist eben nach wie vor herkömmlich. Außerdem wird Nachhaltigkeit dabei oft auf ökologische Aspekte reduziert und die soziale und ökonomische Komponente wie etwa faire Bezahlung von Hotelangestellten oder Einbeziehung der lokalen Bevölkerung außen vorgelassen. Da ist also noch viel Nachholbedarf, was die Wertschöpfungskette angeht.
Sie haben Faircations erst im Februar dieses Jahres gegründet, mitten im schlimmsten Lockdown. Dennoch konnten Sie namhafte Investoren von Ihrem „green and fair travel“-Konzept überzeugen. Was war Ihr stichhaltigstes Argument? Ja, das war schon etwas seltsam – mein Mitgründer war in Frankfurt beim Notar, ich in München, an Reisen und einen gemeinsamen Termin war nicht zu denken. Die Gründung hat auch viel Stirnrunzeln hervorgerufen, nach dem Motto „Seid ihr verrückt, wie könnt ihr jetzt ein Travel Start-up gründen!?“. Aber wir hatten ja schon länger an der Idee gearbeitet und tatsächlich sehen wir die Corona-Krise als Wendepunkt, was Reisen angeht. Die Menschen nehmen Reisen nicht mehr als Selbstverständnis hin und beschäftigen sich allgemein mit dem Thema Nachhaltigkeit: die Corona-Krise als „NachhaltigkeitsVerstärker“, sozusagen. Insofern sind wir überzeugt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, mit einem neuen, nachhaltigen Reisekonzept an den Markt zu gehen – wenn die Menschen wieder reisen, sind wir da! Und das hat letztlich auch unsere Investoren überzeugt.
Reisen ist ja leider mit dem paradoxen Makel behaftet, dass der Reisende unweigerlich zerstört, was er besucht; jedenfalls, wenn wir von massenhaftem Reisen sprechen. Wie schaffen Sie den Switch in den Köpfen, dass nur nachhaltiges Reisen echtes Reisen ist? Wären womöglich ZuhauseBleiben und ins Freibad gehen nicht eh viel nachhaltiger? Wir möchten zeigen, dass auch kleine Schritte reichen, um nachhaltiger zu reisen und gleichzeitig die Angst nehmen, dass man dabei auf etwas verzichten muss: Es muss kein veganer Yoga-Retreat oder Zelturlaub im Stadtwald sein, auch ein Badeurlaub auf Mallorca kann nachhaltiger gestaltet werden: mit einem zertifizierten Hotel, bei der Airline-Auswahl, durch CO2-Kompensation der Anreise… Generell wollen wir dem Thema nachhaltiges Reisen die Schwere nehmen, also kein „Travelshaming“ betreiben und mit erhobenem Zeigefinger missionieren. Wir wollen locker und spielerisch aufzeigen, wie es einfach nachhaltiger geht – nicht perfekt, aber immer besser. Nachhaltiges Reisen muss Spaß machen, sonst wird es nicht funktionieren – keiner lässt sich freiwillig die schönste Zeit des Jahres vermiesen. Dass das Zuhause-Bleiben und die nähere Umgebung erkunden auch durchaus reizvoll sein kann, haben viele während der eingeschränkten Reisemöglichkeiten der letzten Monate erfahren und diese Entwicklung ist auch gut. Ich möchte aber grundsätzlich nicht in einer Welt leben, in der der Horizont quasi vor der eigenen Haustür endet. Reisen verbindet die Menschen, öffnet und erweitert Horizonte. Und vor allem: jeder zehnte Arbeitsplatz weltweit hängt indirekt oder direkt vom Tourismus ab. Der Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren und trägt zu Wohlstand und damit zu einer nachhaltig besseren Welt bei.
Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind zwei Kernanliegen der gesellschaftlichen Transformation. Ihr Partner Stefan Seibel ist Travel Tech-Experte – wie nutzen Sie digitale Tools, um Nachhaltigkeit zu ermöglichen? Die zunehmende Digitalisierung ist Kern unseres B2C-Geschäftsmodells. Auf unserer Online-Buchungsstrecke können sich unsere Kunden ihre Reise individuell und flexibel zusammenstellen und auch direkt buchen. Dabei müssen sie sich nicht bereits im Vorfeld entscheiden, ob sie nur ein einzelnes Hotel oder mehrere Hotels,
eine Rundreise, den (kompensierten) Flug, Transfers oder Mietwagen buchen wollen. Sie werden durch diesen Prozess geführt und alle Komponenten der Reise sind live auf Verfügbarkeit und Preisaktualität geprüft. Das heißt, die Frustmomente, wenn man aufs vermeintliche Top-Angebot klickt und es plötzlich doch als ausgebucht erscheint oder der Preis auf einmal doppelt so hoch ist, gibt es bei uns nicht. Außerdem stellen wir Nachhaltigkeitsinformationen zur konkreten Produktsuche beziehungsweise -auswahl zum Zeitpunkt der Suche und Buchung bereit. Das bedeutet, dass wir keine allgemeinen Nachhaltigkeitsinformationen irgendwo auf unserer Website ablegen, sondern diese „Sustainability Bites“ spielerisch in die Buchungsstrecke integrieren und dem Kunden in kleinen und wirklich für ihn relevanten Dosen zur Entscheidungsfindung anbieten. Das kann zum Beispiel die Info bei der Flugauswahl sein, dass der angebotene Direktflug CO2-freundlicher ist als eine Umsteigeverbindung.
Welche Institutionen zertifizieren nachhaltige Unterkünfte und weitere touristische Angebote? Mit welchen Kontrollinstanzen arbeiten Sie zusammen? Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an touristischen Nachhaltigkeitszertifizierungen, weltweit über 150, sowohl von staatlichen und staatsnahen Institutionen als auch von privaten Anbietern. Idealerweise verfügen Unterkünfte über eine Zertifizierung, die vom GSTC (Global Sustainable Tourism Council) anerkannt ist, einer neutralen NGO, die eigene Kriterien zur Validierung ansetzt. Je nach Destination greifen wir aber auch auf lokale Gütesiegel zurück, da es nicht in allen touristisch relevanten Destinationen solche Zertifizierungen gibt. Außerdem haben wir in Zusammenarbeit mit der Nachhaltigkeitsberatung BlueContec eigene Kriterien für kleinere Betriebe entwickelt, die zwar nicht über eine Zertifizierung verfügen, aber nachhaltig agieren und mit uns arbeiten möchten. Um unseren Hotelpartnern bei der Entwicklung Richtung Nachhaltigkeit Hilfestellung zu geben, werden wir im Übrigen auch kostenlose Online-Trainings anbieten und diese auch interessierten Hoteliers zugänglich machen, die in puncto Nachhaltigkeit noch am Anfang stehen und quasi den Einstieg in das Thema suchen. Für die Flugkompensation arbeiten wir mit atmosfair zusammen. Wir selbst lassen uns mit Tourcert zertifizieren, der Prozess läuft gerade an. Zusätzlich haben wir ein Sustainability Board aufgestellt, bestehend aus drei Nachhaltigkeitsexperten aus Wissenschaft und Praxis. Sie werden uns regelmäßig challengen, damit wir unsere Mission immer im Blick behalten. Denn sehr schnell kommen da natürlich Zielkonflikte auf, wenn es um Wirtschaftlichkeit versus Nachhaltigkeit geht: Würde ich nicht doch gerne auch eine Woche Karibikurlaub verkaufen wollen, wenn es der Kunde wünscht? Da hat das Sustainability Board gleich Veto eingelegt, Fernreisen verkaufen wir daher nur mit zwei Wochen Mindestaufenthalt.
Wie sehen eine nachhaltige Städtereise, ein nachhaltiger Badeurlaub auf Mallorca oder eine nachhaltige Rundreise durch Thailand denn konkret aus? Vor allem, wenn man an Waldbrände in Griechenland und der Türkei oder an Inselgruppen denkt, die unterzugehen drohen? Was alle unsere Angebote gemeinsam haben, ist die Zusammenarbeit mit zertifizierten Hotels und Anbietern, die durch Tourcert oder eine andere Nachhaltigkeitszertifizierung ausgezeichnet sind und ihre Produktgestaltung dementsprechend angepasst haben. Für die Anreise empfehlen wir entweder die Anreise per Bahn, wenn es sich um eine Kurzstrecke, Stichwort Städtereise, handelt oder die nachhaltigste Flugverbindung, der Flug selbst wird CO2kompensiert. Ein Prozent des Reisepreises spenden wir an ein Projekt, das der Kunde aus unserem Projektpool auswählen kann. Bei uns findet die nachhaltige Produktgestaltung aber auch nach dem Ausschlussprinzip statt: Beispielsweise bieten wir keine Helikopterflüge oder Off-Road-Touren mit Geländewagen an oder Besuche von Delfinarien, Elefantenreiten oder Ähnliches. Auch Hochsee-Kreuzfahrten wird man bei uns bis auf Weiteres nicht finden. Ansonsten versuchen wir, bei jeder Reiseart und in jedem Reiseland die nachhaltigste Ausgestaltung zu erreichen – und die kann je Urlaubsdestination sehr unterschiedlich sein, da geht die Schere weit auseinander: Während man in einem Land schon froh sein kann, keinen „Stinkerdiesel“ für den Transfer buchen zu müssen, kann man in einem anderen Land vielleicht schon auf eine Mietwagenrundreise mit E-Autos zurückgreifen. Damit sind natürlich weder Waldbrände noch der Untergang von Inselgruppen verhindert. Aber vielleicht ist die (touristische) Welt ein kleines Stück besser geworden. Das zumindest ist unser Anspruch. Wenn Sie alle Beteiligten der touristischen Wertschöpfungskette fair beteiligen wollen – wie teuer oder vielmehr „preis-wert“ wird nachhaltiges Reisen dann sein? Also der große „Brocken“, preislich gesehen, wird sicher die CO2-Kompensation bei Flugreisen sein, denn ein nachhaltig geführtes Hotel muss nicht zwangsläufig teurer sein als eine herkömmliche Unterkunft. Einen wesentlichen Hebel sehe ich auch weniger im initialen Pricing als bei Preisaktionen: Ich halte es für das falsche Signal, wenn einerseits „grüne“ Produktlinien gelauncht werden und gleichzeitig zur neuen Saison doch wieder „Jetzt noch günstiger als im letzten Jahr“-Botschaften rausgegeben werden – bei allem Verständnis für den wirtschaftlichen Druck, der auf der Branche lastet. Die ständigen Frühbucher-, Rabatt- und Gutscheinaktionen suggerieren den Kunden doch, dass es immer noch günstiger geht und sind langfristig schädlich für alle Beteiligten der Wertschöpfungskette. Wenn wir es dagegen schaffen, den Kunden realistische Reisepreise zu vermitteln, sind wir einen Riesenschritt weiter Richtung Nachhaltigkeit. www.faircations.de