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Editorial
“Nothing about us without us!” ist “en vogue” Sabine Hahn Fachbereich Pflege, Angewandte Forschung und Entwicklung Pflege, Berner Fachhochschule Gesundheit
Wo man hinschaut, die Gesundheitsversorgung sieht sich mit knapper werdenden Ressourcen und steigenden Anforderungen konfrontiert. Ermutigende Tendenzen zeigen sich international durch den aktiven Einbezug von Patient_ innen und Angehörigen (Health Service User) in die (Versorgungs-)Forschung und Entwicklung. Dadurch können Gesundheitsdienstleistungen effizienter gestaltet und besser an die Bedürfnisse der nutzenden Personen angepasst werden (Bombard et al., 2018). Der englische Begriff „Health Service User“ mag uns im Zusammenhang mit Patient_ innen und Angehörigen befremden, doch er schlieβt alle Menschen ein, die Gesundheitsdienste nutzten. Auch Sie und mich, die vermeintlich gesund sind und selten zum Hausarzt gehen, vielleicht Vorsorgeuntersuchungen nutzen oder Eltern betreuen, die dank spitalexterner Pflegedienste trotz altersbedingten Einschränkungen zu Hause leben können. Eingeschlossen sind aber auch Patienten- oder Angehörigenorganisationen. Zudem zeigt der Begriff „Health Service User“ den aktiven Part der Nutzung auf, und weniger die passive „patient“-Erduldung. „Health Service User“-Einbezug bedeutet Partizipation bzw. Entscheidungsteilhabe und nimmt den Empowerment-Gedanken auf (SAMW, 2016). In der Forschung bedeutet „Health Service User“-Beteiligung, für die Betroffenen wichtige Themen in Forschungsprojekten anzugehen und ihre Bedürfnisse und Bedarfe dabei fortlaufend zu berücksichtigen. Damit dies gelingt, beginnt die Beteiligung schon bei der Ausarbeitung der Forschungsidee, geht weiter über das gemeinsame Ver fassen von Forschungsanträgen, das Umsetzen der Forschungsarbeit inklusive gemeinsame Interpretation der Resultate, Berichterstellung sowie Dissemination. Beteiligung bedeutet also Mitarbeit in den Projekten oder deren Leitung, natürlich unter Voraussetzung der vorhandenen Kompetenzen. Der Trend ist klar “Nothing about us without us!” (Brodt, Norton & Kratchman, 2015) und das Thema ist „en vogue“. Wird jedoch hinter die Kulissen geschaut, scheint echte Beteiligung noch Mangelware. Einige Studien und Projekte versprechen mehr, als sie halten können und der Einbezug besteht lediglich darin, Patient_innen als Informations träger zu konsultieren, anstatt sie in die Mitgestaltung aktiv einzubeziehen (Bombard et al., 2018). Studien, welche echte Beteiligung umsetzten, stammen häufig aus dem
Bereich der psychiatrischen Versorgung. Dieser Einbezug geschah gleichzeitig mit der Entwicklung der Recovery Bewegung (Amering & Schmolke, 2012). Die Recovery Bewegung verändert die psychiatrische Versorgungslandschaft stetig. Beispielsweise gibt es ein Ausbildungsan gebot für Betroffene, die danach als Peers „Health ServiceUser“ in der Gesundheitsversorgung arbeiten und Menschen mit psychischen Erkrankungen unterstützen und die Sicht dieser Menschen in den Behandlungsprozess klarer einbringen. Die Recovery Bewegung fordert die Akzeptanz persönlicher Genesungswege, um eigene Ziele zu erreichen und das eigene Potenzial zu leben (NAMI-ThurstonMason, 2019). Der Einbezug dieser Genesungserfahrung in die Gesundheitsversorgung, Forschung, Entwicklung und Lehre scheint eine logische Folge. Die psychiatrische Versorgung kann hier für andere Settings Vorbild sein, denn noch zu häufig werden in den meisten Settings „Health Service User“ durch Fachpersonen bevormundet oder können nicht am Betreuungs- bzw. Behandlungsprozess partizipieren. Die Zeit scheint also reif, dass wir den Schritt wagen und uns auf „Health Service User“-Einbezug bewusst einlassen. Doch verfügen Forschungsabteilungen, Hochschulen oder die Praxis überhaupt über die notwendigen organisatorischen Grundlagen und institutionellen Voraussetzungen für diesen Einbezug? Am Fachbereich Pflege der Berner Fachhochschule waren wir nicht bereit. Die nötigen Voraussetzungen mussten zuerst in einem mehrjährigen Projekt erarbeitet werden (Gurtner & Hahn, 2019). Nun verfügen wir über die Grundlagen, inklusive eines Stufenmodells für das Ausmaβ des Einbezuges sowie über Stellenprofile für Mitarbeitende, welche über Erfahrung als „Health Service User“ verfügen und diese Expertise in Lehre, Forschung und Weiterbildung einbringen können. In den schon umgesetzten Projekten und auch im Literaturreview von Bombard et al. (2018) zeigten sich folgende unterstützenden Elemente für die Kooperation in Forschung und Lehre mit „Health Service Usern“: Trotz Erkrankung sollten „Health Service User“ eine gewisse psychische und physische Stabilität mitbringen. Arbeitsrhythmus und Arbeitskapazität müssen auf die Beeinträchtigungen der „Health Service User“ angepasst werden. Dozierende und Forschende sollten über hohe kommunikative Kompeten zen, fundierte methodische und didaktische Kenntnisse
© 2020 Hogrefe Pflege (2020), 33 (1), 1–2 https://doi.org/10.1024/1012-5302/a000711