#13 S Ü DT I R O L
M A G A Z I N E F O R F I L M P R O F E S S I O N A LS 2 0 2 1
IM FOKUS
#IDMFILMFUNDING
Schwestern fürs Leben Vielseitige Frauenfiguren: Linda Oltes Adoptionsdrama Sisters
DOSSIER
P R O D U KT I O N
Un Certain Regard: Filmfestivals – gestärkt aus der Krise
Ein Trap-Musiker auf Selbstfindung in den Bergen: Lovely Boy von Francesco Lettieri
A magazine by
Issue – Year
IDM FILM FUND & COMMISSION
#13 2 0 2 1
FULL SERVICE POST-PRODUCTION PICTURE POST
SOUND POST
ON SET DIT DATA SERVICE ON SET VFX SUPERVISION DATA BACKUP DAILIES EDITING SUITES CONFORMING VISUAL EFFECTS GRADING MASTERING
SOUND EDITING SOUND DESIGN ADR RECORDING FOLEYS SOUND MIX
SERVICE PRODUCTION PLANNING AND ORGANISATION STUDIO / ON LOCATION SHOOTING VIRTUAL PRODUCTION CO-PRODUCING FROM SCRIPT TO FINAL DELIVERY SUBSIDY APPLICATIONS IDM FILM FUND ITALIAN TAX CREDIT
MERAN/O | BERLIN | COLOGNE | LEIPZIG | STUTTGART soon in: LISBON | PUNE
Italy
CINE-CHROMATIX.IT AMMIRAFILM.COM
VORWORT
Welcome
in den vergangenen Monaten war es sehr spannend zu beobachten, wie effizient sich Filmcrews an neue Produktionsbedingungen und Covid-Sicherheitsauflagen anpassten – und mit wie viel Schwung und Resilienz sie ihre Projekte wieder aufgenommen haben und erfolgreich abschließen konnten. Auch gab es eine ganze Reihe an innovativen, spannenden Initiativen – etwa neue hybride oder gänzlich digitale Veranstaltungsformen für Festivals wie die Berlinale mit dem European Film Market oder für Branchenevents wie die zehnte Ausgabe der von IDM Südtirol organisierten Filmkonferenz INCONTRI. Zwei Südtiroler Filmschaffenden dürfen wir zu wichtigen Erfolgen gratulieren: Thomas Prenn wurde für seine Rolle in Evi Romens Hochwald mit dem Österreichischen Filmpreis als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet; Regisseurin Maura Delpero bekam im Rahmen des Cannes Film Festival ihren 2020 gewonnenen „Women in Motion“-Preis endlich persönlich überreicht. Wir freuen uns auch mit dem österreichischen Regisseur Peter Brunner, dessen Spielfilm Luzifer von der Südtiroler Filmförderung unterstützt wurde und auf dem Festival von Locarno Premiere feierte. Als Filmförderung blicken wir nun – nachdem die zweite Förderrunde im Mai 2021 nicht stattfinden konnte – den nächsten Fördercalls entgegen, die bereits garantiert sind: Im September 2021 sowie im Januar,
Mai und September 2022 können Produzentinnen und Produzenten ihre Projekte wie gewohnt im Onlineportal von IDM Film Fund & Commission einreichen. Als regionale Förderung sind wir uns unserer großen Verantwortung – vor allem für die lokale Filmbranche – bewusst und wollen nach diesen schwierigen Monaten mehr denn je ein verlässlicher Partner bleiben. Ich freue mich darauf, Sie bei kommenden Branchenveranstaltungen – allen voran die Biennale in Venedig – wieder persönlich zu begrüßen. Eine besonders schöne Nachricht ist, dass bei den „Venice Days“ eine Produktion vertreten ist, die in Südtirol gedreht und gefördert wurde: Lovely Boy von Francesco Lettieri wird außer Konkurrenz als Schlussfilm der Veranstaltung präsentiert. Gratulation!
TA K E #1 3
LIEBE FILMSCHAFFENDE,
Ihre Vera Leonardelli D I R E C T O R B U S I N E S S D E V E LO P M E N T I D M S Ü DT I R O L
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IMPRESSUM
I N H A LT
MAGAZINE FOR FILM P R O F E S S I O N A LS # 1 3 2021 PUBLISHER IDM Südtirol Film Fund & Commission Schlachthofstraße 73 39100 Bozen T +39 0471 094 000 film@idm-suedtirol.com film.idm-suedtirol.com Facebook: idmfilmfunding Instagram: idmfilmfunding
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EXECUTIVE EDITOR Birgit Oberkofler
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MANAGING EDITORS Alessia De Paoli, Barbara Weithaler CONCEPT Exlibris www.exlibris.bz.it EDITOR-IN-CHIEF Florian Krautkrämer EDITOR, PUBLISHING MANAGER Valeria Dejaco/Exlibris EDITORIAL DESIGN Nina Ullrich www.designnomadin.com ART DIRECTION Philipp Aukenthaler www.hypemylimbus.com TRANSLATIONS & PROOFREADING Exlibris (Claudia Amor, Valeria Dejaco, Helene Dorner, Cassandra Han, Milena Macaluso, Charlotte Marston, Federica Romanini) PHOTOS If not credited otherwise: IDM COVER PHOTO Daniels Neguliners/Fenixfilm/ Albolina Film ILLUSTRATIONS Oscar Diodoro (34–40), freund grafic design (57) PRINTER Südtirol Druck OHG Ifingerstraße 1 I-39010 Tscherms www.suedtiroldruck.com
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O N LO C AT I O N
Perspektiven auf Südtirol
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NEWS Shot in South Tyrol / FINAL TOUCH / Top 5 / 3 Fragen an … / Funding News / Innovation
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D R E H B U C H E N T W I C K LU N G
RACCONTI: Das Script Lab von IDM
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P R O D U C T I O N # 1 : LO V E LY
Francesco Lettieri verpflanzt einen römischen TrapStar in die Berge BOY
ANDREA MORANDI
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PRODUCTION #2: SISTERS
Lettisch-südtirolerische Koproduktion: das Adoptionsdrama von Linda Olte FABIAN TIETKE
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DOSSIER
Un Certain Regard. Festivals in Zeiten der Pandemie / INCONTRI Film Conference 2021 FLORIAN KRAUTKRÄMER
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Drei
PRODUCTION #3: EVA-MARIA
Interview: Regisseur Lukas Ladner über Intimität, Kinderwunsch und Behinderung DORIS POSCH
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LO C A L TA L E N T S
Strukturen aufbrechen: Regisseurin Nancy Camaldo MARIANNA KASTLUNGER
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UNTERWEGS MIT …
Drohnenspezialisten im Gebirge: Alpsvision MARIANNA KASTLUNGER
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P R O D U Z E N T E N -TA L K
Andrea Occhipinti über Streaming als Chance fürs Arthousekino ALESSANDRA DE LUCA
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S P OT L I G H T
Eva Lageder A B S PA N N
Christine Dollhofer beantwortet den TAKE-Fragebogen / Preview
E D I TO R I A L
IDM
TAKE #13
Film Fund & Commission
vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir: Ich freue mich auf jede Gelegenheit, einen Film vor Ort auf der Leinwand zu sehen und Freunde, Partner, Branchenkontakte persönlich zu treffen – und genieße diese Face-to-face-Begegnungen noch viel mehr, als ich das noch vor anderthalb Jahren für möglich gehalten hätte. Festivals und andere Branchenevents sind eben nicht nur eine Businessgelegenheit, die sich in die digitale Welt überführen lässt. Sie sind auch soziales Gefüge, Kontaktknüpfen, Austausch und Gespräche über soeben gesehene Premierenfilme oder anstehende Projekte. Wie es den Filmfestivals in diesen Pandemiemonaten ergangen ist, wie sich ihre wirtschaftlichen und sozialen Aspekte digital erleben lassen und wie sich die Festivalmacher und -macherinnen derzeit für eine immer digitalere Zukunft rüsten, hat TAKEChefredakteur Florian Krautkrämer für sein Dossier ab S. 34 recherchiert. Die drei von IDM geförderten Produktionen, die wir Ihnen in diesem Heft vorstellen, handeln alle von jungen Menschen, die mit viel Resilienz in einer schwierigen
Lebenssituation ihren Weg finden: ein drogenabhängiger Trap-Musiker in Francesco Lettieris Lovely Boy (SetReportage S. 20), ein Mädchen aus zerrütteten Verhältnissen in Linda Oltes Adoptionsdrama Sisters (Produktionsbericht S. 28) und die willensstarke Protagonistin der Doku Eva-Maria, die sich trotz ihrer Beeinträchtigung dazu entschließt, Mutter zu werden (Interview mit Regisseur Lukas Ladner S. 42). Auch die lokale Filmbranche stellt sich vor – etwa die DrohnenProfis von Alpsvision (S. 50) und die junge Regisseurin Nancy Camaldo (S. 48). Zuletzt eine Mitteilung in eigener Sache: Aufgrund von immer häufigeren digitalen Treffpunkten und um unsere Internetpräsenz noch spannender zu gestalten, wird TAKE ab 2022 als Onlinemagazin erscheinen. Auf film.idm-suedtirol.com finden Sie dann Berichte, Interviews und Reportagen in gewohnter Qualität, aber noch aktueller – bequem am PC, Tablet oder Smartphone. Bleiben Sie uns auch digital weiterhin treu! Herzlich, Ihre Birgit Oberkofler H E A D F I L M F U N D & CO M M I S S I O N I D M S Ü DT I R O L
KONTAKTE IDM Südtirol Film Fund & Commission BIRGIT OBERKOFLER Head Film Fund & Commission T +39 0471 094 277 birgit.oberkofler@idm-suedtirol.com RENATE RANZI Coordinator Film Location (maternity leave) T +39 0471 094 252 renate.ranzi@idm-suedtirol.com CLAUDIA HAUG Coordinator Film Location (maternity leave substitute for Renate Ranzi) T +39 0471 094 246 claudia.haug@idm-suedtirol.com
TA K E #1 3
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
EVA PERWANGER Film Funding T +39 0471 094 282 eva.perwanger@idm-suedtirol.com BEATRIX DALSASS Film Funding T +39 0471 094 272 beatrix.dalsass@idm-suedtirol.com ALESSIA DE PAOLI PR & Film Location T +39 0471 094 266 alessia.depaoli@idm-suedtirol.com BARBARA WEITHALER PR & Film Location T +39 0471 094 254 barbara.weithaler@idm-suedtirol.com SOPHY PIZZININI Film Location T +39 0471 094 279 sophy.pizzinini@idm-suedtirol.com LUISA GIULIANI Film Commission T +39 0471 094 294 luisa.giuliani@idm-suedtirol.com
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O N LO C AT I O N
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FILM
D I R E C TO R
Head Full of Honey (2018)
Til Schweiger
LO C AT I O N
Helmuth Rier
TA K E # 1 3
Schloss Prösels, Völs am Schlern
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O N LO C AT I O N
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FILM
D I R E C TO R
Alles wird gut (2020)
Giorgio Pasotti
Gloriette Guesthouse/Tiberio Sorvillo
TA K E # 1 3
LO C AT I O N
Gloriette Guesthouse, Oberbozen
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O N LO C AT I O N
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FILM
D I R E C TO R
A Hidden Life (2019)
Terrence Malick
Festung Franzensfeste/Georg Hofer
TA K E #1 3
LO C AT I O N
Festung Franzensfeste
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NEWS
S H OT I N S O U T H T Y R O L
F I N A L TO U C H
Mordach
A noi rimane il mondo
S H OT I N S O U T H T Y R O L
Zur gleichen Zeit, in der Laura Brunner (Lea Louisa Wolfram), Tochter des wichtigsten Mannes im Tal, tot aufgefunden wird, befindet sich Cuma Ozan (Mehmet Kurtuluş, l.) in Mordach auf einem Selbstfindungstrip. Er ist nicht nur der Letzte, der Laura Brunner lebend gesehen hat – und damit der Hauptverdächtige –, sondern arbeitet auch seit Jahren als verdeckter Ermittler im Frankfurter Clan-Milieu. Seine Vorgesetzte beauftragt ihn, den Mordfall mit der unerfahrenen Kleinstadtpolizistin Toni Brandner (Sarah Bauerett, r.) aufzuklären. Der TV-Zweiteiler Mordach ist eine Produktion von UFA Fiction und ARD Degeto für die ARD, Regie führte Roland Suso Richter nach einem Drehbuch von Thomas Berger. Gedreht wurde im Juni 2021 in Südtirol (u. a. in Bruneck und Umgebung) und Trient.
ARD Degeto/UFA Fiction/R. S. Richter
Mord im Tal
F I N A L TO U C H
Altrove Films
Kunst und Widerstand
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Alles, was Menschen tun, hat etwas Gemeinschaftliches – auch das Schreiben. Im Dokumentarfilm A noi rimane il mondo – Wu Ming und die Kunst des radikalen Widerstands betrachtet der Südtiroler Regisseur Armin Ferrari das experimentelle Geschichtenerzählen von Künstlerinnen und Aktivisten aus Bologna. Er zeichnet die Arbeit des Schriftstellerkollektivs „Wu Ming“ („ohne Namen“) nach, das sich dort in den 1990er-Jahren formte, und fängt ihren avantgardistischen, mitunter militanten Blick auf Literatur, Kunst und Politik ein. Dabei weiß das Autorenkollektiv die Kameras eigentlich zu meiden – nach 25 Jahren stellt es sich erstmals einer filmischen Betrachtung. Über Wu Ming hinaus taucht Ferraris Film aber noch tiefer in den künstlerischen und kulturellen Underground Italiens ein. Für das Projekt verantwortlich zeichnet Altrove Films aus Trient. Produzent Roberto Cavallini, in der Südtiroler Filmszene bestens vernetzt, holte die Bozner Albolina Film als Serviceproduzentin ins Boot; die Crew bestand größtenteils aus lokalen Filmschaffenden. Gedreht wurde auch in Südtirol: in der Bibliothek des Klosters Neustift bei Brixen (Bild M.) etwa eine Schlüsselszene mit der Onlinegruppierung, die unter dem Pseudonym „Nicoletta Bourbaki“ Fake News aufdeckt. Oder auf dem Gelände des ehemaligen NS-Durchgangslagers in Bozen, wo der Leidensweg des Partisanen Giorgio Marincola beginnt, bis zu seiner Ermordung im Fleimstal durch eine SS-Einheit. Das außergewöhnliche Projekt ist sowohl für Regisseur Ferrari als auch für Editorin Marina Baldo ein Erstlingswerk, daher holte sich die Produktion im Rahmen von „FINAL TOUCH #6: Intense Feedback from experts“ – einer Initiative von IDM und dem Bolzano Film Festival Bozen – Unterstützung zu Themen wie Schnitt, Postproduktion, Festivals und Vertrieb. „Die Experten lieferten uns zum Rohschnitt sehr nützliches Feedback“, sagt Roberto Cavallini. „Nun haben wir den Schnitt abgeschlossen, gehen in die Postproduktion – und freuen uns auf eine Premiere im Herbst.“
NEWS
TO P 5
Suspense #shotinsouthtyrol TO P 5
Lailaps Pictures/X Filme/Spauke
Fünf spannungsgeladene Filme
FILM
Wild Republic (2021) Markus Goller PRODUKTION Lailaps Pictures (DE), X Filme (DE), Handwritten Pictures (DE) LOCATIONS Pustertal, Dolomiten HANDLUNG Sieben junge Straftäter nehmen an einem Resozialisierungs-Camp in den Alpen teil. Nach dem mysteriösen Tod des Betreuers fliehen sie in die Berge. REGIE
FILM
The Girl in the Fog (2017) Donato Carrisi PRODUKTION Colorado Film Production (IT) LOCATIONS Karersee, Kaltern, Meran, Welschnofen, Sarntal, Bozen HANDLUNG Sonderermittler Vogel soll in einem abgelegenen Bergdorf das Verschwinden eines Mädchens aufklären.
Colorado/Zambelli
REGIE
FILM
Endabrechnung (2016) Umut Dağ PRODUKTION Allegro Film (AT) LOCATIONS Meran, Marling, Tscherms, Nals, Ultental, Passeier HANDLUNG Kommissar Höllbacher zieht sich nach einem Burnout in seine Heimatstadt Meran zurück, doch dann wird dort ein Liebespaar erschossen.
obs/ZDF/Oppitz
REGIE
FILM
House of Shadows (2012) Rossella De Venuto PRODUKTION Interlinea Film (IT) LOCATIONS Missian, Brixen, Oberbozen, Bozen HANDLUNG Megans Ehemann Leo erbt den alten italienischen Palazzo seiner Familie, in dem die finsteren Schatten der Vergangenheit wieder auftauchen.
Interlinea Film
REGIE
FILM
Der Mann aus dem Eis (2016) Felix Randau PRODUKTION Port Au Prince Films (DE), Echo Film (IT) LOCATIONS Moos im Passeier, Pfitschtal, St. Jakob, Schnals HANDLUNG Vor 5.000 Jahren: Als Kelab von der Jagd zurückkehrt, ist seine ganze Sippe tot. Angetrieben von Rache bahnt er sich seinen Weg durch die Ötztaler Alpen.
Port au Prince/Rattini
REGIE
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NEWS
3 FRAGEN AN ...
FUNDING
Peter Brunner
Förder-Updates
Peter Brunner, Regisseur und Drehbuchautor
Ewald Grum
3 FRAGEN AN …
Sie haben an idyllischen Orten bei Brixen in Südtirol gedreht – welche Rolle spielt Landschaft in Ihrem Film? PB Landschaften und Szenenbilder sind in meinen Filmen wie eine Verlängerung der Figuren selbst, ich wähle sie ähnlich intuitiv aus wie die Darstellerinnen. Im Tauferertal fanden wir die großartige Monika Hinterhuber, sie spielt eine Tierärztin und Vertraute der Hauptfigur – und ist auch im echten Leben Tierärztin. Wir haben gemeinsam Kälber auf die Welt gebracht und Stiere enthornt.
1.
An welchen Locations gelingen Horrorfilme also am besten? PB Die Beziehung zum Drehort ist eine sehr persönliche; sie ist inspirierend für die Stimmung am Set und im Film. Manche Orte tragen infinite Geheimnisse in sich, haben ein Eigenleben, das man für die eigenen Ideen nutzen und von dem man lernen kann. Luzifer ist kein klassischer Horrorfilm: Die Menschen, ihre Beziehungen und die Inspiration der wahren Geschichte einer Teufelsaustreibung stehen im Mittelpunkt.
2.
Wie lautet Ihre persönliche Formel für einen gelungenen Horrorfilm? PB Mit dreizehn ließ ich mir Michael Myers tätowieren, während meine Mitschüler Mathe-Schularbeit schrieben. Extreme, kontroverse Filme und das Motiv des Außenseiters waren mir immer nah. Ein gelungener Film schafft es, eine Erfahrung erlebbar zu machen, die einen verändern kann und Trost spendet. Weil sie wahrhaftig ist, das Publikum also ernst nimmt. Kino ist ein gemeinsamer Prozess, wir brauchen Publikum, das aktiv sein will. Ich wünsche mir von Zuseherinnen den Mut, im Rätsel verweilen zu wollen.
3.
► LUZIFER (Ulrich Seidl Filmproduktion) erhielt von der Südtiro-
ler Filmförderung eine Produktionsförderung in Höhe von 295.000 Euro.
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good friends Filmproduktion/Martin Rattini
Luzifer, der außergewöhnliche Horrorfilm des österreichischen Regisseurs, feierte seine Premiere im Wettbewerb des Locarno Film Festival.
Dreharbeiten in Südtirol: Andreas Prochaskas TV-Zweiteiler Im Netz der Camorra (2021)
F Ö R D E R- U P D AT E S
Seit zehn Jahren fördert IDM Südtirol Film- und Fernsehprojekte in der Produktion und der Produktionsvorbereitung – und hat die Erfahrungswerte genutzt, um die Anwendungsrichtlinien der Förderung mit 2021 zu aktualisieren und anzupassen. Neben dem Zertifikat „Green Shooting“ für nachhaltige Dreharbeiten ( ► S. 53) enthalten die neuen Anwendungsrichtlinien zwei weitere zentrale Neuerungen. Zum einen wurde das Gender Mainstreaming als Richtlinie verankert – ein Schritt in Richtung Diversität in Produktionen. Ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen unter den beteiligten Filmschaffenden einer Produktion stellt nun ein Auswahlkriterium für zu fördernde Filmprojekte dar, insbesondere in leitenden Positionen der Bereiche Produktion, Drehbuch, Regie, Schauspiel, Bildgestaltung, Schnitt, Szenenbild und Musik. Um junge Filmschaffende künftig noch stärker zu fördern und auf allen Ebenen der Filmherstellung zu unterstützen, hat IDM als dritte zentrale Änderung der Richtlinien eine neue Förderschiene für Kurzfilme und Kurzform-Serien beschlossen, die auch Webserien und künstlerisch anspruchsvolle Filme mit einschließt. Mehr Infos: film.idm-suedtirol.com
NEWS
I N N O V AT I O N
Film in the Alps I N N O V AT I O N
Film in the Alps Dazu kommt auf filminthealps.com ein südtirolweiter Kinokalender – ein praktisches Feature in dieser Region, in der sich die Kinolandschaft nicht nur auf größere, zentrale Ortschaften beschränkt, sondern auch in kleinen Dörfern und Seitentälern sehr lebendig ist. Das ist schön, aber organisatorisch nicht ganz einfach: „Ich kann zum Beispiel in Klausen, Brixen, Bozen oder Bruneck ins Kino gehen – und bis ich die Websites und Programme aller Spielstätten durchgeschaut habe, ist es mir zu anstrengend und ich schalte Netflix ein“, so Kerschbaumer schmunzelnd. Der Kalender von filminthealps.com behebt dieses Manko und zeigt gesammelt, was lokal läuft, vom Blockbuster bis zum kleinen Festival. Filme lassen sich nach Kategorien filtern, bewerten, kommentieren und auf eine Merkliste setzen, um daran erinnert zu werden, sobald sie in den Kinos anlaufen. „Auf die Funktion freue ich mich wohl selber am meisten!“, lacht De Biasi. www.filminthealps.com
TA K E # 1 3
Südtirol hat eine tolle Filmszene, „die bekannter werden sollte“, sagt Martine De Biasi. Diese Überzeugung hat sie mit der Kollegin Lisa Maria Kerschbaumer zusammengeführt – entstanden ist aus zwei Projektideen der Südtiroler Regisseurinnen die Plattform „Film in the Alps“. Das Portal bringt lokale Kinos und Filmliebhaber zusammen und bietet Blicke hinter die Kulissen der Filmproduktion am Standort. Zum einen durch Kerschbaumers Filmreviews lokaler und internationaler Produktionen, zum anderen durch einen Podcast, in dem De Biasi einmal im Monat auf Deutsch, Italienisch oder Englisch Menschen aus der Branche interviewt. Den Anfang machen Gespräche mit der Regisseurin Evi Romen, der Direktorin der Filmschule ZeLIG Heidi Gronauer, dem Nachhaltigkeitsexperten Philip Gassmann zum Thema „grünes Drehen“ sowie mit der Filmkritikerin und Autorin Chiara Zanini, die in Italien unter dem Hashtag #tuttimaschi („alles Männer“) auf rein männlich besetzte Festivals aufmerksam macht.
Manuela Tessaro
Gründerinnen Kerschbaumer (l.) und De Biasi, Plattform „Film in the Alps“: Onlinetreffpunkt für Südtiroler Filmfans
DIE INITIATORINNEN Lisa Maria Kerschbaumer fand über Umwege zum Film und war zunächst an größeren Filmsets wie Terrence Malicks A Hidden Life tätig. Ihr eigener Kurzfilm Kleiner Cowboy gewann beim Festival Dolomitale den Award für den besten Kurzfilm. Martine De Biasi studierte Filmschnitt an der Dokumentarfilmschule ZeLIG, wollte aber immer schon in die Regie. Ihr Debüt Becoming me gewann beim 33. Bolzano Film Festival Bozen den Publikums- sowie den Jurypreis für den besten Dokumentarfilm.
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D R E H B U C H E N T W I C K LU N G
R A CCO N T I
Das Script Lab von IDM
Geschichten im Feinschliff RACCONTI Script Lab Text
M A R I A N N A K A S T LU N G E R
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D R E H B U C H E N T W I C K LU N G
R A CCO N T I
Das Script Lab von IDM
„Von wegen nicht so spannend! Diese Ausgabe unseres Script Lab ist wunderbar verlaufen“, sagt Angelica Cantisani. Die neunte Ausgabe von RACCONTI ist soeben zu Ende gegangen, als wir sie am Telefon erreichen. Covid-bedingt wurden die Workshops vollständig digital abgehalten. „Natürlich hätten wir Präsenzveranstaltungen bevorzugt, auch damit die Teilnehmer und Teilnehmerinnen den Standort kennenlernen können“, erklärt Cantisani, die seit wenigen Jahren als Creative Advisor des Script Labs von IDM Film Fund & Commission fungiert und für frischen Wind gesorgt hat. Dank einer passgenauen Umgestaltung mit drei Onlineterminen (zu jeweils vier Tagen) und längeren Schreibphasen zwischen den Einheiten durchlief die Gruppe aber einen überaus interessanten Entwicklungsprozess – trotz physischer Distanz. Die englischsprachigen Workshops des Script Labs beinhalten sowohl gemeinsame Sessions, in denen die Teilnehmer die Arbeiten der jeweils anderen analysieren, als auch individuelles Feedback durch Expertinnen. In diesem Punkt kam der Veranstaltung die spezielle Lockdown-Situation sogar zugute: „Durch die Onlinemeetings, zu denen wir dieses Jahr gezwungen waren, erwiesen sich internationale Filmschaffende für uns paradoxerweise greifbarer als sonst“, sagt Cantisani. Trotz anfänglicher Unsicherheiten war dies für die Veranstalter eine wertvolle Erfahrung, die auch für die Zukunft sehr nützlich sein kann – etwa für Hybridformen aus Präsenz- und Onlineseminaren für die nächsten Ausgaben des Script Lab, je nach Bedarf.
Denn obwohl das Script Lab auch von den persönlichen Kontakten lebt, die während der Session zwischen den Teilnehmenden entstehen, sowie von den Eindrücken, die sie aus ihrer Zeit in Südtirol mitnehmen („die vielleicht zündende Funken für Inspiration sein können“, sagt Cantisani), liegt das Hauptaugenmerk von RACCONTI doch darauf, Drehbüchern den richtigen Schliff zu geben und die Produktionsstrategien der ausgewählten Projekte zu schärfen. Derzeit ist IDM bereits dabei, neue Projekte für die nächste Ausgabe des Script Labs auszuwählen: Für RACCONTI #10 ist man wieder auf der Suche nach drei spannenden aufstrebenden Autorinnen und Autoren, deren Projekte sich in Entwicklung befinden und schon von einer unabhängigen Produktionsfirma unterstützt werden. Das Ziel: ihr Projekt weiterzuentwickeln und marktgerecht zu optimieren, eventuell mit zusätzlichen Partnern. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden Workshops zu den Themen Drehbuchentwicklung, visueller Stil, Finanzierung und Vertrieb besuchen – und ihr Projekt abschließend im Rahmen der IDM-Filmkonferenz INCONTRI pitchen. Auch hochkarätige internationale Experten und Expertinnen sind Teil von RACCONTI #10. Für die soeben abgeschlossene Ausgabe waren das als Main Tutors etwa Eszter Angyalosy, Autorin und Drehbuchentwicklerin für HBO Ungarn, sowie Eilon Ratzkovsky, Produzent mit jahrzehntelanger Branchenerfahrung. Die zehnte Ausgabe startet im November 2021 mit dem ersten Workshop, die weiteren beiden Termine sind für Januar und März 2022 festgesetzt.
TA K E # 1 3
Dieses Jahr bestand das Script Lab nicht aus Workshops vor Ort (l.), sondern aus drei Onlineterminen – die laut Creative Advisor Angelica Cantisani (r.) überraschend gut funktionierten
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D R E H B U C H E N T W I C K LU N G
R A CCO N T I
Das Script Lab von IDM
Neue Blickwinkel: die Projekte von RACCONTI #9 CO W B O Y
NO BAGGAGE
LET’S DO AS IF
Valentin ist ein Einzelgänger. Er erlebt Abenteuer lieber in Büchern als im echten Leben. Doch dann begegnet der Junge einem Cowboy namens Billy, der ihn an einen Fantasieort namens Freie Welt entführt. Dort leben allerlei seltsame Gestalten, die in Valentin den einzigen würdigen Erben der Cowboystiefel seines verstorbenen Vaters erkennen. Valentin ist sehr erstaunt, hat aber keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Denn am Horizont lauert eine fürchterliche Bedrohung. Gelingt es dem kleinen Antihelden, die Freie Welt vor dem schrecklichen Schattenreiter zu retten?
Die vierzigjährige Nonne Jeanne hat Sehnsucht nach ihrem Elternhaus und ihrer Familie. Nach zehn Jahren im Kloster kehrt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück, ein kleines Dorf im ländlichen Frankreich. Ihre jüngere Schwester Caroline, die mittlerweile das Familienhotel leitet, traut ihren Augen kaum, als Jeanne plötzlich an der Rezeption steht. Beide müssen nun lernen, den Lebensentwurf der anderen zu akzeptieren.
Linda ist zehn Jahre alt, stottert, sie ist ein schüchternes Kind. Ihre Eltern stehen kurz vor der Trennung. Doch Linda versucht, den endgültigen Bruch zu verhindern. So beschließt sie, dem Vater, der sich immer einen Sohn zum Fußballspielen gewünscht hat, seinen Traum zu erfüllen, und der Mutter zuliebe Balletttänzerin zu werden. Als die Kleine einen Wettbewerb gewinnt, begleiten die Eltern sie nach Rom, wo sie sich kennenlernten. Linda hofft, dass es ihnen dort endlich gelingt, ihre Eheprobleme zu lösen.
REGIE UND DREHBUCH: Lisa Maria Kerschbaumer, Regisseurin der Onlineserie Crimetube Südtirol (2017) und des Kurzfilms Kleiner Cowboy (2019) PRODUKTION: Cassandra Han/Enrosadira Pictures
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RACCONTI-Teilnehmende mit Advisors und IDM-Mitarbeiterinnen: Hybridformen als Möglichkeit für zukünftige Branchenveranstaltungen
REGIE UND DREHBUCH: Tom Sommerlatte, Regisseur von Im Sommer wohnt er unten (2015) und Bruder Schwester Herz (2019) PRODUKTION: Iris Sommerlatte/Osiris Media
Cristina Puccinelli, Journalistin, Filmcoach, Artistic and Casting Director und Regisseurin mehrerer preisgekrönter Kurzfilme
REGIE UND DREHBUCH:
FLASHBACK
2020
IDM FUNDING C A L LS 2022 TYPES OF FUNDING Production Funding Development and Pre-Production Funding Short Film Funding film.idm-suedtirol.com
© Martin Rattini
Call 1 : De a d l i n e 2 5 . 0 1 . 2 0 2 2 Call 2 : De a d l i n e 0 3 . 0 5 . 2 0 2 2 Call 3 : De a d l i n e 3 0 . 0 9 . 2 0 2 2
TA K E # 1 3
Die geförderten Projekte des Jahres
LO P RR OEDM U CI P TS I OUNM # 1
LO F I LRME M I P S U M
LO D I RREECMTO I PRS U M
LoremBoy Lovely Ipsum (2021)
Lorem Ipsum Francesco Lettieri
Rückkehr zum Wesentlichen In Lovely Boy zeichnet Francesco Lettieri die innere Reise eines verlorenen jungen Mannes nach. Ein Setbesuch in Südtirol
Text
ANDREA MORANDI Fotos
R O B E R TO CO V I
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LO R E M I P S U M
PRODUCTION
Francesco Lorem Ipsum Lettieri, Giuseppe Fiore Lorem Ipsum Indigo Film
LO R E M I P S U M
Lorem Ipsum
TA K E ##11 3
S LO C R IEPMT I P S U M
Francesco Lettieris Protagonist Nic (Andrea Carpenzano) verliert sich in Lovely Boy in den Clubnächten Roms und landet schließlich in einer Drogen-Reha in den Bergen
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PRODUCTION #1
FILM
D I R E C TO R
Lovely Boy (2021)
Francesco Lettieri
Plötzlich herrscht Stille. Der Trubel der Stadt verebbt und jedes Geräusch scheint erloschen. Nach nur wenigen Schritten ist der einzige Laut, der noch bleibt, das Knarren der schwankenden Bäume im Wind. Sonst nichts, oder fast nichts. Die Stimmung in Gufidaun, einem Dorf oberhalb von Klausen, etwas mehr als 30 Kilometer entfernt von Bozen, ist unwirklich. Man fühlt sich wie in einer anderen Welt, in der es die Hektik der digitalen Gesellschaft nicht mehr gibt oder niemals gegeben hat. Letzter Stützpunkt der gewohnten Zivilisation ist das Hotel Gnollhof, wo es einen Parkplatz, Menschen und alles andere gibt, was an urbanes Leben erinnert. Danach nur noch Bäume und Stille. Natur, die sich selber reicht. Meter für Meter lassen wir alles hinter uns, bis wir auf die Bühne des Waldes treten und von ihm verschlungen werden. Nach wenigen Minuten erreichen wir einen alten, verlassenen Berghof, wo wir auf die emsige kleine Truppe stoßen, für die wir diesen Weg überhaupt erst auf uns genommen haben: die Crew von Lovely Boy, dem neuesten Film des Regisseurs Francesco Lettieri, produziert von Indigo Film in Koproduktion mit Vision Distribution und Sky, mit der Unterstützung der Südtiroler Filmförderung (IDM).
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Ächzende Treppen und alte Matratzen: der Stammerhof, ein verlassener Gasthof oberhalb von Klausen, faszinierte die Crew
SCRIPT
PRODUCTION
Francesco Lettieri, Giuseppe Fiore
Indigo Film
TA K E #1 3
„Im römischen Teil des Films sehen wir die Leere in Nics Leben, hier besinnt er sich auf das Wesentliche: die Beziehungen zu anderen Menschen.“ Regisseur Lettieri am Südtiroler Set
„Dass wir hier drehen, ist keineswegs ein Zufall“, erfahren wir von Lettieri, „die geografische Verortung ist für die Erzählung des Films sogar von größter Bedeutung.“ Der Regisseur hält inne und sieht sich um. „Schon eigenartig, dass ich früher, als Kind, nur zum Skifahren nach Südtirol kam und keine Ahnung hatte, was es abseits der Pisten noch alles gibt. Ich muss sagen, das war eine schöne Überraschung.“ So sitzen wir also, weit weg von allem Chaos der Welt, wie in eine andere Zeit versetzt, auf einer alten Holzbank vor dem Haus mit der verblichenen Aufschrift Stammer. LEERE UND LEICHTIGKEIT
Der Stammerhof war ein Gasthof, der vor etwa fünfzehn Jahren einfach aufgehört hat, ein Gasthof zu sein. Nachdem der letzte Tourist gegangen war, durchlebte das Haus mehrere harte Winter – entsprechend begrüßt es uns heute mit ächzenden Treppen und einem beißenden Kellergeruch, der uns nicht einmal loslässt, als wir längst wieder fort sind. „Lovely Boy besteht aus zwei Teilen“, erklärt Lettieri weiter, „die beide gleich wichtig sind. Da ist der Protagonist, Nic, der sich in Rom im Chaos verliert, zwischen Trap-Konzerten, Clubnächten und Rauschmitteln, bevor er hier oben am Berg landet, in einer Reha-Gemeinschaft für
Drogenabhängige.” Nic, der sich mit Künstlernamen Lovely Boy nennt, ist Musiker, ein Star der römischen Trap-Szene, der nach den ersten Erfolgen in eine Spirale der Selbstzerstörung gerät. Nic wird gespielt von Andrea Carpenzano, der den Set auf der Suche nach der richtigen Position durchstreift und mit Gesichtstattoos und rastlosem Blick wie ein Fremdkörper wirkt auf dem alten Stammerhof. Noch befremdlicher muss das Filmteam auf die Frau wirken, die auf dem Bauernhof nebenan lebt. Sie beobachtet das Geschehen mit einer Distanziertheit, die Naivität vorgaukelt, auf den zweiten Blick aber wohl Weisheit ist. „Dieser Ort hier oben zwingt dich, in dich hineinzusehen, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen“, philosophiert Regisseur Lettieri. „Im römischen Teil des Films sehen wir die Leere in Nics Leben, hier hingegen besinnt er sich auf das Wesentliche, die Beziehungen zu anderen Menschen. Als Regisseur habe ich dieselbe Leichtigkeit erlebt, als ich hier heraufkam: Nach dem Dreh der vielen lauten, energieraubenden Szenen in der Stadt fand ich mich an diesem leisen Ort wieder, an dem scheinbar nichts passiert, wo aber in Wahrheit die Dinge zu finden sind, die wirklich zählen.“ Außer dem Stammerhof wurde für Lovely Boy auch am Bahnhof von Meran sowie an zwei anderen Locations in der Nähe von Klausen gedreht. Es ist der erste Südtirol-
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FILM
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Lovely Boy (2021)
Francesco Lettieri
NICCOLÒ ALIAS LOVELY BOY ist ein Star der römischen Trap-Szene mit Tattoos im Gesicht, jeder Menge Talent und wenig Respekt vor dem Rest der Welt. Er legt eine steile Karriere hin, auf die ein ebenso schneller Absturz folgt. Der Film zeigt abwechselnd Szenen aus dem Jahr zuvor – seine Bühnen- und Social-Media-Erfolge, sein schleichendes Abrutschen in die Drogenabhängigkeit – und aus der Gegenwart, wo er in einer Reha-Einrichtung in Südtirol lebt und den schwierigen Weg aus der Sucht beginnt. Sein Heute und sein Gestern stehen in ständigem Dialog und zeigen die beiden Parallelwelten im Leben von Niccolò: das rastlose und immer extremere Leben in Rom und als Gegenstück die Zeit in Südtirol, die von Stille, innerer Einkehr und Menschlichkeit geprägt ist. Lovely Boy ist eine Produktion von Indigo Film (Nicola Giuliano, Francesca Cima, Carlotta Calori) unter der Regie von Francesco Lettieri, der gemeinsam mit Giuseppe Fiore auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet. An den Dreharbeiten, die in Südtirol an verschiedenen Locations stattfanden, waren zahlreiche einheimische Filmschaffende beteiligt. Das Projekt wurde von IDM Film Fund & Commission mit einer Produktionsförderung von 250.000 Euro unterstützt. Gesichtstattoos und rastloser Blick: Andrea Carpenzano alias Nic wirkt wie ein Fremdkörper im alten Stammerhof
Dreh für Indigo Film: „Endlich haben wir es geschafft!“, freut sich Produzent Nicola Giuliano, Oscarpreisträger für La grande bellezza von Paolo Sorrentino. „Wir versuchen schon seit vielen Jahren, hier in der Region einen Film zu realisieren, und jetzt bin ich wirklich glücklich, dass wir es geschafft haben – vor allem mit einem Projekt, das uns sehr am Herzen liegt“, so der Produzent. „Kaum hatte Francesco Lettieri die Landschaft hier gesehen, hat er sich in die Gegend verliebt. Natürlich sind für uns die Produktionsbedingungen immer sehr wichtig, aber die künstlerischen Bedürfnisse haben mehr Gewicht. Mit Francesco waren wir sofort auf einer Wellenlänge. Er hat die Fähigkeit, starke, reale Bilder mit einem dramaturgischen Ansatz zu verbinden, der auch klassischen Erzählstrukturen gerecht wird.“ SZENEMUSIK UND ABENDSTILLE
Während Giuliano noch zu Ende spricht, frischt immer wieder der Wind auf und die weißen Wolken über unseren Köpfen heben sich vom strahlenden Blau des Himmels ab wie in einem impressionistischen Gemälde, das sich im
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SCRIPT
PRODUCTION
Francesco Lettieri, Giuseppe Fiore
Indigo Film
Sekundentakt verändert. „Eigentlich bin ich ja ein Kind des Meeres“, gesteht er lachend, „ich komme aus Neapel, war aber immer schon verrückt nach den Bergen. Ich glaube, es hat mich erwischt, als ich zum ersten Mal Fred Zinnemanns Am Rande des Abgrunds mit Sean Connery sah. In diesem Augenblick erkannte ich, dass die Berge eine Welt für sich sind und vielleicht der einzige Ort überhaupt, an dem man sich durch und durch mit sich selbst beschäftigen kann, ohne Kompromisse.“ Zur Mittagszeit trifft sich die kleine Crew draußen und verteilt sich wahllos auf Holzbänken und improvisierten Sitzplätzen. In einer Zeit, in der auf Biegen und Brechen alles geteilt werden muss und der Mensch im Social-Media-Wettlauf jedes Ereignis im selben Atemzug postet, in dem es passiert, weckt dieses gemeinsame Mittagessen eine leise Erinnerung an ein lang vergangenes, beinahe kindliches Glück, als man nicht mehr brauchte als die Gesellschaft der anderen. „Eigentlich sollte Lovely Boy an einem ganz anderen Ort gedreht werden“, erinnert sich Carlotta Calori von Indigo, „aber nach den Motiv-
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„Endlich haben wir es geschafft, in Südtirol zu drehen – mit einem Projekt, das uns sehr am Herzen liegt.“ Produzent Nicola Giuliano on location
besichtigungen hier war Francesco von dieser Location und ihrer besonderen Stimmung so begeistert, dass er beschloss, diesen Teil des Films in Klausen spielen zu lassen.“ Nicht weit vom Set, wo die Crew gerade wieder ihre Arbeit aufnimmt, treffen wir auf Elisa Nicoli, die zweite Regieassistentin, die diese Gegend als gebürtige Südtirolerin gut kennt. Nicoli ist nach Aufenthalten in Padua und Rom wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. „Kino war immer schon meine große Leidenschaft“, erzählt sie. „Ich habe Filmschnitt studiert und habe nach dem Abschluss versucht, hier Fuß zu fassen, weil ich wusste, dass in Südtirol inzwischen eine lebendige Filmszene entstanden war, mit einigen internationalen Sets.“ Ihre ersten Erfahrungen machte sie am Set von Max e Hélène von Giacomo Battiato im Kamerateam, aber interessanter fand sie immer die Regie. „Nachdem ich mich in verschiedenen Projekten um die Koordination der Komparsen gekümmert habe, bekomme ich nun bei Lovely Boy zum ersten Mal die Chance, als Regieassistentin zu arbeiten, und es ist eine wahnsinnig prägende Erfahrung“, so Nicoli. „Wie ich Carpenzano finde? Ein toller
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Lovely Boy (2021)
Francesco Lettieri
„Eine wahnsinnig prägende Erfahrung“: Südtiroler Regieassistentin Elisa Nicoli
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Schauspieler, und richtig nett. Beim Dreh verliert er nie die Nerven, auch wenn’s mal nicht so gut läuft.“ Bevor es mit den Dreharbeiten weitergeht, treffen wir noch einmal Francesco Lettieri, um mit ihm über einen weiteren Aspekt des Films zu sprechen, der hier eine tragende Rolle spielt: die Musik. „Carpenzano spielt im Film einen Trapper – wir haben ihm also ein Musikrepertoire und ein Äußeres verpasst, das ihn glaubwürdig macht“, so der Regisseur. „Andrea ist mit der römischen Musikszene ohnehin bestens vertraut und sogar mit einigen Trap-Musikern befreundet. Er hat sich vor Beginn der Dreharbeiten sehr genau mit dem Thema auseinandergesetzt.“ Zum Beispiel mit der Dark Polo Gang, einer der erfolgreichsten römischen Trap-Bands. Die aus dem US-Hip-Hop hervorgegangene Trap-Musik hat in Italien seit einigen Jahren zahlreiche vor allem junge Fans; Stars der auf Italienisch rappenden und nicht unumstrittenen Szene sind Künstler wie Sfera Ebbasta und Ghali. „Aber verstehen Sie mich nicht falsch“, präzisiert Lettieri, „Lovely Boy ist kein Film über Trap, sondern in erster Linie die Geschichte eines jungen Mannes. Für die Filmmusik haben wir mit dem Kultprodu-
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zenten Paco Martinelli zusammengearbeitet. Er hat einige unveröffentlichte Stücke geschrieben, die sich vom italienischen Trap unterscheiden: Wir suchten nach einem Sound, den man eben noch nicht kennt, wir wollten ein neues Genre, das Elemente von Emo, Pop, Rap und Trap vereint.“ Kaum hat er seinen Satz beendet, verschwindet Lettieri wieder im Stammerhof, wo er eine Schlüsselszene des Films zu Ende drehen will. Er hat uns im Interview davon erzählt, aber wir verraten natürlich nichts. Der Tag neigt sich mittlerweile dem Ende zu, der Abend senkt sich langsam über den Set, wo die letzten Einstellungen gedreht werden. Nachdem wir uns von der Crew verabschiedet haben, fahren wir wieder Meter für Meter den Berg hinab und fallen in die laute Alltagswelt zurück, mit Motorenlärm, Menschen und Kurznachrichten. Wir versuchen noch, das Gefühl dieses Tages so lange wie möglich festzuhalten. Und in diesem Augenblick gesellen sich zu der verwaschenen Aufschrift Stammer, die vor dem geistigen Auge immer noch erkennbar ist, die Worte des teuren Peter Handke: „Allmählich wird die äußere Abendstille zur T#13 inneren Körperwärme.“
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Francesco Lettieri, Giuseppe Fiore
Indigo Film
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Eine Welt für sich: Am Stammerhof in Gufidaun fand die Produktion einen Ort der Stille als Kontrast zum energiegeladenen, lauten Dreh in Rom
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FILM
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Sisters (2022)
Linda Olte
Ein mutiges Kinodebüt, eine einfühlsame Adoptionsgeschichte – und ein Beispiel einer reibungsarmen italienischlettischen Koproduktion Sisters von Linda Olte
Text
FA B I A N T I E T K E Fotos
TO M S M A J O R S D A N I E LS N E G U L I N E R S MICHAEL LINTNER
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Ihre Mutter sitzt im Gefängnis, deshalb leben die jungen Schwestern Anastasija und Diana in Lettland in einem Waisenhaus. Als sich herausstellt, dass eine amerikanische Familie überlegt, die beiden zu adoptieren, stehen sie vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Diana ist sofort Feuer und Flamme für ein Leben in den USA, Anastasija ist zögerlicher und nicht davon überzeugt, dass sie überhaupt adoptiert werden will. Inmitten der Suche nach einer Entscheidung erfährt sie, dass ihre leibliche Mutter längst aus dem Gefängnis entlassen wurde – und für Anastasija scheinen wieder alle Wege offen für das ersehnte Leben. Doch ihre Mutter ist zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um für Anastasija da zu sein. Sisters (Māsas) ist das Kinodebüt der Regisseurin Linda Olte, die zuvor vorrangig für das lettische Fernsehen gearbeitet hat. In der ersten Juniwoche endeten die Dreharbeiten mit mehreren Drehtagen in Südtirol, die meisten
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Linda Olte
Fenixfilm / Deep Sea Studios / Albolina Film
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Schwestern Julija (Katrina Kreslina, o. l.), Diana (Gerda Aljena, o. r.), Anastasija (Emma Skirmante, r.): eine ganze Palette an interessanten, widersprüchlichen Frauen- und Mädchenfiguren
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Sisters (2022)
Linda Olte
davon mit Innenaufnahmen. Der Film ist eine Koproduktion der Rigaer Produktionsfirmen Fenixfilm und Deep Sea Studios mit Albolina Film aus Bozen. Die Produktionsgeschichte von Sisters beginnt mit einem anderen Film. Produzent und Regisseur Matīss Kaža suchte für seinen lettischen Western Wild East (früherer Arbeitstitel Where the Road Leads) Berge, Kameramann Aleksandrs Grebnevs kannte die Südtiroler Berglandschaft aus seiner Studienzeit. Für den Dreh in Südtirol – das Projekt wurde auch von der IDM-Filmförderung unterstützt – engagierte Kaža die Albolina Film, die neben eigenen Produktionen auch Produktionsservices anbietet. Die Zusammenarbeit verlief gut, die Idee zu einem gemeinsamen Projekt war geboren. Wieder war Grebnevs beteiligt: Er gab 2019 den Anstoß für das Projekt, indem er Produzent Matīss Kaža die Regisseurin Linda Olte vorstellte. Bei der Entwicklung bewährte sich die europäische Infrastruktur für Filmentwicklung: Die Produktion bewarb sich auf den vor erst drei Jahren gegründeten Italian Baltic Development Award, der von MiC, Lithuanian Film Centre, Estonian Film Institute und National Film Centre of Latvia vergeben wird – und gewann. Der Preis wurde letztes Jahr
Sisters-Dreh in Südtirol mit lettisch-italienischer Crew: Grundvertrauen zwischen den Produktionspartnern
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im Rahmen des Triester Koproduktionsforums „When East Meets West“ bekannt gegeben. Das Drehbuch wurde unter anderem im Rahmen eines Workshops des Programms „Sources 2“ entwickelt; im Herbst letzten Jahres nahm das Team mit dem Projekt am Warschauer Koproduktionsmarkt für europäische Kinderfilme „Kids Kino Industry“ teil. Und die Finanzierung für Sisters kam von der Südtiroler Filmförderung (IDM), vom National Film Centre of Latvia, Eurimages sowie dem italienischen Tax Credit. Am 20. März begannen die Dreharbeiten ein erstes Mal, doch gleich nach dem ersten Drehtag war ein Crewmitglied beim Covid-Test positiv – und der Dreh vorerst beendet. Am 18. April ging es endlich weiter, allerdings mussten Absprachen zur Aufteilung der Crew nachjustiert werden, weil vorgesehene Crewmitglieder schon gebucht waren. Die weiteren gut 30 Drehtage verliefen aber reibungslos. Sowohl Wilfried Gufler von Albolina Film wie auch Matīss Kaža betonen, wie wichtig die Mischung aus Grundvertrauen und klaren Absprachen zwischen den Partnern in all diesen Aushandlungen der Koproduktion war. Die wichtigste Grundregel sei, so Gufler, der Ort gewesen: In Riga koordinierte die lettische Seite, in Südtirol Albolina Film.
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Linda Olte
Fenixfilm / Deep Sea Studios / Albolina Film
SISTERS (Māsas) von Linda Olte, die auch das Drehbuch verfasst hat, basiert auf der wahren Geschichte zweier Schwestern. Anastasija (13) und Diana (9) wachsen in einem lettischen Waisenhaus auf. Eine amerikanische Familie will sie adoptieren, doch als Anastasija erfährt, dass ihre Mutter Alla aus dem Gefängnis entlassen wurde, versucht sie eine Beziehung zur Mutter aufzubauen – im Gegensatz zu Diana will sie ihre Heimat nicht verlassen. Anastasija muss für sich und ihre kleine Schwester eine schwere Entscheidung treffen, denn Geschwister dürfen laut Gesetz nicht getrennt werden. Sisters wird von Debora Nischler für Albolina Film (Bozen) in Koproduktion mit Matīss Kaža, Una Celma und Dace Siatkovska für Fenixfilm (Lettland) produziert. Der Film erhielt von IDM Film Funding eine Produktionsförderung in Höhe von 190.000 Euro. Der Kinostart des Dramas ist im Frühjahr 2022 geplant.
Regisseurin Linda Olte schnitt ihre Projekte bisher selbst, ihr „Baby“ nun für die Montage abzugeben sei eine neue Erfahrung
Wie problemlos die Zusammenarbeit lief, zeigt sich darin, dass es nur Details waren, an denen es überhaupt Reibungen gab. Die unterschiedlichen Vorstellungen von Catering war so eines, die je nach Herkunftsland unterschiedliche Aufgabenbeschreibung von Departments eine andere. Bei all diesen Fragen, so betont Kaža, sei der eigentliche Lernprozess gewesen, dass es bei Filmproduktionen immer auch einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Ländern gibt; das muss einem bewusst sein, auch wenn man denkt, man arbeite auf dem gleichen Set. Die Lösung war dabei meist relativ einfach. Nur ein Unterschied machte sich wirklich bemerkbar: die zwischen Italien und Lettland verschiedenen Gepflogenheiten und Regelungen zu Arbeitsstunden pro Tag. Während in Lettland 12 Stunden pro Tag üblich sind, werden in Italien 10 Stunden pro Drehtag angesetzt. Aber auch dieser Unterschied wurde einfach bei den Drehtagen eingeplant und spielte dann keine weitere Rolle. Die größte Herausforderung in Zeiten der Pandemie war das Reisen der Crewmitglieder. Gefragt, wie sich Covid auf den Dreh ausgewirkt habe, antwortet Wilfried Gufler zunächst knapp, die Pandemie mache eben „alles schwieriger und teurer“. Über die Monate des Ausnahmezustands hat sich ein Umgang herausgeprägt. Das Team wurde wöchentlich getestet und beim Dreh wurde – wo immer möglich – FFP2-Maske getragen. Gufler ergänzt: „Das ist
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Nachtdreh in Riga, lettischer Produzent Matīss Kaža: positives Projektresümee trotz Covid-Stopp und Sicherheitsauflagen
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Sisters (2022)
Linda Olte
alles unkritisch, wenn die Leute mal drehen und in ihrem Mikrokosmos sind, das Problem sind eher die Reisephasen. Wenn die Mannschaft kompakt in einem Hotel untergebracht ist, kann man das gut handeln.“ Auch Matīss Kaža erinnert sich an viele Diskussionen übers Reisen der Crewmitglieder und die sich ständig ändernden Regelungen, wer wann wo welches Dokument vorlegen müsse oder wie alt Covid-Tests sein dürften. Zu guter Letzt drohte – gerade als man glaubte, mit dem Gröbsten durch zu sein – ein neuerlicher Lockdown kurz vor Ende der Dreharbeiten. Trotz alledem: Hört man den Koproduktionspartnern dieser Tage während der Pause zwischen Dreh und Postproduktion zu, kann das Virus der Stimmung bei der Produktion nicht viel angehabt haben. Wilfried Gufler schwärmt von der „frischen, tollen Produktion“, Matīss Kaža zeigt sich begeistert von der Atmosphäre am Set – und von der respektvollen Haltung gegenüber Produzenten und Filmemachern in Italien. Diese würden dort deutlich mehr „als Künstler und nicht so sehr als Teil einer Industrie“ gesehen. Auch Regisseurin Linda Olte zeigt sich im Nachhinein noch einmal beeindruckt, wie reibungslos der Dreh war. Das habe einerseits mit einem gewissen Pragmatismus zu tun, der nicht zuletzt dem Budget geschuldet sei, und andererseits mit dem eingespielten Duo der Kameramänner: Aleksandrs Grebnevs und der Südtiroler Harald Erschbaumer. Auf alle hat die Sprachenvielfalt rund um den Set eine große Faszination ausgeübt. Während die Arbeitssprache aller miteinander Englisch war, fanden viele Gespräche am Rande in anderen Sprachen statt: auf Lettisch, Italienisch, Deutsch, Russisch.
Vor allem für die Regisseurin dürfte die Pause nach dem Dreh nur kurz währen. Olte, die in der Vergangenheit neben der Regie oft auch für die Montage der eigenen Arbeiten verantwortlich war, will bis Ende August einen Rohschnitt fertigstellen. Ihr „Baby“, wie sie es nennt, dann abzugeben sei eine neue Erfahrung, aber auch richtig so, ergänzt sie im Gespräch. Die Koproduktion setzt sich auch in der Phase der Postproduktion fort: Komponist und Sound Designer werden aus Südtirol kommen. Bis Ende des Jahres soll der Film fertig sein, um ihn 2022 bei Festivals einreichen zu können. Produzent Kaža weist darauf hin, dass die Pandemie die Hürden bei der Auswertung höher gelegt habe. Der Rückstau von Produktionen, die in den letzten 18 Monaten nicht auf Festivals laufen konnten, weil diese ausgefallen sind, oder nicht in Kinos starten konnten, weil diese geschlossen waren, macht sich bei Vertrieben und Verleihern bemerkbar. Für Lettland gebe es bereits einen Vertrag mit einem Fernsehsender. Bei den Vertrieben sei durchaus Interesse vorhanden, sodass sich Kaža zuversichtlich zeigt, dass der Film trotz Pandemie und der üblichen Zurückhaltung bei Erstlingswerken seinen Weg machen wird. Die Produktion von Sisters ist ein Beispiel dafür, dass auch gemeinsame Filmprojekte europäischer Länder, zwischen denen keine lange Tradition von Koproduktionen besteht, reibungsarm ablaufen können. Die europäische Infrastruktur bei der Stoffentwicklung und Filmförderung tragen dazu ebenso bei wie die persönlichen Beziehungen, die sich durch Ausbildung und Arbeitskontakte entwickelt T # 13 haben.
Filmset in Riga, begeisterter Südtiroler Produzent Wilfried Gufler: „Frische, tolle Produktion“
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Linda Olte
Fenixfilm / Deep Sea Studios / Albolina Film
Produzentin Debora Nischler
„Ich war sofort begeistert“
Dreharbeiten in Lettland mit dem Südtiroler Kameramann Harald Erschbaumer
„Es gibt Stoffe, bei denen man weiß: Den will ich. Sisters war so einer. Als Matīss Kaža mir die Kurzsynopsis und den Teaser mailte, dachte ich: Das ist die lettische Antwort auf Nora Fingscheidts Systemsprenger. Ich war sofort begeistert von Linda Oltes naturalistischem Erzählen und der immer wieder aufblitzenden Verspieltheit, die sie der sozialen Härte im Film entgegenstellt. Die inneren und äußeren Konflikte der Figuren sind universell, unabhängig von der Verortung in Riga. Wir wollen mit Albolina Film eine feministische Agenda verfolgen und Rassismus, Emanzipation oder soziale Herkunft thematisieren. Sisters erfüllt diesen Anspruch gleich mehrfach, mit einer jungen, talentierten Drehbuchautorin und Regisseurin, die sich mit dem Faktor soziale Herkunft auseinandersetzt – und eine ganze Palette an interessanten Frauen- und Mädchenfiguren erzählt. Ich sage bewusst ‚interessant‘, nicht ‚stark‘: Ich finde es schade, dass man immer von ‚starken Frauen‘ spricht, wenn eine zentrale Figur weiblich ist. Interessante Figuren sind auch mal schwach, widersprüchlich, uneindeutig, kurz: frei von Stereotypen. Etwa die Hauptfigur Anastasija: Sie ist frech und ungebändigt, klug und fürsorglich; wegen ihrer rauen Kindheit ist sie reifer und abgebrühter, als eine 13-Jährige es sein sollte, aber am Ende ist sie nur ein Kind, das im Dunkeln allein auf dem Spielplatz sitzt und sich nach einer Bezugsperson sehnt. Oder ihre ältere Schwester Julija, deren nachlässiger Umgang mit dem eigenen Baby die Frage nach transgenerationalen Verhaltensmustern aufwirft: Woran liegen diese? Ist es Vererbung oder Erziehung? Soziale Herkunft oder das Fehlen finanzieller Sicherheit? Und schließlich Anastasijas Mutter, die selbst so instabil ist, dass sie ihren Kindern keinen Halt bieten kann – ein Tabu in unserer Gesellschaft, in der Mütter sich für ihre Kinder aufopfern sollten. Darin liegt die Stärke von Sisters als Sozialdrama: Es erzählt eine differenzierte Wirklichkeit und stellt vorT # 13 schnelle Urteile infrage.“
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Caroline Renzler
Debora Nischler (Albolina Film) über die Gründe, warum sie Sisters unbedingt koproduzieren wollte
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Gestärkt aus der Krise
Abgesagt, verschoben, digital veranstaltet: Die Pandemie hat Europas Filmfestivals in ihre größte Krise gestürzt. Nun sortieren sie sich neu – und suchen das richtige Format für die Zukunft Schwerpunkt Filmfestivals Text
F LO R I A N K R A U T K R Ä M E R Illustrationen
OSCAR DIODORO
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
wenn diese TAKE-Ausgabe erscheint, stehen die Internationalen Filmfestspiele von Venedig kurz bevor, Cannes hat seine Filme mit etwas Verspätung (und strengen Auflagen) präsentieren können und die einmalige Sommerausgabe der Berlinale hat ebenfalls stattgefunden. Es sieht also so aus, als ginge alles langsam wieder seinen üblichen Weg. Doch das zurückliegende Jahr wird den kommenden Festivals noch lange seinen Stempel aufdrücken. Die meisten hatten die Zwangspause genutzt, um für einen Moment innezuhalten und sich zu fragen, welche denn ihre eigentlichen Auf-
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gaben seien, wenn sie plötzlich vor der Wahl standen, ganz auszufallen oder das kuratierte Programm online anzubieten. Vor dem Hintergrund der Einschränkungen, Unterbrechungen, Ausfälle und Umwege, von denen Festivals seit über einem Jahr geprägt sind, wollen wir die Gelegenheit zur Bestandsaufnahme genauso nutzen – und in diesem Dossier über Aufgaben, Passion und Mission von Filmfestivals nachdenken. Florian Krautkrämer Chefredakteur TAKE #13
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Gestärkt aus der Krise
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Gestärkt aus der Krise
Un Certain Regard. Festivals in Zeiten der Pandemie Die Berlinale hatte 2020 noch Glück. Normalerweise eröffnet das größte Publikumsfestival der Welt den Reigen im Februar, kurz nach Sundance und Rotterdam, gefolgt von zahlreichen kleineren und größeren Festivals sowie wenige Wochen später den Filmfestspielen in Cannes. Aber seit dem Februar 2020 ist nichts mehr normal, und so war die Berlinale für längere Zeit das letzte Ereignis seiner Art, das in bis auf den letzten Platz ausverkauften Sälen und ohne Hygieneauflagen oder Schutzmasken stattfand. Erst rückblickend wird deutlich, wie knapp es war, dass das Programm trotz der zeitlichen Verschiebung um zwei Wochen auf Ende Februar komplett durchgeführt werden konnte, während einige Länder bereits die Grenzen schlossen. Und man darf gespannt sein, wie lange es dauern wird, bis wir wieder zu jener Selbstverständlichkeit zurückkehren, die damals in den Sälen, den Schlangen der Wartenden und den Räumlichkeiten des European Film Market noch vorherrschte. Denn seitdem wurden die Festivals von ihrer größten Krise erfasst. Weder die Digitalisierung noch Abspaltungen von Sektionen, weder Skandalfilme noch unbedachte Kommentare von Regisseuren oder Absagen von Filmschaffenden erschüttern ein Festival dermaßen wie das Verbot, vor Ort stattzufinden.
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Filmfestivals sind weit mehr als nur eine Möglichkeit, um Filme vorzuführen. Je nach Größe und Ausrichtung übernehmen sie wichtige Aufgaben, die anders kaum durchzuführen wären. Die A-Festivals – Berlin, Cannes und Venedig, aber auch Sundance oder Toronto – sind vor allem auch Branchenevents. Hier präsentiert die Filmindustrie ihre neuesten Werke. Festivalpreise können entscheidend sein für die weitere Karriere von Filmschaffenden, erleichtern die Produktion neuer Filme und erhöhen die Sichtbarkeit der älteren. Auf den begleitend stattfindenden Filmmärkten werden noch weit mehr Filme gezeigt als im Hauptprogramm, hier geht es um Verkäufe und Deals nicht nur abgedrehter Produkte, sondern auch ums Knüpfen neuer Kontakte: Redakteure treffen Regisseurinnen, Produzentinnen und Produzenten aus verschiedenen Ländern lernen sich kennen, um später gemeinsam Koproduktionen anzubahnen. Film ist ein People Business – und nirgendwo zeigt sich das mehr als auf einem Festival. Die Onlineausgabe eines renommierten Festivals kann somit keine dauerhafte Option sein. 2020 fielen die Internationalen Filmfestspiele von Cannes daher konsequenterweise aus. Das betonte auch die kroatische Produzentin Ankica Jurić Tilić auf der IDM-Filmkonferenz INCONTRI, deren Focus-Panels den osteuropäischen Ländern gewidmet
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Gestärkt aus der Krise
Film ist ein People Business – nirgendwo zeigt sich das mehr als auf einem Festival
waren (►INCONTRI Kasten nebenan). Für Jurić Tilić liegt die große Stärke der Festivals mitunter abseits des Kinosaals: „Dabei ist der rege Austausch in Bars, in den zentralen Festival-Hotels und auf Empfängen mindestens ebenso wichtig wie die Coproduction-Meetings, die viele Festivals inzwischen anbieten“, so die Produzentin. S C H N E L L E A N PA S S U N G
In eine ähnliche Richtung argumentierte Alberto Barbera, der künstlerische Leiter der Filmfestspiele von Venedig, auf einem Panel von INCONTRI, das sich der Zukunft der Festivals widmete: „Ich bin mir sicher, dass die physisch stattfindenden Festivals zukünftig sogar noch an Wichtigkeit gewinnen werden, weil in den vergangenen Monaten klar wurde, was durch eine reine Online-Edition alles verloren ging“, so Barbera. Für die A-Festivals und ihre Filme ist dies vor allem das Marketing: Der Gang über den roten Teppich, die knisternde Spannung des Wartens und Präsentierens, die Pressekonferenzen und die Atmosphäre, die entsteht, wenn Tausende Menschen mit ähnlichen Interessen am selben Ort weilen – all das wird sich online nicht reproduzieren lassen. Piera Detassis, Präsidentin der italienischen Filmakademie, die den Preis David di Donatello vergibt,
Das Branchenevent der Südtiroler Filmförderung (IDM) stand in diesem Jahr im Zeichen der Pandemie. Die Onlinekonferenz behandelte in verschiedenen Panels u. a. die neue Situation der Filmfestivals und Preisverleihungen, die im vergangenen Jahr zum großen Teil abgesagt wurden oder auf Onlineausgaben umstellten. Durch den Lockdown neu angefacht wurde die Auseinandersetzung zwischen Streaming und Kinos, die ebenfalls Thema eines Panels war. Das mit der Produzentin Anita Elsani, dem Direktor von Luce-Cinecittà Nicola Maccanico sowie den CEOs zweier Streaminganbieter prominent besetzte Panel war sich allerdings schnell einig, dass es im Interesse der Filme und des Publikums sei, diese Spaltung nicht weiterzutreiben, sondern sich ergänzende Angebote zu schaffen. Philipp Hoffmann von „Kino on Demand“ sowie Andrea Occhipinti, Gründer von Lucky-Red sowie der italienischen VoD-Plattform „MioCinema“, arbeiteten daher auch direkt mit Kinos zusammen: Es ginge nicht darum, im Gebiet der anderen zu wildern, sondern darum, voneinander zu profitieren, so die CEOs. Noch ist es zu früh, vorherzusagen, wie sich der Markt aufgrund der letzten Monate entwickeln wird, da zahlreiche hochkarätige Filme auf ihren Kinostart warten. Klar ist aber, dass es mehr Flexibilität braucht angesichts neuer Angebote und Realitäten. Wie wichtig Beweglichkeit ist, wurde auch in den beiden Filmgesprächen mit Produzent und Regisseur Marco Manetti sowie mit Nils Dünker und Jorgo Narjes, den Produzenten der Serie Wild Republic, deutlich (►Produktionshintergründe zu Wild Republic TAKE #12). Eröffnet wurde INCONTRI mit einem Fokus auf den Produktionsstandort Osteuropa. Die Produzentinnen und Produzenten betonten, wie wichtig Koproduktionen für ihre Länder seien – und wie diese immer wieder die Chance böten, ausgetretene Pfade zu verlassen und Neues zu entdecken. Dabei machten sie deutlich, dass für das Anbahnen solcher Kontakte gerade die physisch vor Ort stattfindenden Festivals grundlegend seien.
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I N CO N T R I F i l m Conference 2021
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► BOLZANO FILM FESTIVAL BOZEN www.filmfestival.bz.it/de
► DOLOMITALE FILM FESTIVAL www.dolomitale.com
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Der rote Teppich, die knisternde Spannung, die Pressekonferenzen und die Atmosphäre durch Tausende Menschen am selben Ort – all das lässt sich online nicht reproduzieren
stimmte Barbera zu. „Unsere Preise wurden 2020 online vergeben“, so Detassis, „und seitdem verspüre ich in der Branche ein vorher in dem Ausmaß nicht gekanntes Bedürfnis nach Nähe – sowie den Wunsch, sich künftig stärker auf das Wesentliche zu konzentrieren.“ „Die Zeremonien müssen sich dahingehend verändern“, ergänzte Matthijs Wouter Knol, Direktor der Europäischen Filmakademie, „aber die Preise bleiben wichtig.“ Und trotzdem: Es ist erstaunlich und eine enorme Leistung, wie schnell die Filmfestivals sich auf die neue Situation einstellen und vom Streaming Gebrauch machen konnten – etwas, mit dem bisher die wenigsten Erfahrungen gesammelt hatten. Venedig war das einzige der drei großen Festivals, die bereits seit mehreren Jahren eine Sektion auch online anboten: Für die Filme der Nebensektion „Orizzonti“ konnte man eine begrenzte Anzahl von Tickets online kaufen und sie zu Hause streamen. Eine Lösung, an die sich viele andere erst noch gewöhnen mussten. Bereits wenige Wochen nach dem Lockdown 2020 gab es die ersten Onlinefestivals, bei denen man Tickets für einen zeitlich begrenzten Zugang zu den Filmen erwerben konnte. Viele Festivals beschränkten sich dabei nicht auf die Filme selbst, sondern zeigten auch Einführungen und Diskussionen und versuchten so, das präsent zu halten, was
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sie eigentlich auszeichnet: den Kontakt zwischen Film, Kreativen und Publikum. Sie stützten sich dabei auf eine Infrastruktur, die schon vorher existierte, aber noch ein Nischendasein führte, und zeigten ihre Filme über Vimeo oder Festival Scope, beides Plattformen, über die schon seit Längerem Video on Demand abgerufen werden konnte. Später entstanden auch neue Angebote, die sich gezielt aus den Erfahrungen des Lockdowns entwickelten, wie beispielsweise Cinema Lovers in Deutschland. Sieht man vom fehlenden Austausch vor Ort ab, sind die Erfahrungen, die Festivals und Publikum bei den Onlineausgaben gesammelt haben, durchaus gut. Gerade für Veranstaltungen, die sich mit ihrer Auswahl an eine bestimmte Interessengemeinschaft richten, wie beispielsweise Festivals mit schwul-lesbischen Filmen oder die von und für Minderheiten kuratiert werden, ist solch eine Ausweichmöglichkeit wichtig, um das Stammpublikum und die Gemeinschaft durch den Diskurs um die Filme zusammenzuhalten. Eine Onlinelösung ist aber längst nicht für alle Veranstaltungen möglich. Festivals, die sich z. B. auf die Aufführung alter Filme in 35 mm spezialisiert haben, müssen abwarten, bis sie ihre Schätze wieder vor Ort zeigen können. Und es besteht die Gefahr, dass die Erwartung geweckt wird, Festivals sollten künftig einen Teil ihres Programms immer online anbieten. Dem Vorteil der
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Gestärkt aus der Krise
größeren Reichweite, der ja besonders für kleinere, lokale Festivals interessant sein könnte, setzen Kritikerinnen und Kritiker aber entgegen: Dieser künstliche Modus der permanenten Verfügbarkeit beraubt Festivals letztendlich auch ihrer Exklusivität. T R E F F P U N KT E F Ü R F I L M K U LT U R
Lukas Pitscheider leitet die Dolomitale. Das „Filmfestival der Dolomiten“ legt in seinen Wettbewerben den Fokus auf den alpenländischen Film und findet jährlich Ende September statt. Auch Pitscheider ist der festen Überzeugung, dass die Nachfrage nach physischen Filmveranstaltungen riesig sein wird, sobald es die Bestimmungen wieder zulassen. „Unser Ziel ist es, die Menschen zusammen- und von den Bildschirmen wegzubringen“, sagt er. Da die Dolomitale im September stattfindet, konnte das Festival mit Einschränkungen und Auflagen auch 2020 über die Bühne gehen. „Wir hatten zur Sicherheit sogar ein Autokino geplant – Hauptsache, wir müssen nicht streamen“, lacht Pitscheider. Dabei wurde sein Organisationsteam von zahlreichen Streaming-Dienstleistern kontaktiert. „Wir haben ja noch nicht mal ein Kino! Es wäre schwer vermittelbar, wenn ein langfristiges Ziel unserer Arbeit die Eröffnung eines Kinos im Ort [in St. Ulrich, Anm. d. Red.] ist und wir dann aufs Streaming ausweichen“, sagt der Leiter des Festivals, dessen Ausgabe 2021 kurz bevorsteht.
Größere lokale Festivals wie jenes in Bozen mussten andere Lösungen finden: Das Bolzano Film Festival Bozen entschied sich 2021 für eine Onlineausgabe, nachdem die Veranstaltung ein Jahr zuvor abgesagt werden musste, da sie im April genau in den ersten Lockdown fiel. „Es war eine Schockphase“, erzählt Festivalleiterin Helene Christanell. „Wir hatten ja schon alles vorbereitet und fühlten uns dem Publikum, den Filmen und Sponsoren verpflichtet.“ Bis Ende November versuchte man, das Programm noch präsentieren zu können, bis man sich dann doch dazu durchrang, es endgültig abzusagen. 2020 wäre die 34. Ausgabe des Festivals gewesen, nun ist 2021 die Nummer 34. Zwar konnte die Veranstaltung in diesem Jahr wieder nicht vor Ort stattfinden, Christanells Team hatte aber mehr Zeit, um sich auf eine Onlineausgabe vorzubereiten. Zudem konnte man auf die Erfahrungen anderer Festivals im Netzwerk zurückgreifen und mit Pantaflix einen bewährten Streamingpartner nutzen. Ein Publikumsfestival wie das in Bozen macht sein Programm hauptsächlich für die Menschen vor Ort. Mit der Onlineausgabe konnte man deutlich mehr Zuschauerinnen und Zuschauer in der Region erreichen, die vielleicht sonst nicht für einen Film den Weg in die Südtiroler Landeshauptstadt zurückgelegt hätten. Ein wichtiges Merkmal des Bozner Festivals sind die Gespräche zwischen Publikum und Kreativen, die sich im intimen
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Festivals reagierten erstaunlich schnell und zeigten auch Einführungen und Diskussionen online, um den Kontakt zwischen Film, Kreativen und Publikum präsent zu halten
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DOSSIER
F I L M F E S T I V A LS
Gestärkt aus der Krise
„Physisch stattfindende Festivals werden künftig sogar wichtiger, weil klar wurde, was online alles verloren ging“, sagt Alberto Barbera, künstlerischer Leiter der Filmfestspiele von Venedig
Rahmen des Filmclub-Kinos in der Innenstadt vor und nach den Präsentationen einfach ergeben. Deswegen hat man Filmgespräche vorab aufgezeichnet und mit den Filmen online gestellt; sie sind noch immer auf der Festivalwebsite abrufbar. „Aber ohne die Aussicht auf ein Festival vor Ort ist eine Onlineveranstaltung nicht attraktiv“, sagt Christanell. „Auch, weil wir mit unserer Arbeit neues, junges Publikum für das Kino begeistern wollen, das als Drehscheibe für die Begegnung von Film, Publikum und Gästen ungemein wichtig ist.“ Neues Publikum für Filme interessieren und so die Idee der Filmkultur weiterzutragen: Auch das ist eine wichtige und nicht zu unterschätzende Aufgabe von Filmfestivals. Und zudem ein Punkt, in dem man sich vom Streaming-Allerlei deutlich abheben könnte, wie Matthijs Wouter Knol auf dem INCONTRI-Panel betonte. Vermittlung ist etwa bei der Berlinale traditionell sehr wichtig, ein Gedanke, aus dem heraus sich damals das Forum des Jungen Films gegründet hatte und seit einigen Jahren die Sektion Talents, ein pulsierender Treff des Filmnachwuchses. Für Carlo Chatrian, den neuen künstlerischen Leiter der Berlinale, war es daher ein besonderes Anliegen, neben dem Filmmarkt, der im März dieses Jahres an fünf Tagen online stattfand, im Sommer ein Open-Air-Programm der diesjährigen Berlinale-Auswahl zu veranstalten, die im März nur sehr eingeschränkt gezeigt wurde. Der gestreamte
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Filmmarkt stieß auf ein sehr breites und überaus positives Echo, sowohl seitens der Käuferinnen und Käufer als auch der Produzentinnen und Produzenten. Letztere erhielten eine minutengenaue Auswertung darüber, wer sich den Film angesehen hatte. Als Ergänzung wird die Berlinale diese Onlineausgabe sicher auch in den kommenden Jahren weiterführen. Das Open-Air-Programm im Sommer bleibt aber hoffentlich eine einmalige Sache – „auch wenn es sozusagen ein Heimspiel ist“, scherzte Chatrian auf dem INCONTRI-Panel, der dabei mit seiner langjährigen Erfahrung als Leiter des Locarno Film Festivals punkten kann. Mehr als bei anderen A-Festivals ist für die Berlinale das lokale Publikum enorm wichtig. Ein Film kann hier bis zu 20.000 Besucherinnen und Besucher verzeichnen, das Programm ist mit der enormen Menge an Filmen nur möglich, weil es ein starkes Interesse des Publikums und zahlreiche Abspielmöglichkeiten in der Stadt gibt. „Man muss künftig überlegen, wie man diese sozialen Zusammenkünfte ermöglicht“, gab Chatrian zu bedenken. Immerhin hat die diesjährige Jury der Berlinale mit dem Goldenen Bären für Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn einen der ersten Filme ausgezeichnet, die vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie spielen und in dem man die Protagonistin die meiste Zeit mit einer Maske im Gesicht sieht – auch inhaltlich ein deutlicher Hinweis auf T # 13 sich verändernde Realitäten.
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FILM
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Eva-Maria (2021)
Lukas Ladner
»Diesen Film zu drehen war eine sehr emotionale Sache.« Interview
DORIS POSCH Fotos
ANDREAS JAKWERTH
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Regisseur Lukas Ladner im Interview über seinen Film Eva-Maria, die Komplexität eines Kinderwunsches und die filmische Repräsentation von Menschen mit Behinderung
PRODUCTION
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Golden Girls Filmproduktion & Filmservices / Bunny Beach Film
„Viele aus meiner Generation fragen sich, ob sie Kinder wollen, ob sie sich das überhaupt leisten können. Für Eva-Maria war die Entscheidung klar – damit ist sie ein Gegenentwurf zu meiner Generation, das fand ich spannend.“ Regisseur Lukas Ladner, für TAKE in Innsbruck fotografiert
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Eva-Maria (2021)
Lukas Ladner
Lukas Ladner arbeitet als persönlicher Assistent von Eva-Maria Proßegger. Als sie sich entscheidet, ein Kind zu bekommen, entschließt er sich, ein filmisches Porträt der Protagonistin zu drehen: Eva-Maria. Darin beobachtet er eingehend alle Etappen vom Kinderwunsch bis zur gelebten Elternschaft mit körperlicher Behinderung. Im Interview gewährt uns Lukas Ladner Einblick in seine intime und vielschichtige Beziehung mit Eva-Maria, die ausschlaggebend für den Prozess des Filmemachens war. Mit TAKE spricht er über die Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarfilms: die Suche nach einer adäquaten Filmsprache, das Einfangen subtiler Formen von Diskriminierung und Gegenentwürfe zu stereotypen Darstellungen von Menschen mit Behinderung im Film. Wie sind Sie dazu gekommen, einen Film über den Kinderwunsch einer Frau mit körperlicher Behinderung zu drehen? LUKAS LADNER Ich wollte nicht primär einen Film über dieses Thema drehen, sondern zur Repräsentation von Menschen mit Behinderung. Als Vorlauf haben Eva-Maria und ich uns Filme über Menschen mit Behinderung angesehen und viel darüber diskutiert, wie Menschen darin repräsentiert
werden. Auffällig war, dass die Behinderung im Mittelpunkt steht: Sie wird nicht nur visuell stark ausgeschöpft, sondern ist der zentrale Konflikt. Sieht man mehrere von diesen Filmen, fragt man sich, warum die Protagonistinnen und Protagonisten nicht einfach eine Liebesgeschichte erleben oder eine Bank ausrauben – also warum Menschen mit Behinderung nicht dürfen, was wir uns in fiktionalen Arbeiten die ganze Zeit erlauben. Ich wollte lange einen fiktionalen Kurzfilm drehen, in dem ich Menschen mit Behinderung caste und nicht die Behinderung in den Mittelpunkt rücke. Dann kam Eva-Maria mit ihrer Schwangerschaft: Sie hat uns – ihre persönlichen Assistenten – darauf vorbereitet, dass sie diesen Schritt wagen wird. Für mich die ideale Gelegenheit, die Themen, die wir miteinander besprochen hatten, auszuprobieren.
TAKE
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Wenn wir über die herkömmliche – oder fehlende – Repräsentation von Menschen mit Behinderung im Film sprechen, stellt sich auch die Frage, wie man sie filmisch abbildet. LL Wie man das formal unterstützt, war eine der ersten Fragen, die ich mir gestellt habe. Ich habe mir die Regel gesetzt, nicht die Behinderung an sich auszustellen,
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Golden Girls Filmproduktion & Filmservices / Bunny Beach Film
sondern immer den gesamten Menschen im Blick zu haben, nicht den Rollstuhl allein zu zeigen, nicht die technischen Hilfsmittel, sondern beim Gegenüber zu bleiben, möglichst auf Augenhöhe zu filmen und nicht zu versuchen, auf Eva-Maria herabzusehen. Es geht darum, die Dinge, die von außen als exotisch wahrgenommen werden, nicht auszustellen. Sehr hilfreich war, dass ich schon ein Dreivierteljahr für Eva-Maria gearbeitet hatte, das war also schon Teil meiner Welt und ich habe das mit einer bestimmten Normalität mitnehmen können.
Golden Girls Filmproduktion/Lukas Ladner
Dass Sie mit der Protagonistin auf vielen Ebenen und in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen verbunden sind, ist maßgeblich für den Film. Wie sind Sie mit der Situation umgegangen, nicht nur persönlicher Assistent, sondern auch Filmemacher zu sein? LL Auf der Makroebene lebt der Film davon, dass ich immer dabei bin. Ich wollte die Möglichkeit nützen, als Assistent die ganze Zeit dabei zu sein: Wir hatten das Potenzial, möglichst alle Schritte von Eva-Marias Reise zu beobachten und nicht nacherzählen zu müssen. Das bedeutet aber auch,
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EVA-MARIA ist ein Kinodokumentarfilm der Golden Girls Filmproduktion & Filmservices in Koproduktion mit Bunny Beach Film (Arash T. Riahi, Daniel Dlouhy, Peter Drössler, Sabine Gruber, Lukas Ladner). Lukas Ladner führte Regie und schrieb das Treatment. Große Teile der Postproduktion wurden in Südtirol in den Studios von Cine Chromatix Italy realisiert. IDM gewährte eine Förderung für die Produktion in Höhe von 12.000 Euro.
Protagonistin Eva-Maria Proßegger mit Lukas Ladner: vom persönlichen Assistenten zum filmischen Begleiter einer intimen Entscheidung
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Eva-Maria (2021)
Lukas Ladner
dass man das ganze Leben nach diesem Film ausrichtet. Oft sitzt man auf Nadeln, wartend auf diese kleinen Momente, um dann schnell da zu sein. Auf der Mikroebene ist es eine Form von Multitasking, wo man innerhalb von kurzen Abständen zwischen den unterschiedlichen Aufgabengebieten wechseln muss. Beim Dreh habe ich viel experimentiert, ich habe mir das Material immer wieder angesehen und habe versucht daraus zu lernen. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Nähe zu Eva-Maria und die geschaffene Intimität dem Film letztendlich zugutekamen? LL Auf jeden Fall. Das war ein Grund, warum ich anfangs alleine gedreht habe: Es ist ein sehr intimes Thema und ich wollte eine möglichst starke Nähe herstellen. So konnten wir gemeinsam herausfinden, was uns guttut, was uns zu viel ist und was es heißt, Abstand mit der Kamera zu halten, ohne etwas zu verlieren. Das ist eine sehr emotionale Sache. Diese intime Qualität methodisch umzusetzen, finde ich ganz schwierig. Der Film begleitet chronologisch alle Etappen des Kinderwunsches Eva-Marias bis hin zum Zeitpunkt, an dem ihr Sohn anderthalb Jahre alt ist. Ein sehr präsentes Thema ist die Frage, ob man ein Kind in die Welt setzen soll: Sie ist von viel Idealismus getragen, der vielleicht rückblickend gar nicht mehr in dieser Weise vorhanden ist. War die Idee dahinter, dass Eva-Maria als role model wirken kann? LL Natürlich war die Absicht da, einen positiven Gegenentwurf zu liefern. Aber es ging nicht darum, sie in dieser Vorbildrolle aufzuwerten. Es ging uns vor allem darum, auf einer narrativen Ebene alle Stränge zu bündeln: zum Thema Mutterschaft, Familie, Kindheit. Und dadurch einen klaren Gedanken mitzugeben, zu dem man dann stehen kann, wie man will: Man kann das gut finden, aber auch dagegen sein. Mir war es wichtig, Eva-Marias Denkprozesse abzubilden und zu zeigen, warum das Thema für sie so wichtig ist. Viele aus meiner Generation fragen sich, ob sie überhaupt Kinder wollen oder ob sie sich das Kinderkriegen überhaupt leisten können. Für Eva-Maria ist die Entscheidung klar: Ich will Kinder bekommen, das ist mein großes Ziel! Damit ist sie ein Gegenentwurf zu meiner Generation – und das fand ich spannend. Sie haben mit dem Dreh begonnen, als der Kinderwunsch bereits sehr konkret war. Wie kam es zur Entscheidung, dass der Film nicht bei der Geburt des Sohnes endet, sondern der Lebensabschnitt als Mutter eines Kleinkindes im Film noch zu sehen ist?
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LL Es war uns wichtig, diesen Aspekt noch mitzuerzählen: Was heißt es, als Frau mit Behinderung ein Kind großzuziehen? Niemand kann sich das so richtig vorstellen, weil vorher alles nur hypothetisch ist und jeder Vorurteile und eigene Erwartungen hat. Zu sehen, wie souverän Eva-Maria es alleine schafft, hat dem Film extrem gutgetan. Das war ein guter Abschluss.
Der für den Film titelgebende Name Eva-Maria ruft katholische Assoziationen hervor – und neben dem Empowerment einer klugen Person mit unbeugsamem Optimismus enthält der Film auch subtile Zwischentöne, in denen belastende gesellschaftliche Konventionen und über Generationen bestehende Diskriminierungsmechanismen widerhallen. LL Der Film sollte Empowerment ausstrahlen, aber gleichzeitig keine Propagandaschrift werden. Er sollte die Komplexität des Lebens abbilden. Eva-Marias Optimismus ist wirklich beeindruckend – auch zu beobachten, wie Diskriminierung an ihr abperlen kann. Wir haben andere Elemente im Film aufgenommen und dann wieder entfernt, weil nie jemand so richtig wahrgenommen hat, dass es dabei um Diskriminierung ging. Es klingt immer wie so ein Nicht-Problem. Ich wusste, dass Eva-Maria nicht in einer wohlbehüteten Bubble aufgewachsen ist, sondern mit Diskriminierung und strukturellen Problemen zu kämpfen hatte. Es war gar nicht so leicht, das einzufangen. Haben Sie sich auf dieser Suche beim Wunsch nach etwas Sensationalistischem ertappt? LL Das ist immer das Schwierige am Dokumentarfilm. Man hofft jeden Tag, dass die Welt untergeht und man noch mitfilmen kann. Aber das ist natürlich eine grundsätzliche ethische Frage: Wie weit gehe ich auf diese Momente ein, wie weit hake ich nach, wie viel will ich meinen Protagonistinnen und Protagonisten zumuten? Diese Fragen muss man von Projekt zu Projekt, von Person zu Person individuell entscheiden. Ich habe vorsichtig hin und wieder nachgefragt, aber wenn ich das Gefühl hatte, da ist eine Barriere, da will die Person nicht darüber sprechen, war das für mich ok. Der Film ist gerahmt von idyllisch besetzten, traditionsgeladenen Landschaftsaufnahmen Tirols. Diese Berglandschaften können für viele einengend wirken – im Leben von Eva-Maria bedeuten sie Freiheit. Hatten Sie die Absicht, diese Landschaft anders zu kodieren? LL Das hat zwei Gründe: Zum einen war es mein Anspruch, dass die entstandenen Bilder immer mit Eva-Maria zu tun
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Golden Girls Filmproduktion & Filmservices / Bunny Beach Film
Haben sich aus Ihrer Auseinandersetzung mit Eva-Maria Ideen für zukünftige Projekte ergeben? LL Was mich an der Arbeit als persönlicher Assistent immer fasziniert hat, ist diese körperliche Intimität, die man in gewissen Berufen zwangsläufig teilt und die von außen anders wahrgenommen wird, als sie von innen ist. Zwischen körperlicher Nähe und emotionaler Distanz im Balanceakt zwischen sich selbst und den eigenen Klientinnen und Patienten entsteht eine Reibung, die nicht absolut ist, sondern immer wieder ins Gegenteil umschlagen kann. Das ist das Thema meiner nächsten Doku. Es wird ein Arbeiterporträt über Intimität, in dem ich der Frage nachT #1 3 gehe, was Intimität eigentlich ist.
LUKAS LADNER 1991 in Innsbruck geboren, studierte Film- und Fernsehregie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Er schloss das Studium 2017 mit seinem Kurzfilm Treibgut ab. Sein erster Langdokumentarfilm Eva-Maria feierte die Weltpremiere beim DOK.fest München und wurde 2021 mit dem DiagonalePreis für den Besten Nachwuchsfilm ausgezeichnet. Aktuell arbeitet Lukas Ladner als Startstipendiat des österreichischen Bundesministeriums für Kunst und Kultur (BMKÖS) an seinem nächsten Dokumentarfilmprojekt über Personen, die in körpernahen Berufen arbeiten, und über die daraus resultierende Intimität.
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haben. Deshalb sieht man nie die schöne Altstadt von Innsbruck, weil Eva-Maria eben nie in der Altstadt ist. Ich habe immer versucht, ihre Wege nachzuzeichnen. Aber es stimmt schon, ich habe als Filmemacher selbst lange nicht gewusst, wie ich mit den Bergen umgehen soll, gerade wenn man in Tirol aufgewachsen ist. Diese Berge sind ästhetisch komplett domestiziert und touristisch überformt. Früher habe ich die Berge abgelehnt, erst als ich nach meinem Studium wieder nach Innsbruck gekommen bin, habe ich versucht, mich neu damit auseinanderzusetzen und sie anders aufzuladen.
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„Zwischenmenschliche Dramen und Konflikte gibt es überall, im Privaten und bei der Marslandung, im Sci-Fi- und im Historienfilm.“ Nancy Camaldo ist ein Genre-Fan
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LO C A L TA L E N T S
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Nancy Camaldo
NANCY CAMALDO, 29, stammt aus Südtirol und lebt in München. Sie studierte Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF), wo sie mehrere Kurzfilme und Werbespots schrieb und inszenierte. Ihr Kurzfilm Haut wurde auf dem internationalen Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand uraufgeführt und kam auf die Shortlist für den BAFTA Student Film Award. Ihr Abschlussfilm und erster Spielfilm Windstill (o.) lief 2021 auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis und auf dem Bolzano Film Festival Bozen.
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N ATA L I A M A M A J
Das Verhältnis zwischen Lara und Ida ist kein leichtes, aber nun scheinen sich endlich die Wogen zu glätten. Bis die Geschichte der beiden Schwestern eine überraschende Wende nimmt. So lässt Regisseurin Nancy Camaldo Windstill (2021), ihren Abschlussfilm der Hochschule für Fernsehen und Film in München, offen enden. „Der Film ist eine Momentaufnahme und kann nach Belieben gedeutet werden“, sagt die gebürtige Boznerin. Er handelt von Lebensträumen, Selbstverwirklichungszwang und dem Überfluss an Möglichkeiten, der die Hauptfiguren letztlich lähmt. „Probleme der Wohlstandsgesellschaft“, von Camaldo filmisch mit Feinfühligkeit und akribisch ausgearbeiteten Details erzählt. Für einen Abschlussfilm ist Windstill eine aufwendige Produktion. Der Vorgängerfilm Haut war aber so gut gelaufen, dass die Regisseurin und ihre Produzentinnen von der Münchner Elfenholz Film beschlossen, mutig zu sein. Und mit Unterstützung durch IDM, den FFF Bayern und den BR einen Langspielfilm zu drehen. Beim Max Ophüls Festival feierte der Film Premiere. „Ich will zwischenmenschliche Dramen und Konflikte erzählen“, sagt Camaldo, „die gibt es überall, im Privaten und bei der Marslandung, im Sci-Fi- und im Historienfilm.“ Sie ist ein großer Genre-Fan: Gut möglich, dass ihr offizielles Debüt ein Thriller sein wird. Einen kreativen Job wollte die 29-Jährige schon immer. „Anfangs hatte ich Zweifel, weil die Regie bislang eben doch sehr männerlastig war. Und ich hatte noch keine Erfahrung“, sagt sie. Doch sie hörte auf ihr Bauchgefühl, bewarb sich an der HFF. Mit Erfolg. „Man wird immer Leuten begegnen, die einen entmutigen. Kritik kann man aber annehmen und etwas daraus machen“, ist die Regisseurin überzeugt. Camaldo spricht ruhig und behutsam, gleichzeitig ist sie sich ihrer Führungsrolle vollkommen bewusst. „Ich behalte gerne die Kontrolle über die Outputs, fordere am Set aber nicht meine Methoden ein. Da sind genügend talentierte Leute – mein Job ist es, sie zu fördern und einzubeziehen, damit mein Film davon profitiert“, so die Regisseurin. „Regie ist Kommunikation.“ Und sie ist mit Sicherheit keine Männerdomäne mehr. Eine neue Generation Regisseurinnen ist am Werk – mit viel Potenzial, veraltete Strukturen aufzubrechen. Womit genau? „Mit weiblicheren Drehbüchern, diverseren Hauptfiguren. Warum sind Darstellerinnen ab 40 nur in Klischeerollen zu sehen? Als dürften sie nicht altern? Dabei ließen sich aus deren Perspektive gute Geschichten erzählen“, sagt Camaldo. Und plädiert für mehr Diversität in allen Departments: „Nur so können schöne Filme entstehen, die die gesamte GesellT # 13 schaft authentisch ansprechen!“
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Elfenholz Film
Nancy Camaldo studiert gerne das Innenleben ihrer Figuren. Um bessere Geschichten zu erzählen, plädiert die Regisseurin für mehr Inklusion in der Filmbranche. Talenten auf der Spur
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Alpsvision
Modellbauer Michael Schmalzl und Kameramann Alexander Fontana haben sich auf Drohnenaufnahmen im Gebirge spezialisiert Unterwegs mit … Alpsvision Text
M A R I A N N A K A S T LU N G E R Fotos
MICHAEL PEZZEI
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UNTERWEGS MIT …
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Alpsvision
„Der Arbeitstag beginnt immer mit einem Espresso – egal wie abwechslungsreich unser Job ansonsten ist“, sagt Michael Schmalzl, lizenzierter Drohnenpilot. Der sportliche Grödner ist ein bekennender Modellbau-Liebhaber mit großer Faszination fürs manuelle Fliegen, vor allem im Filmbereich. Beim Stichwort „Kaffee“ nickt sein Piloten-Kompagnon und Kameramann Alexander Fontana anerkennend und schmunzelt. Die beiden kennen sich seit 2016, als Schmalzl für seine zwei Jahre zuvor gegründete Firma Alpsvision einen Mitstreiter suchte. Nun sind sie Arbeitskollegen: Ihre Luftaufnahmen für Dokumentar-, TV- und Kinofilme werden immer gefragter. Dafür sind sie hauptsächlich in Südtirol unterwegs, Einsätze außerhalb der Region werden aber häufiger. Ihr sympathischer Plauderton lässt eine starke, freundschaftliche Verbindung erahnen. Menschlich und fachlich ist das Alpsvision-Duo eine gelungene Expertisen-Kombi aus Modellbaufliegen und Verständnis für bewegte Bilder. „Das ist in der Szene so üblich, trotzdem braucht es eine gemeinsame Vorstellung von Raum und Zeit“, sagt Schmalzl und trinkt seinen Espresso in einem Schluck, „das ist das, was uns ausmacht.“ Mit wärmeren Temperaturen geizt dieser Frühsommermorgen noch etwas. Wir begleiten das Alpsvision-Duo inmitten der noch wolkenverhangenen Dolomiten hinauf zum Falzarego-Pass, wo Schmalzl und Fontana schon im vergangenen Jahr oft unterwegs waren. Etwa um
Verfolgungsjagden für die Magenta.TV-Serie Wild Republic (►TAKE #12) einzufangen. Auf der noch etwas winterlich anmutenden Passhöhe zwischen Cortina und dem Gadertal ist derzeit noch wenig los – der ideale Ort also für einige Panorama-Aufnahmen aus der Luft. Zeit, die Drohne steigen zu lassen. Heute soll eine DJI Inspire 2 mit X7-Kamera starten, „ein mittelgroßes Modell, das sich in der Filmbranche bewährt hat, weil es flexibel einsetzbar und schnell startbereit ist“, erklärt Fontana, während er ebendiese auspackt und mit Propellern versieht. Die Flugzeit hängt stark vom jeweiligen Flugstil ab, sie kann aber bis zu einer knappen Viertelstunde betragen. Für weitere Einsätze sind genügend geladene Akkus mit im Gepäck.
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„Mit Drohnen ließen sich schon jetzt teure Hubschrauberaufnahmen oder aufwendige Dollyfahrten ersetzen.“ Piloten Schmalzl (l.) und Fontana bei der Vorbereitung zum Dreh in den Dolomiten
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Das Alpsvision-Duo macht sich bereit für den Abflug und bespricht die Flugroute: „Es ist wichtig, das alles im Vorfeld zu klären – und immer in enger Absprache mit der Regie und dem DOP“, sagt Fontana. Das Fluggerät startet in Richtung Dolomitengipfel, Schmalzl und Fontana sind nun hoch konzentriert und schweigend am Steuern und Filmen. Egal ob sie wie heute Bilder von Alpenpanoramen einfangen oder am Set Darsteller szenisch abbilden: Teamwork ist immer oberstes Gebot. „Das Fliegen zu zweit ist viel effizienter, kreativer und vor allem sicherer“, sagt Schmalzl. Sie wissen genau, was zu tun ist, tauschen während der Steuerung höchstens kurze Informationen aus. Gelegentliche
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Alpsvision
„Eine Technik, die sich filmerzählerisch noch etablieren muss“: Neben diversen Modellen hat Alpsvision auch eine Racing-Drohne mit VR-Brille im Einsatz
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Alpsvision
Böen im Hochgebirge sind für die alpinerfahrenen Piloten kein Problem: „Die Bewegung im dreidimensionalen Raum ist sehr komplex, lässt aber auch viel Spielraum zu. Das erkennt man, wenn z. B. eine Aufnahme dann unerwartet gut aussieht“, sagt Fontana nach der Landung. Der Kameramann weiß die Drohnentechnologie sehr zu schätzen: „Die Technik wird immer stabiler, mit wenig Aufwand ist vieles möglich. Außerdem hat dieser Bereich auch im künstlerischen und bildsprachlichen Sinne großes Entfaltungspotenzial. Bei Bedarf setzen wir auch stärker motorisierte Drohnen ein, die professionelle Kameras mit Kinooptik befördern“, so der Pilot. A L P I N KO M P E T E N Z U N D S C H Ö N E M OT I V E
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Einen Location- und Equipment-Wechsel später sitzt Schmalzl nun im Grünen in der Nähe der Schutzhütte Capanna Alpina bei St. Kassian im Gadertal. Er steuert gerade eine Racing-Drohne per VR-Brille. Damit gibt’s dynamische Bilder mit „echtem Fluggefühl“, bei denen sich auch der Horizont mitdreht – eben genau, wie ein Pilot sie
erlebt. „Eine Technik, die sich filmerzählerisch noch etablieren muss“, erklärt Fontana. Am Alpsvision-Duo schätzen internationale Produktionen vor allem die Kompetenz in alpinem Gelände. Schmalzl und Fontana weihen ihre Filmpartner gern in die schönsten Plätze ein, die sie kennen, und schlagen außergewöhnliche Motive vor – etwa kürzlich für das Südtirol-Special der ORF-Doku Über Österreich. Aber auch für eine ganze Reihe von Kinofilmprojekten, etwa Hill of Vision, Tramonto a Nord Ovest und Dreamcatcher, sowie für TV-Produktionen wie den Bozen Krimi der ARD, Blackout und zuletzt Mordach (►Shot in South Tyrol S. 12). Bislang setzen natürlich nicht alle Filmproduktionen auf Drohnen – noch fristet die Sparte ein Nischendasein. Aber mit jedem abgeschlossenem Projekt wird für Schmalzl und Fontana klarer, was mit Drohnen noch alles möglich wäre: „Lauter Möglichkeiten, die teilweise jetzt schon teure Hubschrauberaufnahmen oder aufwendige Dollyfahrten ersetzen könnten“, stellen sie fest. Wie heißt T # 13 es so schön? The sky is the limit.
„Das Fliegen zu zweit ist viel effizienter, kreativer und vor allem sicherer“: Fontana (l.) und Schmalzl arbeiten immer als Team
GRÜN DREHEN Ein großer Vorteil von Drohnenaufnahmen: Sie sind nicht nur günstiger, sondern auch nachhaltiger als Helikopterflüge. Der Filmstandort Südtirol setzt zunehmend auf nachhaltige Filmsets, um die stellenweise sensible Landschaft im alpinen Raum noch stärker zu schützen. Um klimafreundliche Projekte zu belohnen, berücksichtigt die Südtiroler Filmförderung seit 2021 „grüne“ Maßnahmen am Set in ihrer Förderentscheidung. Eine wichtige Neuerung im Rahmen der aktualisierten IDM-Förderrichtlinien (► S. 14) ist das Zertifikat „Green Shooting“ für nachhaltige Dreharbeiten in Südtirol, entwickelt von IDM in enger Zusammenarbeit mit anderen Förderinstitutionen, Filmschaffenden sowie Dienstleistern vor Ort. Produktionsfirmen, die einen Förderantrag einreichen, können sich anhand eines Kriterienkatalogs freiwillig zur Einhaltung ausgewählter Richtlinien verpflichten – etwa nachhaltige Energie am Set oder klimaneutrale Transporte – und bekommen bei erfolgreicher Erfüllung das Zertifikat verliehen. Die Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien prüft ein unabhängiges Institut. Infos unter: film.idm-suedtirol.com
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PRODUZENT
Andrea Occhipinti
„Die Kinos werden nicht nur überleben – sie werden aufblühen.“ Interview mit Andrea Occhipinti
Interview
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Einen ehrgeizigen Plan hatte Andrea Occhipinti: eine digitale Streamingplattform für Qualitätsfilme zu entwickeln, die keine Alternative zum Kino darstellen, sondern es vielmehr ergänzen sollte. Es sollte eine Anlaufstelle für Filmbegeisterte sein und die wichtige Rolle des Kinos als gesellschaftlicher und kultureller Treffpunkt unterstreichen. Mit diesem Ziel vor Augen gründete Occhipinti, Geschäftsführer des italienischen Arthouse-Filmvertriebs Lucky Red, die Plattform MioCinema. Am 18. Mai 2020 war es so weit: Mit der Premiere von Ladj Lys Die Wütenden, Wettbewerbsfilm in Cannes 2019, machte sich das Projekt daran, Publikum, Kinos und digitale Welt näher zusammenrücken zu lassen. User, die sich auf der MioCinema-Website kostenlos registrieren, können „ihr“ lokales Kino (aus 150 teilnehmenden Häusern) auswählen und ein Ticket für den gewünschten Film kaufen. Ein Teil des Umsatzes geht an das entsprechende Kino. Andrea Occhipinti war als Teilnehmer des Panels „Epic Battle or Sweet Romance? – How cinema and streaming can coexist and prosper“ einer der Hauptakteure der zehnten Ausgabe der Filmkonferenz INCONTRI, die in diesem Jahr ausschließlich online stattfand (►Dossier S. 34). Dort hatte er Gelegenheit, dieses innovative Projekt vorzustellen, das just in einer Zeit ins Leben gerufen wurde, als die Covid-Pandemie die Kinowelt bedrohte.
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Ist es Ihnen gelungen, mithilfe der Plattform den Dialog zwischen Film und Publikum wiederherzustellen, der durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung so abrupt zum Stillstand gekommen ist? ANDREA OCCHIPINTI Es ist nicht unsere Absicht, das Publikum von den Kinos auf die Plattform zu locken, ganz im Gegenteil: Die Leute sollen wieder ins Kino gehen. Aber als alle Kinos monatelang geschlossen waren, haben wir Filmfans die Möglichkeit gegeben, sich die großartigen Filme, die in dieser Zeit in die Kinos hätten kommen sollen, über eine digitale Plattform nach Hause zu holen. Unsere Plattform wurde unter anderem dafür entwickelt, das Programmkino zu stärken, das Publikum zu informieren und Kontakte zu Filmemachern, Schauspielerinnen und Kritikern herzustellen. Sie bietet Filme in Originalsprache, zeigt Retrospektiven und ermöglicht auch Festivals, Exklusivevents oder Masterclasses. So werden Titel gestärkt, die in klassischen Kinos kaum Erfolgschancen haben und die, selbst wenn sie es auf die Leinwand schaffen, nach wenigen Tagen wieder aus dem Programm verschwinden. Welche Filme wurden am häufigsten gestreamt? Die Wütenden von Ladj Ly, Bad Tales der Brüder D’Innocenzo und Matthias & Maxime von Xavier Dolan, gefolgt von Nach der Hochzeit von Bart Freundlich, Everything’s
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PRODUZENT
Andrea Occhipinti
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„Unsere Plattform bewirbt die Filme der teilnehmenden Kinos, und die Kinos bewerben die Plattform.“ Produzent und Distributor Andrea Occhipinti hat eine Arthouse-Streamingplattform gegründet
Lucky Red
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ANDREA OCCHIPINTI ist Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender von Lucky Red, einem Produktions- und Filmvertriebsunternehmen, das seit 1987 besteht. Er holte international renommierte Filmschaffende nach Italien und übernahm den Vertrieb für zahlreiche zeitgenössische Kinogrößen wie Paolo Sorrentino oder Wes Anderson. Seit 2016 tritt Lucky Red vermehrt als Produktionsfirma auf und verzeichnete einige Erfolge, vor allem mit On My Skin, der 2019 den David di Donatello für die beste Produktion erhielt. Gemeinsam mit Indigo Film gründete Lucky Red den internationalen Filmvertrieb True Colours. Im Jahr 2020 gründete Occhipinti die digitale Filmplattform MioCinema.
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PRODUZENT
Andrea Occhipinti
Das stimmt. Seit vergangenem Februar bieten wir jeden Monat einige Exklusivtitel an, „Originals“, die es nur auf MioCinema gibt. Das sind Spielfilme und Dokus, die von den wichtigen internationalen Festivals zu uns kommen, wie etwa Listen der Portugiesin Ana Rocha de Sousa, Preisträgerin des Leone del Futuro und des Jurypreises in der Sektion Orizzonti bei den 77. Filmfestspielen von Venedig, oder Apples, das Regiedebüt des Griechen Christos Nikou und – ebenfalls bei der 77. Biennale – Eröffnungsfilm der Orizzonti. Bei der Auswahl der Filme stehen die Entdeckung neuer Regietalente und die Relevanz der Themen im Vordergrund.
Micro Film/Silviu Ghetie
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Lucky Red
In MioCinema findet auch das dokumentarische Kino seinen Platz. AO Die Tatsache, dass uns der Dokumentarfilm sehr am Herzen liegt, zeigt sich an unserer neuen Zusammenarbeit mit der Organisation ZaLab, die sich für die Produktion und den Vertrieb freier, unabhängiger und sozialer Kinofilme einsetzt. Wir sind überzeugt: Ein Kinogenre, das seit jeher Nährboden für Neues und Experimentelles ist, verdient mehr Wertschätzung. Daher muss es auf einer Plattform für Autorenkino unbedingt vertreten sein.
Berlinale-Sieger Bad Luck Banging or Loony Porn (o.), Doku The Dissident über die Ermordung von Jamal Khashoggi: Streaming für Arthouse-Fans
Gonna Be Alright von Francesco Bruni, Misbehaviour von Philippa Lowthorpe, The Specials – Alles außer gewöhnlich von Olivier Nakache und Eric Toledano, Undine von Christian Petzold und Ema von Pablo Larraín. Kürzlich boomte auch The Dissident unter der Regie des Oscarpreisträgers Bryan Fogel, der mit Mitteln der Human Rights Foundation finanziert wurde. Er handelt von der Ermordung des saudischen „Washington Post“-Journalisten Jamal Khashoggi. Oder der Berlinale-Sieger Bad Luck Banging or Loony Porn des Rumänen Radu Jude. Alles in allem zeigt diese Rangliste eines: Wer gern ins Kino geht, nutzt auch Streamingplattformen und konsumiert verschiedene Filme einfach auf unterschiedliche Art – eines schließt das andere nicht aus. Unser Dienst bewirbt die Filme der teilnehmenden Kinos, und die Kinos bewerben die Plattform. Uns ist damit gelungen, was wir erreichen wollten: ein Netzwerk für Arthouse-Fans. Die Filmauswahl zeigt auch, dass Previews bei den Usern gut ankommen.
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Wie viele User hat MioCinema? Bei Live-Events mit Regisseurinnen und Schauspielern erreichen wir bis zu 50.000 Besucherinnen und Besucher. Unsere Zahlen sind natürlich nicht mit jenen der großen Streamingdienste vergleichbar, aber wenn wir starke Arthouse-Titel wie The Dissident im Programm haben, ist der Zustrom wirklich groß.
AO
Nach einer langen Durststrecke stehen die Kinos heute vor völlig neuen Voraussetzungen. Ist von der Filmindustrie nun mehr Flexibilität gefordert? AO Eine maximale Auswertung von Filmen ist heute wichtiger denn je. Dabei sollten wir in verschiedenen Richtungen flexibler werden. Jeder Film nimmt seinen eigenen Weg, hat seine eigene Geschichte und sein spezifisches Potenzial. Manche Titel haben auf einem immer dichter gedrängten Markt kaum Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Auf den verschiedenen Plattformen bekommen sie aber eine gute Chance. Manche Filme, die im Kino gezeigt werden, könnten davon profitieren, vorab über Streamingplattformen sichtbarer zu werden. Der Weg könnte aber auch umgekehrt funktionieren. Im vergangenen Jahr machten sich die Vertriebe große Sorgen über die Verkürzung des Auswertungsfensters nach dem Kinostart; aber man muss hier klar unterschieden zwischen Produktionen, die für mehrere Wochen in den Programmen bleiben – das sind
P R O D U Z E N T E N -TA L K
PRODUZENT
S P OT L I G H T
Andrea Occhipinti
Eva Lageder
Neue Wege im Streaming, ohne den Arthouse-Kinos etwas wegzunehmen: Plattform „MioCinema“
wohl nicht mehr als rund 60 Filme – und jenen, die diese Möglichkeit nicht haben. Und noch etwas: Ich bin fest davon überzeugt, dass sozialer Austausch ein Grundbedürfnis ist, ohne das der Mensch nicht leben kann. Tatsächlich hat uns dieser Aspekt in den letzten eineinhalb Jahren sehr gefehlt. Ein Kinobesuch ist ein gesellschaftliches Ereignis, daher reicht es mir nicht zu sagen: Die Kinos werden überleben. Sie werden neu aufblühen, nicht zuletzt wegen der neuen Bedingungen, die wir geschaffen haben. Kinos sind Orte, die große Emotionen bieten müssen, mit einer großen Bandbreite an Inhalten. Welche Rolle werden Plattformen wie die von Amazon, Warner oder Disney Ihrer Meinung nach in der Zukunft spielen? Werden die Studios überhaupt noch ins Kino investieren? AO Die Filmindustrie ist noch nicht zur Normalität zurückgekehrt, alle Beteiligten suchen zurzeit nach Lösungen. Die großen Studios, die mittlerweile ebenfalls Streamingdienste unterhalten, wehren sich durch solche Umstrukturierungen gegen die Konkurrenz durch Amazon und Netflix. Amazon hat MGM deshalb gekauft, weil es dadurch auf ein reiches Filmarchiv zugreifen kann; ich hoffe aber, dass das Haus auch weiterhin auf Kinoproduktionen setzen wird. Verschiedene Vertriebswege können bestehen, indem sie zusammenwirken. Und letztlich ist die Kinobranche wirtschaftlich immer noch interessant: Während TVoD [transactional video on demand, also das Kaufen einzelner Filme anstatt eines Streaming-Abos, Anm. d. R.] in den USA sehr erfolgreich ist, verhält es sich in Europa und im Rest der Welt anders – hier sind die Einnahmen aus den KinosäT #1 3 len immer noch ein wichtiger Faktor.
41, ist derzeit für die BAGARRE Film auf der Suche nach Koproduzenten für ein neues Dokumentarfilmprojekt: In Personal geht es um Frauen mit Einwanderungsgeschichte in einem Südtiroler Hotel, deren Arbeit die Tourismusindustrie unsichtbar am Laufen hält. „In dieses Projekt fließen durch die diversen Hintergründe des vollständig weiblichen Teams viele Blickpunkte ein, die den Film bereichern“, so Lageder. Lageder besuchte die Dokumentarfilmschule ZeLIG in Bozen und begann ihre Karriere als Kameraund Tonfrau, zudem übernahm sie weitere Rollen an Sets. Als Mitglied erster Stunde setzte sie sich mit der Film Association South Tyrol (FAS) erfolgreich für das Zustandekommen einer Filmförderung in Südtirol ein. 2017 öffnete sich für Lageder ein neues Feld: Der Südtiroler Regisseur Ronny Trocker und dessen Schwester, die Regisseurin Carmen Trocker, suchten Unterstützung für ihre Firma BAGARRE Film. Gemeinsam produzierten sie Ronny Trockers zweiten Spielfilm Der menschliche Faktor (Human Factors). Nach Covid-bedingten Hindernissen und der Onlinepremiere beim Sundance Film Festival wurde der Film im Juni in einem Open-Air-Kino auf der Berlinale zum ersten Mal vor Publikum gezeigt. „Dieses Kinogefühl ist doch etwas Besonderes“, schwärmt Lageder. www.bagarrefilm.com
TA K E #1 3
EVA LAGEDER ,
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A B S PA N N
FRAGEBOGEN
PREVIEW
Christine Dollhofer
TAKE goes digital
FRAGEBOGEN
Christine Dollhofer beantwortet den Filmfragebogen von TAKE WELCHEN FILM HABEN SIE ZULETZT GESEHEN?
Ich bin gerade aus Cannes retour und habe dort als letzten Film France von Bruno Dumont gesehen. Aber auch Titane von Julia Ducournau, der zweiten weiblichen Palmen-Gewin-
Violetta Wakolbinger
nerin in der Geschichte des Festivals – wow!
WELCHE SERIE HAT SIE AM MEISTEN BEEINDRUCKT?
Schwierig, sich da festzulegen! Aber erst kürzlich gesehen hat mich We Are Who We Are von Luca Guadagnino sehr beeindruckt.
WELCHER FILM SOLLTE UNBEDINGT NOCH GEDREHT WERDEN?
Ich lasse mich da lieber von den Filmschaffenden überraschen!
WOFÜR WERDEN SIE AUF GAR KEINEN FALL MEHR GELD AUSGEBEN?
Für ein Auto. Ich bevorzuge öffentliche Verkehrsmittel.
CHRISTINE DOLLHOFER, geboren in Wels (Oberösterreich), ist seit 1990 in der Filmbranche tätig, vor allem in der Konzeption und Organisation diverser Filmreihen und Filmfestivals sowie als Beraterin, Dozentin, Jurymitglied etc. Von 1992 bis 1997 leitete sie das Filmcasino in Wien, 1997–2003 war sie Co-Intendantin des Festivals Diagonale in Graz. Ab 2003 verantwortete sie die Konzeption des Crossing Europe Filmfestival in Linz, das sie auch leitet, seit 2011 ist sie Programmdelegierte des San Sebastián International Film Festival. Mit 1. November 2021 übernimmt Dollhofer die Geschäftsführung des Filmfonds Wien.
PREVIEW
TAKE goes digital
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DAS LETZTE FOTO, DAS SIE AUFGENOMMEN HABEN?
Das allerletzte Foto ist ein WiFi-Passwort – aber das vorletzte ist während des Feuerwerks anlässlich des französischen Nationalfeiertags am 14. Juli in Cannes entstanden.
Fesselnde Geschichten, ehrliche Interviews, das Wichtigste aus der Branche und das Neueste über die lokale Filmlandschaft … also eigentlich alles wie immer – und ab 2022 digital! TAKE wird zum Onlinemagazin. Alle Inhalte werden auf der Website von IDM Film Fund & Commission zu finden sein: film.idm-suedtirol.com
05.–10.04.2022 filmfestival.bz.it
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