politik&kommunikation: Interview mit Norbert Lammert

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Warum Politiker Bücher schreiben Wie wir mit unseren Altkanzlern umgehen Bevorzugt die Regierung ihr nahe Lobbyisten? Quadriga Media Berlin GmbH  ISSN 1610-5060  Ausgabe IV/2022 — N º  141 www.politik-kommunikation.de Herr Lammert, wann fällt das Fotoverbot im Bundestag? Ein Gespräch mit dem Politikaward-Ehrenpreisträger PLUS: DASP&K AGENTURJAHRBUCH 2023

Der Wandel kommt überall hin. Gut, dass wir schon da sind.

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Weil’s um mehr als Geld geht.

ALLES WIRD GUT

Wissen Sie noch, welche Hoffnung Sie vor allem durch die Coronazeit getragen hat? Ich jeden falls habe mir gewünscht, dass schnell alles so wird wie vor der Pandemie und wir wieder unbe schwert zusammen diskutieren. Nun sitzen wir zwar wie der zusammen und reden, aber von Unbeschwertheit kann keine Rede sein. Unsere Themen sind nicht viel erquick licher als ein hochansteckendes Virus: Krieg, Inflation, Energiekrise, Klimawandel.

Wir sind sprichwörtlich vom Regen in die Traufe gekommen. Weil ich nicht wusste, was eine Traufe über haupt ist, habe ich das nachgeschlagen. Die Traufe ist die Kante eines Dachs und damit der Punkt, wo der Regen vom Dach abfließt und auf den Boden tröpfelt. Eigentlich wur den dagegen Regenrinnen erfunden, aber auch die versa gen gelegentlich. Da ich mich schon öfter bei Regen unter gestellt habe, nur um dann von einem Rinnsal direkt auf den Kopf getroffen zu werden, bin ich schon öfter vom Regen in die Traufe gekommen, als ich geahnt habe. Ich glaube, momentan merken wir es aber alle.

Natürlich muss gründlich darüber nachgedacht werden – und wenn diese schönen Gedanken erst einmal gefasst sind, schreibt man sie am besten auf. Das Buch ist für Poli tiker oft noch die Königsdisziplin. Allerdings gibt es dabei einiges zu beachten: Wann schreibe ich als Politiker am besten ein Buch – und warum? Was muss ich dabei beach ten? Und was sagen ein Kommunikationsberater und eine Verlagsverantwortliche dazu? Das habe ich in Erfahrung gebracht und ab S. 20 aufgeschrieben.

Die Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz sind atemberaubend. Schlaue Maschinen malen, komponie ren und spielen Schach. Da sie Unmengen an kompli zierten Daten in Rekordzeit verarbeiten können, könnte man auf die Idee verfallen, dass künstliche Intelligenzen gute Problemlöser und damit fähige Abgeordnete wären.

Eine politische Spinnerei? Simon Bölts hat sich getraut, ein bisschen zu träumen (S. 24).

Aus unseren Träumen reißen uns oft genug unsere Regierungschefs, sobald sie das Kanzleramt verlassen und nicht mehr einen Regierungsapparat und eine starke Fraktion haben, die mit ihnen an ihrem Image der klu gen Staatsführung bauen. Einige Altkanzler wie Gerhard Schröder und Helmut Kohl haben ihr Denkmal selbst ein gerissen. Angela Merkel scheint sich noch dagegenzustem men, allerdings fällt ihr mühsam aufgebautes außenpo litisches Kartenhaus vor unser aller Augen auseinander. In den USA stiften Ex-Präsidenten Bibliotheken und wer den zu Elder Statesmen. Wie das in Deutschland aussieht, erzählt Günter Bannas ab S. 28.

Als wir den ehemaligen Bundestagspräsidenten Nor bert Lammert zum Interview in seinem Büro trafen, kamen wir gewarnt. Der Vorsitzende der Konrad-AdenauerStiftung bringt nicht viel Geduld für Fotosessions auf. Gegen die Fotos hat er nichts, aber das, was dazu nötig ist, bereitet ihm keine Freude. Auf Kommando hier oder dort stehen, ein bisschen lächeln, mal etwas anderes mit den Händen machen, dazu hatte Lammert auch bei uns keine große Lust. Sinnigerweise passte das ganz gut zum Grund, den er dafür nannte, warum es ihn ins Bundes tagspräsidium gezogen hat und nicht in ein Regierungs kabinett: Er lässt sich eben nicht gern sagen, was er zu tun hat (S. 54).

Keine Anweisungen, aber kluge Ratschläge gibt es von Beratern. Um die besser kennenzulernen, gibt es in die ser Ausgabe wieder das Jahrbuch der Agenturen ab Seite 84. Dort erfahren Sie auch, welche Trends die wichtigs ten Beratungshäuser für das kommende Jahr prophezeien. Als Beileger haben Sie außerdem das Verbandsjahrbuch.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und eine gesunde Weihnachtszeit

3 IV/2022
EDITORIAL
KONRAD GÖKE ist Chefredakteur von politik&kommunikation.

2022

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ZEITENBLENDE

Die Lieblingsfotos des Jahres 2022 renommierter Politikfotografen 20

DRUCKEBERGER

Politiker schreiben gerne Bücher. Das bietet Chancen, hat aber auch seine Tücken von Konrad Göke 24

ALEXA, WEN SOLL ICH WÄHLEN?

Künstliche Intelligenz kann hel fen, bessere Politik zu machen von Simon Bölts 28

ABGEKANZLERT

Wie wir mit unseren Altkanzlern umgehen von Günter Bannas 32

FÜNF GEWINNT

Die Fünfprozentklausel ist sinn voll, aber gehört reformiert von Eckhard Jesse

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LACH- UND SACHPOLITIK

Eine Typologie des Parteienhumors von Celine Schäfer 40

BESSER WISSEN

Welche Kompetenzen Experten in die Medien bringen von Kai von Linden

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INFORMATIONSFREIHEITSGESETZ

Journalisten brauchen einen langen Atem von Kathi Preppner 48

DER

POLITIKAWARD

Eine Veranstaltung so politisch wie nie zuvor von Tobias Schmidt 54

INTERVIEW: NORBERT LAMMERT

Der „Politikaward“ Ehrenpreis träger im Gespräch von Judit Cech und Konrad Göke

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WEHRET DEN ANFRAGEN

Wie Pressestellen richtig auf journalistische Fragen reagieren von Ralf Kunkel und Maximilian Widera

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EIN OFFENES OHR

Hört die Ampelkoalition nur genehmen Lobbyisten zu? von Anne Hünninghaus

BEHÖRDENDSCHUNGEL

Was machen die Bundesbehörden? von Marvin Neukirch 102 GLOSSE Tolle Aussichten

Pro & Kontra

Fragerunde

Floskelalarm

Reschs Rhetorik Review

Filme & Bücher

Impressum

Ein Tag mit ...

politik & kommunikation 4 IV
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8
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INHALT NORBERT LAMMERT ÜBER MODE, DIE WÜRDE DES BUNDESTAGES UND KATAR 54 POLITIKER SCHREIBEN BÜCHER 20 KI INS PARLAMENT? 24 PLUS: DAS P&K AGENTURJAHRBUCH 2023 ab Seite 83 JAHRBUCH 2023  politik &   kommunikation
3 Editorial 5 Schnappschuss 6 Expertentipp
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MÜRBERWÄLTIGT

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht nicht oft überwältigt aus. Meistens umweht ihn eine Aura konzentrierter Unaufgeregtheit. Hier sieht er allerdings gleichzeitig über und unterwältigt aus. Bei einer Nebenveranstaltung beim UN Weltklimarat in Ägypten blickt er drein, als hätte er mit den Kopfhörerrädchen unten nach einem anderen Sender gesucht, nur um dann doch wieder beim öden O Ton der Veranstal tung zu landen. Mitleid mit Scholz ist aber nicht angezeigt. Dafür mussten die ande ren ja auch ihm zuhören.

5 IV/2022
SCHNAPPSCHUSS

KI, WISSENSCHAFT, OPPOSITIONSARBEIT

Sollte künstliche Intelligenz Abgeordneten politische Entscheidungen abnehmen?

Passt Humor ins ernste Geschäft der Politik?

Ja, mehr denn je.

Die Talking Heads aus Ökonomie oder Medizin sind nicht zwingend repräsentativ für die herrschende Lehre ihres Fachs.

Verfälscht die Expertenauswahl der Medien die Darstellung des wissenschaftlichen Konsenses?

Brauchen Altkanzler wirklich ein Büro auf Steuerzahlerkosten?

Ist es in Ordnung, wenn sich die Regierung enger mit Institutionen austauscht, die ihr politisch nahestehen?

Kann es die Karrieren von Politikern entscheidend befördern, ein Buch zu schreiben?

Kulturkämpfe, Bürgergeld, Atomstreit: Ist die Oppositionsarbeit der Union konstruktiv?

Erreichen die Protestformen der „Letzten Generation“ ihr Ziel?

Im Interesse einer tragfähigen Entscheidungsfindung ist es hilfreich, allen hiervon betroffenen Beteiligten die Möglichkeit zu eröffnen, angehört zu werden.

Nein, nur bei Missbrauch.

Ja, wenn es kein Monopol wird.

Beispiel Bürgergeld, das aktuell im Vermittlungsausschuss beraten wird: Dessen Aufgabe ist es, einen Kompromiss herbeizuführen. Der Bundesrat ist faktisch und historisch betrachtet kein Blockadeinstru ment der Opposition. Vielmehr wirkt er als Organ konstruktiv an praktikablen Lösungen mit.

Never ever!

Sie bringen die Mehrheit der Bevölkerung gegen sich auf.

politik & kommunikation 6 EXPERTENTIPP
Johannes Pütz Bevollmächtigter Regierungsbeziehungen, Allianz Nikolaus Blome Ressortleiter Politik & Gesellschaft, Mediengruppe RTL Deutschland Franca Lehfeldt Politik-Chefreporterin & Moderatorin, Welt TV Gerhard Schröder ist die Ausnahme, aber in der Regel haben Ex Regierungschefs ihrem Land auch nach dem Ausscheiden noch gedient.

Nein, aber ergänzend zu Fachleuten „Empfehlungen aussprechen“.

Künstliche Intelligenz ist im besten Fall ein Werkzeug, das den Abgeordneten bei seinen Entscheidungen unterstützen, ihm diese aber nicht abnehmen kann.

Gute politische Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie vom Empfänger verstanden wird. Dabei kann Humor im Einzelfall helfen.

Das ist mit der Medienlogik zu begründen.

Eine Gratwanderung, die oft nicht gelingt.

Wahlen legitimieren Abgeordnete, keine KI Systeme. Abgeord nete sollten die Chancen von KI für Entscheidungen stärker nutzen, sie aber definitiv nicht outsourcen.

Es muss ihnen jedoch bei Fehlver halten vom Bundestag aberkannt werden können.

Nur im besten Fall.

Ja, aber nur begrenzt auf acht Jahre.

Ja, zum Beispiel beim Bürgergeld.

Ein Großteil der Medien macht bei der Auswahl der Experten einen guten Job und nimmt die eigene Verantwortung im Diskurs ernst.

In dem Ausmaß und in dem Zeitraum, in dem Aufgaben im Interesse der Bundes republik wahrgenommen werden, sind Büro und Personal legitim. Eine gesetzliche Regelung sollte Schwachstellen der bisherigen Praxis beseitigen.

Es ist in Ordnung, aber nicht klug.

Klare Ansagen, wofür man steht und wohin man das Land bringen will, brauchen keine bemühten Bücher.

Kann schon sein. Es kann aber auch das Gegenteil bewirken, wie die BTW21 und Baerbock eindrucksvoll gezeigt haben.

Kritik, Provokation und Ausschlachten von Schwachstellen gehört auch zur Jobbeschreibung einer – wenn’s drauf ankommt – konstruktiven Opposition.

Es liegt nicht in der Verantwortung der Aktivisten, dass mehr über die Pro testformen diskutiert wird als über das Problem, auf das sie hinweisen

Provokation und Polarisierung schaffen Aufmerksamkeit, aber noch lange keine Überzeugung.

7 IV/2022
Ivonne Bollow SVP Corporate Responsibility & Public Policy, Metro Carline Mohr stellvertretende Chefredakteurin, „Business Insider Deutschland” Uwe Jun Professor für Politikwissenschaft, Universität Trier Gunnar Bender Director Government Affairs & Strategic Relations, SAP Regine Kreitz Leiterin Kommunikation, Stiftung Warentest Christiane Germann Geschäftsführerin, Germann Hauptstadtkommunikation Sogar Olaf Scholz (!) punktet mit gut gesetzten Pointen.

Die Unternehmen werden sich um die jungen Leute reißen. Wer gut ausgebildet ist, kann fast alles verlangen. Wir werden aber auch erkennen, dass ein übertriebenes Homeoffice weniger innovativ macht, weniger Gemeinschaftsgefühl schafft und Arbeit austauschbar werden lässt. Auch, dass Digitalität im Unterricht die Lehrkräfte nicht überflüssig gemacht hat. Und dass die Künstliche Intelligenz noch immer nicht die Weltherrschaft übernommen hat. Wir werden also über einige dogmatischen Diskussionen von heute schmunzeln können.

MATTHIAS GRAF VON KIELMANSEGG

ist seit Oktober Mitglied der Geschäftsführung der Vodafone Stiftung Deutschland.

FRAGERUNDE

DREI JOBWECHSLER STELLEN SICH GEGENSEITIG FRAGEN

Corona hat für mich sehr viele neue Erkenntnisse gebracht. Im Privaten ist das größte Learning, dass man die Zeit mit seinen Liebsten genießen und nicht zu viel auf das ungewisse Später verschieben sollte. Im Beruflichen war ich überrascht, wie schnell und gut alle von jetzt auf gleich remote arbeiten konnten, während ich gleichzeitig den ausgewählten persönlichen Austausch noch mehr zu schätzen gelernt habe.

Arbeite daran, unsere Gesellschaft besser zu machen, gerade dann, wenn andere das naiv nennen. Umgebe dich mit inspirierenden Menschen. Vertraue deinem Weg, auch wenn er sich manchmal seltsam anfühlt. Überlege, was du anderen Menschen geben kannst und gebe achtsam, aber ohne Hintergedanken. Was gibt dir Energie und was gibt dir Klarheit? Mache mehr davon, dann wirst du deine Ziele erreichen.

Was würden Sie aus heutiger Sicht Ihrem 18 jährigen Ich für die Karriereentwicklung raten?

FLOSKELALARM

„DIE STIMMUNG IST GUT“

Man sollte meinen, Politikerinnen und Politiker ließen sich nach Jahren der Wiederverwendung einer Floskel mal etwas Neues einfallen. Das scheint bei mancher Plattitüde jedoch nicht der Fall zu sein. Es fällt mittlerweile schwer, die Mundwinkel nicht zu einem spöttischen Grinsen zu verziehen, wenn auf Parteitagen oder Pressetermi nen mal wieder jemand mit den Worten beginnt: „Die Stim mung ist gut.“ Gemeint ist: „Hier gibt es keinen Skandal zu holen. Wir haben keine innerparteilichen Streitereien.“ Das Bild nach außen soll stimmen. Völlig egal, ob Union, SPD, Grüne oder FDP – an diesem Klassiker bedienen sich alle immer wieder gerne. Im Übrigen auch, wenn die Stim mung eigentlich im Keller ist. Wem soll dieser Satz was

bringen? Die Medien wissen ihn mittlerweile einzuordnen, die meis ten Bürgerinnen und Bürger vermutlich auch. Es braucht kein herausragend fundiertes Hintergrundwissen, damit man sich bei „die Stim mung ist gut“ denken kann, dass es sich um eine Floskel handelt. Man muss ja nicht gleich die Karten auf den Tisch legen und die letzte SMS zeigen, in der Politiker A über Politikerin B hergezo gen hat. Ungereimtheiten allerdings um jeden Preis wegzureden, hilft auch keinem weiter. Streit gehört in der Politik dazu. Täte er es nicht, wäre das der eigentliche Skandal.

SARA SIEVERT IST POLITIKREDAKTEURIN BEIM „SPIEGEL“

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ANNA DIETRICH ist seit August Leiterin Public Affairs und Government Relations bei Lieferando. JEANNETTE GUSKO ist seit September Geschäftsführerin bei Correctiv. Was ist Ihr größtes Corona Learning?
Wenn Sie an unsere Gesellschaft in 5 Jahren denken, was bringt Sie zum Lächeln?

Wir laden Deutschland

Willkommen im EnBW HyperNetz. enbw.com/WirLadenDeutschland

ZEITENBLENDE

2022 war das Jahr der Zeitenwende. Wie hat sich das in der politischen Bildsprache widergespielgt? Sehen Sie selbst: Wieder haben namhafte Politikfotografen für p&k ihre persönlichen LIEBLINGSFOTOS DES JAHRES ausgewählt und kommentiert.

SPRECHSTUNDE

Das deutsche Kabinett lauscht einer Rede des zugeschalteten Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, auf der Regierungsbank im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

CHRISTIAN THIEL

ist freiberuflicher Fotograf. Der Berliner, Jahrgang 1963, beschäftigt sich seit 1985 mit Fotografie. Er arbeitete für diverse Redaktionen, namentlich für die „Berliner Zeitung“, die „FAZ „und zuletzt für den „Spiegel“. Seitdem ist er freiberuflich unterwegs.

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ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN

„Wie üblich auf der Jagd nach einem nicht ganz erwartbaren Motiv, kam mir für dieses Porträt von Finanzminister Christian Lindner die Jalousie im ansonsten unscheinbaren Besprechungsraum zuhilfe. Der FDP Politiker zwischen Licht und Schatten, zwischen allen Abwägungen und Schwierigkeiten von Parteiprogramm und Regierungspolitik. Trotz oder vielleicht sogar wegen dieser im Grunde kindlich einfachen Bildidee ist dieses Porträt mein Politikfoto des Jahres.“

ANNE HUFNAGL

ist Porträtkünstlerin und wurde 1987 in Oschatz (Sachsen) geboren. Sie hält führende Köpfe aus Politik, Medien und Wirtschaft in außergewöhnlich nahbaren und besonderen Bildern fest. Im September 2022 eröffnete die Künstlerin ihren eigenen Artist Workspace direkt im Herzen von Berlin.

15 IV/2022

ALEXA, WEN SOLL ICH WÄHLEN?

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ bestimmt immer mehr Bereiche unseres Lebens. Autoritäre Staaten sehen sie als Handlangerin zur Unterdrückung. In Demokratien könnte sie aber helfen, bessere Politik zu machen.

VON SIMON BÖLTS

Eine künstliche Intelligenz (KI) hat eine Entschei dung für Sie getroffen. Basierend auf Ihrem bishe rigen Verhalten und statistischen Prognosen hat sie in weniger als einer Minute Ihre aktuelle Stim mung berechnet. Ihre Reaktion auf Aussagen, Bilder und Ähnliches ist in die Entscheidungsfindung eingeflossen. Sie haben soeben gewählt. Was wie ein Konzept für die Zukunft von Streaming-Diensten klingt, beschreibt eine Möglichkeit für die höchsten Güter eines demokratisch verfassten Staats: die politische Wahl, die Meinungs- und Willensbildung durch Abgeordnete – beziehungsweise die KI, die jetzt Ihre Abgeordnete ist. 2050 könnten eine oder verschiedene künstliche Intelligenzen auf einer ähnlichen Basis im Parlament – ich bin überzeugt, dass es weiterhin Parlamente geben wird – neben menschlicher Intelligenz über Gesetze und damit unser gesellschaftliches Zusam menleben mitentscheiden. Würden Sie Ihre Stimme einem Menschen geben, der sein Mandat frei ausübt, oder einer KI, die stets in Ihrem Sinne abstimmt?

Wir leben in Blasen

Eine KI, die für uns bestimmt: Wollen wir das wirk lich? Kehren wir kurz zum Beispiel der Streaming-Dienste zurück. Ob Musik, Film, Serie oder Hörbuch: Algorith misch gestützte Entscheidungen sind längst real und nor mal — viele kennen die persönlichen Mixtapes bei Spo tify. Auch unsere News- und Entdeckungs-Feeds wissen genau, was uns interessiert. Wir haben es uns in diesen eigenen Universen bequem gemacht. Kennen Sie das: Sie

sind abgelenkt und klicken falsch oder lassen (aus Verse hen) ein Video zu lange laufen und schon haben Sie sich den Auswahlalgorithmus ruiniert, der Ihnen jetzt Dinge in den Feed spült, die sie gar nicht interessant finden. Uns stört dann, dass wir nicht mehr mit genehmen Inhalten, sondern unter Umständen gar mit gegensätzlichen Mei nungen konfrontiert werden.

Aber hier geht es nicht nur um Katzen- oder Hunde videos. Das Wall Street Journal hat 2019 gezeigt, wie unter schiedlich ein liberaler und konservativer Facebook-Feed in der direkten Gegenüberstellung zu einzelnen Themen aussehen kann. Es sind zwei Blasen, die sich oft nicht berühren. Wie bewusst sind wir uns dieser algorithmisch gesteuerten Einwirkung auf die Meinungs- und Willens bildung? Wie sehr lassen wir uns davon lenken?

Demokratie in der Krise

Es gibt Gründe, eine KI anstelle von Menschen wäh len und entscheiden zu lassen. Die Einzelinteressen der Wahlberechtigten würden besser repräsentiert werden. Die Wahlbeteiligung bei Landtags- und Kommunalwah len liegt aktuell bei um die 50 Prozent. Das repräsenta tive System hat bei Bürgern einen schlechten Stand. Laut einer Studie des Center for the Governance of Change der spanischen Privatuniversität IE würde fast die Hälfte der Befragten in Deutschland Sitze menschlicher Abgeordne ter einem Algorithmus mit künstlicher Intelligenz über lassen, der Zugang zu ihren Daten hätte, um ihre Interes sen zu maximieren. Ich glaube nicht, dass dieses Ergeb

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Künstliche Intelligenz ist schon in der Lage, aus Texten Bilder zu zaubern. Aus der Texteingabe „Robot in a suit holding a speech in Parliament“ kreierte die KI diese Bebilderung für den Artikel.

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FÜNF GEWINNT

Die FÜNFPROZENTKLAUSEL ist sinnvoll und muss beibehalten werden. Trotzdem würde es nicht schaden, sie zu reformieren.

Das Thema Wahlrecht steht seit einigen Jahren wie der auf der Tagesordnung. So soll die vom Deut schen Bundestag eingesetzte Wahlrechtskom mission vor allem die Gretchenfrage klären: Wie gelingt es, den Bundestag zu verkleinern, ohne dass die Interessen der Parteien vernachlässigt werden? Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit der Frage, ob und wie eine gleichberechtigte parlamentarische Repräsentanz im Par lament zu erreichen ist. Ferner stehen folgende Punkte auf der Agenda: Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre; Verlängerung der Legislaturperiode; Bündelung von Ter minen bei Bundestags- und Landtagswahlen; erleichterte Wahlrechtsausübung für Auslandsdeutsche.

Der Bundestag hat bei den Europawahlen im Novem ber 2022 beschlossen, das Wahlalter auf 16 Jahre zu sen ken. Was die Regierung nicht vorhat: die Fünfprozent klausel abzuschaffen oder zu modifizieren. Dabei gibt es Reformbedarf: Wer die Klausel als prinzipiell angemes sen ansieht, muss deswegen nicht gegen jede Änderung sein. Denn Defizite sind erkennbar.

Die Fünfprozentklausel fand 1949 im Wahlgesetz des Bundes Aufnahme, wobei die Geschichte ihrer Einführung recht verschlungen ist. Sie ging auf die Ministerpräsiden ten der Länder zurück, nicht auf den Parlamentarischen Rat, der sich mit knapper Mehrheit dagegen ausgespro chen hatte. Die alliierten Militärgouverneure akzeptier ten das Votum der Ministerpräsidenten zwar grundsätz lich, modifizierten es aber insofern, als die Klausel nicht auf das gesamte Bundesgebiet bezogen werden sollte, sondern bloß auf das jeweilige Bundesland. An der Alternativklau sel hielten die Militärgouverneure fest: Der Gewinn eines Direktmandates befreite die Parteien davon, in einem Bun desland fünf Prozent der Stimmen zu erreichen. 1953, im

zweiten Bundeswahlgesetz, wurde diese auf das Bundes gebiet (wie auch die Fünfprozentklausel) ausgedehnt. Die verbreitete Annahme, das sei eine Verschärfung gewesen, ist nicht ganz richtig. Eine ausgesprochene Hochburgen partei ist zwar benachteiligt, aber eine politische Kraft wie die FDP mit bundesweit mehr als fünf Prozent profitiert davon, da auch die Stimmen in den Ländern berücksichtigt werden, in denen die Partei keine fünf Prozent der Stim men erlangt. Diese Reform war sinnvoll, denn eine Klausel ergibt ausschließlich dann Sinn, wenn sie im gesamten Bun desgebiet gilt. Parteien nationaler Minderheiten sind seit 1953 von der Fünfprozenthürde ausgenommen. Die Alter nativklausel wurde im dritten Bundeswahlgesetz 1956 auf drei Direktmandate verschärft. Das ist bis heute der Stand.

Ein sinnvoller Kompromiss

Die Klausel beugt der Gefahr der Parteienzersplitte rung vor und schafft stabile Mehrheiten für die Regie rungsbildung. Dadurch fallen jedoch die Stimmen der Wähler für Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, unter den Tisch. Diese Vorkehrung hat sich prinzipiell bewährt. Sie verhinderte den Einzug von Splitterparteien in den Bundestag, ohne ein „Machtkartell“ der Etablierten abzuschotten. So gelang es den Grünen in den achtziger und der aus der SED hervorgegangenen PDS in den neun ziger Jahren, die Hürde zu überwinden. Ebenso schaffte dies die Alternative für Deutschland 2017 und 2021.

Die Fünfprozentklausel ist ein sinnvoller Kompromiss zwischen den beiden Kriterien „Bildung regierungsfähiger Mehrheiten“ und „Repräsentation der politischen Rich tungen“, die in einem unaufhebbaren Spannungsverhält nis zueinander stehen – sinnvoll vor allem deshalb, weil sie alle Parteien mit über fünf Prozent proportional zu ihren Ergebnissen begünstigt und nicht von unberechenbaren Zufälligkeiten abhängt.

Immer wieder ist Kritik an der Klausel geübt worden. Sie sei undemokratisch, weil sie kleine politische Strö

33 IV/2022

Diese Gesichter könnten Sie kennen, denn die Personen geben im Fernsehen eine gute Figur ab: Christina Berndt, Alexander Kekulé, Christian Drosten, Timo Ulrichs, Frank Thelen (v.o.l.n.u.r.).

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BESSER WISSEN

Ob Klimawandel, Kriegsgeschehen, Pandemie oder Inflation: TV-EXPERTEN klären uns auf und geben Orientierung. Dafür brauchen sie auch Kompetenzen abseits ihres Fachbereichs.

VON KAI VON LINDEN

Dürfen Homosexuelle heiraten und adoptieren? Dürfen Ärzte über Abtreibungen informieren?

Wo verlaufen die Grenzen der Meinungsfreiheit?

Diese Fragen haben eines gemein: sie berüh ren moralische Überzeugungen, von denen jeder bean sprucht, welche zu haben. Jeder diskutiert munter mit. Man kann kaum komplett auf dem Holzweg sein, wenn es um Gefühle geht. Heute beschäftigen uns der Klima wandel, die Inflation, der Krieg in der Ukraine und noch immer das Coronavirus. Hier geht es nicht um einen mora lischen Kompass: Es gibt hier harte Fakten, herausgefun den von spezialisierten Wissenschaftlern. Die Forschung ist kompliziert und vom normalen Bürger kaum zu durch blicken. Wir brauchen jemanden, der die Sachlage ver steht und uns verständlich macht. Willkommen in der Republik der Gelehrten!

Vor allem im Fernsehen sind wir ständig mit Exper ten konfrontiert. Ob Krieg oder Klima, Philosophie oder Pandemie, ob Business oder Bits and Bytes. Die Zuschauer erwarten Aufklärung und bekommen sie durch Kenner des Faches. Doch sind sie das wirklich? Zuletzt ist die Qua lifikation von Fachleuten immer wieder in Zweifel gezo gen worden. Besonders hart hat es Frank Thelen erwischt. Der wird seit Jahren in Talkshows eingeladen, um den Deutschen die Wirtschaft zu erklären. Er kann mitreißend reden, leidenschaftlich streiten und hat keine Angst, unbe quem zu sein. Aus der Sicht einer TV-Redaktion könnte man knapp sagen: Er funktioniert. Bekannt machte ihn die TV-Show „Höhle der Löwen“, in der Startups ihre Pro dukte Investoren (den „Löwen“) präsentieren.

Wie kompetent der „Löwe“ Thelen jedoch als Investor ist, stellten Recherchen des „Manager Magazins“ und des Recherche-Teams „Strg_F“ zumindest in Frage. Aus vie len angekündigten Investments der ersten zwei Staffeln der Sendung realisierte er am Ende nur eine Handvoll. Von diesen Firmen rutschten wiederum die meisten in die Insolvenz. Auch Thelens Aktienfonds „10xDNA“ steht in der Kritik. Die Renditeträume von bis zu 200 Prozent in wenigen Jahren bewerten Branchenkenner als unseriös. Mit dem Crash der Technologieaktien im ersten Halbjahr 2022 muss der technologielastige Fonds einen Kursein bruch von über 40 Prozent verkraften. Die Kritik erreichte Thelen jüngst sogar in seinem Lieblingsrevier bei TV-Tal ker Markus Lanz, wo die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann ihn wegen seines verkürzten Verständnisses von Inflation geradezu vorführte.

Im Mediengeschäft zählen andere Qualitäten

Daniel Nölleke hat zum Thema „Experten im Jour nalismus“ promoviert. Vor allem die hemdsärmeligen TV-Kommentare des deutschen Rekordnationalspielers Lothar Matthäus haben sein Interesse an der Problema

41 IV/2022
politik & kommunikation 48
Der Saal des Tipis am Kanzleramt während der Preisverleihung. Gute Laune bei Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und dem SPD Chef Lars Klingbeil.

EINE POLITISCHE VERANSTALTUNG

Angesichts drängender Krisen konnte der diesjährige POLITIKAWARD nicht einfach ein Fest für die Berliner Bubble sein: Die Veranstaltung war selbst politisch. Und die Anwesenden bewiesen, dass Politikerinnen und Politiker in Deutschland über Parteigrenzen miteinander reden – und sich sogar nette Worte sagen.

Was wir gerade auf den Straßen des Irans sehen, ist, wie dankbar wir sein können, Politikerin und Politiker in einer Demokratie zu sein, wo ich wenn ich was sage und auf die Straße gehe, nie mals die Sorge haben muss, dass meine Kinder mir wegge nommen werden oder dass ich abgeholt werde, ins Gefäng nis geschleppt werde und dort vergewaltigt werde“. Mit diesen deutlichen Worten stellte sich die frischgebackene Politikerin des Jahres, Bundesaußenministerin Annalena

Baerbock (Grüne), an die Seite der Frauen und Männer, die derzeit unter Einsatz ihres Lebens in der Islamischen Republik Iran für Freiheit, Demokratie und Menschen rechte kämpfen. „Deswegen ist heute ein Abend“, fuhr sie fort, „an dem man sagen kann: All unsere Politik-Preise zusammen, die widmen wir den mutigen Frauen im Iran. Wir werden an ihrer Seite stehen, auch wenn das Internet weiter abgeschaltet wird und erst recht, wenn das Regime noch brutaler vorgeht.“

49 IV/2022
Norbert Lammert (CDU, Ehrenpreisträger für das Lebenswerk) im Gespräch mit dem ehemaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk.

„ICH WAR AUF EINMAL EINER DER BESTANGEZOGENEN MÄNNER IM BUNDESTAG“

NORBERT LAMMERT hat den Politikaward­Ehrenpreis fürs Lebenswerk erhalten. Im Interview mit p&k erzählt der langjährige Bundestagspräsident, warum er keinen Ministerposten wollte, warum Parlamentsreisen ohne Presse besser sind und ob er zur Fußball­WM nach Katar gefahren wäre.

Herr Lammert, Sie wurden im Oktober mit dem Politikaward für Ihr Lebenswerk geehrt. Was sehen Sie denn eigentlich als Ihr Lebenswerk?

Ich habe keine Neigung, das selber zu schildern oder gar zu beurteilen. Wenn man solche Preise bekommt, nimmt man sie mit einer Mischung aus Begeisterung und Bestürzung wahr. Begeisterung, dass Leute das für preis würdig halten; und Bestürzung, weil es – ich habe das so ähnlich auch in meiner Dankesrede gesagt – so etwas wie die notarielle Beurkundung ist: „Junge, jetzt ist es aber auch gut.“

Ab einem bestimmten Zeitpunkt arbeitet doch jeder an einer Überschrift für seine politische Karriere. Haben Sie nie darüber nachgedacht, welche das bei Ihnen sein könnte?

Nein, schon gar nicht in der aktiven Zeit. Mal abge sehen davon, dass wahrscheinlich keine andere profes sionelle Laufbahn weniger planbar ist als eine politische. Dabei war ganz sicher meine letzte und auch längste Funk tion als Parlamentspräsident das Amt, das mir auf den Leib geschneidert war. Man wird nicht für zehn oder in die sem Fall für zwölf Jahre in eine solche Funktion gewählt, sondern für eine Legislaturperiode. Ob das dann in eine zweite oder gar dritte führt, ist nicht planbar. Das ist so eine typische Betrachtungsperspektive von Historikern

und auch von Journalisten, Schubladen zu finden, in die dann das jeweilige Opfer passt.

Nun, wir haben es versucht. Sie waren 37 Jahre lang Bundestagsabgeordneter. Wie hat sich die Arbeit der Abgeordneten verändert?

Es hat natürlich beachtliche Veränderungen gegeben: Als ich 1980 im Deutschen Bundestag begonnen habe, war von Digitalisierung noch überhaupt keine Rede. Wenn heute jemand in den Bundestag gewählt wird, wundert er sich eher, dass noch irgendwo Papier herumliegt. Ich war aber überrascht, dass wir beim Umzug von Parlament und Regierung von der Puppenstube Bonn auf die große Bühne in Berlin die gleiche Inszenierung übersetzen konn ten. Die Anzahl der Sitzungswochen und deren Abläufe folgen mit einer erstaunlichen Konsequenz den in Bonn entwickelten Strukturen und Ritualen. Zudem werden bei jeder Wahl im Durchschnitt 25 bis 30 Prozent der Abge ordneten ausgewechselt. Manches, was bei Kurzzeitbe trachtungen als große Veränderung erscheint, erweist sich im Zeitvergleich als eher typische – gesellschaftliche Ver änderungen haben sich jedenfalls sehr zeitnah niederge schlagen, auch modische Entwicklungen.

Modische?

Ja, klar. Ich bin vermutlich der letzte Bundestagspräsi dent gewesen, der mit Mühe, aber erfolgreich sicherstel

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INTERVIEW JUDIT CECH UND KONRAD GÖKE
55 iV/2022
Norbert Lammert in seinem Büro bei der Konrad Adenauer Stiftung in Berlin.
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EIN OFFENES OHR

Es heißt, die grün und rot geführten Ministerien der AMPEL-REGIERUNG lassen Wirtschaftsverbände am langen Arm verhungern und sind für die Botschaften von Umwelt­NGOs und Verbraucherschützern umso empfänglicher. Doch was ist dran an der Neugewichtung der Lobby Mächte?

Für viele der Gründerinnen und Seniorchefs war es die erste Demo ihres Lebens. Doch die Mitglieder des Wirtschaftsverbands „Die Familienunterneh mer“ hatten sich auf ihre Protestaktion auf dem Bonner Parteitag der Grünen Mitte Oktober gut vorbe reitet. Auf Bannern und Plakaten trugen sie Sprüche vor sich her, bei denen Klimaschützer wohl mindestens die Stirn runzeln dürften: „Stoppt das Artensterben im Mit telstand“ etwa, und „Es gibt keine Wirtschaft B“. Die Grü nen müssten endlich aufwachen, so das erklärte Ziel der Unternehmeroffensive. Sie müssten doch einsehen, dass der geplante Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft in Zeiten der Krise „anachronistische Blütenträumerei“ sei, wie sich Verbands-Hauptgeschäftsführer Albrecht von der Hagen bei „RP Online“ zitieren ließ.

Er ist bei Weitem nicht der einzige Wirtschaftslob byist, der sich derzeit nicht gehört fühlt. Energiekrise und Gasumlage, Corona-Schließungen und Homeof fice – für viele Interessenvertreter von Industrie- und Arbeitgeberseite sind das längst Reizthemen. Der Vorwurf an die Ampel-Regierung lautet: Ihr hört uns

nicht ausreichend zu, berücksichtigt vornehmlich Inter essen von Arbeitnehmer-, Verbraucher-, und Umweltorga nisationen. Vor allem das Verhältnis der Wirtschaftslobby zum Bundeswirtschaftsministerium (BMWK), geführt von Robert Habeck (Grüne), gilt als angeknackst. „Die Honey moon-Phase zwischen Wirtschaft und Wirtschaftsminis ter ist vorbei“, schrieb die „Welt“ Ende September. Nach dem Unternehmer den Minister anfangs für dessen Prag matismus und Hemdsärmeligkeit gelobt hatten, führte der Energie-Konflikt zum Zerwürfnis. Und das legte auch Unmut bei anderen Themen offen, etwa der China-Poli tik, die manche Manager als „missionarisch“ empfinden, wie es im Beitrag heißt.

„Die Kritik an der Entscheidungsfindung beispiels weise bei der Ausgestaltung der Gasumlage teilen wir“, sagt Andreas Jahn, Leiter der Abteilung Politik beim Bundesverband Der Mittelstand (BVMW) auf p&k-An frage. Nicht zuletzt auch aufgrund der politischen Ent scheidungen zur Gasumlage sehe sich der Mittelstand in seiner Sorge nicht ernst genommen „und auch in seiner Existenz bedroht“. Zwar begrüße man,

65 IV/2022
„Der Mittelstand fühlt sich nicht ernst genommen.“
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