alma 3/2021 – Schreiben

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Fokus Schreiben

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«Wir tun gut daran, die Handschrift zu pflegen» Die einmalige Sammlung von Handschriften der St.Galler Stiftsbibliothek dokumentiert das Klosterleben vom Frühmittelalter bis zur Aufhebung der Abtei zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig setzt sie der Materialität des handschriftlichen Schreibens – und damit auch der sinnlichen Verankerung im Geschriebenen – ein Denkmal. Bei einem Rundgang durch die Stiftsbibliothek spricht Prof. Dr. Ulrike Landfester über die St.Galler Schriftkultur, die Bedeutung der Handschrift und die Sehnsucht nach Wirklichkeit in der digitalen Welt. Interview Stephanie Kappes  Bild Hannes Thalmann

Frau Landfester, was ist Ihr erster Gedanke, wenn Sie die Stiftsbibliothek betreten? «Seelenapotheke» ist mein erster Gedanke, ganz klar: Bücher sind eine Medizin für die Seele. Das wussten schon die alten Mönche. Und das ist immer noch so geblieben, auch wenn wir die Bücher jetzt zum Teil über Kindle und ähnliche elektronische Medien lesen. Aber das Setting kommt natürlich dazu: Dieser Barocksaal ist einfach zum Sterben schön. Was zeichnet für Sie das St.Galler Schriftkulturerbe aus? Wir haben hier in St.Gallen eine ganz ungebrochene Tradition, die ins siebte, achte Jahrhundert zurückgeht. Das kann man überhaupt nicht hoch genug schätzen. Als «HSGlerin» fühle ich mich dem besonders verbunden, weil die Universitäten aus den Klosterschulen entstanden sind. Die Universitäten haben im 11. Jahrhundert begonnen, die Aufgaben der Klosterschulen zu übernehmen. Ich finde es fantastisch, dass das Erbe des explorativen Lernens, das die Klosterschulen vermittelt haben, so ungebrochen überliefert worden ist. Mit «explorativem Lernen» meine ich, dass über Bücher nachzudenken und sie zu lesen selbst für die Scholastiker nicht nur dazu dient, die Heilige Schrift zu affirmieren – die christliche Religion ist ja ganz wesentlich eine Buchreligion. Sondern man tut es auch, um darüber nachzudenken, welche

«Psyches iatreion» – die Inschrift über dem Portal der Stiftsbibliothek St.Gallen – bedeutet so viel wie «Seelenapotheke» oder «Heilstätte der Seele».

Doppeldeutigkeiten enthalten sind, welche Aspekte, die man vordergründig nicht sieht. Und dieses explorative Lernen verbinde ich sehr stark mit der St.Galler Schriftkultur. Es ist übrigens absolut sensationell, dass wir alle diese Handschriften noch haben und dass sie immer noch auf dem Grund und Boden stehen, wo sie entstanden sind. Das ist nicht häufig so. Was ist in Ihren Augen die Bedeutung einer solchen Sammlung von Handschriften in der heutigen, digitalen Welt? Dass diese Handschriften noch vorhanden sind, dass Sie die Struktur des Papiers, des Pergaments, dass Sie die Zuschnitte, die Farben, das alles sehen und anfassen können – das ist etwas, was wir extrem stark unterschätzen im digitalen Zeitalter. Die Dematerialisierung des Schreibens durch die digitale Revolution nimmt uns ein Stück weit die sinnliche Verankerung in der Realität weg: Wir verlieren den Kontakt zu dem, was wir schreiben. Früher haben wir gesehen, was für Spuren wir auf dem Papier hinterlassen haben. Diese Materialität – selbst die dünne Schicht von Tinte auf einem Blatt Papier ist ein Stück Materie und Sie spüren das, wenn Sie mit den Fingerspitzen darüberfahren – haben wir vollkommen verloren. Ich weiss nicht, wie mein Computer die Buchstaben produziert, die auf meinem Screen erscheinen, und ich würde sagen, dass es der überwiegenden Mehr-


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