Investment und Gemeinsinn

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Themenheft von Hochparterre, Dezember 2020

Investment und Gemeinsinn Die Stiftung Abendrot investiert Rentengeld in Immobilien. Dabei setzt sie auf Bestehendes und Kooperation.

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Lagerplatz Winterthur: In alten Bauten rentiert auch eine Zirkus- und Theaterschule.

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Editorial

Inhalt

4 Zentralschweizer Mischteig Von der verlassenen Teigwarenfabrik zum lebendigen Quartier: die Teiggi in Kriens.

12 « Viel Geld sorgt für Zwiespalt » Monika Bütler und Rudolf Rechsteiner über die Auswirkungen der zweiten Säule auf Mietzinsen und Wohnungsleerstände.

14 Massgefertigte Feinmechanik Von der gezimmerten Zwischennutzung zum Sofortwohnraum: die Binz 111 in Zürich.

2 2 Schweizer Pensionskassen und die Stiftung Abendrot Ein infografischer Vergleich.

2 4 Die Insel am Gleismeer Vom Industrieareal zum urbanen Brennpunkt: der Lagerplatz in Winterthur.

3 2 « Nachhaltigkeit ist ein Marathonlauf » Birgit Hattenkofer und Sasha Cisar über Labels, Klimaziele und die Wiederverwertung von Bauteilen.

3 4 Orte schaffen – und den Spagat Vom Zuschussbetrieb zur mittelgrossen Arealentwicklerin: die Geschichte der Stiftung Abendrot.

38 Projektschau Neun aktuelle Projekte der Stiftung Abendrot.

Gemeinsam entwickeln

Im Januar 2020 zog sich Hochparterre einen Tag zurück und diskutierte die Klimakrise. Wie sollen wir als kleines Medienunternehmen das Metathema behandeln, wie dabei klingen – und was können wir selbst tun ? Ökopapier und plastikfreier Versand sind gut, kein Fleisch an unseren Veranstaltungen ebenso. Aber der Klimaexperte, der uns begleitete, sagte: Prüft besser die gros­sen Hebel, zum Beispiel, wo euer Rentengeld liegt. Tut es Gutes oder mehrt es sich mit fossilen Energieträgern und Rüstungsgütern ? Da waren wir erleichtert, liegt Hochparterres Altersvorsorgekapital doch bei der Stiftung Abendrot in Basel. Die Sammelstiftung, die sich ‹ die nachhaltige Pensionskasse › nennt, ist so alt wie das Pensionskassenobligatorium. 1984 von ein paar Rebellinnen gegründet konnte die Stiftung anfangs nicht einmal daran denken, Häuser zu kaufen. Heute hat sie mehr als eine halbe Milliarde Franken in Immobilien angelegt, 120 Millionen in laufenden Projekten und mehr als 150 Millionen in gesicherten Investitionen für die nächsten Jahre. Häuser kauft sie nur noch selten, meist entwickelt die Stiftung ganze Areale. Dabei setzt sie auf die Bauten und Menschen, die schon dort sind, oder auf solche, die zwar kein Geld, aber sinnvolle Ideen haben. Nachhaltigkeit heisst dabei: selbstbestimmte Lebensräume zum Wohnen und Arbeiten, Werken und Lernen, Bewegen und Feiern. Energielabels und Haustechnik stehen an zweiter Stelle. Die Rendite stimmt trotzdem. Dieses Heft porträtiert die Stiftung Abendrot in Wort, Bild und Zahlen, zeigt ihr Wachstum und wie sie den Zielkonflikten der Nachhaltigkeit begegnet. Den Schwerpunkt bilden drei Reportagen aus Kriens, Winterthur und Zürich. Dazu kommen zwei Gespräche zur Ökonomie der zweiten Säule und zu nachhaltigen Immobilieninvestments, ein Essay zur Pionierzeit und eine Projektschau sowie eine Info­grafik über Abendrot und den Schweizer Pensionskassenmarkt. Der Berner Fotograf Ephraim Bieri hat die vielen Orte und Menschen besucht.  Palle Petersen

Cover In der Teiggi in Kriens gibt es Platz zum Wohnen, Arbeiten, Essen – und zum Boxen. Backcover Blick in eine Studentenwohnung in der Binz 111 in Zürich.

Impressum Verlag  Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH – 8005 Zürich, Telefon + 41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger  Köbi Gantenbein  Geschäftsleitung  Lilia Glanzmann, Werner Huber, Agnes Schmid  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie  Ephraim Bieri, www.ephraimbieri.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Sara Sidler  Produktion  Linda Malzacher  Korrektorat  Marion Elmer, Lorena Nipkow  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Stiftung Abendrot Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Harry van der Meijs und Simone Blank von der Genossenschaft Wohnwerk mit der Architektin Daniela Banholzer vor der Siedlung Teiggi in Kriens.

Zentralschweizer Mischteig Nach fünfzig Jahren Zwischennutzung ist auf dem Areal einer einstigen Teigwarenfabrik in Kriens eine lebendige Genossenschaftssiedlung für Wohnen und Gewerbe entstanden. Text: Axel Simon

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Im bürgerlich geprägten Luzerner Umland macht sich die Teiggi aus wie eine Promenadenmischung in einem Dackelzüchterverein. Entspannt unangepasst liegt die Genossenschaftssiedlung im Zentrum von K ­ riens, erstreckt sich grau zwischen dem goldenen Raster des neuen Stadthauses und den Hüsli am Sonnenberg. Bis in die 1960er-Jahre wurden auf dem Areal Teigwaren produziert. Heute wohnt und arbeitet, spielt und braut man in den Altund Neubauten um einen grossen Hof. Den Pilatus im Blick dauert die Velofahrt vom Bahnhof Luzern zu den 69 Wohnungen, 19 Wohn- und 25 Werkstattateliers der Teiggi keine Viertelstunde. Dann stehen wir vor dem Doppelkopf der Siedlung in Richtung Haupt­ stras­s e. Der höhere Kopf gehört zu einer Wohnmaschine mit breiten Laubengängen auf Stras­sen-­und Hof­seite, der andere zu einer niedrigeren, aber mehr als hundert Meter langen Schlange aus meist alten Gebäuden. Am Ende des Hofs steht ein einzelnes, hohes Haus, unser erstes Ziel. 13.30 Uhr: Der Politiker So wohnt ein Stadtpräsident ? Im hellen Treppenhaus stehen Schuhe und Kram vor einfachem Sichtbeton. Der Präsident trägt Birkenstocksandalen und gestrickte Socken – klar, ein Grüner. Doch bald ist Schluss mit den Klischees, denn nicht umsonst leitet Cyrill Wiget einen Zentralschweizer Stadtrat. Er ist Unternehmer mit zwei Dutzend Mitarbeitern und einem Velogeschäft, das auch italienischen Wein verkauft. Mit Frau und drei Teen­agern wohnt er in einer der 17 Eigentumswohnungen der Teiggi. Als die Stiftung Abendrot und der Verein Wohnwerk 2013 den Zuschlag für das Areal erhielten, war der Stadtnoch ein Gemeinderat und Wiget Teil davon. Er erinnert sich: « Diese Planung war die einzige städtebauliche Vision. » Die hohe Qualität des Wohnwerk-Projekts führte zu einer Nachbieterrunde, und am Ende bekam die Gemeinde den höchsten Preis und das beste Projekt. Dass Abendrot mit an Bord war, habe bei seinen bürgerlichen Kollegen für Vertrauen gesorgt. Trotzdem forderte die Stadt einen Anteil an Eigentumswohnungen. Privilegien haben die Eigentümer aber keine. Die Wigets gehen auf dem gleichen Parkettboden und kochen auf den gleichen Küchengeräten wie ihre Miete zahlenden Nachbarn. Sie sind Genossenschafter, und die Belegungsvorschriften galten bei der Vermarktung auch für sie. Das Mobilitätskonzept regelt, in welchem Fall ein Auto erlaubt ist – und wer eins besitzen möchte, darf einen der dreissig Tiefgaragenplätze mieten. Das grüne Geviert vor dem Eigentumshaus ist kein Privatgarten, sondern offener Teil des Hofs. « Unser Besitz hört an der Fassade auf », sagt Wiget. Und doch gehört der Familie viel mehr als die relativ knappe 4 ½-Zimmer-Wohnung plus ein weiterer Raum für das älteste Kind. Neben der Waschküche im Erdgeschoss die Einrichtungen der gesamten Siedlung: Garten und Hof, der Gemeinschaftsraum im Altbau, die gros­se Dachterrasse gegenüber, die Werkstatt gleich nebenan. Zum vielen Gewerbe in der Siedlung gehört auch ein Raum, in dem Cyrill Wigets Team Cargobikes und Rikschas montiert.

dessen Miete, denn wirtschaftlich laufe der Quartiertreffpunkt noch nicht wie erhofft. Freiwillige helfen, Kaffee zu servieren oder Bücher zu verkaufen. Die Wohnungen der Teiggi sind gefragt. « B ei der Er­ öffnung waren schon achtzig Prozent vergeben », erzählt die Genossenschaftsfrau im Treppenhaus, und das, ob­ wohl Kriens den höchsten Wohnungsleerstand im Kan­ ton habe. Noch heute erhalte sie zwei Anfragen pro Woche. Einige Einfamilienhausbesitzer hätten ihr Haus an die nächste Generation übergeben und seien in eine Teiggi-Wohnung gezogen. Zum Beispiel eine kürzlich verstorbene Bewohnerin. Die fast Neunzigjährige habe ihre helle Freude gehabt am loftartigen Raum mit den vielen Fenstern und dem Sichtbeton ganz oben im kleineren Neubau. Von hier aus sah sie auf den grünen Hang mit den Einfamilienhäusern und die ‹ Direktorenvilla › davor. Das Haus von 1801 hatte ihren Verwandten gehört, den Gründern der Teigwarenfabrik. Im kräftig umgebauten Altbau daneben wohnen jetzt Familien in Maisonettes. Für 5 ½ Zimmer mit 120 Qua­drat­metern über zwei hohe Geschosse zahlen sie monatlich 2800 Franken inklusive Nebenkosten. Eine 4 ½-­Zim­mer-­Woh­nung im Neubau kostet rund 2400 Franken. Egal ob Se­ni­o­ren­loft oder 9-­Zim­mer- ­Clus­t er­woh­nung: Alle Wohnungen betritt man über breite Laubengänge, die gleichzeitig als Terrasse dienen. Hier stehen Pflanztöpfe und Bierharassen, Tische und Stühle. Quer über den Hof haben Kinder eine kleine Korbseilbahn gespannt. Simone Blank schliesst die nächste Tür auf. « Hier gibt es viele schön eingerichtete Wohnungen. » Kunst hängt an den Betonwänden, davor stehen geschmackvolle Möbel. Die Teiggi-­B ewohner­s chaft ist kreativ, mittelständisch und politisch eher links. Ja, es sei homogener als gewollt, bestätigt Blank. Zwar gebe es Jung und Alt, und in den dreis­sig Wohnungstypen wohnen auch recht unterschiedliche Menschen. Doch Migrationserfahrung aus­s er­halb der EU hätten zum Beispiel nur wenige. Ein Soli-Fonds, in den alle ein Prozent ihrer Miete einzahlen, helfe Menschen, deren Portemonnaie temporär knapp gefüllt sei.

15 Uhr: Die Gewerbler Im hintersten, nur sanft sanierten Altbau sind die Mieten günstig, darum sind hier einige Gewerbebetriebe angesiedelt. Oben im Mittelrisalit stellen zwei Frauen Seife her. Im Keller darunter trainieren gerade Boxer. Im Erdgeschoss des Neubaus gegenüber werkelt Christoph Lehmann an seiner Espressomaschine. Vintage – der Fotograf ist begeistert. Der Raum vor der kleinen Küche öffnet sich in das Geschoss darüber. Erst seit anderthalb Monaten lebt Lehmann in dem kleinen Wohnatelier, das er so effizient eingerichtet hat wie ein Sackmesser: Auf der Empore steht eine hölzerne Liege, auf der er mit Akupunktur und Tuina-Massagen sein Geld verdient. Links davon Gitarren und ein Keyboard im Wohn-, Schlaf- und Musik­raum. Ist es warm, erweitert sich die Küche in den Hof: Sofas auf Holzrosten, bunte Gläser im Ikea-Regal, viele Velos davor. An Drähten wachsen Schlingpflanzen empor. Auf der virtuos gezimmerten Holzterrasse daneben trinkt ein Künstlerpaar ein Nachmittagsbier. Die beiden le14 Uhr: Die Organisatorin Wenn Simone Blank im wehenden weissen Kleid über ben in einem gros­sen Wohnatelier mit Holzbildhauerwerkden Hof geht, nehmen die « Hallo ! » und « Wie geht’s ? » kein statt, Ölbilderlager und einer verwunschenen WohnlandEnde. Für das Wohnwerk regelt sie in der Teiggi die Ver- schaft an der Rückseite. Ihr Gartenstreifen liegt unterhalb mietung sowie Gemeinschaftsaktionen und -räume. Be- einer historischen Stützmauer entlang der Quar­tier­stras­ wohnergruppen haben die Dachterrasse bepflanzt, die se. Keine Zäune trennen die grün wuchernden Einheiten. Pflanzkübel im Hof aus Beton gegossen oder die bunten Man lebt und arbeitet zusammen. Der Bootsbauer und die Wimpel über dem Hof bemalt. All das hat Blank begleitet. Grafikerin, die Polsterin und der Fitnesstrainer. In einem Ihr Wohnwerk-Büro ist kürzlich von einer der Altbauten kleinen Laden werden griechisches Olivenöl und Wein verauf die Galerie des Buchcafés gezogen. So reduzierte sich kauft. Die Miete pro Quadratmeter ist etwa gleich, egal →

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Am Eingang des Hofs bei Marcello gibt es die beste Pizza von Kriens.

→ ob für die Wohnung im vierten Obergeschoss oder das Atelier am Hof. Ein paar Gewerbler waren schon während der Zwischennutzung des Areals dabei. 16 Uhr: Der Genossenschaftspräsident Ein ausgestopfter Fuchs schaut vom Regal hinunter, als wolle er auch eine Gasparini-Glace. Vom Tisch vor dem Buchcafé haben wir den ganzen Hof im Blick. Harry van der Meijs ist noch etwas ausser Atem. Die drei Kilometer von der Geschäftsstelle des Wohnwerks hierher ist der Holländer zügig geradelt. Dort, an der In­dus­trie­stras­s e, hat er auch sein kleines Architekturbüro. Und dort gründeten er und seine Mitstreiterinnen den Verein, aus dem dann eine Genossenschaft wurde – ursprünglich nicht für die Teiggi, sondern für das In­dus­t rie­stras­se-­Areal im Luzerner Tribschenquartier, das zum abgeriegelten Logistikzentrum zu werden drohte. Parallel zu dieser Initiative nahmen die Wohnwerkerinnen an der Ausschreibung in ­Kriens teil – und waren bei beiden erfolgreich. Hier auch dank der Stiftung Abendrot. Van der Meijs hatte sich das Konzept zusammen mit Christian Geser, der heute die Immobilienabteilung der Stiftung leitet, und dem Zürcher Genossenschaftsinnovator Andreas Hofer ausgedacht. « Wir kannten uns von früher. Und Abendrot suchte engagierte Partner in der Zen­tral­schweiz. So wurden wir uns schnell einig. » Das Prinzip: Die Stiftung finanziert vor, das Wohnwerk übernimmt die Nutzerseite und beteiligt sich später am Eigentum. Win-win. Für den Erfolg hat der Genossenschaftspräsident mit der John-Lennon-Sonnenbrille mehrere Erklärungen. Ebenso wichtig wie Abendrot im Boot sei die Vernetzung gewesen, für die das Wohnwerk stand. Dass die Frau eines SVP-Stadtrats Holländerin war, habe vielleicht am Rande geholfen. Seit fünfzig Jahren war das Areal in öffentlichem Besitz – und ebenso lang wurde es zwischengenutzt: als Jugendzentrum und Baulager, für Kultur- und Proberäume. Für die Zeit vor der Baustelle schloss die Stadt mit dem Wohnwerk einen Gebrauchsleihevertrag ab. Mit den Vereinen, den Künstlerinnen und Handwerkern, die sich angesiedelt hatten, fand die Genossenschaft einen guten Umgang. Die, die es sich leisten konnten, sind noch immer dabei. Vernetzung auch über die Arealgrenzen hinaus: Das benachbarte Museum im Bellpark zeigte die Ausstellung

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‹ Basta Pasta › zur Industriegeschichte von Kriens und unterstützte die Aufarbeitung der Arealgeschichte. Mit der gerade fertiggestellten Alterssiedlung nebenan tauschte die Genossenschaft die Nutzungen im Baurechtsvertrag: Bistro gegen Kita. 17 Uhr: Die Architektin Vor dem Virus stauten sich die Gäste freitagabends dicht an dicht vor der Brauereiwerkstatt Kriens im Hof. Heute sitzt man in gesittetem Abstand an Tischen an der Stras­se. Der Raum, in dem ein Dutzend Kessel stehen, war einst die Hofdurchfahrt. Getreide hinein, Nudeln hinaus. Schienen im Asphalt erzählen von dieser Zeit. Bier ist sonst nicht Daniela Banholzers Ding. Wenn sie nicht gerade in Sachen Wein durch Europa reist, leitet sie die Ausführungsabteilung des Luzerner Architekturbüros Lengacher Emmenegger Partner. Dieses plante neben der Teiggi die beiden angrenzenden Siedlungen, denn 2009 hatte es den städtebaulichen Wettbewerb gewonnen. Der Bebauungsplan bestimmte die Volumen des Investorenwettbewerbs von 2013. Als Wohn­werk und Abendrot übernahmen, planten die Architek­tin­nen weiter, vieles nun partizipativ. Die Teiggi mit ihren verschiedenen Baukörpern, Typologien und Umbauten, ihrem hohen ökologischen und noch höheren sozialen Anspruch sei ein herausforderndes Projekt gewesen. Schliesslich lag der Kostenvor­anschlag dreis­sig Prozent höher als zu Beginn. Um die Gemeinschaftseinrichtungen zu retten, holte die Bauherrschaft eine Totalunternehmerin an Bord. Fünfzig Baukommissionssitzungen und harte Auseinandersetzungen folgten, erinnert sich Daniela Banholzer. « Es war intensiv, aber das Ziel wurde nie infrage gestellt. » Sie musste alles Unwesentliche aus ihrem Entwurf streichen. Heute spricht sie von einem Befreiungsschlag: « Die Frage war: Wie viel können wir weglassen, ohne dass es auseinanderfällt ? » So kamen die Teiggi-Bauten zu ihrer rauen Erscheinung: einfache Betonwände und -decken im Innern, verzinkter Stahl an Laubengängen und Log­gien. Verschiedene Grautöne versuchen, der unschlagbar günstigen Putzfassade etwas Charakter zu entlocken. Beim älteren Nachbarn gegenüber fährt ein Glaslift die Stras­sen­ecke hoch. Die violetten Gesimse sprechen für frühe 1980er-­Jahre. Auch den Häusern der Teiggi wird man ihre Entstehungszeit ansehen. →

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Im Gemeinschaftsraum der Teiggi finden auch Kindergeburtstage und Kochkurse statt. Themenheft von Hochparterre, Dezember 2020 —  Investment und Gemeinsinn — Zentralschweizer Mischteig

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4. / 5. Obergeschoss

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4. und 5. Obergeschoss 4. / 5. Obergeschoss

1. / 2. / 3. Obergeschoss N

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Erdgeschoss

Wohnwerk Teiggi, 2018 Schachenstrasse 15 a – c, Degenstrasse 1 – 3, Kriens LU Bauherrenvertretung:  Hämmerle & Partner, Zürich Totalunternehmerin:  Anliker, Emmenbrücke Architektur: Lengacher Emmenegger Partner, Luzern Bauingenieur:  Blesshess, Luzern

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Landschaftsarchitektur:  Lorenz Eugster, Zürich Fläche:  6424 m² Ausnützungsziffer: 1,76 Investitionskosten:  Fr. 42,6 Mio. Gesamtkosten ( BKP 1 – 9 ):  Fr. 30,5 Mio. Baukosten ( BKP 2 / m² ):  Fr. 510.—

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1. Obergeschoss

2. Obergeschoss

1. und 2. Obergeschoss

3. Obergeschoss mit Dachterrasse

Garten Brauerei Gemeinschaftsraum Kita Pizzeria Buchcafé Tiefgarageneinfahrt Neubau mit Eigentumswohnungen und -ateliers grosser Neubau sanft sanierter Altbau stärker sanierter Altbau kleinerer Neubau

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Meilensteine 2013 Gewinn Investorenwettbewerb, Gründung Baugenossenschaft Wohnwerk 2014 kommunale Abstimmung, Abschluss Kaufvertrag 2016 Baueingabe, Baubewilligung, Baubeginn 2018 Bezug, Einrichtung Siedlungs­ werkstatt, Eröffnungsfest 2019 zweites Teiggi-Fest 2020 Erstellung Dachterrasse und Gemeinschaftsgarten, Einrichtung Gemeinschaftsraum

Lob der Einfachheit: Betondecken und unbehandeltes Klötzliparkett in einer der Wohnungen.

18 Uhr: Der Hof Als wir über den Hof gehen, stürmt eine Gruppe Kinder auf der Suche nach einem Prinzessinnenschatz aus dem Gemeinschaftsraum. Im gros­sen Raum im Erdgeschoss des Altbaus finden Kindergeburtstage und Kochkurse statt. Während des Corona-Lockdowns machten einige Eltern Kindergarten und Schulzimmer daraus. Vor dem Fenster spritzen sich Kita-Kinder kreischend mit einem Wasserschlauch ab. Nur die Hälfte von ihnen wohnt in der Teiggi. Die Pizzeria ‹ Da Marcello › liegt im Gebäudekopf Richtung Zentrum, vis-à-vis dem Buchcafé. Eigentlich ein Take-­away stehen – Corona sei Dank – einige Tische davor. Plakate kündigen Konzerte an, jeden Sonntag um fünf gibt es Jazzmusik zur « besten Pizza der Zentralschweiz », wie die Siedlungswebsite selbstbewusst verkündet. Nach den ersten Bissen stimmen wir zu. Beim Gespräch über die Bedeutung der Teiggi ist sich die Runde ebenso einig:

Sie habe in der Stadt einiges in Bewegung gesetzt. Zwar sei sie eine Insel. Visuell exotisch. Und manchmal gehe es abends etwas lauter zu als in der ansonsten eher ruhigen Nachbarschaft. Doch die meisten sehen das Experiment positiv. Eine Quer­stras­s e weiter läuft gerade der nächste städtebauliche Wettbewerb für ein ehemaliges In­dus­ trie­areal. Gemeinnütziger Bauträger, Zwischennutzung. ­Kriens hat von der Teiggi gelernt. Eigentlich hätten sich die Menschen dieser Reportage im ‹ Da Marcello › zu einem abschliessenden Pasta-­Znacht treffen sollen. Doch Marcello hat nur Pizza. Zwischen zwei Bissen erinnert Verwalterin Simone den Noch-Präsidenten Harry daran, dass sie vor einigen Jahren eine Pasta­ maschine gekauft hätten. Noch ist diese bei einem Luzerner Störkoch in Pflege. Bald will die Genossenschaft sie mit den Bewohnern im Gemeinschaftsraum wieder in Betrieb nehmen. Dann gibt es wieder Teiggis aus der Teiggi.

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Die Polsterin arbeitet in einer der 25 Werkstätten der Teiggi.

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« Viel Geld sorgt für Zwiespalt » Die Zinsen liegen flach. Die Aktienkurse schwanken schwindelerregend. Immobilien sollen sichere Renditen garantieren. Wie lange kann das ökonomisch gut gehen ? Interview: Thomas Müller

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Vor gut 35 Jahren kam das Pensionskassenobligatorium. Was ging Ihnen damals durch den Kopf ? Rudolf Rechsteiner:  Mir fiel auf, dass man die betriebliche Altersvorsorge vor allem aus der Optik der Versicherungen und Banken konzipiert hatte. ‹ Das 200-Milliarden-Geschäft › lautete der Titel meines damaligen Buchs. Völlig übertrieben, diese Zahl, hiess es weitherum. Die Summe der Vorsorgegelder von Pensionskassen und Versicherungen lag damals bei etwa 40 Milliarden Franken. Heute sind es etwa 1200 Milliarden ! Drei Viertel entfallen auf das Zwangssparen in den Pensionskassen. Diese enormen Summen führen zu hohen Risiken und unerwünschten Nebeneffekten. Viel Geld liegt in Immobilien und sorgt für einen Zwiespalt: Als Mieterin ist man froh um eine möglichst tiefe Miete. Zugleich erwartet man als versicherte Person einen hohen Ertrag, der die Rente sichert. Übertriebenes Zwangssparen mit Nebenwirkungen – Monika Bütler, teilen Sie diese Diagnose ? Monika Bütler: 1200 Milliarden Franken klingen nach sehr viel. Doch pro Kopf der Schweizer Bevölkerung sind das bloss 140 000 Franken. Bei einem Medianalter von 43 Jahren ist das gar nicht so viel. Wenn berücksichtigt wird, dass viele Versicherte deutlich weniger als diesen Durchschnittsbetrag ansparen konnten, kann von einem exorbitanten Pensionskassenvermögen nicht die Rede sein. Und wenn wir den Anstieg der letzten 35 Jahre betrachten, dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Wirtschaftsleistung stark gestiegen ist. Pensionskassen leiden unter Anlagenotstand. Obligationen werfen nichts mehr ab, Aktien sind teuer und absturzgefährdet. Was bleibt, sind Liegenschaften. Sie versprechen eine stabile

Rendite. Pro Jahr pumpen die Pensionskassen etwa sieben Milliarden Franken in den Schweizer Immobilienmarkt. Was löst das aus ? Rudolf Rechsteiner:  Das zwangsgesparte Geld treibt die Preise der Liegenschaften in die Höhe. In Basel hatten wir einige dramatische Leerkündigungen. Hunderte Menschen, oft jahrzehntelange Mieter und einige über neunzig Jahre alt, wurden auf die Stras­s e gestellt. Wer alte Überbauungen leerkündigt, saniert und anschliessend neu vermietet, kann die Mieten kräftig anheben und damit schöne Renditen erwirtschaften. Für einen Teil der Bevölkerung ist die Miete dann nicht mehr tragbar. Allerdings gehören die Pensionskassen nicht zu den schlimmsten Miet­zins­ treibern. Im Gegenteil: Sie orientieren sich an der Durchschnittsmieterin, investieren langfristig und bauen meist gross und an guten Lagen – was der Zersiedelung der Schweiz entgegenwirkt. Und manche, etwa die Pensionskasse Basel-Stadt oder die Stiftung Abendrot, verzichten auf Leerkündigungen oder geben vor Sanierungen Mietzinsgarantien ab. Ein guter Teil der Rente geht im Alter also flöten, um überhöhte Mieten zu bezahlen ? Monika Bütler:  Diese Gleichung geht nicht auf. Das zeigt sich, wenn man die sieben Milliarden Franken im Verhältnis betrachtet: Die Bauwirtschaft trägt pro Jahr etwa sechzig bis siebzig Milliarden Franken zur Wirtschaftsleistung der Schweiz bei. Da sind zwar einige Bereiche enthalten, die nur indirekt mit Immobilien zusammenhängen. Doch selbst wenn das einberechnet wird, ist klar: Die Pensionskassen sind nur eine Spielerin unter vielen. Sie bestimmen die Marktpreise nicht. Rudolf Rechsteiner: Es hat auch Vorteile, wenn viel Kapital in den Immobilienmarkt fliesst: Das Wohnungsangebot steigt. Der aktuelle Leerstand von zwei Prozent ist für die Mieterschaft ein Segen. Wer zu viel zahlt, hat realistische Chancen, eine preiswertere Wohnung zu finden.

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Monika Bütler ( 59 ) ist Professorin für Volks­wirt­ schafts­lehre an der Uni­ versität St. Gallen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Sozial­ versicherungen und die von ihnen ausgehenden An­ reize. Sie sitzt im Bankrat der Schweizerischen Nationalbank, im Verwaltungsrat der Schindler Holding und im Leitungsteam der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce.

Rudolf Rechsteiner ( 62 ) ist Ökonom und Mitbegründer der Stiftung Abendrot. Als SP-Nationalrat gestaltete er von 2002 bis 2006 die erste Revision des Pensionskassengesetzes mit. Er führt ein Beratungsbüro in Basel, sitzt im Verwaltungsrat der Pensionskasse Basel-Stadt und prä­si­diert die Stiftung Ethos, die 226 Pensionskassen und gemeinnützige Stiftungen vertritt.

Ist es volkswirtschaftlich sinnvoll, ein Fünftel der Pensionskassengelder in Immobilien zu investieren ? Monika Bütler:  Um diese Frage korrekt beantworten zu können, müssten wir wissen, was passiert wäre, wenn es die Pensionskassen nicht gäbe. Hätten wir weniger gebaut ? Ich glaube nicht. Die Bautätigkeit ist stark davon getrieben, wie viel wir verdienen, was wir an Wohnraum nachfragen oder wie gross die Einwanderung ist. Ob via Pensionskassen oder anders investiert wird, ist zweitrangig. Es geht mir wohl wie vielen anderen: Für das Alter spare ich vor allem über meine Pensionskasse. Hätte ich weniger Geld in der Pensionskasse, würde ich selbst mehr Rück­lagen bilden und dabei wohl auch in Immobilien investieren.

« Die Leistungen aus der zweiten Säule sind sehr ungleich verteilt »  Rudolf Rechsteiner

Rudolf Rechsteiner: Das Problem ist doch ein generelles: Gemessen am BIP ist die zweite Säule heute anlageseitig überdimensioniert, und die Absicherung der Einnahmen wird bei sinkenden Renditen schwieriger. Hier etwas zu reduzieren und dafür die AHV zu justieren, wäre prüfenswert. Die Verfassung verlangt, dass die zweite Säule zusammen mit der AHV den Lebensbedarf decken soll – nicht irgendein fiktionales Reich-sein-Bedürfnis. Um in der Schweiz zu leben, braucht ein Rentnerhaushalt pro Monat etwa 5000 Franken, auf dem Land etwas weniger, in der Stadt etwas mehr. Das reicht. Heute sind die Leistungen aus der zweiten Säule sehr ungleich verteilt. Monika Bütler:  Ich bin nicht der Meinung, dass wir generell zu viel via zweite Säule sparen. In der Schweiz machen die Pensionskassengelder 127 Prozent des Bruttoinlandpro-

« Die Immobilien könnten mittelfristig an Wert verlieren »  Monika Bütler dukts aus. Andere Staaten wie die Niederlande kommen auf 215 Prozent. Und in der Schweiz stagnieren die Zahlen eher. Dennoch sollten wir neben der Finanzierung auch über grundlegende Reformen der zweiten Säule nachdenken. Sozialpolitisch sollte die Versicherung eines breiten Mittelstands im Fokus stehen und nicht diejenige der höheren Einkommen. Zu einer zeitgemässen Vorsorge gehört auch die Abdeckung von Teilzeitarbeit und neuen Arbeitsund Lebensmodellen. In den nächsten Jahren gehen die stärksten Jahrgänge der Babyboomer in Pen­sion. Um die Renten zu bezahlen, müssen die Pensionskassen den Immobilienbestand abbauen. Wer kauft dann ? Kommt der Crash ? Monika Bütler: Unsere Kinder zum Beispiel. Die Geburtenrate steigt wieder an, wenn auch nur leicht. Und die Einwanderung bleibt. Dennoch könnten die Immobilien mittelfristig an Wert verlieren – nicht in den Städten, aber im Schweizer Durchschnitt. Rudolf Rechsteiner: Solange die Geburtenrate bei bloss 1,5 liegt, braucht es eine starke Zuwanderung, um den Kapitalapparat der Schweiz auszulasten. Auch die tiefen Steuern für Unternehmen halten diesen Motor am Laufen. Neue Menschen mit hohen Einkommen suchen Wohnraum. Man muss beständig dazubauen. Dieses System hat lang gut funktioniert. Nun frage ich mich, ob es bald an seine Grenzen stösst, wenn gebaut wird, bloss um Kapital zu platzieren, die Nachfrage aber ausbleibt.

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Zwei Standbeine der Binz: Donald Stählin, Projektleiter der Stiftung Abendrot für die Binz, und Karin Schulte, Geschäftsleiterin der Woko.

Massgefertigte Feinmechanik In einem Zürcher Hinterhof überraschen zwei Wohnblocks mit mehr als 400 Zimmern und Studios für Studierende und Spitalpersonal. Die Binz 111 ist das Ergebnis einer dreibeinigen Partnerschaft. Text: Rahel Marti

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Bloss eine Lücke zwischen zwei Häusern führt zur Uetli­ bergstrasse 111. Umso erstaunter steht man im Hinterhof vor zwei mächtigen Wohnblocks. Burgartig ragen sie auf, die unteren Geschosse betonhell, die oberen in Dunkel­ braun daraufgelegt wie Briefbeschwerer. Es ist acht Uhr morgens, eine Putz­e quipe steigt aus einem Lieferwagen, zieht Masken an und verschwindet im Haus B. In den ver­ gangenen Tagen haben viele Wohnungswechsel stattgefun­ den. Studierende aus aller Welt, die für ein Austauschse­ mester nach Zürich kommen, haben ihre Zimmer bezogen und sind danach an die Uni verschwunden. Einer steht noch verloren am Empfang der Woko, der Studentischen Wohngenossenschaft Zürich. Zum Glück wuselt Hauswar­ tin Tania Pestana herum und hilft dem jungen Mann. Die Projektschmiede Die Binz 111 ist eine Kooperation in zwei Phasen. Zuerst wa­ ren die Projektschmiede am Werk: Grundbesitzer, Finan­ ziererinnen, Entwicklerinnen, Architekten. Das 6000 Qua­ drat­meter gros­se, ehemalige Fabrikareal war im Besitz des Kantons Zürich, als ein Kultur- und Wohnkollektiv es 2006 besetzte. ‹ Familie Schoch › zimmerte ein teils wahn­ witziges Gebilde und zog nach mehreren Fristen 2013 laut von dannen. Der Kanton wollte den Besetzerinnen keinen Platz einräumen in der Zukunft des Areals, die er längst geplant hatte. 180 1-Zimmer-Wohnungen sollten entste­ hen als Sofortwohnraum für neue Mitarbeitende des Uni­ versitätsspitals Zürich ( USZ ). Der Unternehmer Werner Hofmann gewann den Investorenwettbewerb mit dem Vorschlag, Wohnungen für das Spitalpersonal und für Studierende zu kombinieren. Weil die Binz für Hofmann zu gross war, knüpfte das Netzwerk der Projektschmiede die Kontakte zur Stiftung Abendrot und zur Woko. Das Dreigespann war komplett: Die Basler Pensionskasse als Investorin übernahm die Binz im Baurecht für 49 Jahre und regelte mit dem USZ und der Woko die Nutzung. Gemeinsam bauten sie mehr als 400 Kleinwohnungen und WG-Zimmer, eine Reihe von Ateliers und Gewerberäumen und ein Restaurant. Die Public-private-Partnership stellt offenbar alle zufrieden. Der Kanton sichert die Landreserve und verdient den Bau­ rechtszins, das USZ verfügt über passenden Wohnraum und garantiert dessen Auslastung, Abendrot zahlt den Baurechtszins und akzeptiert begrenzte Mieten, riskiert aber kaum Leerstände. « Indem wir uns auf weitgehende und langfristige Abhängigkeiten einlassen, erschliessen wir Marktnischen », sagt Christian Geser, Immobilienchef bei Abendrot. « Und wir kommen zu Projekten, die zu uns passen und die für andere institutionelle Investoren zwei­ te Wahl sind. » Konventionelle Investoren suchen die volle Autonomie über ihre Anlage, von der Konzeption bis zum Miet­ertrag – die Binz ist das Gegenteil. Alle drei Partner entwickelten das Projekt mit, auch bau­ lich. Die Woko mietet von der Stiftung Abendrot Studios und WG-Wohnungen und verwaltet die gesamte Liegen­ schaft. Die Erstvermietung 2018 bestimmte Abendrot noch in Eigenregie, künftig wird die Woko als Betreiberin mitre­ den können und den Charakter des Orts mitsteuern, etwa über die Auswahl der Mieterinnen für Gewerbeflächen. Auch das USZ mietet die Personalstudios von der Pensi­ onskasse. « Anstatt eines WG-Zimmers in einem Altbau möchte unser Personal heute eigene Küchen und Bäder », sagt Renate Gröger, Direktorin Betrieb des USZ. Die Mitar­ beitenden dürfen die Wohnungen maximal zwei Jahre mie­ ten, um in dieser Zeit selbst etwas zu suchen. Für diesen Zweck genügen die kleinen, kargen Wohnungen. « Nur bei der Möblierung haben wir den geplanten Standard etwas angehoben », erzählt Renate Gröger schmunzelnd.

Die Feinmechanik Eine massgefertigte Feinmechanik hält das Dreige­ spann zusammen. Zehn Prozent der USZ-Studios stehen als Manövriermasse leer, damit die Idee der So­fortwoh­ nun­gen auch funktioniert. Die Kosten dieses Leerstands sind in die Mietpreise einkalkuliert – was die Partner an­ gesichts der für Zürich trotzdem günstigen Mieten für vertretbar halten. Stehen mehr Wohnungen leer, weil das USZ weniger Mieterinnen findet, wird Ende Jahr eine Aus­ gleichszahlung an Abendrot fällig. Füllt das USZ dagegen mehr als neunzig Prozent der Studios, zahlt die Stiftung etwas zurück. Das USZ kann der Woko vorübergehend Stu­ dios zur Vermietung an Studierende überlassen und bei Bedarf wieder zurückholen. Anfangs waren die USZ-Stu­ dios weniger ausgelastet als erwartet, was die Mechanik leicht ins Stottern brachte. « Ein solches Vorhaben gelingt am besten mit Men­ schen und Institutionen, die ähnlich ticken und einan­ der vertrauen », sagt Karin Schulte, Geschäftsleiterin der Woko. Die Grösse des Projekts sprengte bei allen drei Partnern die Routine. « D och der Bedarf an studentischem Wohnraum in Zürich ist riesig, da war es schon fast eine Pflicht, das Projekt anzunehmen. » Studentisches Wohnen, das klinge ja immer ein wenig nach Rambazamba, ergänzt Daniel Kurz, langjähriger Präsident der Woko. Doch die Genossenschaft habe mehr als sechzig Jahre Erfahrung. « Dann stellt man fest, dass das Abenteuer am Ende gar nicht so gross ist und die Rendite ja fliesst. » Wohnungen für Studierende unterstützt der Kanton mit Jugendwohnkrediten, doch für die Binz beanspruchte die Woko keine Subventionen. « D er erzielbare Miet­ertrag ergibt die Baukosten – so rechnen wir, fertig », sagt Kurz. Das sieht man dem Bau allerdings auch an. Die Architek­ ten hatten das Projekt einige Male zu überarbeiten, es wurde härter und serieller: « Massivbauweise und Beton­ sockel, Badezimmer und nichttragende Wände vor­fa­bri­ ziert – kein Gramm Fett », sagen sie. Das Glasdach zwi­ schen den Häusern als Reminiszenz an die Industriehalle von einst zerbrach an den Sparrunden. Spülmaschinen gibt es in den Kleinwohnungen keine. Bei der Woko lernt man sparen. Die Farben machen die Repetition erträglich. Unter dem Dunkelbraun tänzeln Pink, Gelb und Hellblau, Orange, Grün und Violett über Stützen, Türen und Beton­ wände. Schöne geteilte Räume sorgen für Luft rund um die Einzelwohnkapseln: Vorplatz, Innenhof und Vorgärten, Eingänge, Laubengänge und Terrassen sowie der univer­ selle Gemeinschaftsraum mit Sofa, Töggelikasten und Pingpongtisch. Und dann durchbohrt als architektoni­ scher Hingucker eine riesige Kaskadentreppe das mäch­ tige Haus B über alle Geschosse. Die Treppen­skulptur ist als räumliches Herz der Gemeinschaft gedacht, aber so richtig belebt ist das Baukunstwerk selten. Ob zu bequem oder zu müde: Die Bewohner fahren Lift oder nehmen auch gern das Fluchttreppenhaus, das halt näher bei der Wohnungstür liegt. Für eine verflochtene Gemeinschaft ist die Binz ohnehin zu gross, und die Menschen sind zu kurz da. Das Zuhause der Familie Schoch hat sich ver­ flüchtigt und erweitert zu einem riesigen Pied-à-terre, zu einer Zürich-Ankunftsmaschine. Phase zwei Inzwischen ist es zehn Uhr. Die Vormittagssonne wärmt die Terrassen Richtung Gleise, im sechsten Stock sitzt jemand draussen und raucht. Es ist ruhig, fast still in der Liegenschaft. Da steht ein Topf mit Angebranntem vor einem Eingang, dort klemmt eine leere Verpackung im Staketengeländer, und ein weiteres Lebenszeichen der 400 Bewohnerinnen sind die mehr als sechzig →

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Pastellfarben tänzeln über Stützen, Türen und Betonwände und beatmen die superserielle Struktur.

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Das vietnamesische Restaurant im Erdgeschoss setzt zum Sprung an, die beliebteste Kantine im Gewerbequartier Binz zu werden.

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Situationsplan mit Grundriss Erdgeschoss.

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Binz 111, 2018 Uetlibergstrasse 111, Zürich-Wiedikon Baurechtgeber:  Kanton Zürich Bauherrenvertretung:  Hämmerle & Partner, Zürich Totalunternehmerin:  Halter, Schlieren Architektur:  Steib Gmür Geschwentner Kyburz Partner, Zürich Farbgestaltung:  Peter Roesch, Luzern Landschaftsarchitektur:  Nipkow, Zürich Fläche:  6104 m² Ausnützungsziffer: 2,74 Investitionskosten:  Fr. 63,3 Mio. Wohnungsspiegel:  257 möblierte Studios, 40 Wohngemeinschaften für 2 bis 8 Bewohnerinnen Nutzung: Personalund Studierendenwohnen, Gemeinschafts-, Veranstaltungs-, Atelierund Quartierräume

Bahnhof Zürich-Binz Uetlibergstrasse Coiffeurladen Eingang Haus A, Empfang Woko, Briefkästen beider Häuser 5 Eingang Haus B, Aufgang Kaskadentreppe 6 Waschküche 7 Restaurant 8 Restaurantküche 9 Saal / Sitzungszimmer 10 Ateliers 11 Meet-up-Room 12   K ita Füessli 13 Bahnhof ZürichGiesshübel A gekiester Sitzplatz B Vorplatz mit Sitztreppe C gekieste Vorgärten D geteerter Innenhof Siedlung Gewerbe Restaurant 1 2 3 4

Grundriss 4. Obergeschoss.

Grundriss 1. Obergeschoss.

Längsschnitt durch Haus B mit Kaskadentreppe.

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Meilensteine 2006 Übernahme des Areals durch die Stadt Zürich vom Kanton zur Zwischennutzung, Besetzung ‹ Familie Schoch › ( Vertrag bis 2009, Besetzung bis 2013 ) 2009 Rückgabe des Areals an den Kanton 201 1 Investorenwettbewerb mit Auflage für USZ-Wohneinheiten 2012  /  13 Studienauftrag mit sechs Architekturbüros 2016 – 18 Bau und Bezug

Zwei weitere Standbeine der Binz: Christian Geser, Leiter Immobilien der Stiftung Abendrot, und Renate Gröger, Direktorin Betrieb des Universitätsspitals Zürich.

→ WLAN-Netzwerke, die der Laptop einfängt. Hunderte Kleinwohnungen haben auch ihre Schattenseiten. Die Ano­ny­mi­tät macht manche gedankenlos, sie vergessen den Müllsack auf dem Flur oder lassen Zigarettenstum­ mel vor den Eingang der Kindertagesstätte im Innenhof fallen. Die Reklamationen landen bei Tania Pestana, der Hauswartin, die alle Hände voll damit zu tun hat, den Be­ trieb vor Ort und das Nebeneinander von Menschen aus aller Welt in Ordnung zu halten – die zweite Phase der Kooperation. Studentisches Laissez-faire liegt bei dieser Hausgrösse nicht drin. « Zweimal im Jahr kontrollieren wir nach dem Semesterputz alle Studentenwohnungen », erzählt Pestana. « Wenn es nicht sauber ist, reinigen wir auf Rechnung », sagt sie bestimmt. Auch in Bezug auf die

Sichtbetonwände ist die Haltung klar: « Viele fragen, ob sie die Wände streichen oder etwas hineinbohren dürfen – aber das geht natürlich nicht. » Gegen Mittag regt sich Leben in der Binz. Menschen schlüpfen durch die Lücke an der Uetli­berg­stras­se und schlendern zum Haus B. Dort war ursprünglich eine wei­ tere Kooperation geplant: Die Asylorganisation Zürich wollte das grosszügige Restaurant mit Asylantinnen und Asylanten betreiben, konnte die Umsetzung der Idee aber nicht finanzieren. Nun kocht ein vietnamesisches Team und bietet sich als feine Kantine für die vielen Gewerbeund Dienstleistungsbetriebe ringsherum an. So hilft das Lokal mit, die Binz als Ort im Quartier zu entfalten. Punkt zwölf Uhr sind alle Tische auf der Terrasse besetzt.

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Blick in den Hof: ein Vorplatz mit Sitztreppe, eine baumbestandene Terrasse für das Restaurant.

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Als architektonischer Hingucker durchbohrt die Kaskadentreppe das mächtige Haus B. Themenheft von Hochparterre, Dezember 2020 —  Investment und Gemeinsinn — Massgefertigte Feinmechanik

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Schweizer Pensionskassen und die Stiftung Abendrot Infografik: Hahn + Zimmermann

Schweizer Vorsorgeeinrichtungen 2018

Versicherte und Rentenbezügerinnen Aktive Versicherte

4 245 569

Abendrot verwaltet das Vorsorgekapital von 1221 Betrieben.

entspricht 100 000

12 670 531 Einrichtungen eines Arbeitgebers

791 Einrichtungen mehrerer Arbeitgeber mit 6611 Betrieben

240 Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen mit 404 677 Betrieben

Bezügerinnen

1 164 054 Auf eine Bezügerin kommen durchschnittlich vier Einzahlende.

2021 Bei Abendrot kommen auf eine Bezügerin sechs Einzahlende.

entspricht 300

Soll-Mieteinnahmen der Stiftung Abendrot 2019 Parking 4 %

Büro / Dienstleistung / Schule 30 %

Wohnen 47 %

Gewerbe / Industrie 10 %

Retail / Einkauf 2 %

Lager 4 %

Die meisten Pensionskassen besitzen vor allem Wohnimmobilien, Abendrot auch auffallend viel anderes.

andere 1 % Hotel / Gastro 2 %

Berlin 36

Immobilienanlagen der Stiftung Abendrot bis 2024 ( in Mio. Franken )

Lediglich eine indirekte Immobilienanlage liegt im Ausland. Abendrot besitzt vorwiegend Immobilien in der Nordwestschweiz und im Raum Zürich.

Basel 126 / 29 / 25

Döttingen 7

Birsfelden 31 Münchenstein 6

Bülach 29

Winterthur 114 / 47 / 12

Gelterkinden 5 Laufen 13

Breitenbach 7

Hägendorf 9

Zürich 96 Wangen bei Olten 2 / 15 / 13

Grenchen 10 Biel 23

Root 22 / 1 Burgdorf 1 / 13 / 17 Zollikofen 16 / 31

Flums 53

Kriens

Quelle: UBS Pensionskassen-Performance; Entwicklung Bestände, Stand 31.12.2019 26 / 1

Bestand / laufende Projekte / Investitionen bis 2024

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Entwicklung des Anlagevermögens 2010 –  2019 Mrd. Fr. 1000

Das Anlagevermögen der Stiftung Abendrot hat sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt.

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Vermögen nach Anlageklasse 2019 ( in Franken ) Total: 979 Mrd.

global

Total: 2180 Mio. Schweiz

Obligationen 31,4 % 14,3 %

global

global

Aktien 27,9 %

30,7 %

Schweiz

direkt

Schweiz

Abendrot kauft vor allem Schweizer Aktien und Immobilien.

Schweiz Immobilien 29,7 % 20,3 %

indirekt

Schweiz

global

direkt

alternative Anlagen 9,2 % 18,5 % flüssige Mittel 5,2 % 4,1 % 6 %

übrige

2,7 %

Performance nach Anlageklasse 2010 –  2019 ( in Prozent ) 3,8 %

Obligationen global 2,3 %

8,7 %

Obligationen Schweiz

0,8 % 2,3 % 6,9 %

Aktien global Aktien Schweiz

9,6 % 6 %

Immobilien

11,1 % 4,2 % Die tiefe Immobilien-Performance von Abendrot ist ihrem überdurch­ schnittlichen Wachstum geschuldet. Laufende Projekte zählen buchhalterisch bereits als Immobilien, werfen aber noch keinen Ertrag ab.

Quellen: Stiftung Abendrot, Pensionskassenstatistik 2018 des Bundesamts für Statistik, Pensionskassenstudie 2019 von Swisscanto, Pensionskassen-Performance 2012 – 2019 der UBS.

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Das ehemalige Portiersgebäude des Lagerplatzes in Winterthur dient nun als Bistro und Anlaufstelle.

Die Insel am Gleismeer Der Lagerplatz wurde zum urbanen Brennpunkt Winter­thurs – weil er auf die Bauten und Menschen setzte, die da waren. Interessant: Wer weniger investiert, verdient genauso viel. Text: Palle Petersen

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Zweimal im Jahr, immer wenn die Tage kürzer oder länger wurden, feierte das ‹ Kraftfeld › die Sonnenwende. Im Sommer wurde der Lagerplatz vor dem Club zur städtischen Bühne. Die Betreiber zimmerten auch mal ein Piratenschiff, schliesslich musste die Szenerie zum wechselnden Motto passen. Die Sonnenanbeterinnen Winter­thurs waren aufgerufen, sich passend zu verkleiden. Längst ist die wilde Tradition verschwunden, ebenso der Wettstreit im Sandburgenbauen. Die Feste wurden weniger schräg, dafür umso häufiger. Und der Club, der 1996 als Zwischennutzung gestartet war, bekam Nachbarn: In dunkles Metall gehüllt und unter das Dach eines Schuppens gebaut zeigt das Kino Cameo alles ausser Blockbustern. Entlang der Gleise wirtet das Bistro ‹ Les Wagons › in drei Bahnwagen aus den 1920er-Jahren. In einer betonierten Wasserschale spielen Kinder, die davor im Skills Park auf Trampolins hüpften und noch immer nicht müde sind. In Metalltonnen, Holzkisten und Wagen der stillgelegten Schmalspurbahn wachsen Birken. Knapp an der Tabula rasa vorbei « Wir hatten Schwein », sagt Hannes Moos, Architekt und Areal-Urgestein. Im ‹ Portier ›, wie das Café im alten Pförtnerhäuschen heisst, rollt er die kurvige Geschichte aus: Um 1990 hatte sich Sulzer aus Winterthur zurückgezogen. Nachdem mehrere Grossplanungen am Widerstand der Bevölkerung oder an fehlenden Investoren gescheitert waren, entwickelte der Industriekonzern das vierzig Hek­tar gros­se Gebiet stückweise vom Bahnhof aus und siedelte im abgelegeneren Teil Zwischennutzungen an. So auch auf dem Lagerplatz mit seinen zwei Dutzend Hallen und Verwaltungsbauten von 1895 bis 1945. Es sind nüchterne Industriebauten mit Holz- oder Stahlfachwerken, Backsteinfassaden, flexibel nutzbaren Stützenrastern und riesigen Sprossenfenstern und Oberlichtern. 2006 waren knapp hundert Mieterinnen auf dem Areal. Dann beschlossen Sulzer und die Post – die zwischenzeitlich einen Teil des Areals erworben hatte – den Verkauf und machten eine Testplanung. Das städtebauliche Leitbild daraus orientierte sich zwar an der bestehenden Raumstruktur, erlaubte aber den Totalabriss. « Wir befürchteten eine Tabula rasa à la Neu-Oerlikon », erzählt Hannes Moos. « Darum gründeten wir den Arealverein und gingen zu Barbara Buser und Eric Honegger. » Buser, Honegger und ein paar Verbündete hatten einige Jahre zuvor angestossen, dass die Stiftung Abendrot und fünf weitere Investoren das Gundeldinger Feld hinter dem Basler Hauptbahnhof kauften und ihnen im Baurecht überliessen. Sie transformierten es zum bunten Gewerbeareal und setzten dabei auf die Bauten, die da waren. Genau das wollten auch die Winterthurer. Mit den Anregungen aus Basel erstellten sie ein Verkaufsdossier und machten sich auf Investoren­suche. Abendrot war bald im Gespräch. Drei Jahre später stand der Gestaltungsplan kurz vor der Festsetzung. Also musste es schnell gehen: Abendrot erklärte sich bereit, die Altlasten zu übernehmen. Sulzer und die Post verkauften die 4,6 Hektar in Bahnhofsnähe darum für nur 37 Millionen Franken. Buser und Honegger erhielten einen Entwicklungsauftrag und krempelten als Erstes den Gestaltungsplan um. Barbara Buser erinnert sich: « Stadtpräsident Ernst Wohlwend besuchte uns im Gundeli und fragte, was er für den Lagerplatz tun könne. Wir sagten: ‹ Wenig Geschossfläche und Wohnungen erlauben. › In diese Richtung passten wir den Gestaltungsplan an. Ausserdem legten wir die Baufelder exakter an den Bestand, reduzierten die erlaubten Parkplätze von 800 auf 350 und fügten einen Artikel ein, der Umnutzungen erlaubt. Unser Ziel war von Anfang an, möglichst viel zu erhalten. »

Schwein gehabt heisst also: 2020 sind viele der damaligen Mieter noch auf dem Areal, mit langfristigen Verträgen und in sanierten Häusern und Hallen. Obwohl die Denkmalpflege einzig das Portiershaus formell schützte, stehen noch sämtliche Bauten. Der einzige Neubau mit den einzigen Wohnungen liegt ganz im Süden, hinter bloss tagsüber genutzten Hallen der Hochschulinstitute. Die Bewohner sind also weit weg von jenem Teil der viel beschworenen Urbanität, der auch mal lärmt und stinkt. Projektentwicklung im Dialog Trotzdem ist das Areal heute ein anderes: Aus knapp 100 sind mehr als 150 Mieterinnen geworden. Insgesamt hat Abendrot fast 140 Millionen Franken investiert und die Ausnützung mit Zwischenböden, An- und Aufbauten von 1,1 auf 1,5 erhöht. Zwei Plätze wurden autofrei, und die meisten Parkplätze sind nun in der Tiefgarage des Neubaus untergebracht. Es liegt weniger Müll herum, Bäume und Sitzmöglichkeiten wurden zahlreicher. Und obwohl mehrere Institute der Zürcher Hochschule fast ein Drittel der Fläche nutzen – darunter die Architektinnen und die Bauingenieure –, ist kein Campus entstanden. Nebst Club, Kino und Gastronomie gibt es Ateliers und Werkstätten für Kunst- und Kulturschaffende, Architektur- und Grafikbüros, ein Hostel, einen Velomech und eine Badmintonhalle sowie eine Theater- und Zirkusschule und eine offene Werkstatt zum Siebdrucken, Töpfern oder Schreinern. Wie eigentlich alles auf dem Areal ist auch der Nutzungsmix ein Gemeinschaftswerk von Projektsteuerung und Arealverein. Anders als anfangs erträumt hat der Verein den Lagerplatz nämlich nicht im Baurecht übernommen. « Das Areal war zu gross für die Selbstverwaltung und mit den Altlasten auch zu riskant. Ausserdem war der Kauf für Abendrot ein echter Hosenlupf, und darum wollte sie die Fäden in der Hand behalten », erklärt Barbara Buser den Entscheid. An der Zukunftskonferenz kurz nach dem Kauf sorgte das Nein zur Selbstverwaltung freilich erst einmal für Ernüchterung. Dass die neue Besitzerin versprach, den Bestand zu nutzen und die Mieter miteinzubeziehen, glättete die Wogen. Und was hatte man schon für eine Wahl ? « Rückblickend ist es ein Glücksfall: Mitsprache ohne Verantwortung », sagt Peter Wehrli heute. Der Architekt gründete vor gut zehn Jahren sein Büro und ist seither im Arealverein aktiv. Verschiedene Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit Themen wie Freiraum, Mobilität oder Energie. Die Halle 142, ein offenes Stückgutlager, bespielt der Verein mit Flohmärkten, Foodtrucks oder Vermietungen. Sollen Häuser saniert werden und eine neue Nutzerin bekommen, darf er mitreden. Werden Flächen innerhalb eines Gebäudes frei, können die Mieterinnen neue Nutzer vorschlagen. Die Entscheidungen trifft allerdings die Projektsteuerung: Barbara Buser und Eric Honegger im Mandat, Abendrot-Projektleiterin Klara Kläusler, später Tina Puffert, und Verwalter Eric Allmendinger. Seit Beginn ist das vierköpfige Team praktisch jeden Donnerstag vor Ort, denn eine partizipative Entwicklung im voll vermieteten Areal braucht Präsenz und Kontinuität. Ist der erste Bau saniert, tut man gut daran, das gewonnene Wissen in die nächsten Projekte zu tragen. Alle sechs Wochen treffen sich die Projektsteuerung und der Arealverein zur Diskussion. So verschränken sich Top-down und Bottom-up. Ressourcenschonend und experimentierfreudig Die Bauaufträge gehen bis auf wenige Ausnahmen direkt an eines der vielen Architekturbüros, die hier arbeiten. Wettbewerbskultur ade, Vetternwirtschaft olé ? Solche Vorwürfe sieht Barbara Buser gelassen: « Es ist doch sinnvoll, mit den Menschen zu arbeiten, die vor Ort →

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Aufbessern statt ersetzen: Maximaler Substanzerhalt ist die Devise.

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Im ständigen Dialog: die Projektsteuerung mit Barbara Buser ( links ), Eric Honegger und Tina Puffert ( beide hinten ) und der Arealverein mit Valérie Weibel ( vorne ), Peter Wehrli ( Mitte ) und Hannes Moos ( rechts ).

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Lagerplatz Winterthur, 2019 Projektsteuerung:  Barbara Buser und Eric Honegger, Denkstatt, Basel ; Klara Kläusler ( bis 2018 ) und Tina Puffert ( ab 2019 ), Stiftung Abendrot, Basel ; Eric Allmendinger, Vivo Immobilien, Winterthur Freiraumgestaltung:  Arealverein Lagerplatz, Winterthur Fläche:  46 361 m² Ausnützungsziffer: 1,46 ( erlaubt: 2,0 ) Investitionskosten:  Fr. 174,6 Mio. ( inkl. Land ) Nutzung:  36 % Hochschule ; 30 % Atelier / Büro / Verkauf / Workshop ; 16 % Freizeit ; 11 % Wohnen ; 4 % Gastronomie / Hostel ; 3 % Lager / anderes Parkplätze: 212 ( erlaubt: 350 ) www.lagerplatz.ch

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Erdgeschossnutzungen Lagerplatz 1 Bistro und Information ‹ Portier › 2 Velomech ‹ Radwerk ›, Hauswart 3 Restaurant ‹  F oodtruck Village ›, Hostel ‹ Depot 195 › 4 Ateliers, Büros, Kleingewerbe 5 School of Management and Law ( ZHAW ) 6 Atelier, Studio 7 Surfshop ‹ Cloud 9 › 8 Malergeschäft 9 ‹ museum schaffen ›, Arealverein Lagerplatz 10 ‹ Machwerk › 11 Freizeit- und Sportanlage ‹ Skills Park › 12 Ateliers, Gewerbe, Club ‹ K raftfeld › 13 Zentrum für Produktund Prozessentwicklung ( ZHAW ) 14 Werkstatt ( ZHAW ) 15 Bar und Kino ‹ Cameo › 16 Bistro ‹ Les Wagons › 17 Haustechniker, Lager, Möbelwerkstatt 18 Badmintonhalle ‹ Shuttlezone › aum für Theater und 19 R Zirkus ‹ Bühnerei › 20 Zentrum für Produktund Prozessentwicklung, Bauingenieurwesen ( ZHAW ) 21 Ateliers 22 Dampfzentrum Winterthur, Lager 23 Büros, Werkstätten 24 ‹ Designwerk ›, Gewerbe 25 Architektur und Gestaltung ( ZHAW ) 26 Genossenschaft ‹ Zusammen_h_alt ›, Bioladen ‹ Zahredli › 27 Bauingenieurwesen ( ZHAW ) A urbaner Platz B Arealplatz C offene Halle mit Kranbahn D Quartierplatz Bildung Einkaufen, Gastronomie Kultur, Sport, Freizeit Ateliers, Büros, Studios Gewerbe

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Meilensteine 2003 Schutzvertrag Sulzer-Areal Stadtmitte 2006 Gründung Arealverein Lagerplatz 2007 Testplanung und Weiterbearbeitung des Vorschlags von Boesch Architekten 2008 öffentliche Auflage Gestaltungsplan ( trat nicht in Kraft ) 2009 Kauf durch die Stiftung Abendrot, Nutzungskonzept 2013 Genehmigung angepasster Gestaltungsplan 2015 Mobilitätskonzept 2018 Gestaltungskonzept Aussenraum

→ sind. Auch die Ausführung vergeben wir möglichst an Handwerksbetriebe, die hier angesiedelt sind. » Architekt Peter Wehrli findet das natürlich ebenfalls gut: « Ideenkonkurrenz gibt es zwar keine, aber man baut für sich und beobachtet von den Kollegen. Da gibt man sich doppelt Mühe. » Die Architekturqualität ist breit gefächert und reicht von der belanglosen Fassadensanierung in Well­blech bis zum Erweiterungsbau 181 am Gleisfeld von ­Kilga Popp. Die gewächshausartige, üppig bepflanzte Raumschicht erhielt 2014 Hochparterres Hasen in Gold. Ungeachtet ihrer Verfasser haben die Projekte eine gemeinsame Handschrift: jene von Abendrot, Barbara Buser und Eric Honegger. Ihre Gedanken zur Nachhaltigkeit gos­ sen sie in eine Vereinbarung. Deren Kern bilden ökologische und rezyklierte Materialien sowie alte, wiederverwendete Bauteile. Bricolage statt Bestellung. Peter Wehrli, der die Halle 118 umbaute, sagt: « Anfangs dachte ich, die spinnen, die Ökos. Doch mit der Zeit habe ich verstanden, worum es ihnen geht. Heute denke ich selbst weniger über den passenden Wasserhahn und mehr über Ressourcen nach. » Auf den Kopfbau der Halle 118 setzt das Baubüro von Buser und Honegger derzeit drei Gewerbegeschosse und treibt das ressourcenschonende Bauen dabei auf die Spitze: Nebst ‹ materiali poveri › wie Holz, Stroh und Lehm besteht der Bau zu fast sechzig Prozent aus wiederverwendeten Stahlträgern, Fassadenblechen, Bodenplatten, Lavabos et cetera siehe Hochparterre 10 / 19. Um passende Bauteile in Abbruchliegenschaften zu finden, auszubauen und einzulagern, nahm Abendrot schon weit vor der Baueingabe einiges Geld in die Hand. Für Experimente ist die mittlerweile etablierte Pensionskasse offenbar noch nicht zu alt. Lang lebe der Inselurbanismus Mag der Lagerplatz punkto grauer Energie ein Primus sein, so ist im Betrieb noch Luft nach oben: Fernwärme und Öko- statt Atomstrom sind gut. Weniger als zwanzig Prozent Eigenversorgung beim Strom sind freilich kein Weltrekord. Nicht nur in dieser Hinsicht ist ein Vergleich mit der benachbarten Lokstadt interessant. Unter diesem Namen transformiert Implenia in den nächsten Jahren rund zwölf Hektar zum « new urban way of living » mit 2000-Watt-Zertifikat. Auf der Fläche, die gut doppelt so gross ist wie der Lagerplatz, bleibt dabei wenig stehen. Zwei denkmalgeschützte Hallen werden zu einem Gewerbezentrum mit Hotel, Markthalle, Sport- und Gesundheitsangeboten. Hinter geschützten Bestandesfassaden entstehen schicke,

nach alten Lokomotiven benannte Stadthäuser. Die drei Hochhäuser und die weiteren Neubauten tragen Namen wie ‹ Bigboy ›, ‹ Rocket › oder ‹ Tigerli ›. Sie werden vor allem Büroflächen und 750 Wohnungen enthalten, gebaut von renommierten Architekturbüros, ausgewählt in professionell durchgeführten Projektwettbewerben. Insgesamt werden hier 650 Millionen Franken investiert. Auf dem Lagerplatz verfolgt Abendrot eine Kraut-­ und-­Rüben-­Strategie. Sie reicht von aufwendigen Umbauten, die sämtliche Standards der Hochschulinstitute erfüllen, bis zu minimal sanierten Flächen für Kreative und für stadtwirksame Akteure wie den Club, das Kino oder die Zirkusschule – allesamt Vereine mit viel Herzblut und wenig Geld. Mit völlig unterschiedlichen Mietzinsen erreicht die Stiftung seit dem ersten Tag des Arealkaufs eine Jahresnettorendite von etwa 4,5 Prozent. Neubaugebiete wie die Lokstadt, die Implenia praktisch zur gleichen Zeit kaufte, werfen dagegen lange Zeit wenig bis nichts ab und landen dann – wenn viel mehr Geld verbaut ist, oft mit Fremdkapital gehebelt – bei einer ähnlichen Rendite. Und während dort oft generische Wohn- und Büroflächen entstehen, baute Abendrot auf dem Lagerplatz kaum ein Gebäude um, ohne die zukünftige Mieterin zu kennen. Allerdings, und das ist keine Nebensache, wäre die Umnutzung der riesigen Hallen der Lokstadt weit schwieriger gewesen. Wer weiss: Vielleicht hätte das zu wirklich einzigartiger Architektur geführt ? Die Welt nun in die guten Alternativen und die bösen Konventionellen zu teilen, wäre trotzdem zu einfach. Gewiss sind mehr als neunzig Prozent Neubaufläche zu viel, wenn man ein geschichtsträchtiges Industrieareal transformiert. Fraglos könnten gros­se Projektentwickler lernen, das Potenzial bestehender Bauten und Menschen zu nutzen, anstatt das Feld zu pflügen und lebendige Stadt aus dem Nichts planen zu wollen. Doch letztlich sind beide Areale Inseln im Meer der Stadt mit verschiedenem Nutzen. Viele Menschen wünschen sich genau jene zen­tral gelegenen, komfortablen Neubauwohnungen und Büro­flächen, wie sie in der Lokstadt entstehen. Vielleicht birgt der Vergleich also eine Lehre für den viel gescholtenen Inselurbanismus: Mögen die einen ihre ruhigen Wohnungen finden und die anderen ihre Ateliers und einen Nachbarn, der auch mal ein Piratenschiff zimmert. Die offene Stadt ist erfolgreich, wenn die einen die anderen dereinst besuchen und sie gemeinsam quartierstolze Sulzer werden. On verra.

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Umringt von Bistro, Club, Kino und Freizeitanlage ist der Arealplatz das bunte Herz des Lagerplatzes.

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« Nachhaltigkeit ist ein Marathonlauf » Wie legt ein Investor nachhaltig an ? Birgit Hattenkofer und Sasha Cisar diskutieren über die Label-Frage, die Erneuerungsquote, die letzte Ölheizung und Upcycling im Bau.

Sollen sich Investorinnen auf Labels verlassen ? Birgit Hattenkofer:  Wir zertifizieren unsere Bauten in der Regel nicht. Das wäre für unser Zielpublikum quasi eine unnötige Marketingmassnahme. Das Geld für die Zertifizierung geben wir lieber für etwas aus, das den Mietern direkt zugutekommt. Zertifikate können einer unerfahrenen Bauherrschaft helfen, damit sie keine Fehler macht. Wir aber haben genügend Kompetenz als Besteller. Zudem können Zertifikate einschränken. Wir setzen wenn möglich auf Lowtech und verbauen keine kontrollierten Lüftungen, die viele Labels vorschreiben. Sasha Cisar:  Diese Vorbehalte höre ich immer wieder. Doch die Kosten für eine Zertifizierung sind im Vergleich zu den Investitionskosten marginal. Labels wie der SNBS oder das deutsche Äquivalent DGNB sind sehr mächtig und decken viele Nachhaltigkeitsthemen ab. Umfassende Labels sind auch ein Instrument, um die Anforderungen und die Planung zu steuern. Die Zertifizierung ist das Tüpfelchen auf dem i. Vermehrt erwarten Investoren, dass man die Nachhaltigkeit belegen kann – und zwar unabhängig zertifiziert. Welche Bedeutung hat die Klimakrise in der Immobilienwelt ? Birgit Hattenkofer: Die Pensimo hat einen CO -Absenkpfad ² definiert bis 2050, mit einem Zwischenziel 2035. Die Umsetzung ist im Bestand allerdings nicht so einfach. Wir wissen noch nicht bei jedem Gebäude, wie viel Energie es aktuell verbraucht. Die Nebenkostenabrechnung hinkt ein bis zwei Jahre hinterher. Wir haben deshalb eine prädiktive Heizsteuerung eingeführt, die an den Wetterbericht gekoppelt ist und in Echtzeit Verbrauchsdaten liefert. Zudem identifizieren wir die grössten Umweltsünder, um dort anzusetzen. Sasha Cisar: Beim J. Safra Sarasin Asset Management haben wir das Klimaziel Netto-Null bis 2035 gesetzt. Das gilt für alle Anlagen inklusive Immobilien. Investorinnen sollten die Klimaziele voranstellen. Netto-Null bis spätestens 2050 muss das Ziel sein. Man sollte nicht auf vergangene Verbrauchswerte zurückblicken, sondern nach vorne schauen und sagen, wohin die Nachhaltigkeitsreise geht. Wichtig dabei ist, dass man die Treib­haus­gas­emissionen auch jenseits der Betriebsphase der Gebäude über den ganzen Lebenszyklus betrachtet. Wie wichtig ist die Politik, um dem Markt Beine zu machen ? Sasha Cisar:  Es gibt freiwillige Initiativen, zum Beispiel die Net-Zero Asset Owner Alliance, die die Uno organisiert. Und es gibt viele regulatorische Entwicklungen in Richtung Klimaschutz. Die Schweiz hinkt hinterher, während die EU

Interview: Andres Herzog

Nachhaltigkeit ist in aller Munde. Was hat sich im Immobilienbereich diesbezüglich in den letzten zehn Jahren verändert ? Birgit Hattenkofer:  Der Begriff der Nachhaltigkeit wird so inflationär verwendet, dass er fast zum Unwort wurde. Bei der Pensimo ergibt sich das Thema aus der Aufgabe he­raus: Weil wir Pensionskassengelder in Immobilien anlegen, denken wir langfristig. Nicht wenige Immobilienhändler und Entwickler interessieren sich nur für die kurzfristige Rendite. Bei den Nachhaltig­keits-­Labels gab es einen Peak. Es hat sich aber herausgestellt, dass diese Labels für typische Wohnungsmieter – im Unterschied zu Stockwerkeigentümerinnen – keine gros­se Rolle spielen. Deshalb glaube ich nicht, dass sich die Situation im Gesamtmarkt verbessert hat. Sasha Cisar:  Das würde ich so nicht unterschreiben. In den letzten zehn Jahren wurden die Energiegesetze, Labels und Anforderungen verschärft, siehe etwa die Totalrevision des CO -Gesetzes. Der ‹ Standard nachhaltiges Bau² en Schweiz › ( SNBS ) hat definiert, was nachhaltiges Bauen überhaupt ist. Und die ESG-Kriterien aus der Finanzwirtschaft ( Environmental, Social and Governance ) werden mittlerweile auch bei Immobilien angewandt. Inwiefern ist die soziale Nachhaltigkeit ein Thema für Investorinnen ? Sasha Cisar:  Wir bemühen uns, die verschiedenen Anspruchsgruppen miteinzubeziehen. Letztlich geht es darum, dass die Mieterschaft langfristig bleibt und damit die Investition sichert. Birgit Hattenkofer:  Wir versuchen immer wieder deutlich zu machen, dass guter Städtebau und gute Architektur nachhaltig sind. Es ist nicht egal, wie etwas aussieht. Alle schreiben sich Nachhaltigkeit auf die Fahne. Wie kontrolliere und garantiere ich sie als Investor ? Sasha Cisar:  Die beste Methode gibt es nicht. Im Unterschied zum Aktienbereich fehlen bei den Immobilien gute Datenquellen. Aber die Branche bewegt sich und erarbeitet gemeinschaftlich entsprechende Tools. Es gibt viele Initiativen, vom Umweltprogramm der Uno bis zur Arbeitsgruppe für nachhaltige Immobilien, die letztes Jahr in der Schweiz gegründet wurde. Zudem entwickeln sich die Gebäudelabels weiter, die schon viele Anforderungen an nachhaltige Immobilien definieren und abdecken. Oder man erstellt – wie wir – eigene Bewertungstools.

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Sasha Cisar ( 40 ) ist Nach­ haltigkeitsanalyst bei der Bank J. Safra Sarasin und Mitglied des Ausschusses von deren Anlagestiftung ‹ SAST Nach­haltig Immobi­ lien Schweiz ›. Der Archi­ tekt doktoriert an der ETH Zürich im Bereich nach­ haltiges Bauen mit dem Fo­ kus auf Klimaziele.

Birgit Hattenkofer ( 51 ) leitet die Projektentwicklung der Pensimo Management, die Pensionskassengelder in Immobilien anlegt. Sie stu­ dierte Architektur an der TU München, Business Ad­ ministration an der Hoch­ schule St. Gallen und Vor­ derasiatische Archäologie.

Vollgas gibt. Das hat gros­se Auswirkungen auf die Akteure in der Finanzwirtschaft und damit auch auf die Immobilien. Birgit Hattenkofer: Die Politik braucht Zeit, gerade in der Schweiz. Zudem ist die Planungs- und Baubranche eine der konservativsten überhaupt. Wir müssen aufpassen, dass wir die Branche nicht überfordern. Alles wird komplizierter, es braucht immer mehr Spezialisten. Gleichzeitig soll schneller gebaut werden, und es darf nicht teurer werden. Das geht nicht alles auf einmal. Sasha Cisar:  Es ist wichtig, dass alle an Bord sind auf dieser Reise. Klar ist aber auch: Die Komplexität wird sich noch erhöhen. Die EU plant, jedes Jahr weitere Themen wie Klimaadaption oder Biodiversität auf die Agenda zu setzen. Da kommt noch einiges auf uns zu. Ich bin aber optimistisch. Man wird anders bauen. So kann man viele Ziele gleichzeitig erreichen, statt sie einzeln abzuarbeiten. Die Schweiz ist gebaut. Wie macht eine Investorin ihr Portfolio klimafit ? Birgit Hattenkofer: Die Pensimo hat ein grosses und gemischtes Portfolio mit rund 450 Immobilien. Ein Teil steht also immer am Ende des Lebenszyklus. Man muss jedes Gebäude individuell betrachten. Wenn ich Grundwasser nutzen kann, ergibt es keinen Sinn, zwanzig Zentimeter Schaumstoff an die Fassade zu kleben. Sasha Cisar: Unser Klimaziel beinhaltet bei den Immobilienanlagen einen Dekarbonisierungspfad, der auf ein 1,5-Grad-Ziel und ein kohlenstoffneutrales Ergebnis bis 2035 ausgerichtet ist. Mit Massnahmen auf Gebäudeebene wie energetischen Sanierungen und erneuerbaren Energien ist das mit heutigen Technologien machbar.

« Zertifikate können unerfahrenen Bauherren helfen »  Birgit Hattenkofer Die Erneuerungsquote ist mit rund einem Prozent zu tief. Müsste man nicht mehr aufs Tempo drücken ? Birgit Hattenkofer:  Wir haben vor einigen Jahren die letzte Ölheizung installiert. Deren Lebenserwartung beträgt zwanzig Jahre. Es wird also noch bis nach 2035 dauern, bis wir in keiner Liegenschaft mehr mit Öl heizen. Bei den Dreckschleudern versuchen wir, schon früher einzuwirken. Aber wir können nicht den ganzen Bestand von heute auf morgen sanieren. Nachhaltigkeit ist ein Marathonlauf.

Sasha Cisar:  Wenn es nicht anders geht, kann man zumindest ökologischen Strom einkaufen oder auf Biogas umstellen. Letztlich müssen wir alle fossilen Heizungen ersetzen. Viele Investoren zögern, weil Nachhaltigkeit kostet. Erhält, wer umsichtig baut, weniger Rendite ? Birgit Hattenkofer:  Nein, auf den gesamten Lebenszyklus betrachtet nicht. Die Erstellungskosten machen nur rund dreissig Prozent der Gesamtkosten aus. Zu wenig Beachtung finden zudem Gedanken der Suffizienz und des Upcyclings. Wir prüfen derzeit zusammen mit dem Baubüro in situ, inwiefern wir Bauteile wiederverwerten können.

« Es ist wichtig, dass alle an Bord sind auf dieser Reise »  Sasha Cisar Allerdings gibt es auf dem untersuchten Trans­for­ma­tions­ areal nicht genügend geeignete Fenster, Türen oder Wände. Zudem ist die Wiederverwendung nicht günstiger als ein Neubau. Und: Unsere Mieter müssen das wollen, denn der architektonische Ausdruck ist ein anderer. Sasha Cisar: Ich schätze die Experimente sehr, die ihr bei Pensimo macht. Auch die Stiftung Abendrot geht mit gutem Beispiel voran, etwa indem sie auf dem Sulzer-Areal die Res­sour­cen­effi­zienz als Thema aufgenommen hat. Die besten Energiezahlen nützen wenig, wenn die Menschen auf immer mehr Quadratmetern wohnen. Wie kann eine Investorin soziale Dichte anstreben ? Birgit Hattenkofer:  Wir können den gesellschaftlichen Trend nicht beeinflussen oder Belegungsvorschriften machen, wie die Genossenschaften es tun. Aber wir können mit der Fläche sparsamer umgehen. Seit ein paar Jahren sinken die Wohnungsgrössen wieder. Aber sie sind immer noch immens. Man kann es sich eben leisten. Sasha Cisar: Das ist ein schwieriger Aspekt. Es gibt unterschiedliche Wohnformen und gewisse Nischen auf dem Markt, in denen Experimente möglich sind, wie sie etwa Genossenschaften in Zürich mit Hallen- oder Clusterwohnungen gemacht haben. Birgit Hattenkofer: Microliving geht in diese Richtung. Aber wo funktioniert das hierzulande ? Die Schweiz ist nicht New York oder Tokio. Wir haben ein anderes Verständnis von Wohnen.

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Hans-Ulrich Stauffer und Eva Zumbrunn gründeten die Stiftung Abendrot Mitte der 1980er-Jahre.

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Orte schaffen – und den Spagat Gestern Rebellin, heute Milliardenverwalterin – und morgen ? Im steten Wachstum sinnvoll Geld anzulegen, ist auch für die Anlagepolitik der Stiftung Abendrot aktueller denn je. Text: Palle Petersen

« Zwei Zimmer für höchstens 580 Franken mitten in der Stadt », sagt Hans-Ulrich Stauffer stolz. Der Gründervater der Stiftung Abendrot steht im Hinterhof der Basler Insel­ stras­se. Rund vierzig Bewohnerinnen teilen sich hier sechs Häuser und einen gros­sen Garten. Eine Arbeitsgruppe kümmert sich um den Gemüsegarten und den Pizza­ofen, der an diesem sonnigen Herbsttag schon nachmittags brennt. Kathi vom ‹ Inselverein › zeigt auf die von Pflanzen überwucherten Laubenbalkone und berichtet: « In den 29 2-Zimmer-Wohnungen leben vor allem Einzelpersonen und Paare. Eine Familie hat zwei Wohnungen durch eine Brandwand hindurch verbunden. Die meisten Mieter sind unter vierzig. Jedes Haus bestimmt selbst, wer einzieht, wenn eine Wohnung frei wird. Wie der Mietzins stammt auch der Komfort aus vergangenen Zeiten – Holzheizungen, Gemeinschaftstoiletten im Treppenhaus, Trittschalldämmung gleich null. » Vor dem roten Eckhaus an der Strasse erzählt Hans­ Ulrich Stauffer die Räubergeschichte der Vereinssiedlung: « In den frühen 1990er-Jahren war die ganze Häuserzeile besetzt und zum Abriss freigegeben. Doch die Baufirma war in Schwierigkeiten, und die Bank, die ihre Hypothek gestellt hatte, ging selbst pleite. Unter Zeitdruck und mit der eigenwilligen Bewohnerschaft konnten wir die Häuser für 3,7 Millionen Franken kaufen – ein Bruchteil der hypothekarischen Belastung. So war das mit Ruedi Bachmann, der hörte das Gras wachsen. » Selbst ist die Pensionskasse Ruedi Bachmann ist eine linke Basler Koryphäe. In den 1970er-Jahren gründete er die Architektenkooperative Archico und mehrere Genossenschaften und initiierte in der Bären­felser­stras­se eine häuserübergreifende Gemeinschaft mit Wohnungen, Gewerbeateliers und Läden, aber ohne Parkplätze – die erste Wohn­stras­se der Schweiz. Als das Pensionskassengesetz vor der Tür stand, mit dem die zweite Säule der Altersvorsorge obligatorisch wurde, versammelten sich einige kritische Baslerinnen in Bachmanns Beizli. Sie wussten: Investitionen haben Nebenwirkungen. Wer also Kapital auf die Suche nach Rendite schickt, sollte ihm auf die Finger schauen. Anfangs dachte die lose Interessengemeinschaft noch nicht an eine eigene Pensionskasse. Doch keine etablierte Institution wollte belegen, wohin das ihr anvertraute

Geld genau fliesst. Ausserdem bot keine neben der Witwenauch eine Witwerrente an, geschweige denn eine finanzielle Absicherung für Alleinerziehende oder unverheiratete Paare. Wollten die kritischen Baslerinnen also eine transparente und gesellschaftlich progressive Pensionskasse, mussten sie diese erst selbst erfinden. Gesagt, getan, getauft: Ende Oktober 1984 gründeten sie die Stiftung Abendrot. In der Gründungsurkunde verankerten sie « Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit » als Leitplanken ihrer Anlagepolitik. Die Geschäftsführung besorgte die 1981 gegründete Anwaltsgemeinschaft, die mit Einheitslohn, acht Ferienwochen und einem Maximalpensum von achtzig Stellenprozent ein Gegenmodell zu Karriere und Konsumismus war – Social En­trepreneur­ship avant la lettre. Eva Zumbrunn, die neben Gründervater Hans-Ulrich Stauffer die Mutterrolle bei Abendrot einnimmt und ebenfalls zur Anwaltsgemeinschaft gehörte, lächelt und sagt: « Wir haben natürlich viel mehr gearbeitet und wenig verdient. Die ersten zehn Jahre war die Stiftung Abendrot ein Zuschussbetrieb – aber ein spannender. » Wachstum und Fokussierung Als das Pensionskassenobligatorium zum Jahresbeginn 1985 in Kraft trat, waren kaum hundert Versicherte an Bord. Zu den angeschlossenen Betrieben gehörten das Frauenhaus Basel, die Wogeno Zürich, das Ökozentrum Langenbruck, der Unionsverlag Zürich oder Terre des hommes Schweiz. Anfangs investierte Abendrot das wenige Geld der wenigen Versicherten vor allem in Obligationen. Als die Zahl der Versicherten und das Anlagevermögen wuchsen, kaufte die Stiftung die ersten Immobilien. « Das gefiel uns », erzählt Eva Zumbrunn. « Bei Häusern weiss man, was man hat. Ausserdem konnten wir der Spekulation Lebensraum entziehen. » So kaufte Abendrot gemächlich Mehrfamilienhäuser, sanierte sie sanft und vermietete sie zu anständigen Zinsen – eine einfache und krisenfeste Anlagestrategie. Heute zählt die Stiftung Abendrot mehr als 12 000 Versicherte von mehr als tausend Firmen. In stetem Wachstum wurde aus der quasi nebenberuflichen Überzeugungstat ein Unternehmen mit drei Dutzend Mitarbeitenden, das mehr als zwei Milliarden Franken verwaltet, dreissig Prozent davon in Immobilien. Ob Abendrot die Insel­stras­ se heute noch kaufen würde und quasi unangetastet →

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→ liesse ? « Chancenlos », winkt Christian Geser ab. Der Architekt leitet seit 2017 die Immobilienabteilung der Stiftung und erzählt von einer Gründerzeitsiedlung mit Holzöfen, die ihm angeboten wurde: « Würden wir solche Objekte zu heutigen Preisen kaufen, müssten wir zu viel investieren, damit die Rendite stimmt. Allerdings konnten wir bei einer guten Lösung helfen: Wir unterstützten das Kaufangebot einer befreundeten Genossenschaft und gaben ihr eine Hypothek für den Kauf. » Längst ist die Stiftung Abendrot zur mittelgrossen Arealentwicklerin geworden. Mit 120 Millionen Franken in laufenden Bauprojekten und 150 Millionen in gesicherten Investitionen für die nächsten Jahre steckt sie in einem starken Wachstum. Das zwingt zur Fokussierung. Kleine Bestandesliegenschaften kauft die Pensionskasse kaum mehr. « Nicht, weil die Werthaltigkeit nicht stimmt », stellt Christian Geser klar, « sondern weil der Aufwand für Unterhalts- und Sanierungsarbeiten unverhältnismässig gross ist. Mit grösseren Eigenentwicklungen können wir unsere Nachhaltigkeitsziele wirkungsvoller umsetzen. » Nestlé und Nachhaltigkeit Heute wie damals hält Abendrot keine Beteiligungen an börsenkotierten Immobilienfirmen, sondern investiert ausschliesslich direkt und kümmert sich via eine Tochterfirma auch um die Verwaltung. Bei Aktien sei das ähnlich, erklärt Enza Bögli, die seit 2017 zum geschäftsleitenden Trio gehört: « Wir investieren nur in speziellen Bereichen in Fonds, in der Regel lieber direkt in Aktien konkreter Firmen. Wir wollen wissen, was wir haben. Da­ rum halten wir auch doppelt so viele Aktien von Schweizer Firmen wie von ausländischen. Da sind wir näher dran und trotzdem an ausländischen Umsätzen beteiligt. » Bei den meisten Schweizer Pensionskassen ist es genau andersherum. Und Abendrot fährt gut mit ihrer schweizlastigen Aktienstrategie: Mit durchschnittlich mehr als elf Prozent Rendite schlug sie in den letzten zehn Jahren den Gesamtmarkt siehe Infografik Seite 22. Der Weg zum heutigen Aktienportfolio war freilich holprig und zögerlich. « Erst 1997, als Obligationen zunehmend unrentabel waren und die Immobilienkrise hereinbrach, investierten wir entschlossen », erinnert sich Hans-­ Ulrich Stauffer. Nebst einer klassischen Finanzprüfung der Unternehmen etablierte die Stiftung damals Negativund Positivkriterien, die zwar laufend angepasst werden, aber im Grunde heute noch gelten. Tabu sind Firmen aus den Bereichen Rüstung, Atomenergie, Tabak oder Agrochemie. Pluspunkte gibt es für Weiterbildungs- und Mitsprachemöglichkeiten der Angestellten, Bemühungen um geschlossene Produktionskreisläufe oder Chancen- und Lohngleichheit der Geschlechter. Als man 2004 mit der Frage rang, ob der Kauf von Nestlé-Aktien statthaft sei, endete man mit einem « Ja, aber » – sofern man die Aktionärsrechte aktiv wahrnehme und Probleme konstruktiv mit den entsprechenden Firmen diskutiere. Seither lässt sich Abendrot an den Generalversammlungen von der Stiftung Ethos vertreten. Abendrot half auch mit, die ‹ Ethos Engagement Pools › zu gründen, die sich in In- und Ausland für die Förderung einer nachhaltigen Anlagetätigkeit einsetzen. Seit 2016 macht Abendrot zudem beim Verein ‹ Fossil Free › mit und zieht systematisch Gelder ab, die dem Klima schaden. Die Konzernverantwortungsinitiative unterstützte sie schon während der Unterschriftensammlung. Und trotzdem: Löst Abendrot mit Aktien von Nestlé, Novartis und Apple ihren alten Grundsatz von « Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit » noch ein ? Schafft sie den Spagat zwischen Renditeund Nachhaltigkeitszielen auch in Zukunft ?

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Offen für Menschen und Orte Sicherlich haben Wachstum und Professionalisierung ihren Preis. Auch bei der Stiftung Abendrot wurden Entscheidungswege und Risikoabwägungen länger. Der Pragmatismus wuchs mit der Verantwortung – immerhin geht es um das Alterskapital von Tausenden Menschen. Letztlich ist Nachhaltigkeit relativ und für eine milliardenschwere Vorsorgeeinrichtung etwas anderes als für eine lokale Gemüsekooperative – zumal die Sammelstiftungen wachsen müssen, zumindest bis die Altersvorsorge reformiert ist. Patentrezepte und eine Definition, was eine nachhaltige Immobilienanlage ist, gibt es ohnehin nicht. Angesprochen auf den Zielkonflikt von Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sagt Geschäftsleiterin Enza Bögli ohne zu zögern: « Die Rendite muss stimmen, das schulden wir unseren Rentnerinnen von heute und von morgen. » Und die zweite Priorität ? Bögli und ihr Immobilienchef überlegen länger. « Mitten in der Klimakrise darf man das kaum sagen », meint Geser schliesslich zögerlich. « Aber ich glaube, die Menschen sind uns am Ende wichtiger als die Treibhausgase. Lebenswerte Räume für Kultur, zum Arbeiten und zum Wohnen, die eine Gesellschaft zusammenhalten – damit kann man mehr bewirken als mit einem anonymen Minergie-A-Haus voller Vielflieger. » In der Tat sind die Areale von Abendrot keine Kraftwerke. Aber sie sind grau-energetisch vorbildlich und bunt durchmischt, voller Leben und Baugeschichte. Das ist kein Zufall: Mehr als die Hälfte der Projekte entstand über Architektinnen, die sich für Transformationsgebiete in ihrer Nähe engagierten und Investoren suchten, die nicht einfach alles abreissen und mit Wohnungen bebauen wollen. Die Stiftung Abendrot hat sich einen Namen damit gemacht, schwierige Orte gemeinsam mit den Menschen zu entwickeln, die dort sind. Solche gibt es noch genug, ob mit Besetzern und Holzöfen oder ohne. Abendrot ist bereit für die nächsten Räubergeschichten. Christian Geser: « Wer eine Partnerin für sinnvolle Projekte sucht: Unsere Türen sind offen. »

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Seit 2017 leiten Nicole Valet, Enza Bögli und Stephan Bannwart die Geschicke der nachhaltigen Pensionskasse.

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Projektschau

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1  Lagerplatz Annex Halle 193, 2020 / 21 Lagerplatz 7, Winterthur Sanierung und Ausbau Annex ehemalige Speditionshalle zu ‹ museum schaffen › Architektur:  Valérie Waibel, Winterthur Nutzung:  ‹ museum schaffen ›, Winterthur Geschossfläche:  351 m², davon 72 m² neu ( Galerieflächen ) Anlagekosten:  Fr. 650 000.— Foto: Martin Zeller

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2  Flumserei, 2020 – 2024 Bergstrasse 31, Flums SG Umnutzung ehemalige Spinnerei zu Wohnen und Arbeiten Architektur Wettbewerb:  Moos Giuliani Herrmann, Diessenhofen Architektur Planung und Realisierung:  Hotz Partner, Wädenswil Realisierungspartner:  Halter, St. Gallen Nutzung:  110 Wohnungen und Wohnateliers für teilgemeinschaftliches Wohnen, 13 000 m² Gewerbe /  Dienstleistung / Handwerk, Einstellhalle Geschossfläche:  36 360 m² Anlagekosten:  Fr. 53 Mio. Foto: Frank Schwarzbach

3 Wohnüberbauung Wilmisberg, 2020 – 2024 Michaelskreuzstrasse, Root LU Neubau für teilgemeinschaftliches Wohnen Architektur Richtprojekt:  Architekturfabrik, Affoltern am Albis Realisierungspartner:  Halter, Zürich Nutzung:  130 Wohnungen ( 50 % Miete, 50 % Stockwerkeigentum ), Gemeinschaftseinrichtungen, Einstellhalle Geschossfläche:  24 150 m² Anlagekosten:  Fr. 78 Mio. Foto: Architekturfabrik

4  Frey-Raum, 2018 – 2020 Dorfstrasse 21, Wangen bei Olten SO Umnutzung ehemalige Nähhalle zu Wohnateliers Architektur:  Robert & Esslinger, Rickenbach und Zofingen Nutzung:  20 Wohnateliers, teils mit Galerie Geschossfläche:  1800 m² Anlagekosten:  Fr. 8,9 Mio.

5  Lagerplatz Halle 181.2 / 3, 2020 – 2025 Lagerplatz 21 / 27, Winter­thur Sanierung und Verdichtung ehemalige Schiffbauhalle Architektur Machbarkeitsstudie:  RWPA, Winterthur Nutzung:  ca. 6500 m² Gewerbe, Ateliers, Dienstleistung, Schulung, Lager Geschossfläche:  ca. 8350 m² Anlagekosten:  ca. Fr. 21,8 Mio. Foto: Vanessa Püntener

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6  Webergut, 2018 – 2024 Webergutstrasse 5, Zollikofen BE Umnutzung ehemaliges Bürohaus zu teil­ gemeinschaftlichem Wohnen und Arbeiten Architektur Umbau:  SGGK, Zürich Architektur Neubau:  Reinhard Partner, Bern Nutzung Umbau:  93 loft­artige Wohnungen, 13 Wohn­ateliers mit Gemeinschaftseinrichtungen, 600 m² Gewerberäume, 150 Einstellhallenplätze Nutzung Neubau:  30 Wohnungen, 1 Gewerbeatelier Geschossfläche:  22 500 m² Anlagekosten:  Fr. 60 Mio. Foto: SGGK

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7  Lagerplatz Kopfbau 118, 2017 – 2021 Lagerplatz 24, Winterthur Sanierung ehemalige Schreinerei für Holz­ modelle und Aufstockung mit wiederverwendeten Bauteilen Architektur: Baubüro in situ, Zürich Bauingenieur:  Oberli, Winterthur Nutzung:  Werkstatt, Büros, Ateliers Geschossfläche:  1500 m², davon Aufstockung: 950 m²  Anlagekosten:  Fr. 5,3 Mio. Foto: Martin Zeller

8  Bucher-Areal, 2017 – 2022 Gotthelfstrasse 44, Gysnauweg 15, Poliere­ gasse 7, Burgdorf BE Sanierung und Umnutzung ehemalige Wollzwirnerei und Neubau von 2 Wohnhäusern für teilgemeinschaftliches Wohnen Architektur Umbauten:  Blum und Grossenbacher, Langenthal Architektur Neubauten:  LVPH, Freiburg Realisierungspartner Neubauten:  Halter, Bern Nutzung Umbauten:  Kindertagesstätte, Wohngruppe, Tierklinik, Karatestudio, 9 Loftwohnungen, 6 Gewerbeateliers mit Gemeinschaftsraum, Wasserkraftwerk

Nutzung Neubauten:  51 Wohnungen und Wohn­ ateliers, 1 Clusterwohnung mit 9 Einheiten für teilgemeinschaftliches Wohnen mit Gemeinschaftseinrichtungen, Gemeinschaftsraum, Einstellhalle Geschossfläche:  11 360 m² Anlagekosten:  Fr. 31 Mio. Plan: LVPH

9  Rietschi-Areal, 2016 – 2022 Güterstrasse 246, Basel Umnutzung ehemaliger Getränkehandel im Hinterhof zu Wohnen und Kindertagesstätte Architektur Vor- und Bauprojekt: Rüdisühli Ibach, Basel Architektur Ausführungsprojekt: Baumann Projektmanagement, Basel Baumanagement:  Probau, Pratteln Nutzung:  15 Loftwohnungen à 30 – 60 m², Kindertagesstätte 717 m², 3 Ateliers total 407 m², Lagerräume Untergeschoss 530 m² Geschossfläche:  3366 m² Anlagekosten:  Fr. 12 Mio. Foto: Rüdisühli Ibach

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Investment und Gemeinsinn Die Basler Stiftung Abendrot setzt bei ihren Im­ mobilienanlagen neben grossen Neubauten auch auf alte Industrieareale und Gewerbebau­ ten. ‹ Die nachhaltige Pensionskasse › ent­ wickelt diese nicht für anonyme Nutzerinnen, sondern im Dialog mit Menschen, die sinnvolle Ideen haben, und mit der Bau­sub­stanz, die schon dort ist. Dieses Heft beschreibt den Weg von ein paar überzeugten Rebellinnen zur schlagkräftigen Sammelstiftung und erklärt, wie ihre Projekte die Zielkonflikte der Nachhaltigkeit umschiffen.  www.abendrot.ch

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